Historical Lords & Ladies Band 66

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DER GEFÄHRLICHE LORD DARRINGTON von MALLORY, SARAH
Sinnliche Sehnsucht erwacht in Beth. Nun weiß sie, warum der Earl, den sie für eine Weile beherbergen muss, der gefährliche Lord Darrington genannt wird. Unzählige Herzen hat er bereits gebrochen. Und doch ersehnt auch sie sich bald insgeheim, dass er sie in seine starken Arme reißt und leidenschaftlich küsst. Diese Gefühle darf sie jedoch niemals zulassen! Denn Beth ist verlobt und soll bald heiraten …

HERZ ODER PFLICHT? von MARSHALL, PAULA
Getarnt als Hauslehrer soll Richard einen skrupellosen Schmuggler überführen. Doch als er dessen hinreißende Halbschwester Pandora kennenlernt, entbrennt er in heißer Liebe zu der zauberhaften Frau, die offensichtlich seine tiefen Gefühle erwidert. Natürlich könnt Richard in seiner Rolle als Dienstbote niemals um sie werben. Soll er Pandora alles gestehen und für die Liebe seine geheime Mission gefährden?


  • Erscheinungstag 02.03.2018
  • Bandnummer 66
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779887
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Mallory, Paula Marshall

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 66

1. KAPITEL

Die Neuigkeit, dass der Earl of Darrington – genannt „der gefährliche Lord Darrington“ – sich zusammen mit Edwin Davies in dessen Jagdschlösschen in Highridge aufhielt, hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Es war eine Nachricht, die die meisten Mütter von Töchtern im heiratsfähigen Alter in ein gewisses Dilemma stürzte. Denn als gefährlich galt der attraktive Gentleman nicht ohne Grund.

Guy Wylder, Earl of Darrington, hatte sich bisher nicht entschließen können, eine eigene Familie zu gründen. Doch war man allgemein der Ansicht, es sei an der Zeit für ihn zu heiraten und einen Erben zu zeugen. Vor ein paar Jahren war er in einen Skandal verwickelt gewesen, aber die meisten Eltern waren bereit, wegen seines Titels und seines Reichtums darüber hinwegzusehen.

Der Earl hatte sich allerdings erfolgreich jedem Versuch widersetzt, ihn zur Ehe zu verleiten. Alle jungen Damen, die sich zu offensichtlich um seine Zuneigung bemühten, mussten früher oder später erkennen, dass ihnen nicht der erwünschte Erfolg beschieden war. Zwar war Lord Darrington einem heftigen Flirt gegenüber durchaus nicht abgeneigt, was zwangsläufig eine Menge Klatsch und Tratsch zur Folge hatte, aber damit weckte er nur falsche Hoffnungen. Die betreffende junge Dame glaubte nämlich irgendwann, er sei im Begriff, ihr sein Herz zu schenken. Doch gerade wenn sie fest damit rechnete, einen Antrag von ihm zu erhalten, zog er sich zurück. Und wenn sie ihm das nächste Mal begegnete, schien er Mühe zu haben, sich überhaupt an sie zu erinnern – was wiederum eine Menge Klatsch und Tratsch bedeutete.

So hatte das Verhalten des Earls mehr als einmal dazu geführt, dass fröhliche junge Mädchen in tiefe Melancholie verfielen. Was wiederum einige besorgte Eltern dazu brachte, ihre Töchter davor zu warnen, Interesse an dem gut aussehenden reichen, aber dabei so gefährlichen Gentleman zu zeigen.

Guy war allerdings der Meinung, es gebe bei Weitem nicht genug besorgte Eltern. Daher war er erleichtert darüber, dass Mr. Davies nur Männer nach Highridge eingeladen hatte. Die Gruppe blieb meistens unter sich. Hin und wieder besuchten die Gentlemen den nahe gelegenen Gasthof White Hart. Ansonsten vergnügten sie sich mit allerlei typisch männlichen Tätigkeiten. Sie unternahmen weite Ausritte in die Moorlandschaften, die zu Mr. Davies’ großem Landbesitz in Yorkshire gehörten. Und sie machten an einigen Tagen Jagd auf das Wild, das in der einsamen Gegend lebte.

„Man wird empört sein, wenn man erfährt, dass ich einen Earl zu Gast hatte und ihn nicht mit den Mitgliedern des hiesigen Landadels bekannt gemacht habe“, stellte Mr. Davies lachend fest. „Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen, wenn man mir nur die kalte Schulter zeigt. Wahrscheinlicher ist, dass ich mir die heftigsten Vorwürfe anhören muss, weil ich dich nicht zu einer einzigen Gesellschaft mitgenommen habe, Guy.“

„Davey, ich bin nur hergekommen, weil du mir ein paar Jagdabenteuer und ansonsten ruhige Wochen in der Gesellschaft von Freunden in Aussicht gestellt hast.“

„Und ich habe mein Versprechen gehalten! Doch nun ist die Jagdsaison zu Ende. Was also spricht dagegen, dass wir zwei eine Tanzveranstaltung in der Stadt besuchen?“

Der Earl verzog den Mund zur Andeutung eines Lächelns. „Wir würden damit eine andere Art von Jagd eröffnen; eine, bei der wir die Beute sind.“

Es war offensichtlich, dass die beiden Freunde ihre selbst gewählte Einsamkeit genossen. Mr. Davies’ andere Gäste hatten sich entschlossen, die Einladung eines Nachbarn anzunehmen. Und so waren Davey und Guy auf die Idee gekommen, einen Ausritt in die Hügel zu unternehmen, die sich am Rande des fruchtbaren Ackerlandes erhoben. Jetzt, da sie den Gipfel erreicht hatten, zügelten sie ihre Pferde, um einen Moment lang den Ausblick zu genießen.

„Die Gefahr, selbst zur Beute zu werden, lässt sich allerdings nicht ganz von der Hand weisen“, bestätigte Davey lachend. „Andererseits hat es sich bis Yorkshire herumgesprochen, wie du junge Damen, die Jagd auf dich machen, zu behandeln pflegst. Ich denke, alle Töchter im heiratsfähigen Alter sind inzwischen vor dir gewarnt worden.“

Guy schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht alle.“ Und in bitterem Ton setzte er hinzu: „Selbst wenn ich ein Frauen mordender Blaubart wäre, würden manche Eltern mir ihre Töchter noch auf dem Präsentierteller servieren. Mein Titel und mein Vermögen lassen sie alles andere vergessen.“

„Dein Titel und dein Vermögen sorgen dafür, dass man Geschichten über dich auf den Gesellschaftsseiten der meisten Zeitungen findet. Insbesondere die Schreiberlinge, die für den ‚Intelligencer‘ arbeiten, verbreiten dummen Klatsch über dich.“

„Ein fürchterliches Skandalblättchen, da hast du recht. Ich frage mich, wer so etwas liest! Mich persönlich interessiert es nicht besonders, was man über meine amourösen Abenteuer schreibt. Ich hoffe höchstens, dass die Mütter, die diese Geschichten lesen, ihren Töchtern den Umgang mit mir verbieten.“

„Ich weiß, dass dich der Klatsch kalt lässt. Aber deine Freunde würden es lieber sehen, wenn es nicht so viel Gerede über dich gäbe. Denk nur daran, was im ‚Intelligencer‘ über dich und das Ansell-Mädchen stand.“

„Bei Jupiter, ich habe zwei Mal mit der Kleinen getanzt, und schon hieß es, ich sei verliebt in sie!“

„Nun Lady Ansell jedenfalls war davon überzeugt, dass du ihrer Tochter einen Antrag machen würdest. Sie hat überall herumerzählt, du hättest sie nach Wylderbeck eingeladen.“

„Die Ansells haben sich selbst eingeladen. Sie behaupteten, das Mädchen sei sehr an Architektur interessiert und habe so wundervolle Dinge über Wylderbeck gehört. Leider war ich dumm genug zu sagen, sie könnten sich mein Haus selbstverständlich einmal anschauen.“ Guy warf seinem Freund einen kurzen Blick zu. „Ich hoffe, sie haben ihren Besuch dort genossen. Mein Verwalter hat mir in der vergangenen Woche geschrieben, wie enttäuscht sie waren, nach der überstürzten Reise feststellen zu müssen, dass ich mich gar nicht in Wylderbeck aufhielt. Meine Haushälterin hat ihnen alles Sehenswerte gezeigt und ihnen vorgeschlagen, im Gasthof abzusteigen.“

„Im Darrington Arms?“ Davey lachte, wurde aber gleich wieder ernst. „Das war nicht nett von dir, Guy.“

„Ich bin es leid, ständig verfolgt zu werden. Ehrlich gesagt, ist mir ein Skandal beinahe lieber, als dauernd von jungen Damen und ihren Müttern belagert zu werden.“

Davey runzelte die Stirn. „Man könnte fast denken, du seiest froh darüber, dass einige Leute dich noch immer für einen Vaterlandsverräter halten.“

„Das meinst du doch nicht ernst! Himmel, ich bereue meine jugendliche Dummheit mehr, als ich sagen kann. Aber der Schaden lässt sich nun mal nicht wiedergutmachen. Es ist mir bedeutend lieber, dass man sich über mein Liebesleben aufregt als über meine vergangenen Fehler. Ja, ich wünschte, das alles wäre vollkommen in Vergessenheit geraten. Leider bleibt nach so einer Geschichte immer ein bisschen Schmutz zurück.“

„Du selbst könntest dafür sorgen, dass dein Name reingewaschen wird. Schließlich war es nie mehr als ein böses Gerücht. Wenn du dich nicht aus dem Staatsdienst zurückgezogen hättest …“ Davey zuckte die Schultern. „Viele haben das als Schuldeingeständnis gedeutet. Die wirklich wichtigen Leute in Regierung und Verwaltung wissen natürlich, dass du unschuldig bist. Sie sähen es gern, wenn du deine Arbeit wieder aufnähmest. Gerade jetzt, da in Frankreich alles drunter und drüber geht, würden sie deine Hilfe willkommen heißen.“

„Tatsächlich habe ich bereits selbst darüber nachgedacht. Aber auch das Arbeiten wäre einfacher, wenn all diese Drachen und ihre heiratswilligen Töchter mich in Ruhe ließen.“

„Das würden sie – wenn du dir endlich eine Gattin nähmest.“

„Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.“ Lachend schüttelte Guy den Kopf. „Und jetzt wollen wir die Pferde noch ein bisschen galoppieren lassen!“

Sie jagten den Hang hinab und gleich den nächsten wieder hinauf. Am höchsten Punkt brachte Guy sein Pferd zum Stehen, um sich noch einmal in Ruhe umschauen zu können. Er genoss das Gefühl der Freiheit, das das weite Land um ihn herum ihm vermittelte. Fast war ihm, als brächte der Wind den Geruch des Meeres mit. Allerdings war die Küste mindestens dreißig Meilen entfernt.

„Bedauerst du, dass du dich den anderen nicht angeschlossen hast?“, fragte er seinen Freund. „Wärest du lieber mit ihnen zu den Osmonds geritten?“

„Ganz und gar nicht! Es gefällt mir, viele Gäste in Highridge zu beherbergen. Allerdings würde es mir weniger gefallen, wenn ich nicht selbst darüber entscheiden könnte, wie ich meine Tage verbringe. Als Gast bei den Osmonds müsste ich viele Zugeständnisse machen. So können wir aufstehen und schlafen gehen, wann es uns behagt. Jeder von uns kann sich zurückziehen, wenn er allein sein will. Wir können uns aber auch unterhalten, wann immer uns danach ist.“

Guy streckte die Hand aus und legte sie kurz auf Daveys Arm. „Du bist mir stets ein guter Freund gewesen, und ich weiß das zu schätzen. Selbst als alle Welt sich gegen mich wandte, hast du zu mir gehalten.“

„Du weißt genau, dass ich nicht der Einzige war, der an deine Unschuld geglaubt hat. Ich wünschte nur, du hättest dich damals entschlossen, dich zu verteidigen. Du hättest dich nicht so … ritterlich benehmen dürfen.“

„Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen?“

„Du hättest die Schuldige nennen sollen.“

Guy schüttelte den Kopf. „Es hätte nichts genützt. Sie hatte das Land ja schon verlassen. Man hätte mir vorgeworfen, mich nicht galant zu benehmen.“

„Nicht galant? Welch ein Unsinn!“, rief Davey zornig aus. „Du hast eine vielversprechende Karriere wegen dieser Frau aufgegeben. Ich finde, es wäre deine Aufgabe gewesen, deine diplomatische Begabung für England einzusetzen. Stattdessen hast du dein Talent verschwendet.“

„Das stimmt nicht. Ich habe mich um meine Ländereien gekümmert, und zwar mit Erfolg! Mein Vater steuerte auf den Bankrott zu. Ich sage das nicht gern, doch wenn er länger gelebt hätte, wäre der Familienbesitz vor die Hunde gegangen. Und Nicks Anwesen …“ Er runzelte die Stirn. „Du weißt selbst, dass mein Bruder früher ein verantwortungsloser Taugenichts war.“

„Gut, dass er sich geändert hat! Inzwischen muss es beinahe fünf Jahre her sein, dass er zur Vernunft gekommen ist, nicht wahr? Wäre das nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, dich auf der politischen Bühne zurückzumelden?“

„Bestimmt nicht! Die einen hätten sich über mich lustig gemacht, die anderen hätten hinter meinem Rücken über den alten Skandal geredet. Nein, darauf lege ich keinen Wert. Aber …“, er straffte die Schultern und schloss die Hände fester um die Zügel, „… das ist doch kein Thema für einen schönen Herbsttag! Lass uns weiterreiten. Gibt es noch etwas, das du mir zeigen möchtest?“

Davey wusste, dass es sinnlos war, weiter über Guys Probleme reden zu wollen. Er hob den Arm und deutete nach Nordwesten. „Ich dachte, du würdest dir vielleicht gern die Abtei von Mount Grace anschauen. Ich bin mit der Familie, die dort lebt, recht gut bekannt, daher wird niemand etwas dagegen haben, wenn wir die Ruinen erforschen. Du interessierst dich doch für Altertümer, nicht wahr?“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Das passt natürlich nicht besonders gut zu dem Bild, das die meisten sich von dem gefährlichen Lord Darrington machen. Deshalb habe ich, solange die anderen dabei waren, die Abtei gar nicht erwähnt.“

Guy lächelte amüsiert. „Es ist mir vollkommen gleichgültig, welches Bild andere von mir haben. Aber du hast recht: Ich würde die Ruinen gern besuchen.“ Er wandte den Blick zur Sonne. „Wird die Zeit denn reichen? Es ist schon Mittag.“

„Wir brauchen uns nicht einmal zu beeilen. Wir sehen uns in aller Ruhe die Überreste der alten Abtei an und nehmen dann den Weg am Fuß der Hügel in Richtung Highridge. In Boltby können wir im Gasthof zu Abend essen. Die Küche dort ist sehr gut.“

„Einverstanden! Dann lass uns aufbrechen!“

In perfekter Harmonie ritten die Freunde nebeneinander den Hang hinunter.

Die Ruinen der Abtei von Mount Grace waren wirklich sehenswert. Und so kam es, dass die Freunde sich länger dort aufhielten als ursprünglich geplant. Die Sonne stand schon weit im Westen, als sie sich endlich auf den Heimweg machten.

„Es sieht nach Regen aus“, bemerkte Guy und musterte die dunklen Wolken, die sich am Horizont zusammenzogen.

„Ja, wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht völlig durchnässt zu Hause ankommen wollen“, meinte Davey. „Was hältst du davon, wenn wir das Abendessen in Boltby ausfallen lassen und den kürzesten Weg nach Highridge nehmen?“

„Du willst querfeldein reiten? Gut! Mein Pferd hat sich während der letzten Wochen daran gewöhnt, über die Steinmauern zu springen, die das Weideland durchziehen.“

Davey lachte. „Zugegeben, querfeldein zu reiten, könnte ein bisschen unbequem werden. Aber dafür werden wir das Kaminfeuer und das gute Essen in Highridge umso mehr zu schätzen wissen.“

Sie mussten etwa eine Meile weit einer schmalen Straße folgen, ehe sie das zur Mount Grace Priory gehörende Dorf mit seinen Gärten und kleinen Feldern hinter sich gelassen hatten. Dann wurde die Landschaft karger. Schon bald war weit und breit kein Haus mehr zu sehen.

Guy schaute zum Himmel auf und runzelte die Stirn. Die Sonne war hinter dicken grauen Wolken verschwunden, und die Luft roch nach Regen. „Wie weit ist es noch?“

„Knapp fünf Meilen. Zu dumm, dass wir nicht daran gedacht haben, unsere Reitmäntel mitzunehmen. Ich fürchte, da kommt ein richtiges Unwetter auf uns zu.“

„Mein Herkules ist noch nicht erschöpft, und auch dein Dark Girl macht einen recht frischen Eindruck. Wir können ein bisschen Tempo zulegen. Dann sind wir vielleicht zu Hause, ehe der erste Tropfen fällt.“

„Gut, versuchen wir es! Los geht’s!“

Davey trieb seine kraftvolle Stute zu einer schnelleren Gangart an. Und schon galoppierte sie Seite an Seite mit Herkules über das brachliegende Feld. Eine der vielen Steinmauern tauchte vor ihnen auf. Reiter und Pferde meisterten das Hindernis problemlos, landeten jedoch beinahe inmitten einer Herde von Schafen, die blökend auseinanderliefen.

Das war unvernünftig und riskant, dachte Guy, doch er zügelte seinen Hengst nicht.

Weiter ging der wilde Ritt. Der Himmel hatte sich inzwischen verdunkelt, und von weither war ein Donnerschlag zu hören. Jetzt begann es zu regnen. Noch war es nur ein leichtes Nieseln, aber schon bald würden sich die Schleusen des Himmels öffnen und alles völlig durchnässen.

Eine weitere Steinmauer tauchte auf. Sie war nicht besonders hoch, doch kurz bevor die Pferde zum Sprung ansetzen mussten, strauchelte Dark Girl. Es war zu spät, um noch anzuhalten. Also richtete Davey sich im Sattel auf, beugte sich nach vorn und rief „Hoch!“

Gehorsam hob die Stute ab – und blieb unglücklicherweise mit einem Hinterlauf an der Mauer hängen.

Guy sah, wie das Unglück geschah. Dark Girl stürzte, und Davey flog aus dem Sattel. Guy erschrak, zögerte jedoch keinen Augenblick. Ruhig befahl er Herkules zu springen, landete sicher auf der anderen Seite der Mauer und zügelte das Pferd. Gleich darauf schwang er sich neben seinem Freund und dessen Pferd aus dem Sattel.

Erschrocken bemerkte er, wie ernst die Situation war. Dark Girl lag auf der Seite und hatte Davey unter sich begraben. Das Pferd strampelte mit den Beinen, war aber offensichtlich zu verwirrt und verängstigt, um aufzustehen. Guy unterdrückte einen Fluch, bekam die Zügel der Stute zu fassen und zog. Das genügte, um Dark Girl auf die Füße zu bringen. Sie zitterte am ganzen Körper und schnaubte, schien jedoch unverletzt zu sein.

Guy wandte seine Aufmerksamkeit Davey zu. Dessen Gesicht war unnatürlich blass, seine Augen waren geschlossen. Eines seiner Beine lag seltsam abgewinkelt. „Davey!“ Er ließ sich neben seinem Freund auf die Knie sinken.

Der hob die Lider und murmelte: „… Mist gemacht …“

„Sprich nicht, und bleib ganz ruhig liegen. Ich muss nachschauen, wie schwer du dich verletzt hast.“

„… hätte besser aufpassen müssen“, murmelte Davey.

„Sei still!“, schimpfte Guy. Dann hob er den Kopf. Zwei Knechte, die wohl auf dem Feld gearbeitet hatten, rannten herbei.

„Wir ham alles gesehn“, rief einer ein wenig atemlos. „Könn’ wir irgendwie helfen?“

„Er braucht einen Arzt“, erklärte Guy. „Und wir müssen ihn unbedingt ins Trockene bringen.“

„Da drübn is ne Scheune. Un zum alten Kloster isses auch nich weit.“

Im ersten Moment glaubte Guy, der Mann meine die Abtei von Mount Grace. Doch dann sah er, dass der Knecht auf die Umrisse eines Gebäudes zeigte, das tatsächlich nicht weit entfernt war. „Ist das alte Kloster bewohnt?“, fragte er.

„Lady Arabella is bestimmt da. Sie geht nich mehr aus.“

„Gut!“ Rasch gab Guy den beiden Männern ein paar Anweisungen. „Ich werde hier warten“, schloss er. Dann zog er seine Jacke aus, um Davey damit zuzudecken.

„Ich hasse es, anderen zur Last zu fallen“, klagte der. „Außerdem …“ Er verzog das Gesicht.

„Du hast Schmerzen, nicht wahr? Ein bisschen Geduld! Wenn wir dich erst ins Haus gebracht haben, wirst du dich gleich besser fühlen.“

Davey stöhnte. „Hätte nie gedacht, dass es überhaupt solche Schmerzen gibt.“

„He, du bist doch sonst nicht so wehleidig!“ Insgeheim war Guy erleichtert darüber, dass sein Freund überhaupt Schmerzen empfand. Er hatte nur sehr begrenzte medizinische Kenntnisse, doch er wusste, dass schwere Rückenverletzungen meist dazu führten, dass die Betroffenen ihre Gliedmaßen nicht mehr spüren konnten. „Ich denke, der Arzt wird etwas gegen die Schmerzen tun können“, versuchte er Davey zu trösten.

Der stöhnte erneut auf und schloss die Augen. Gleich darauf sank sein Kopf zur Seite. Nur eine pulsierende Ader an seinem Hals zeigte, dass er noch lebte.

Guy hätte nicht zu sagen gewusst, wie lange er an Daveys Seite ausgeharrt hatte, bis Hilfe kam. Der Himmel war inzwischen noch dunkler geworden, und der Regen hatte zugenommen. Hin und wieder fegte ein Windstoß über das Feld. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ohne dass irgendjemand auftauchte.

Dann endlich erschienen mehrere Männer mit einem Eselskarren. Vorsichtig hoben sie den Verletzten hoch und legte ihn auf den Wagen. In diesem Moment war Guy froh, dass Davey das Bewusstsein noch nicht zurückerlangt hatte. Bestimmt hätte sonst jede Bewegung seinem Freund beinahe unerträgliche Schmerzen bereitet.

Langsam machten alle sich auf den Weg zum alten Kloster. Guy führte Dark Girl und Herkules am Zügel. Als sie ihr Ziel endlich erreichten, war er – wohl auch infolge der Aufregung – völlig erschöpft.

Hinter mehreren Fenstern brannten Kerzen, was das Gebäude in der verregneten dunklen Nacht überaus einladend erscheinen ließ. Die Haustür stand offen, und ein Lichtstrahl fiel auf die steile Außentreppe. Jetzt trat eine Gestalt aus dem Haus. Eine Frau, deren Gesicht nicht zu erkennen war, weil sie das Licht im Rücken hatte. Offenbar hatte sie gehört, dass die Gruppe mit dem Verletzten sich näherte.

„Hier“, rief sie, während sie auf den Eselskarren zulief, „ich habe eine Decke mitgebracht. Legt den Verletzten darauf. Dann könnt ihr ihn leichter tragen.“

Darrington musterte sie schweigend. Sie schien daran gewöhnt zu sein, Befehle zu geben. Freundlich, aber bestimmt erteilte sie den Männern Anweisungen. Und Guy fand, dass sie alles richtig machte. Dann wurde er abgelenkt, weil ein Stallknecht herbeigelaufen kam, um ihm die beiden Pferde abzunehmen. Guy bat ihn, Dark Girl noch einmal auf mögliche Verletzungen zu untersuchen, und folgte dann den anderen ins Haus.

Sie durchquerten eine große Eingangshalle, stiegen eine breite Treppe hinauf und betraten schließlich ein kleines Zimmer, in dem ein Feuer im Kamin prasselte. Offenbar hatte man den Raum in aller Eile für den Verletzten vorbereitet.

Still zog Guy sich in eine Ecke zurück. Von dort aus beobachtete er, was weiter geschah. Die Frau – sie war jünger, als er zunächst angenommen hatte – sorgte dafür, dass Davey vorsichtig aufs Bett gelegt wurde. Ihr rotes Haar leuchtete im Schein des Feuers, sie bewegte sich anmutig und strahlte eine gewisse Selbstsicherheit aus. Das alles gefiel ihm. Doch am meisten beeindruckte ihn, wie ruhig und überlegt sie die Situation meisterte. Niemand hätte bezweifeln können, dass sie mit der Führung eines Haushalts und allen damit zusammenhängenden Pflichten vertraut war. Ob sie Lady Arabella, die Eigentümerin des ehemaligen Klosters, war?

Die Ankunft des Arztes riss ihn aus seinen Gedanken.

„Guten Abend, Mrs. Forrester.“

Also war sie nicht Lady Arabella.

Der Doktor trat ans Bett, betrachtete Davey einen Moment lang und stellte dann fest: „Dies ist also der junge Mann, um den ich mich kümmern soll. Wenn ich es richtig verstanden habe, hatte er einen Reitunfall?“

„Ja.“ Guy trat aus dem Schatten. „Das Pferd hat ihn unter sich begraben.“

„Ah …“ Noch einmal musterte der Arzt den bewusstlosen Mann. Dann zog er sich rasch den Mantel aus. „Machen wir uns also an die Arbeit. Mrs. Forrester, können Sie mir einen Ihrer Bediensteten als Hilfe hierlassen? Die anderen sollten jetzt gehen.“

„Ich werde hierbleiben und Ihnen helfen“, bot Guy an.

„Nein, Sie werden jetzt Ihre nasse Kleidung ausziehen und alles tun, um sich aufzuwärmen. Sonst gehören Sie auch bald zu meinen Patienten“, erklärte der Arzt ruhig, aber bestimmt.

„Martin“, sagte Mrs. Forrester, „du bleibst hier.“ Mit der Hand bedeutete sie den anderen, dass sie den Raum verlassen sollten. „Ich danke euch allen. Geht jetzt in die Küche. Die Köchin hat heißen Punsch für euch vorbereitet.“

„Auch für mich?“, fragte Guy in einem Anflug von Humor.

„Nein.“ Ernst schaute sie ihn aus ihren großen dunklen Augen an. „Sie können sich im ehemaligen Refektorium am Kamin aufwärmen. Man wird Ihnen etwas Heißes zu trinken dorthin bringen. Kommen Sie!“

Er folgte ihr ins Erdgeschoss, wo sie die Tür zu einem riesigen Raum öffnete. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Arzt recht hatte. Er war nicht nur klatschnass, sondern er fror auch. Zum Glück befand sich an einem Ende des Saals ein riesiger offener Kamin, in dem ein Feuer prasselte. Rasch ging er darauf zu.

„Wer, um Himmels willen, sind Sie?“, fragte jemand. „Sie werden den Saal in einen See verwandeln.“

Guy fuhr herum und entdeckte eine alte Dame, die sich aus einem Sessel erhoben hatte und ihn aufmerksam musterte. Sie trug ein schwarzes Kleid und ein schwarzes Seidenhäubchen.

„Verzeihen Sie mein vermutlich ein wenig ungepflegtes Aussehen.“ Guy verbeugte sich. „Darf ich mich vorstellen? Darrington.“

„Der Earl of Darrington?“

„Jawohl, Madam.“ Er hörte, wie Mrs. Forrester scharf Luft holte. Vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er zum Adel gehörte.

„Sie werden sich den Tod holen, wenn Sie sich nicht bald etwas Trockenes anziehen“, verkündete die alte Dame.

„Aber Tilly und Martin sind …“

„Wenn die Dienstboten beschäftigt sind, musst du dich um den Earl kümmern, Elizabeth. Und zwar sofort!“

„Bitte, ich möchte keine Umstände machen“, fiel Guy ein. „Wenn ich mich hier am Feuer aufwär…“

Mrs. Forrester unterbrach ihn. „Meine Großmutter hat recht. Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen heraussuchen.“

Gehorsam folgte er ihr nach oben. Diesmal achtete er mehr auf seine Umgebung und kam zu dem Schluss, dass die Eingangshalle und das ehemalige Refektorium zweifellos zu dem ehemaligen Kloster gehörten, dass es aber auch einen neueren Bereich gab. Offenbar war das ursprüngliche Gebäude während der Tudor-Zeit umgebaut oder erweitert worden. Die Ausstattung der Räume beeindruckte ihn. Überall gab es kostbare alte Möbel und Gemälde. Auch fielen ihm einige Truhen auf, die vermutlich mit Familienschätzen gefüllt waren.

Jetzt öffnete Mrs. Forrester die Tür zu einem gut geheizten kleinen Schlafzimmer. Sie nahm ein großes Handtuch von einem Ständer neben dem Waschtisch. „Trocknen Sie sich ab, Mylord, und legen Sie Ihre nasse Kleidung in den Flur. Ich werde dafür sorgen, dass sie gereinigt und getrocknet wird.“

Er konnte gerade noch Danke sagen, ehe sie schon wieder zur Tür hinaus war.

Es tat gut, aus den nassen Sachen zu schlüpfen und sich abzurubbeln.

Guy zuckte zusammen, als es klopfte. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltbreit und entdeckte ein Bündel Kleidung auf dem Fußboden. Es handelte sich um einen Morgenmantel aus feinster Wolle, der ihm ein wenig zu kurz war, aber wunderbar wärmte.

Wenig später klopfte es erneut.

„Ja?“

Es war Elizabeth Forrester, die ein Tablett trug. Statt es ihr abzunehmen, hielt er ihr die Tür auf, und sie stellte es auf dem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters ab.

„Meine Großmutter sähe es gern, dass Sie mit uns zu Abend speisen. Ich werde nachschauen, ob ich etwas Passendes zum Anziehen für Sie finde. Vorerst bringe ich Ihnen heißen Tee, etwas Brot und Käse sowie ein Glas Wein.“

„Vielen Dank.“ Er schloss die Tür. „Bitte, richten Sie Ihrer Großmutter aus, dass ich mich sehr geehrt fühle.“

Mrs. Forrester ließ den Blick zwischen ihm und der geschlossenen Tür hin und her wandern und wirkte zum ersten Mal verunsichert.

„Können Sie mir sagen, wie es meinem Freund geht?“, fragte Guy. „Ich bin sehr in Sorge um ihn.“

„Dr. Compton ist noch bei ihm.“

„Ah …“ Er wandte sich dem Waschtisch zu. „Darf ich diesen Kamm benutzen? Er gehört Ihnen, nicht wahr. Rote Haare …“

Sie zögerte, nickte dann jedoch. Und er begann, sein noch immer feuchtes Haar zu kämmen.

„Sie haben mir also Ihr eigenes Schlafzimmer zur Verfügung gestellt?“

„Ja, alle anderen Räume waren nicht geheizt und …“ Ihre Stimme erstarb.

„Es mag unklug sein, einen fremden Mann in das eigene Zimmer zu lassen. Aber ich bin Ihnen außerordentlich dankbar. Hoffentlich hat Ihr Gatte nichts dagegen einzuwenden.“

„Er ist schon seit sechs Jahren tot.“

„Mein Beileid. Ist dies sein Morgenmantel?“ Er schaute an sich hinunter.

„Nein, er gehört meinem Bruder. Doch der hat ihn nie getragen, weil er ihm viel zu groß war.“ Sie machte einen zögernden Schritt in Richtung Tür.

„Bitte, bleiben Sie!“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss …“

„Sehen wir uns beim Supper?“

„Ja, sicher.“

„Gut.“ Er nickte ihr zu. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“

Als sie an ihm vorbeiging, nahm er den feinen Geruch nach Limonen wahr, der ihrem Haar entströmte.

2. KAPITEL

Beth war es nur mit Mühe gelungen, die Fassung zu bewahren. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als sie am ganzen Körper zu zittern begann. Ihre Knie wurden so weich, dass sie kaum aufrecht stehen konnte. Ein Stöhnen unterdrückend lehnte sie sich gegen die Wand.

Was, um Himmels willen, hatte sie sich nur dabei gedacht, ein Zimmer zu betreten, in dem ein beinahe nackter Mann sich aufhielt? Der weiche Stoff des Morgenmantels hatte ihn umhüllt wie eine zweite Haut. Seine breiten Schultern, die schmalen Hüften, die muskulösen Oberarme, die kräftigen Schenkel – alles war deutlich erkennbar gewesen. In dem Moment, da ihr klar geworden war, dass er ihr das Tablett nicht abnehmen würde, hätte sie es auf dem Fußboden abstellen sollen. Auf gar keinen Fall hätte sie sich in die Höhle des Löwen wagen dürfen. Schließlich kannte sie den Ruf des Earls. Zweifellos nannte man ihn nicht ohne Grund den gefährlichen Lord Darrington.

Plötzlich musste sie lachen. Die Höhle des Löwen, wahrhaftig! Der Earl hatte tatsächlich die Ausstrahlung eines edlen Raubtiers! Ein Schauer war ihr über den Rücken gelaufen, als sie beobachtete, wie er den Kamm durch sein feuchtes Haar zog. Ja, einen kurzen Moment lang hatte sie sich gewünscht, es wären ihre Finger, die mit diesen dunklen Locken spielten.

Schockiert darüber, wie heftig sie mit all ihren Sinnen auf diesen Fremden reagiert hatte, schloss Beth die Augen. War dies etwas, das allen Witwen passierte, wenn sie ein paar Jahre lang allein gelebt hatten? Sie vermochte es kaum zu glauben, denn die Zärtlichkeiten und die intimen Momente, die sie mit ihrem Gatten erlebt hatte, waren ihr nie besonders bedeutsam erschienen. Und doch hatte sie sich eben vorgestellt, dass der Earl sie in die Arme schließen und leidenschaftlich küssen würde.

Sie zwang sich, langsam und tief zu atmen, um sich zu beruhigen. Sie musste vernünftig sein! Dass der Earl sie so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, hing gewiss nur damit zusammen, dass der ganze Abend so ungewöhnlich verlaufen war. Zu viel Aufregung! Ja, das war es wohl. Also würde sie sich jetzt zusammennehmen und beim Supper wieder ganz sie selbst sein.

„Sie haben also etwas gefunden, das Ihnen passt, Mylord.“ Lady Arabella, die ein ganz in Schwarz und Silber gehaltenes Kleid trug und sehr aufrecht in ihrem Sessel saß, wirkte überaus imposant.

Guy trat zu ihr und verbeugte sich. „Ja, ich hoffe, Sie sind mit meiner Erscheinung zufrieden, Mylady. Die bestickte Weste ist vielleicht etwas unpassend für ein Supper in Yorkshire. Aber ein Morgenmantel wäre wohl noch unpassender gewesen.“

Beth, die neben dem Sessel stand, fand, dass der Earl großartig aussah in der Weste, die farblich zu der blau gestreiften Hose und dem Gehrock aus dunkelblauem Samt passte. Allerdings war die Weste tatsächlich ein wenig auffällig. Sie war nicht nur mit gelben Blüten und grünen Blättern bestickt, sondern zudem mit winzigen rautenförmigen Glasplättchen verziert, die im Kerzenlicht blitzten.

Erst jetzt bemerkte Beth, dass die Kleidungsstücke nicht richtig passten. Über Brust und Schultern des Earls saßen sie sehr eng. Darringtons Bauch jedoch war so flach, dass man problemlos ein Kissen unter Rock und Weste hätte schieben können. Trotzdem hatte er natürlich recht: Alles war besser, als im Morgenmantel zum Supper zu erscheinen.

Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Seine Augen blitzten so spöttisch, dass Beth nicht eine Sekunde lang daran zweifelte, dass er ihre Gedanken erraten hatte. Heftig errötend schaute sie rasch zu Boden.

„Da kein Gentleman anwesend ist, der uns offiziell miteinander bekannt machen könnte, und da meine Enkelin anscheinend die Sprache verloren hat, werde ich mich selbst vorstellen“, verkündete Lady Arabella. „Ich bin Lady Arabella Wakeford, Witwe von Sir Horace Wakeford und Tochter des Marquess of Etonwood. Und dies …“, sie wartete, bis der Earl ihre Hand wieder freigab, nachdem er einen Kuss darauf gehaucht hatte, „… dies ist meine Enkelin Mrs. Elizabeth Forrester.“

Er verbeugte sich. „Mrs. Forrester!“

Beth knickste. Sie wusste nicht recht, ob sie enttäuscht oder erleichtert darüber war, dass er ihr nicht die Hand geküsst hatte.

Ihre Großmutter, der das natürlich nicht entgangen war, schien aus irgendeinem Grund erfreut darüber. „Beth“, erklärte sie, „ist schon seit ein paar Jahren verwitwet. Die Kleidung, die Sie tragen, Mylord, gehörte zur Garderobe ihres Gatten. Ich glaube, er hat sie damals anlässlich seiner Vorstellung bei Hofe ausgewählt.“

„Tatsächlich?“ Guy lächelte. „Es ist mir eine Ehre und eine Freude, heute sozusagen in seine Fußstapfen zu treten.“

Versucht er mit mir zu flirten? fragte sich Beth. Mit fester Stimme sagte sie: „Mir scheint, sie könnten ein wenig zu groß für Sie sein.“

Lady Arabella, der die Zweideutigkeit dieser Worte entgangen war, meinte: „Mr. Forrester neigte zur Korpulenz. Daher sind diese Kleidungsstücke Ihnen zumindest an einigen Stellen wohl wirklich etwas zu groß, Lord Darrington.“

Dessen Augen blitzten amüsiert auf, während Beth am liebsten im Erdboden versunken wäre. Immerhin war es eine Erleichterung festzustellen, dass ihre Großmutter völlig unbefangen fortfuhr: „Ich habe gesehen, wie Sie vor Kurzem das Zimmer Ihres verletzten Freundes verließen. Wie geht es ihm?“

„Dr. Compton hat ihm ein Schlafmittel gegeben, das sehr rasch gewirkt hat. Wie der Arzt mir sagte, sind einige Rippen sowie das rechte Bein gebrochen. Das wird heilen. Doch was mir Sorgen bereitet, ist das Fieber, unter dem er leidet.“

„Ich persönlich bin sehr erleichtert, dass Dr. Compton keine schlechteren Nachrichten hatte. Er ist ein hervorragender Arzt, dem ich voll und ganz vertraue“, erklärte Beth.

„Er hat den Bruch sehr gut gerichtet. Allerdings fürchte ich, dass es noch eine Weile dauern wird, bis wir Mr. Davies guten Gewissens nach Hause bringen können. Er …“ Die Tür wurde geöffnet, und Guy brach mitten im Satz ab.

„Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Großmama.“ Die Stimme der jungen Dame klang angenehm melodisch. „Über all der Aufregung hat niemand daran gedacht, die Eier einzusammeln. Deshalb habe ich der Köchin angeboten, das zu übernehmen. Dabei habe ich mein Kleid schmutzig gemacht, sodass ich mich noch einmal umziehen musste.“

„Sophie!“ Beth trat einen Schritt nach vorn. „Ich möchte dich dem Earl of Darrington vorstellen. Mylord, dies ist meine Schwester Sophie.“

Sophie knickste, und Guy verbeugte sich.

Erleichtert stellte Beth fest, dass die beiden nur wenig Interesse aneinander zeigten. Sie fand, dass ihre Schwester sehr hübsch war. Jeder schien von ihr hingerissen zu sein. Aber sie war erst achtzehn, hatte noch keine Saison in London erlebt und war auch ansonsten nicht sehr erfahren im Umgang mit gut aussehenden Gentlemen. Gerade deshalb fürchtete Beth, Sophie könne sich Hals über Kopf in den als gefährlich bekannten Lord Darrington verlieben.

Doch Sophie erkundigte sich nur höflich nach dem Befinden des Verletzten und meinte dann mit einem ein wenig spöttischen Blick auf die reich bestickte Weste, die der Earl trug: „Ich wünschte, meine Schwester hätte nicht nur diese Kleidungsstücke ihres Gatten aufgehoben.“

Guy lachte. „Ich hätte auch die Uniform eines Lakaien angezogen, wenn sie mir gepasst hätte. Denn die Alternative wäre gewesen, in meinem Zimmer zu bleiben, solange meine eigene Kleidung noch nass ist.“

Beth starrte ihn einen Moment lang an. Das Lachen schien ihn vollkommen zu verwandeln. Ein heißer Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Rasch wandte sie den Blick ab.

„Ich persönlich bedauere es, dass man so aufwendig gearbeitete Kleidungsstücke nur noch selten sieht“, erklärte Lady Arabella. „Natürlich wäre etwas Einfacheres bequemer gewesen. Hättest du dem Earl nicht etwas von Simon geben können, Beth?“

„Die Sachen hätten ihm nicht gepasst, Großmama.“

Guy hob fragend die Augenbrauen.

„Mein Bruder“, erläuterte Beth.

Und Lady Arabella fügte hinzu: „Er ist vor mehr als einem Jahr gestorben.“

„Mein Beileid. War er …?“

Beth wechselte hastig das Thema. „Wollen wir nicht hineingehen? Das Supper ist bereit.“

Sogleich bot der Earl Lady Arabella den Arm.

„Wir halten uns nicht an die in London üblichen Zeiten“, meinte diese. „Wir dinieren früh und lassen das Supper nicht erst um Mitternacht servieren.“

„Wenn man einen Ball besucht, ist es sinnvoll, spät zu essen, Großmama“, sagte Sophie, als alle am Tisch Platz genommen hatten. „Aber hier? Ach, ich freue mich so auf meinen ersten Ball!“ Sie lächelte den Earl an. „Beth wird mich in der nächsten Saison nach London begleiten.“

„Halten Sie sich oft in London auf, Mrs. Forrester?“, erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie verlässt Malpass eigentlich nur, um ihre Freundin in Ripon zu besuchen“, berichtete Sophie. „Aber sie hat versprochen, mich in die Gesellschaft einzuführen, wenn sie erst mit Mr. Radworth verheiratet ist.“

„Sophie!“ Beth legte ihre Gabel mit einer so heftigen Bewegung auf den Tisch, dass es klirrte. „Das interessiert Lord Darrington bestimmt nicht.“

„Es ist kein Geheimnis, dass du eine Übereinkunft mit Miles Radworth hast, Beth. Kennen Sie ihn, Mylord?“

„Nein, Madam.“

„Sein Besitz liegt in Somerset. Aber seit einiger Zeit hat er ein Haus in Fentonby gemietet. Er war es, der uns die Nachricht vom Tod meines Enkels überbrachte.“ Die Augen der alten Dame hatten sich plötzlich mit Tränen gefüllt.

Es wurde sehr still im Raum. Nur das Knistern der brennenden Holzscheite im Kamin war zu hören. Dann erschien der Butler, um die Weingläser zu füllen.

Lady Arabella hob den Kopf und fuhr fort: „Mein Enkel ist bei einem Schiffsunglück ertrunken. Er befand sich auf seiner ‚Großen Tour‘. Wir sind Mr. Radworth sehr dankbar dafür, dass er den weiten Weg auf sich genommen hat, um uns zu informieren.“

„Und dann hat er Beth gesehen und sich sofort unsterblich in sie verliebt“, verkündete Sophie.

„Tatsächlich?“ Guy schaute Beth an.

„Die beiden werden bald heiraten.“ Sophie strahlte.

„Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Forrester.“

„Danke.“ Beth hielt den Blick gesenkt.

„Sie, Mylord, und Ihr Freund wohnen nicht in der Nähe?“, wechselte Lady Arabella das Thema.

„Nun, Mr. Davies besitzt einen Jagdsitz in Highridge, wo ich seit einiger Zeit zu Gast bin.“

„Bis Ihr Freund wieder gesund genug ist, um nach Highridge zurückzukehren, können Sie gern hierbleiben“, bot Lady Arabella großzügig an.

„Nein!“, entfuhr es Beth. Sie errötete und setzte ruhiger hinzu: „Ich denke, für Lord Darrington besteht keine Veranlassung, hier zu bleiben. Wir werden uns gut um Mr. Davies kümmern.“

„Ich würde meinen Freund nur ungern allein lassen.“

„Glauben Sie nicht, dass Sie es in Highridge bequemer hätten? Sie könnten täglich herüber reiten, um nach Mr. Davies zu sehen.“

„Unsinn“, warf Lady Arabella ein, „es sind mehr als fünf Meilen bis Highridge. Ich werde ein Gästezimmer für Sie herrichten lassen, Lord Darrington.“

„Aber …“ Beth war blass geworden. „Wir haben nur wenig Personal. Und der Earl ist gewiss daran gewöhnt …“

„Ich bin ein leicht zufriedenzustellender Mensch“, erklärte Guy mit sanfter Stimme.

In seinen Augen glaubte Beth ein amüsiertes Glitzern zu erkennen. Da es sie erzürnte, sagte sie heftiger als beabsichtigt: „Ein Kranker im Haus macht schon genug Arbeit, auch ohne dass man sich noch um andere Gäste kümmern muss.“

„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich eine Botschaft nach Highridge schicken und Davies’ Kammerdiener bitten, hierher zu kommen. Er gilt als geschickter Krankenpfleger und kann auch mir hin und wieder zur Hand gehen, wenn ich tatsächlich Hilfe benötige.“

„Das ist eine gute Idee“, lobte Lady Arabella. „Möchten Sie auch Ihren eigenen Kammerdiener hier haben? Wir können ihn sicher irgendwo unterbringen.“ Dann wandte sie sich an ihre Enkelin. „Du benimmst dich merkwürdig, Elizabeth. Als wüsstest du nicht, dass heute alles nur deshalb ein wenig schwierig ist, weil wir einigen der Bediensteten freigegeben haben, um zum Markt zu gehen.“

„Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Madam“, sagte Guy, „werde ich meinen Pferdeknecht Holt herbestellen. Meinen eigenen Kammerdiener brauche ich nicht. Ich könnte ihn allerdings bitten, ein paar Dinge für mich zusammenzupacken und sie Peters – das ist Mr. Davies’ Diener – mitzugeben.“

„Damit bin ich durchaus einverstanden“, gab Lady Arabella zurück. „Ich denke, als Tochter eines Marquess weiß ich, wie man Gäste unterhält und bewirtet.“

Das galt Beth, die in diesem Moment begriff, dass jeder weitere Widerstand zwecklos war. „Natürlich, Großmama“, murmelte sie.

Guy warf ihr einen kurzen Blick zu, sagte jedoch nichts. Seine Gedanken kreisten allerdings um sie und ihr seltsames Verhalten. Auch als die Damen das Speisezimmer verlassen hatten, damit er in Ruhe ein Glas Brandy trinken konnte, dachte er unentwegt an Beth Forrester. Warum wollte sie nicht, dass er blieb? Wusste sie um seinen zweifelhaften Ruf? Oder hatte er sie ernstlich verärgert, obwohl er sie doch nur ein wenig hatte necken wollen? Sicher, es war nicht richtig gewesen, die Tür zu schließen, als sie zu ihm ins Schlafzimmer gekommen war. Aber schließlich war sie kein unerfahrenes junges Mädchen, sondern eine verwitwete Frau.

Nun, vielleicht würde es am besten sein, sich bei ihr zu entschuldigen. Schließlich wollte er in der Nähe seines Freundes bleiben, solange es diesem nicht gut ging.

Er leerte sein Glas und begab sich in den Salon, wo er enttäuscht feststellte, dass nur Lady Arabella auf ihn wartete. Ihre Enkelinnen hatten sich bereits zurückgezogen. Sie hielt ihm mit einer wahrhaft majestätischen Geste die Hand zum Kuss hin und wünschte ihm eine gute Nacht. „Martin wird Sie zu Ihrem Zimmer führen, Lord Darrington.“

Er war entlassen.

3. KAPITEL

Guy schaute sich aufmerksam um. Der Bedienstete schien ihn nicht zu einem der Gästezimmer gebracht zu haben, sondern zum Schlafzimmer eines Gentleman.

„Hat Mr. Forrester hier geschlafen?“, erkundigte der Earl sich.

„Nein“, gab Martin zurück, „es ist Mr. Simons Zimmer. Lady Arabella will nicht, dass was verändert wird. Obwohl der junge Herr ja tot ist. Im Schrank sind noch seine Sachen. Die passen Ihnen aber nicht, Euer Lordschaft. Mr. Simon war viel kleiner als Sie. Deshalb hat Mrs. Forrester ein Nachthemd von ihrem Gatten für Sie rausgelegt. Morgen können Sie wieder Ihre eigenen Sachen anziehen, soll ich Ihnen sagen.“

Guy nickte und entließ den Diener. Er zog den Rock aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Es war unangenehm gewesen, ein in den Schultern zu enges Kleidungsstück zu tragen.

Dann warf er einen Blick auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Weit vor Mitternacht! Kein Wunder, dass er sich trotz all der Aufregung noch nicht müde fühlte. Nun, er konnte die Zeit nutzen, um seine Umgebung ein wenig zu erforschen.

An der Wand hingen Gemälde von Pferden und Jagdszenen. In einem Regal standen ein paar Bücher. Alles wirkte so, als sei der Bewohner des Zimmers nur kurz hinausgegangen und würde jeden Moment zurückerwartet. Eine Ausnahme bildete lediglich der Waschtisch. Dort gab es weder Bürste noch Rasiermesser und auch sonst nichts von dem, was ein Gentleman normalerweise benötigte. Vermutlich hatte Simon Wakeford all diese Dinge mitgenommen auf die Reise. Sie mussten mit ihm im Meer versunken sein.

Guy empfand ehrliches Mitgefühl für Lady Arabella und ihre Enkelinnen. Sein eigener Bruder Nick fuhr zur See, und tatsächlich hatte er sich schon oft Sorgen seinetwegen gemacht. Er konnte sich vorstellen, wie schmerzhaft es war, einen geliebten Menschen zu verlieren. Für Mrs. Forrester musste es besonders schlimm sein, denn sie war verwitwet und trug nun die Verantwortung für ihre Schwester und ihre Großmutter.

Andererseits, überlegte er, geht mich das alles nichts an; sie hat mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass ich hier nur geduldet bin; warum also sollte ich meine Sympathie an sie verschwenden?

Er begann die Weste aufzuknöpfen, hielt aber inne, als er einen leisen Schrei hörte. Besorgt runzelte er die Stirn. Ehe er zu Bett ging, sollte er wohl noch einmal nach Davey schauen und sich davon überzeugen, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging. Er nahm den Kerzenleuchter vom Nachttisch und trat in den Flur hinaus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die geliehenen Schuhe bereits ausgezogen hatte. Nun, sie waren sowieso zu groß. Deshalb hätte er nicht leise in ihnen gehen können. Auf Strümpfen würde er zumindest niemanden stören. Und er hatte ja nicht vor, das Haus zu verlassen.

Wenig später stand er vor Daveys Zimmer. Durch eine Ritze unter der Tür fiel ein schwacher Lichtstrahl. Guy trat ein, ohne anzuklopfen. Auf dem Nachttisch stand eine Lampe, deren Docht so weit heruntergedreht war, dass nur die nächste Umgebung beleuchtet wurde und die Ecken des Raumes im Schatten lagen.

Eine Bewegung in der Nähe des offenen Kamins, in dem ein paar Holzscheite brannten, zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Mrs. Forrester!“

Sie sprang erschrocken auf. Der Schein des Feuers fing sich in ihrem roten Haar und ließ es aufleuchten. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.

„Ich habe einen Schrei gehört und wollte nachsehen, ob es womöglich Mr. Davies war“, meinte er entschuldigend. Er betrachtete seinen Freund, der reglos dalag. Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Ausdruck von Angst über Beth Forresters Gesicht huschte.

Sie machte einen Schritt in Richtung Tür, besann sich dann jedoch anders. „Mr. Davies hat keinen Laut von sich gegeben, seit ich hier bin. Vielleicht haben Sie einen Pfau schreien hören oder irgendein Tier, das im Dunkeln auf Jagd geht. Auf dem Lande ist die Nacht voll von geheimnisvollen Geräuschen.“

„Ja, das stimmt.“ Er nickte nachdenklich. „Darf ich fragen, warum Sie hier sind, Mrs. Forrester?“

„Dr. Compton meinte, es wäre gut, wenn jemand bei Ihrem Freund wachen würde.“

„Dabei hat er bestimmt nicht an Sie gedacht, Madam.“

Sie setzte sich wieder. „Ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass Mr. Davies alles hat, was er benötigt. Außerdem brauchen die Dienstboten ihre Nachtruhe, wenn sie morgen all ihre Pflichten gut erfüllen sollen.“

„Und Sie können einfach auf Ihre Nachtruhe verzichten?“ Er stellte den Leuchter auf dem Kaminsims an und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Davey zu. „Glauben Sie, dass mit ihm alles in Ordnung ist?“

„Ab und zu wird er ein bisschen unruhig. Aber bisher ist er nicht aufgewacht. Tatsächlich wurde ich müde davon, ihm beim Schlafen zuzuschauen.“

„Vielleicht kann meine Gesellschaft Sie wieder munter machen?“, meinte er mit einem Anflug von Humor. „Ist es Ihnen recht, wenn ich ein bisschen hier bleibe?“

„Eigentlich nicht. Ich meine …“ Schon wieder war es ihm gelungen, sie zu verunsichern! Hatte er ihre Worte etwa so gedeutet, als bitte sie ihn, ihr Gesellschaft zu leisten?

Guy begriff sogleich, warum sie mitten im Satz abgebrochen hatte. Lächelnd sagte er: „Die Zeit vergeht schneller, wenn man jemanden hat, mit dem man sich unterhalten kann.“

„Ja“, murmelte sie.

Dann bemerkte er, dass sie seine Füße musterte. „Ich wollte nicht alle aufwecken, indem ich mit den Schuhen Ihres Gatten durchs Haus poltere“, erklärte er.

„Sie waren sehr leise. Ich jedenfalls habe Sie nicht gehört, obwohl es in diesem Haus aufgrund seines Alters jede Menge knarrende Dielenbretter und quietschende Türen gibt.“

„Ja, das ist mir aufgefallen, als Martin mich zu meinem Zimmer geführt hat. Alte Gemäuer sind des Nachts oft von seltsamen, geradezu unheimlichen Lauten erfüllt. Kein Wunder, dass manche Menschen glauben, es spuke in ihnen.“

„Dabei ist es nur der Wind, der an den Fensterläden und Türen rappelt und heulend ums Haus streicht“, setzte Beth hinzu. Man hätte fast meinen können, sie sei froh, natürliche Erklärungen für alle möglichen geheimnisvollen Geräusche geben zu können. „Wir hatten schon Gäste, die fest davon überzeugt waren, in Malpass Priory ginge ein Geist um. Angeblich hatten sie Stimmen gehört und nebelhafte Gestalten gesehen. Absurd, nicht wahr? Ich hoffe, Mylord, dass Sie sich nicht beunruhigen lassen und in Zukunft einfach im Bett bleiben, wenn Sie irgendwelche Laute hören.“

„Das werde ich tun“, versprach er.

Schweigen senkte sich über den Raum, und es verging einige Zeit, ehe Guy erneut das Wort ergriff. „Es ist mir sehr lieb, Mrs. Forrester, dass ich Gelegenheit habe, mit Ihnen zu sprechen. Ich bedaure aufrichtig, dass mein Freund und ich Ihnen so viel zusätzliche Arbeit bereiten.“

„Bitte, machen Sie sich deshalb keine Gedanken!“

„Nun, offensichtlich wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich nach Highridge zurückgekehrt wäre.“

Beth errötete. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Verzeihen Sie mir!“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Unter den gegebenen Umständen verstehe ich Ihre Position durchaus.“

Erschrocken schaute sie zu ihm hin. Ahnte er etwas?

„Es muss schlimm für Sie gewesen sein, mich in der Kleidung Ihres verstorbenen Gatten zu sehen.“

„Oh …“ Vor Erleichterung hätte sie am liebsten laut aufgelacht. „Ich bin seit beinahe sechs Jahren verwitwet und hatte diese Kleidungsstücke schon fast vergessen. Im Übrigen ähneln Sie Mr. Forrester überhaupt nicht. Er …“ Verlegen brach sie ab. Dachte der Earl jetzt womöglich, sie wolle mit ihm flirten? „Er war ein guter Mensch“, schloss sie lahm.

„Im Gegensatz zu mir?“

„Woher soll ich das wissen?“, gab sie errötend zurück. „Ich kenne Sie ja kaum.“

„Ich bitte um Vergebung. Ich konnte der Versuchung, Sie ein wenig zu necken, einfach nicht widerstehen.“

Beth presste die Lippen zusammen, so als sei sie verärgert. Insgeheim aber musste sie sich eingestehen, dass seine Neckerei ihr erschreckend gut gefiel.

In diesem Moment stieß Mr. Davies ein langes Stöhnen aus.

Beth tauchte einen Lappen in eine Schüssel mit Wasser, die auf dem Nachttisch stand, wrang ihn aus und wischte dem Verletzten den Schweiß von der Stirn. „Lavendelwasser“, erklärte sie. „Ein altes Beruhigungsmittel.“

Diesmal jedoch schien es seine Wirkung zu verfehlen. Ohne die Augen zu öffnen, versuchte Davey, sich auf die Seite zu drehen. Und da ihm das offensichtlich Schmerzen bereitete, begann er laut zu fluchen.

„Vielleicht möchten Sie sich zurückziehen?“, schlug Guy vor. „Ich werde mich um ihn kümmern.“

Beth schaute ihn beinahe mitleidig an. „Von meinem Gatten und meinem Bruder habe ich schlimmere Flüche gehört. Können Sie ihn festhalten, damit ich ihm noch ein bisschen Laudanum einflößen kann?“

„Natürlich.“

Erstaunt stellte sie fest, dass der Earl sich sehr geschickt anstellte. Er stützte seinen Freund so lange, bis sie diesem die Medizin verabreicht, das Laken glatt gezogen und das Kopfkissen aufgeschüttelt hatte. Schließlich war alles erledigt, und Mr. Davies lag wieder reglos da.

Schweigend wachten Beth und Guy über ihn. Es war ein überraschend angenehmes kameradschaftliches Schweigen. Und es dauerte so lange, dass Beth irgendwann einschlummerte.

Als sie einige Zeit später erwachte, stellte sie fest, dass die Kerze, die der Earl mitgebracht hatte, erloschen war und dass das Feuer weit heruntergebrannt war. Sie wollte aufstehen, um Holz nachzulegen, doch Darrington kam ihr zuvor. Er kniete sich vor den Kamin, blies in die Asche, bis tatsächlich ein paar kleine Flammen aufflackerten, legte rasch eine Handvoll Späne nach, dann kleine Holzscheite und schließlich größere.

Fasziniert schaute Beth ihm zu. Noch immer trug er die bestickte Weste. Sie spannte über seinen kräftigen Schultern ein wenig. Die Hose verbarg weder die schmalen Hüften noch die muskulösen Oberschenkel. Der Earl bewegte sich geschickt und sicher! Er war sehr … männlich. Beth musste ein Seufzen unterdrücken.

Als Guy sich schließlich aufrichtete, musterte er das nun fröhlich flackernde Feuer mit einem letzten kritischen Blick.

Beth wiederum musterte sein Profil. Die gerade Nase, die fein geschwungenen Lippen, die glatte Stirn und das eigenwillige Kinn verliehen ihm ein markantes Aussehen.

In diesem Moment wandte er sich ihr zu, und ihre Blicke begegneten sich. Seine grauen Augen hatten etwas Hypnotisches. Beth erschrak. Ein Gefühl nahender Gefahr breitete sich in ihr aus. Vermutlich war im Haus niemand außer ihnen wach. Ihr stockte der Atem.

Irgendwo krähte ein Hahn.

Sein Kikeriki riss sie aus ihrer Starre. „Die Dienstboten werden bald aufstehen“, sagte Beth mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam. „Es wäre sicher klug, wenn Sie sich jetzt in Ihr Zimmer begeben würden, Mylord. Ich kenne Ihren Ruf und möchte vermeiden, dass man über uns klatscht.“

Er hob die Augenbrauen.

„Wir lesen den ‚Intelligencer‘.“

„Das erklärt allerdings einiges“, meinte er trocken. „Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Schließlich sind wir nicht allein.“

Sie warf einen kurzen Blick auf Mr. Davies, der mit geschlossenen Augen dalag. „Ich glaube nicht, dass er die Anforderungen erfüllt, die man an eine Anstandsdame stellt“, meinte sie leicht amüsiert. „Auf jeden Fall sollten Sie noch ein wenig schlafen. Auch ich werde mich für ein paar Stunden hinlegen, sobald meine Zofe mich hier ablöst.“

Er erhob sich, und unwillkürlich sprang auch sie auf. Sie war gewiss keine kleine Frau, doch er überragte sie um Haupteslänge. Ihr Blick blieb an seinem Mund hängen. Zum ersten Mal nahm sie die kleinen Lachfältchen wahr. Ein Gentleman mit Humor, ein angenehmer Gesellschafter! Oder einfach nur ein gefährlicher Mann?

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Er verbeugte sich.

Gleich darauf war sie allein.

4. KAPITEL

Lady Arabella war keine Frühaufsteherin, sondern verließ ihr Schlafzimmer in der Regel erst kurz vor Mittag, um zu frühstücken. Um diese Zeit hatte Beth normalerweise schon viele ihrer Pflichten als Hausherrin erfüllt. Doch nach der zum größten Teil durchwachten Nacht in Mr. Davies’ Krankenzimmer verschlief sie den Vormittag. Erst als Dr. Compton erschien, um nach dem Patienten zu sehen, wurde sie von ihrer Zofe geweckt.

So kam es, dass Beth das Frühstückszimmer ziemlich spät betrat. Lord Darrington saß, ihr den Rücken zukehrend, mit ihrer Großmutter am Tisch. Die zwei schienen sich bestens zu verstehen. Sichtlich gut gelaunt tauschten sie Informationen über Leute aus, deren Namen Beth nie zuvor gehört hatte.

Gerade als sie den beiden einen guten Morgen wünschen wollte, seufzte Lady Arabella tief auf. „Natürlich war ich schon lange nicht mehr in London“, sagte sie, „und viele meiner alten Freunde sind bereits tot. Hier in Yorkshire bin ich vom gesellschaftlichen Leben praktisch abgeschnitten.“

„Aber Großmama“, widersprach Beth, „Sophie und ich lesen dir täglich die Londoner Zeitungen vor.“

„Einschließlich des ‚Intelligencer‘ …“, murmelte Guy und sprang auf, um einen Stuhl für Beth zurechtzurücken.

Beth vermied es, zu ihm hinzuschauen.

„Eine Zeitung kann doch keine persönlichen Kontakte ersetzen“, ereiferte Lady Arabella sich. Doch dann schenkte sie dem Earl ein Lächeln und meinte zu ihrer Enkelin: „Ich habe Lord Darrington geraten, mehr Zeit in London zu verbringen.“

„Ich mag London nicht besonders“, gab er in beinahe entschuldigendem Ton zurück. Er trug wieder seine eigene inzwischen gereinigte Kleidung – einen Reitrock aus feiner Wolle und Wildlederbreeches – und sah sehr gut aus.

„Mrs. Robinson hat sich offenbar mit großem Erfolg Ihrer verschmutzten Garderobe gewidmet“, stellte Beth zufrieden fest.

„Allerdings. Bitte, richten Sie ihr meinen Dank aus. Trotzdem werde ich mich besser fühlen, wenn Holt mit meinem Gepäck eintrifft. Zum Dinner würde ich doch gern etwas ein wenig Eleganteres als gestern tragen.“

Er lächelte charmant, doch Beth wollte sich davon nicht beeindrucken lassen. „Es ist gewiss nicht nötig, dass Sie die Unbequemlichkeiten einer weiteren Nacht hier in Malpass Priory auf sich nehmen“, erklärte sie.

„Das genügt, Elizabeth“, tadelte ihre Großmutter sie mit scharfer Stimme. „Ich habe Lord Darrington gebeten, bis auf Weiteres mein Gast zu sein.“

„Aber wir können dem Earl unmöglich das bieten, woran er gewöhnt ist. Er …“

Lady Arabella brachte ihre Enkelin mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen und wandte sich wieder Guy zu. „Elizabeth scheint zu glauben, wir seien nicht gut genug für Sie, Darrington. Dabei können die Wakefords ihre Abstammung zurückverfolgen bis in die Zeit vor William dem Eroberer. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das eine längere Ahnenreihe als die Ihre.“

„Ja, über meine Vorfahren gibt es erst seit der Zeit Charles II. schriftliche Zeugnisse. Man könnte fast sagen, dass ich zu einer Familie von Emporkömmlingen gehöre.“

Beth war das Blut in die Wangen gestiegen. „Großmama, du hast mich missverstanden. Mylord, mir ging es nur um Ihre Bequemlichkeit.“

Seine Miene verriet, dass er ihren Worten keinen Glauben schenkte. Und womöglich hätte er eine Bemerkung gemacht, wenn nicht in diesem Moment Sophie ins Zimmer gekommen wäre. Freundlich begrüßte sie alle Anwesenden und erkundigte sich dann nach Mr. Davies’ Zustand.

„Ich habe meinen Freund heute noch nicht besucht, Miss Wakeford“, meinte Guy. „Aber ich bin sicher, dass man alles Menschenmögliche für ihn tut.“ Er warf Beth einen kurzen Blick zu. Als sie nickte, fuhr er fort: „Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mrs. Forrester, dass Sie sich in der Nacht so fürsorglich um ihn gekümmert haben.“

„Ah, dann ist es wohl der Schlafmangel, der dich heute so unleidlich macht, Elizabeth“, stellte Lady Arabella fest.

Normalerweise hätte Beth über eine solche Bemerkung gelacht. Doch die Anwesenheit des Earls machte sie seltsam beklommen. Um auf andere Gedanken zu kommen, wandte sie sich an ihre Schwester. „Hast du heute Zeit, mir zu helfen, Sophie? Wir müssen unbedingt noch mehr Beinwell sammeln.“

„Das habt ihr doch erst in der vergangenen Woche getan“, wunderte sich Lady Arabella. „Davon müsstet ihr doch jetzt wirklich genug haben.“

„Rudge hat um einen größeren Vorrat gebeten. Er benutzt die Blätter zur Behandlung von verletzten Pferden“, erklärte Beth.

„Dann soll er sie doch selber sammeln! Er ist für die Pflege der Tiere verantwortlich, nicht ihr. Er könnte auch einen Stallburschen losschicken.“

„Aber ich gehe gern“, meinte Sophie rasch. „Ich weiß, wo man die besten Beinwellpflanzen findet, und werde im Nu den Korb voll haben. Dann hat Rudge genug frische Blätter, und den Rest können wir trocknen.“ Sie lächelte ihre Großmutter an. „Ich werde rechtzeitig zurück sein, um dir die Zeitungen vorzulesen, ehe du dich zu deinem Nickerchen hinlegst.“

„Du hast vergessen, dass wir einen Gast haben, der sich vielleicht ein wenig Unterhaltung wünscht.“

„Nein, nein“, wehrte Guy ab, „ich bin froh, etwas Zeit für mich allein zu haben.“

„Sie können uns gern begleiten, Lord Darrington“, meinte Beth höflich. Doch die Erleichterung war ihr anzusehen, als er ablehnte.

„Die Kutsche von Highridge wird wahrscheinlich bald eintreffen“, sagte er. „Am liebsten würde ich ihr ein Stück entgegengehen.“

„Gut. Und wir wollen unsere Körbe holen, Sophie.“

Die Schwestern verließen das Frühstückszimmer, Lady Arabella zog sich zurück, um sich ihrer Korrespondenz zu widmen, und Guy blieb allein zurück. Er beschloss, zunächst einmal nach Davey zu sehen. Als er diesen schlafend vorfand, begab er sich nach draußen.

Es war ein sonniger Vormittag, der jedoch schon das Nahen des Herbstes ahnen ließ. Allerdings erinnerte nichts mehr an das Gewitter vom Vortag. Und es war schwer vorstellbar, dass Davey gestern Nachmittag bewusstlos ins Haus getragen worden war.

Guy blickte sich aufmerksam um. Das ursprüngliche Gebäude des ehemaligen Klosters war kaum verändert worden, allerdings hatte man es durch Anbauten erweitert. Eine schwere Tür neben den Stufen, die zum Haupteingang hinaufführten, schien den Eingang zu einem alten Gewölbekeller zu bilden. Sie weckte seine Neugier, war aber verschlossen, wie Guy mit Bedauern feststellte.

Also wandte er seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Rasch überquerte er den gut gepflegten Hof und betrat die Stallungen. Ein grauhaariger Mann untersuchte gerade Daveys Pferd. Als er den Earl bemerkte, grüßte er höflich.

„Sie sind Rudge, nicht wahr? Ich hoffe, die Stute hat sich bei dem Sturz nicht verletzt.“

„Es geht ihr gut, Euer Lordschaft. Se is ein echtes Jagdpferd. Natürlich war se aufgeregt! Aber wir ham uns gut um se gekümmert. Un jetzt fühlt se sich wieder wohl.“

„Das ist gut“, meinte Guy. „Es wäre mir gar nicht recht gewesen, wenn Sie sich um ein weiteres verletztes Pferd hätten kümmern müssen. Bestimmt haben Sie auch so genug zu tun.“

„Ein verletztes Pferd?“

„Mrs. Forrester erwähnte, dass Sie um Beinwellblätter gebeten hätten. Daraus habe ich geschlossen, dass eines der Pferde krank ist.“

„Keins von unsern, nein!“ Rudge schüttelte den Kopf. „Ich seh se mir jeden Morgen genau an. Mit ihnen is alles in Ordnung.“

Guy runzelte die Stirn. „Schön …“, murmelte er. In diesem Moment waren die Geräusche einer sich nähernden Kutsche zu vernehmen. „Ah, das ist sicher Mr. Davies’ Kammerdiener. Und mein Pferdeknecht Holt müsste auch dabei sein. Können Sie ihn irgendwo unterbringen, Rudge? Solange er hier ist, wird er sich selbstverständlich an Ihre Anweisungen halten.“

Rudge nickte, und Guy verließ die Stallungen, um die Ankunft der Kutsche zu beobachten.

Holt saß auf dem kleinen Sitz hinten am Wagen. Er sprang hinab, noch ehe das Gefährt zum Stehen kam. Guy erklärte ihm kurz, was geschehen war und was er von ihm erwartete. Holt hörte aufmerksam zu und beeilte sich dann, in den Stall zu kommen, um sich um Herkules und Dark Girl zu kümmern.

Unterdessen war Peters ausgestiegen und gab dem aus dem Haus herbeigeeilten Martin Anweisungen, wie das Gepäck abzuladen sei.

Unwillkürlich musste Guy schmunzeln. Peters war zwar klein und schmal, hatte jedoch ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen.

In kürzester Zeit hatte Peters sich im Zimmer seines Herrn häuslich eingerichtet. Ehe Dr. Compton den versprochenen Krankenbesuch machte, waren bereits alle Reisetaschen ausgepackt und Edwin Davies war frisch gewaschen und rasiert. Das geborgte Nachthemd allerdings trug er noch, denn Guy hatte nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der Patient erst bewegt werden sollte, wenn der Arzt seine Zustimmung dazu gegeben hatte.

Davey, der vom Laudanum noch benommen war, aber dennoch Schmerzen litt und sich insgesamt unwohl fühlte, fluchte laut, als Peters endlich das Rasiermesser aus der Hand legte. Daraufhin sagte der Kammerdiener: „Ich bin froh, dass es Ihnen wieder besser geht, Sir“, und verließ den Raum, um das benutzte Wasser fortzubringen.

„Warum, zum Teufel, hast du ihn herbestellt, Guy?“, schimpfte Davey. Sein sonst so jungenhaft fröhliches Gesicht spiegelte seine Unzufriedenheit wider.

„Weil niemand sich besser um dich kümmern könnte als er.“ Guy ließ sich vorsichtig auf dem Bettrand nieder. „Wie fühlst du dich, alter Junge?“

„Schrecklich! Ich glaube, es gibt keine einzige Stelle an meinem Körper, die nicht wehtut. Jeder Atemzug schmerzt. Und mein Bein …“ Er unterbrach sich und schaute seinen Freund erschrocken an. „Es ist doch hoffentlich nicht gebrochen?“

„Doch“, erklärte Guy ruhig. „Aber der Arzt sagt, es sei kein komplizierter Bruch. Wenn du vernünftig bist, wird alles wunderbar verheilen.“

„Verflucht …“ Einen Moment lang schloss Davey die Augen. Dann fragte er: „Wo sind wir?“

„Malpass Priory. Wenn ich es recht verstanden habe, gehört das Anwesen Lady Arabella Wakeford. Kennst du sie?“

„Nein, ich bin ihr nie zuvor begegnet. Ihren Namen habe ich jedoch schon gehört.“

„Ich auch. Allerdings erinnere ich mich nicht, in welchem Zusammenhang. Jedenfalls scheint es eine lange Ahnenreihe zu geben.“

„Das Haus zumindest ist alt“, bestätigte Davey, der die holzvertäfelten Wände, das bleiverglaste Fenster und auch die schweren Möbel kritisch gemustert hatte. „Ich bin nur froh, dass sie die ursprüngliche Matratze gegen eine neuere ausgetauscht haben. Wie bist du untergebracht, Guy?“

„Recht bequem.“

Davey war das kurze Zögern seines Freundes nicht entgangen. „Wir machen der alten Dame unnötige Umstände, nicht wahr?“

„Nein, sie scheint froh darüber zu sein, Gäste zu haben. Eine ihrer Enkelinnen allerdings zeigt wenig Begeisterung über unsere Anwesenheit. Zumindest mich wäre sie gern los.“ Er zuckte die Schultern. „Vielleicht täusche ich mich ja. Möglicherweise fühlt sie sich nur ein bisschen unsicher mit zwei Gentlemen im Haus. Es gibt nämlich keinen Hausherrn. Die alte Dame lebt allein mit ihren beiden Enkelinnen. Der Bruder der jungen Damen ist vor über einem Jahr gestorben.“

„Ah …“ Davey lächelte schief. „Wahrscheinlich fürchtet die eine Enkelin, vom gefährlichen Lord Darrington verführt zu werden. Mach dir keine Sorgen deshalb. Sie wird früh genug merken, dass du dich nur den Frauen widmest, die sich dir an den Hals werfen.“

„Das ist ein merkwürdiges Kompliment“, beschwerte Guy sich. Er hatte bemerkt, dass die Unterhaltung seinen Freund anstrengte. „Ich lasse dich jetzt allein. Ruh dich noch ein wenig aus, ehe der Doktor kommt! Er heißt Compton und macht einen zuverlässigen Eindruck. Aber wenn du möchtest, sorge ich dafür, dass Dr. Hermle nach dir schaut.“

„Das wird nicht nötig sein. Sag Peters, er soll mich in Ruhe lassen. Dann werde ich schon von allein wieder gesund.“

Lachend verließ Guy das Krankenzimmer, um nachzuschauen, welche Kleidungsstücke sein eigener Kammerdiener für ihn eingepackt hatte. Doch ehe er sein Zimmer erreicht hatte, hörte er Stimmen aus der Eingangshalle. Neugierig ging er zurück zur Treppe. Jemand wartete in der Nähe des offenen Kamins.

Leise stieg Guy die Treppe hinunter.

Bei dem Neuankömmling handelte es sich um einen elegant gekleideten Gentleman, der seinen Biberfilzhut in der Hand hielt. Er trug eine rehbraune Hose, auf Hochglanz polierte Schuhe und einen dunkelblauen Gehrock. Handschuhe und Reitgerte hatte er auf einem Beistelltisch abgelegt.

Als Guy in die Halle trat, wandte der Mann sich um. „Sie müssen Lord Darrington sein“, meinte er höflich. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Miles Radworth.“

Der Verlobte, dachte Guy, und er scheint mich nicht zu mögen.

„Kepwith hat mir von dem Unfall erzählt. Ich hoffe, Ihr Freund hat sich nicht schwer verletzt.“

„Er hat ein paar gebrochene Rippen und auch andere Verletzungen. Wir alle hoffen, dass keine Komplikationen auftreten. Dr. Compton hat versprochen, heute noch einmal nach ihm zu sehen.“

„Ein fähiger Arzt, soweit ich weiß. Bei ihm ist Ihr Freund in den besten Händen. Gewiss werden Sie ihn so bald wie möglich in sein eigenes Heim zurückbringen wollen.“

Guy bedachte Radworth mit einem nichtssagenden Lächeln. „Lady Arabella hat sich überaus hilfsbereit gezeigt. Wir sind ihr sehr dankbar für ihre Gastfreundschaft.“

„Freut mich, das zu hören.“ Das war zweifellos eine Lüge.

Vom Eingang her war das Rascheln von Röcken zu hören. Beide Männer wandten sich zur Tür.

„Miles!“ Beth lächelte ihn an. „Ich habe heute gar nicht mit einem Besuch von dir gerechnet.“ Sie nahm ihren Hut ab, und einen Moment lang fielen die Strahlen der Sonne direkt auf ihr Haar, das rotgolden aufleuchtete. Dadurch wirkte ihre Haut noch zarter, ihre braunen Augen erschienen ihm noch größer. Unwillkürlich fühlte Guy sich an ein altes Gemälde erinnert, das er einmal gesehen hatte: Der italienische Maler hatte einen Engel dargestellt, der vom Himmel zur Erde hinabstieg.

„Ich hatte auch nicht vor, heute zu kommen“, meinte Radworth, trat auf Beth zu und zog ihre Hand an die Lippen. „Doch als ich von dem Unfall erfuhr …“

Sie drückte kurz seine Finger und entzog ihm ihre Hand dann. „Hast du dich schon mit Lord Darrington bekannt gemacht?“

Beide Gentlemen nickten.

„War Ihre Suche erfolgreich, Madam?“, erkundigte Guy sich. „Haben Sie genug Beinwell gefunden?“

„Ja, wir haben zwei Körbe gefüllt. Ich habe sie Sophie überlassen, die damit direkt zur Vorratskammer gegangen ist.“

„Gut, da wird Ihr Stallmeister sich freuen. Die Blätter sollten doch zur Behandlung eines lahmen Pferdes dienen, nicht wahr?“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. „Beinwell kann man ganz unterschiedlich einsetzen. Wir werden einige der Blätter trocknen, damit wir im Winter auf unseren Vorrat zurückgreifen können.“ Beth wandte sich wieder Miles Radworth zu. „Du bist also hergekommen, um dich davon zu überzeugen, dass bei uns alles in Ordnung ist? Wie lieb von dir!“

Er verbeugte sich. „Tatsächlich kam ich auch in der Hoffnung her, zum Dinner eingeladen zu werden. Ich hoffe nur, dass Lady Arabella nichts gegen meine ein wenig unpassende Kleidung einzuwenden hat.“

Guy schien es, als würde Beth einen Moment lang mit der Antwort zögern.

„Natürlich bleibst du zum Dinner, Miles! Du weißt doch, dass wir keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten legen. Allerdings habe ich im Moment wenig Zeit für dich. Bitte, nimm mir das nicht übel! Wir erwarten Dr. Compton …“

„Mach dir um mich keine Gedanken“, unterbrach Radworth sie. „Vielleicht kann ich dich sogar ein wenig entlasten? Was meinst du, soll ich Lady Arabella aus der Zeitung vorlesen?“

„Danke, aber das wird nicht nötig sein. Sophie und Großmutter wollen ein bisschen Zeit miteinander verbringen.“

„Du bestehst immer noch darauf, mich wie einen Gast zu behandeln“, sagte Radworth mit leisem Vorwurf. „Dabei werden wir im November …“

„Im November wird sich vieles ändern“, gab sie ruhig zurück. „Doch bis dahin ist noch ein wenig Zeit. Vielleicht könntest du dem Earl die Bibliothek zeigen? Du weißt über die wertvollen Bücher dort womöglich mehr als ich.“

„Ich würde gern dabei sein, wenn Dr. Compton meinen Freund untersucht“, wandte Guy ein. Es störte ihn ein wenig, wie Mrs. Forrester über seine Zeit verfügen wollte.

„Denken Sie, dass Ihre Gegenwart im Krankenzimmer nötig ist?“, fragte Radworth.

Zorn wallte in Guy auf.

„Nötig wohl nicht“, meinte Beth lächelnd, „aber auf jeden Fall verständlich. Lord Darrington macht sich Sorgen um seinen Freund. Ich dachte“, sie wandte sich zu Guy um, „wir könnten schon jetzt zu Mr. Davies gehen und nachschauen, ob alles für Dr. Comptons Besuch bereit ist. Miles, möchtest du es dir so lange in der Bibliothek bequem machen? Ich komme so bald wie möglich zu dir.“

Es gelang Radworth einigermaßen, seinen Ärger zu verbergen. Nachdem er Beth noch einmal zugenickt hatte, zog er sich zurück.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Guy: „Ich komme gerade von Mr. Davies. Er ist sehr erschöpft und wünscht sich nichts mehr, als bis zum Besuch des Arztes ungestört zu bleiben.“

Beth hob die Brauen. „Warum haben Sie das nicht erwähnt, ehe ich Mr. Radworth fortgeschickt habe?“

„Ich bin sicher, dass er meine Gesellschaft nicht besonders schätzt.“

„Er fürchtet lediglich, dass Ihre Anwesenheit hier eine Belastung für uns sein könne.“

„Ah, Sie verteidigen ihn!“

Kampflustig schob sie das Kinn vor. „Er ist mein Verlobter und ein guter Freund der Familie.“

Guy schaute ihr einen Moment lang in die Augen. „Die Hochzeit soll im November stattfinden?“

„Ja.“

Die kurze Antwort verriet keine Vorfreude. Und Guy runzelte die Stirn. Waren die meisten Frauen nicht überglücklich über eine bevorstehende Eheschließung?

Auch Beth war aufgefallen, wie seltsam ihre einsilbige Antwort gewirkt haben musste. Nun, sie würde sich auf die Hochzeit freuen, wenn ihre anderen Probleme erst gelöst waren!

„Es tut mir leid“, bemerkte Guy, „dass Mr. Davies und ich Ihr Leben so durcheinandergebracht haben.“

Da sie nicht lügen wollte, schwieg sie.

In diesem Moment ertönte vom Eingang her Dr. Comptons fröhliche Stimme. „Guten Tag, Mrs. Forrester. Gut, dass Sie sich keine schlimme Erkältung zugezogen haben, Lord Darrington. Und Ihrem Freund, hoffe ich, geht es heute auch schon etwas besser. Hat er eine einigermaßen ruhige Nacht verbracht?“

Beth wurde schnell klar, dass man sie im Krankenzimmer nicht brauchte. Mr. Davies’ Kammerdiener brannte darauf, alles zu tun, was der Arzt vorschlug, damit der Zustand des Patienten sich besserte. Und der Earl stand bereit, um zu helfen, wann immer das nötig war. Ja, Dr. Compton schlug sogar vor, sie solle sich guten Gewissens ihren anderen Pflichten widmen. Er würde sie noch über alles informieren, ehe er das Haus verließ.

Also begab sie sich nach unten. Doch nachdem sie die geschlossene Tür der Bibliothek einen Moment lang angestarrt hatte, entschied sie sich gegen ein Gespräch mit Miles und ging hinunter ins Untergeschoss.

Nach einer Weile trat sie wieder in die Eingangshalle. Sie klopfte den Staub von ihrem Rock und schaute erneut zur Bibliothek hin. Gerade kam der Butler heraus.

„Ist Dr. Compton noch bei Mr. Davies?“

„Ja, Madam.“ Kepwith hüstelte. „Ich wollte Mr. Radworth gerade etwas zu trinken bringen. Er erwähnte, dass er zum Dinner bleibt.“

„Das stimmt. Veranlassen Sie bitte, dass ein weiteres Gedeck aufgelegt wird.“

Kepwith verbeugte sich, zögerte und meinte dann leise: „Ist das klug, Madam? Ich meine, unter diesen Umständen …“

Sie unterdrückte ein Seufzen. „Wir haben keine Wahl, nicht wahr?“

„Wenn er nun wieder unruhig wird und womöglich zu schreien beginnt …“

Beth hob die Hand, und Kepwith verstummte. „Tilly wird dafür sorgen, dass das nicht noch einmal vorkommt. Unseren Gästen wird nichts Ungewöhnliches auffallen. Wichtig ist nur, dass wir nicht die Nerven verlieren.“ Sie hörte ein Geräusch, wandte sich um und sah, wie Lord Darrington und der Arzt die Treppe herunterkamen. „Das wäre dann alles, Kepwith“, sagte sie laut und deutlich. Und dann: „Nun, Dr. Compton, wie geht es dem Patienten?“

„Schon besser, Mrs. Forrester. Allerdings braucht er noch viel Ruhe. Lord Darrington hat vorgeschlagen, seine Kutsche herzubestellen, um Mr. Davies auf viele weiche Kissen gebettet nach Highridge zu bringen. Dazu rate ich jedoch nicht. Ich denke, er sollte noch eine Weile hier bleiben. Sein Kammerdiener wird sich um ihn kümmern, sodass Sie keine Arbeit mit ihm haben. Ich selbst schaue morgen noch einmal vorbei.“

„Aber ich muss ihm doch etwas gegen das Fieber geben! Er war so unruhig letzte Nacht!“

„Das Fieber ist gesunken, Madam. Sollte er in der Nacht wach werden, kann Peters ihm etwas Baldriantee zu trinken geben.“

„Wäre Laudanum nicht besser? Es ist allerdings nicht mehr viel da. Leider habe ich heute Morgen etwas verschüttet.“

Der Doktor musterte sie mit einem Lächeln. „So ängstlich kenne ich Sie gar nicht, Mrs. Forrester.“

Sie schaute ihn offen an. „Ich möchte sicherstellen, dass es Mr. Davies an nichts fehlt. Schließlich ist er unser Gast.“

„Mr. Davies braucht kein Schlafmittel. Aber sollten seine Schmerzen wider Erwarten noch einmal schlimmer werden, dann ist Laudanum natürlich das Richtige. Ich habe noch ein Fläschchen in der Satteltasche. Das werde ich Ihrem Butler geben. Begleiten Sie mich doch nach draußen, Kepwith!“

Beth sah den beiden Männern nach, bis sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann, als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass der Earl sich nicht von der Stelle gerührt hatte.

„Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen um Mr. Davies zu machen“, stellte er fest. „Peters ist ein kluger, geschickter Mann. Er wird sich verantwortungsbewusst um seinen Herrn kümmern.“

„Danke.“ Sie nickte ihm zu, schaute dann zur Bibliothek hin und rief aus: „Mr. Radworth wird denken, dass ich ihn vergessen habe! Wollen Sie mich nicht begleiten, Mylord?“

Dankend lehnte er ab. „Ich hatte noch keine Gelegenheit mich mit meinem Pferdeknecht zu unterhalten. Und da Sie hier recht früh dinieren …“

„Soll ich Ihnen einen meiner Leute schicken, damit er Ihnen beim Umkleiden hilft?“

„Nein, vielen Dank. Ich werde Peters’ Dienste in Anspruch nehmen.“ Er schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln.

Sie konnte nicht anders: Sie musste es erwidern. Ihre Blicke trafen sich. Seine grauen Augen hatten etwas Faszinierendes. Überhaupt war der Earl …

Ein Diener, der ein Tablett mit Gläsern und Getränken trug, steuerte auf die Bibliothek zu und riss sie aus ihren Gedanken.

„Oh Gott, Miles …“, murmelte sie.

5. KAPITEL

Beth ging nach oben, um sich zum Dinner umzukleiden, und sah, dass ihre Zofe das graue Seidenkleid auf dem Bett ausgebreitet hatte. Sie runzelte die Stirn. Nein, das wollte sie heute Abend nicht tragen. „Das neue lavendelblaue Kleid“, befahl sie.

Tilly kicherte. „Sie wollen sich wohl für Lord Darrington schön machen, Madam.“

„Durchaus nicht! Mr. Radworth ist gekommen und bleibt zum Dinner.“

„Dann brauchen Sie wohl die weiße Stola nicht, um Ihre Reize zu verstecken?“, fragte Tilly, nachdem sie ihrer Herrin beim Umkleiden geholfen hatte.

„Genug!“ Beth warf dem Mädchen einen zornigen Blick zu, ehe sie sich die fein gearbeitete Stola so umlegte, dass man den tiefen Ausschnitt des Kleides nicht bemerkte. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir solche Frechheiten von Ihnen bieten lasse, Tilly.“

Die Zofe knickste, machte jedoch keineswegs einen betroffenen Eindruck. „Sie wissen eben, dass ich Sie, Sophie und Lady Arabella liebe. Außerdem kann niemand Ihr Haar so gut frisieren wie ich. Bitte, setzen Sie sich, damit ich Ihre Frisur richten kann.“

Beth gehorchte und wurde dafür, als sie schließlich den Salon betrat, mit einem bewundernden Blick von Miles Radworth belohnt. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass Lord Darrington, der ziemlich weit entfernt stand, sie nicht beachtete. Zwar schaute er kurz zu ihr hin. Doch dann setzte er, ohne ihr auch nur zuzunicken, die Unterhaltung mit Lady Arabella und Sophie fort.

Miles griff nach ihren Händen, hielt sie fest und begann, ihr blumige Komplimente über ihr Aussehen zu machen. Beth hörte nur mit halbem Ohr hin und beobachtete aus den Augenwinkeln, was der Earl tat.

„… was meinst du dazu, Darling?“

Sie musste sich zwingen, Miles ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Offensichtlich wartete er auf eine Antwort. Verflixt! Sie schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. „Entschuldige, Miles, ich habe dich nicht verstanden.“

„Ich habe vorgeschlagen, dich nach York zu begleiten, damit du dich dort um deine Aussteuer kümmern kannst. Lady Arabella wird gewiss ein paar Tage ohne dich zurechtkommen.“

„Das ist wirklich sehr lieb von dir, Miles. Aber ich habe meiner Freundin Maria Crowther bereits versprochen, sie in nächster Zeit in Ripon zu besuchen. In der Stadt kann ich alles besorgen, was ich noch brauche.“ Dann entschuldigte sie sich mit dem Hinweis darauf, dass sie sich nach dem Gesundheitszustand ihrer Großmutter erkundigen müsse.

Darrington deutete eine Verbeugung an und begrüßte Beth mit den Worten: „Mrs. Forrester, möchten Sie sich setzen?“ Er rückte einen Stuhl für sie zurecht.

„Danke.“ Sie nahm Platz, konnte sich jedoch nicht entspannen, da der Earl nun hinter ihr stand und sie seine Nähe überdeutlich spürte. Ja, es kostete sie große Anstrengung, sich nicht nach ihm umzuschauen. Zu gern hätte sie gewusst, ob seine Hände noch auf der Stuhllehne lagen.

„Großmutter“, begann sie, „hat Sophie dich heute Nachmittag gut unterhalten?“

„Natürlich. So gut wie immer. Sie ist ein liebes Mädchen. Und ich höre es so gern, wenn sie aus der Zeitung vorliest. Nie lässt sie sich auch nur die geringste Ungeduld anmerken. Dabei würde es mich nicht wundern, wenn sie lieber anderswo wäre!“

„Ich bin gern bei dir“, widersprach Sophie.

Woraufhin Lady Arabella ihr die Wange tätschelte.

„Vielleicht gestatten Sie mir morgen, Ihnen aus der Zeitung vorzulesen, Mylady“, sagte Darrington. Er kam hinter dem Stuhl hervor und stellte sich neben Miles Radworth, der sich der kleinen Gruppe angeschlossen hatte. „Ich würde Ihnen so gern meine Dankbarkeit zeigen. Mein Freund und ich wissen Ihre Gastfreundschaft zu schätzen.“

„Ich bin sicher, dass es ein Vergnügen sein würde, Ihnen zuzuhören“, stellte Lady Arabella fest. „Sie haben eine so angenehme dunkle Stimme.“

„Aber ich lese dir doch gern vor, Großmutter“, mischte Sophie sich ein.

Und Beth rief: „Genau wie ich. Es wird wirklich nicht nötig sein, den Earl mit einer solchen Aufgabe zu belasten.“

„Gönnt ihr mir etwa die Gesellschaft dieses gut aussehenden charmanten Gentlemans nicht?“, neckte Lady Arabella ihre Enkelinnen. „Mir scheint, Darrington“, mit humorvoll blitzenden Augen wandte sie sich dem Earl zu, „die beiden würden Sie am liebsten mit niemandem teilen.“

„Ich fühle mich geschmeichelt.“ Er verbeugte sich.

Beth fand, dass Darrington mit seinem dunklen Haar, auf das die flackernden Flammen des Kaminfeuers rote Lichter zauberten, viel anziehender wirkte als Miles, der blond war und dessen Haut oft sehr blass wirkte. Sogleich schalt sie sich für diesen Gedanken. Der arme Miles hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, sich zum Dinner umzuziehen. Er trug noch seine Reitkleidung, wohingegen der Earl einen dunklen Rock anhatte, der sich wie eine zweite Haut an seine breiten Schultern schmiegte. Die Hose aus feinstem Tuch war so eng geschnitten, dass man deutlich sehen konnte, wie kräftig und wohlgeformt seine Beine waren.

Unwillkürlich verglich sie auch die Accessoires, für die die beiden Gentlemen sich entschieden hatten. An Lord Darringtons Finger steckte ein Siegelring, und in seinem Krawattentuch glitzerte dezent ein einzelner Diamant. Miles hingegen hatte sein Tuch mit einem auffallenden Smaragd geschmückt, und an seinem Hosenbund waren mithilfe einiger Kettchen mehrere Siegel befestigt. Eine weitere, bedeutend größere Kette verriet, dass er auch eine Taschenuhr bei sich trug.

Aber nein! Es war unfair, die so unterschiedlichen Männer miteinander zu vergleichen. Der Earl sah zwar aus wie einer der Helden, von denen sie als junges Mädchen geträumt hatte, doch ihre Ehe mit Joseph Forrester hatte ihr klar gemacht, dass derartige romantische Vorstellungen unsinnig und kindisch waren. Anfangs hatte sie noch geglaubt, es würde ihm gefallen, wenn sie ihm ihre Zuneigung zeigte. Doch er hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Männer keine Frauen mochten, die ständig an ihrem Arm hingen. Also hatte sie gelernt, sich zurückhaltend zu benehmen.

Sie war sich ziemlich sicher, dass auch Miles diese Art von Zurückhaltung schätzte. Nun, es würde ihr nicht schwerfallen, seine Erwartungen zu erfüllen. Denn ihre Gefühle für ihn waren warm, aber keineswegs überschwänglich. Das war angenehm. Wohingegen die widerstreitenden Emotionen, die Darrington in ihr weckte, sie zutiefst verunsicherten.

Als sie den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Beth spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Hoffentlich ahnte er nichts von ihren Gedanken!

Sie schaute zu Miles hin und erkannte, dass ihm das Thema der Unterhaltung gar nicht behagte. Rasch sagte sie: „Es ist nicht nett von dir, Großmutter, uns so zu necken. Tatsächlich sollten wir damit rechnen, dass unsere Gäste uns schon bald verlassen. Ich denke, Mr. Davies’ Zustand könnte sich bis morgen so weit bessern, dass Dr. Compton ihm die Heimfahrt gestattet.“

„Ich würde es sehr bedauern, wenn die Gentlemen schon so bald Abschied von uns nähmen. Seit Simons Tod ist es viel zu still in Malpass Priory geworden. Wir haben uns zu regelrechten Einsiedlern entwickelt!“

„Sie wissen, dass ich gern bereit bin, zu Ihnen zu ziehen, wenn Sie männlichen Schutz wünschen, Mylady“, erklärte Miles.

Lady Arabella starrte ihn einen Moment lang an. Ihre Miene war ausdruckslos. Schließlich sagte sie: „Danke, Mr. Radworth. Doch meinen Enkel kann niemand ersetzen.“

Eine lastende Stille senkte sich über den Raum. Bis Beth sich erhob und das Rascheln ihres seidenen Kleiderstoffs zu hören war. „Wollen wir ins Speisezimmer gehen?“

Beth konnte das Dinner nicht genießen.

Die Gerichte waren schmackhaft. Lady Arabella sorgte dafür, dass die Unterhaltung nicht einschlief. Und die Gentlemen ließen es nicht an Höflichkeit fehlen. Dennoch war eine gewisse Spannung zu spüren.

Sophie und Beth wechselten hin und wieder einen unglücklichen Blick. Beiden war klar, dass die gedrückte Stimmung nicht dem Earl angelastet werden konnte. Ihm war der Platz neben Lady Arabella zugewiesen worden, und die beiden verstanden sich wunderbar. Miles hingegen bemühte sich kaum, seine schlechte Laune zu verbergen. Er fand an jedem Gang etwas auszusetzen und trank so viel, dass Kepwith sich gezwungen sah, eine weitere Flasche Wein aus dem Keller zu holen.

Schließlich wurden die Teller abgetragen, und der Butler stellte Schälchen mit süßen Leckereien auf den Tisch. Als Miles den Arm nach einer Schale mit gebrannten Mandeln ausstreckte, blieb er mit dem Ärmel an seinem Weinglas hängen, woraufhin dieses umfiel und der Inhalt sich auf den Tisch ergoss. Darrington sprang auf und versuchte die Überschwemmung mit seiner Serviette zu stoppen. Radworth sprang ebenfalls auf – allerdings nur, um laut zu fluchen.

„Es ist ja nichts passiert“, meinte Beth beruhigend und kam mit ihrer Serviette dem Earl zu Hilfe. „Sophie, kann ich deine Serviette haben? So, das müsste genügen.“

„Verzeihen Sie meine Ungeschicklichkeit“, wandte Miles sich an Lady Arabella. „Ich fürchte, der Wein in der letzten Flasche war schlecht.“

„Wie bedauerlich“, murmelte Beth.

Ein Diener eilte mit weiteren Tüchern herbei und trocknete den Tisch ab.

„Alles in Ordnung“, bemerkte Lady Arabella. „Setzen Sie sich doch wieder, Mr. Radworth.“

„Danke, gleich. Ich will erst im Weinkeller nach einer guten Flasche sehen.“ Miles griff nach dem Arm des Butlers. „Geben Sie mir den Schlüssel!“

„Sir?“ Kepwith stand wie erstarrt und schaute den Gentleman ungläubig an.

Sophie zog laut den Atem ein. Woraufhin Beth ihr die Hand auf die Schulter legte und kurz zu Darrington hinschaute. Ja, er beobachtete sie.

„Bitte, diese Mühe brauchst du dir nicht zu machen, Miles.“ Beth lächelte ihn an. „Kepwith wird eine neue Flasche bringen, wenn du noch etwas trinken möchtest.“

„Das möchte ich allerdings. Aber er scheint unfähig, eine gute Wahl zu treffen. Deshalb werde ich selbst einen Wein aussuchen. Vermutlich leert er die wirklich guten Flaschen heimlich allein.“

„Unsinn!“, fuhr Beth auf. „Unsere Bediensteten sind zuverlässig und ehrlich. Im Übrigen werde ich es nicht zulassen, dass ein Gast hier im Hause Aufgaben übernimmt, die das Personal zu erledigen hat.“

Ihr unmissverständlicher Ton hatte den gewünschten Effekt. Miles stieß ein kleines Lachen aus und nahm wieder Platz. „Du hast natürlich recht, mein Schatz. Noch bist du Herrin von Malpass. Darüber, wie unser gemeinsamer Haushalt geführt wird, werden wir uns gleich nach der Hochzeit einigen.“ Er setzte eine überhebliche Miene auf und sagte zu Kepwith: „Beeilen Sie sich. Ich warte. Und bringen Sie diesmal einen guten Wein!“

Autor

Paula Marshall
Als Bibliothekarin hatte Paula Marshall ihr Leben lang mit Büchern zu tun. Doch sie kam erst relativ spät dazu, ihren ersten eigenen Roman zu verfassen, bei dem ihre ausgezeichneten Geschichtskenntnisse ihr sehr hilfreich waren. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie fast die ganze Welt bereist. Ihr großes Hobby ist das...
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<p>Schon immer hat die in Bristol geborene Sarah Mallory gern Geschichten erzählt. Es begann damit, dass sie ihre Schulkameradinnen in den Pausen mit abenteuerlichen Storys unterhielt. Mit 16 ging sie von der Schule ab und arbeitete bei den unterschiedlichsten Firmen. Sara heiratete mit 19, und nach der Geburt ihrer Tochter...
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