Historical Lords & Ladies Band 77

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MIRANDA - SO STOLZ UND SO SÜSS von DEBORAH MILES
Miranda kann ihr Glück kaum fassen: Ein herzensguter Gentleman vererbt ihr seinen Herrensitz, damit sie das Haus ihrer skandalösen Stiefmutter verlassen kann. Doch der Duke of Belford, der Cousin des Gentleman, behandelt sie wie eine üble Erbschleicherin. Der schlechte Ruf ihrer Stiefmutter scheint ihr vorausgeeilt zu sein. Das trifft Miranda hart - denn sie hat sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt ...

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  • Erscheinungstag 03.01.2020
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749385
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Deborah Miles, Carole Mortimer

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 77

1. KAPITEL

Du musst eine Möglichkeit finden, Leo, wie du diese Ehe annullieren lassen kannst!“

Die Tante schloss die Augen und fächelte sich enerviert Luft zu. Es war ein milder Frühlingstag, aber dennoch brannte im Kamin ein Feuer, sodass der Raum überhitzt war. Am liebsten hätte Leo die Fenster weit aufgerissen, unterdrückte jedoch den Drang. Er beugte sich vor und erwiderte ruhig, aber in festem Ton: „Exaltiere dich nicht so, Tante Ellen. Julian war volljährig und im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte. Ich kann verstehen, dass diese Person nicht die Schwiegertochter ist, die du dir gewünscht hast, nehme indes an, dass er dir in dem Brief den Grund dafür erläutert hat, warum er die Ehe mit ihr eingegangen ist.“

„Er hat irgendwelchen Unsinn darüber geschrieben, sie hätte seiner Hilfe bedurft, weil ihr Vater gestorben und sie in einer sehr misslichen Lage gewesen ist“, erwiderte Tante Ellen in hysterischem Ton. „Diesen Brief hat mein armer Junge offenbar unter Druck verfasst, oder er war bereits zu krank.“ Sie schluckte und holte dann tief Luft. „Manche Passagen waren unleserlich und wahrscheinlich auch nicht von großer Bedeutung. Er enthielt ohnehin nicht viele Fakten, sondern nur die Bitte, Miranda freundlich aufzunehmen. Und jetzt weiß ich auch, warum Julian sich nicht ausführlicher über seine Frau geäußert hat.“

„Verrate es mir, Tante Ellen.“ Leos Stimme klang gelangweilt.

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, zwang sich jedoch zur Mäßigung. Ihr war klar, dass er sie für etwas überspannt hielt, doch selbst er musste einsehen, dass sie sich zu Recht aufregte. „Diese Person, die sich die Countess of Ridgeway nennt, ist verrufen, Leo! Ich wäre nicht im Mindesten überrascht, wenn sie Ridgeway gar nicht geheiratet hätte. Andererseits war er ein Schwächling, doch das tut hier nichts zur Sache. Als ich von Julian erfuhr, er sei verheiratet, habe ich den Namen seiner Frau nicht mit dem Count of Ridgeway in Verbindung gebracht. Natürlich war ich enttäuscht, habe mir jedoch gesagt, dass er sich aus Großherzigkeit mit dieser Person vermählt hat. Du weißt, dass er immer sehr hilfsbereit war.“

„Komm endlich zur Sache, Tante Ellen!“

„Gestern habe ich von Lady Petersham, die zurzeit in Italien weilt, einen Brief erhalten, in dem sie mir schreibt, Ridgeway habe kaum nachdem er seine erste Gattin, ein reizendes, liebenswürdiges Geschöpf, zu Grabe getragen hatte, zum zweiten Mal geheiratet und sei mit seiner Gemahlin nach Italien gezogen. Er ist vor einem Jahr gestorben, und mein armer, armer Julian habe dann die Witwe zur Frau genommen.“

Leo fragte sich, worauf die Tante hinauswollte. Schon vor einem Jahr hatte sie ihm von der Hochzeit seines Vetters und dessen Tod berichtet. Natürlich hatte es ihm leidgetan, dass Julian gestorben war. Das traurige Kapitel war jedoch mittlerweile für ihn abgeschlossen gewesen. Jetzt stellte die Situation sich indes ganz anders dar, denn die Tante hatte ihm erzählt, ihre Schwiegertochter sei nach England unterwegs und gedenke, sich am nächsten Tag bei ihm einzufinden. Über diese Neuigkeit war er nicht erfreut.

Seit achtzehn Jahren war er das Familienoberhaupt, inzwischen fünfunddreißig und überzeugt, über genügend Lebenserfahrung zu verfügen. Er wusste, er war attraktiv, strahlte jedoch eine gewisse Kühle aus, die manche Leute daran zweifeln ließ, dass er ein Herz hatte. Julian, der eine sehr gute Menschenkenntnis gehabt hatte, hätte diese angebliche Gefühlskälte als Schutzschild gegen die großen Belastungen bezeichnet, denen Leo schon von früher Jugend an ausgesetzt gewesen war, und als Folge des von ihm als oberflächlich und nichtssagend empfundenen Lebens.

Er führte zwar ein geordnetes Dasein und verfügte über ein jährliches Einkommen von zwanzigtausend Pfund, hatte jedoch in letzter Zeit oft den Eindruck gehabt, es fehle ihm etwas. Wäre er sentimental gewesen, hätte er angenommen, er sehne sich nach Liebe, doch er war viel zu pragmatisch, um sich romantischen Neigungen hinzugeben.

„Julian war bestimmt vernünftig genug, sich eine Frau zu nehmen, die weder seinem guten Namen noch seiner gesellschaftlichen Stellung Schande machte, Tante Ellen!“

„Du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, Leo!“, entgegnete Mrs. Fitzgibbon schrill. „Diese Person ist inakzeptabel. Mir ist völlig unerklärlich, warum er sie geheiratet hat. Wahrscheinlich hat sie sich bei ihm eingeschmeichelt, um einen respektablen Ruf zu bekommen, denn von ihrem kann man das nicht behaupten.“

Gleichgültig zuckte Leo mit den Schultern, und das verärgerte seine Tante noch mehr.

„Oh, Leo!“, sagte sie entrüstet. „Wenn dir schon nichts an meinen Gefühlen liegt, dann denk wenigstens an meinen armen, armen Jungen. Du musst etwas unternehmen!“

Leo unterdrückte eine bissige Bemerkung. Er schaute die Tante an, deren Wangen hektisch gerötet waren, und fand, er habe sie nie so aufgelöst erlebt. Innerlich seufzend sagte er sich, dass wahrscheinlich selbst der vernünftigste Mann Schwächen hatte. Vermutlich war die Countess of Ridgeway Julians Schwäche gewesen. Leo fand es zwar lästig, sich mit dieser Person befassen zu müssen, aber als Familienoberhaupt oblag es ihm zu handeln, und er gedachte sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden.

„Wann müssen wir mit deiner Schwiegertochter rechnen, Tante Ellen?“

„Sie kann jederzeit hier eintreffen“, antwortete Mrs. Fitzgibbon. „Sie hat mir mitgeteilt, sie würde am Vormittag mit der Postkutsche in London ankommen. Weißt du, wie man sie nennt? Lady Petersham hat das in ihrem Brief erwähnt. Kaum hatte ich das gelesen, brauchte ich mein Riechsalz.“

„Klär mich auf, Tante Ellen. Wie nennt man deine Schwiegertochter?“

„Die ‚dekadente Gräfin‘!“

Leo verengte die blauen Augen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass die Sache so schlimm war. Das hätte die Tante ihm von Anfang an sagen sollen. Die als die „dekadente Gräfin“ bekannte Countess of Ridgeway war ihres höchst unkonventionellen Lebensstils wegen berüchtigt. Leo entsann sich nur vage an Ridgeway, da er nicht in denselben Kreisen wie dieser verkehrt hatte. Daher hatte er ihn nicht sofort, nachdem der Name von der Tante erwähnt worden war, mit ihrer Schwiegertochter in Verbindung gebracht. Nun jedoch fiel ihm ein, dass Ridgeway ein hoch gewachsener, stets fröhlicher, beim Glücksspiel ständig vom Pech verfolgter Mensch gewesen war, ein netter Kerl, der sich seiner hohen Verluste wegen ins Ausland abgesetzt hatte. Dessen zweite Gattin hatte Leo nie getroffen, jedoch genug über sie gehört, um zu begreifen, dass sie als Mitglied seiner Familie vollkommen inakzeptabel war.

„Was mag Julian sich dabei gedacht haben, diese Frau zu heiraten?“, fragte er kopfschüttelnd.

Mrs. Fitzgibbon lächelte zufrieden. Endlich hatte Leo eingesehen, worum es ging.

„Also gut“, fuhr er ärgerlich fort. „Ich werde deiner Schwiegertochter Geld geben und von ihr verlangen, dass sie nach Italien zurückkehrt.“

Miranda schob die Hände in den Pelzmuff und lehnte sich erleichtert zurück. Nach der neunstündigen Reise über den Ärmelkanal und sieben Stunden Fahrt in einer voll besetzten Postkutsche von Dover zeichnete die Erschöpfung sich deutlich in ihrem von der Sonne gebräunten Gesicht ab. Mit vierundzwanzig Jahren war sie noch zu jung, um für den Rest ihres Lebens Witwe zu sein. Ihre Ehe mit Julian war unter sehr ungewöhnlichen Umständen zustande gekommen. Sie hatte ihn gern gehabt, denn er war freundlich und großzügig gewesen. Gegen die Tränen anblinzelnd, besann sie sich ihrer inneren Kraft und war bemüht, das Gefühl der Trauer zu verdrängen. Es war nicht ihre Art, sich von Kummer überwältigen zu lassen und der Niedergeschlagenheit hinzugeben. Ihr war es lieber, sich voller Dankbarkeit und Gelassenheit an Julian zu erinnern, der nicht gewollt hatte, dass sie um ihn trauerte. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass die langen Jahre des Exils in Italien zu Ende waren.

Sie hatte nie in dem Haus in Mayfair, das ihrem Vater gehörte, gelebt. Zunächst hatte sie mit der Mutter auf dem Land gewohnt, nach deren Tod die Schule in einem Mädchenpensionat in Hampshire abgeschlossen und war dann im Alter von sechzehn Jahren zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter nach Italien gezogen. Im Internat war sie von den Mitschülerinnen entweder bedauert oder beneidet worden. Ihr Vater war ein gut aussehender, aber charakterschwacher Mann gewesen, der sein Vermögen schon in jungen Jahren zu vergeuden begonnen hatte. Ihre Stiefmutter hingegen war weithin als die „dekadente Gräfin“ bekannt.

Die Kutsche näherte sich der Gegend, in der Mirandas Angehörige lebten. Julian hatte Miranda noch kurz vor seinem Tod im November des vergangenen Jahres ein Schreiben an seinen Vetter mitgegeben, in dem er ihm mitteilte, die Überbringerin des Briefs sei seine Gattin, die Leos Hilfe bedürfe, damit sie sich nach dem langen Aufenthalt in Italien in der englischen Gesellschaft zurechtfände. Er versicherte seinem Cousin, dem Duke of Belford, sie sei liebenswert und umgänglich und werde ihm nicht zur Last fallen. Zum Schluss drückte er die Hoffnung aus, sich auf ihn verlassen zu können.

Die Chaise hielt, und in Gedanken stellte Miranda sich auf die erste Begegnung mit ihren angeheirateten Verwandten ein, von denen sie bisher niemanden kennengelernt hatte. Julian hatte ihr seinen Vetter jedoch in einem so positiven Licht geschildert, dass sie davon ausgehen konnte, Leo werde sie zwar nicht mit offenen Armen aufnehmen, aber doch Verständnis für ihre Lage aufbringen und ihr behilflich sein.

Beim Anblick von Julians Witwe begriff Leo sofort, warum der Vetter diese Frau mit dem seltsamen Beinamen „die dekadente Gräfin“ geheiratet hatte. Nach dieser Erkenntnis empfand er Neid, ein Gefühl, dessen er sich nicht für fähig gehalten hätte. Er fragte sich, wie der liebenswürdige Julian es geschafft hatte, diese rassige Schönheit mit dem feuerroten Haar und den glänzenden dunklen Augen für sich zu gewinnen. Und dann hielt er sich vor, es sei sehr gut möglich, dass sie den Vetter für sich eingenommen hatte.

Sie hatte eine Ausstrahlung, die Leo das Herz, von dem so viele seiner Mitmenschen glaubten, er habe es nicht, schneller schlagen ließ.

Auch sie war überrascht. Sie war so erstaunt, dass sie sogleich den frostigen Empfang vergaß, der ihr durch den ihr die Haustür öffnenden Butler zuteil geworden war. Sie hatte angenommen, ihr Cousin werde blaue Augen haben. Nun sah sie sich bestätigt, denn sie hatten eine sie faszinierende blaue Farbe, die noch eine Spur dunkler war als die der Augen ihres verstorbenen Gatten. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihnen zu wenden.

Leo war so groß, wie Julian das gewesen war, jedoch breitschultriger, und hatte schimmerndes schwarzes Haar. Er strahlte Kraft aus. Kein Wunder, dass Julian ihm vertraut und ihr gesagt hatte, sie könne sich auf seinen Cousin verlassen. Man musste Vertrauen zu einem Mann haben, der so imposant war und derart gut aussah.

Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass die andere anwesende Person sie angesprochen hatte. Sie wandte sich ihr zu und fragte höflich: „Wie bitte?“

Die untersetzte Mrs. Fitzgibbon war das genaue Gegenteil ihres Sohns. Die einzige Gemeinsamkeit war das hellblonde Haar. Dennoch hatte Mrs. Fitzgibbon eine mütterliche Ausstrahlung, die Miranda die Unsicherheit noch mehr nahm. Erleichtert sagte sie sich, nun würde doch noch alles gut.

Sie lächelte strahlend. Die Schwiegermutter reagierte darauf mit einem Stirnrunzeln und einem Kräuseln der Lippen. In ihre Augen trat ein eisiger Ausdruck. Erst in diesem Moment wurde Miranda sich der frostigen Stimmung bewusst.

„Leo ist das Oberhaupt der Familie“, sagte Mrs. Fitzgibbon. „Du musst mit ihm sprechen. Ich bin noch immer so von Kummer überwältigt, dass ich nicht mit dir reden kann, Adela.“

Miranda öffnete den Mund, um der Schwiegermutter zu sagen, sie sei Miranda und nicht Adela, ihre Stiefmutter, kam jedoch nicht dazu.

„Ich befürchte, Adela, dass du die weite Reise so gut wie umsonst gemacht hast“, sagte der Herzog. „Julian war zwar sehr charmant, aber nicht reich. Ich nehme jedoch an, dass du das inzwischen weißt. Ihm gehörte ‚The Grange‘, doch das Herrenhaus wurde unglaublich vernachlässigt und ist in sehr schlechtem Zustand. Keine vernünftige Frau hätte ihn nur dieses Anwesens wegen geheiratet.“

„In sehr schlechtem Zustand?“, brachte Miranda heraus. Julian hatte ihr gesagt, dass es sehr alt sei, er es jedoch liebe. Gewiss hatte er ihr kein baufälliges Haus hinterlassen.

„Nun, noch fällt es nicht in sich zusammen, Adela. Es gibt die Sage …“ Abrupt hielt Mrs. Fitzgibbon inne.

Miranda bemerkte den scharfen Blick, den Leo ihrer Schwiegermutter zuwarf. Sie begriff, dass ihre angeheirateten Verwandten sie ablehnten und sich gegen sie verschworen hatten, weil sie sie für ihre Stiefmutter hielten. Sie betrachteten sie als Feindin.

Leo hatte Mühe, seine Verstimmung zu verhehlen. Hoffentlich kannte Adela die Sage noch nicht, auf die seine Tante sich bezogen hatte. „The Grange“ war der Glücksbringer der Familie, und es hieß, dass die Fitzgibbons aussterben würden, wenn es je in andere Hände überginge. Leo glaubte zwar nicht an diese Sage, wollte Julians Witwe jedoch nicht mit neuen Argumenten versorgen.

„Vielleicht hast du Julian aus Liebe geheiratet?“, fragte er in täuschend freundlichem Ton. „In diesem Fall würde niemand sich mehr darüber freuen als ich. Hast du meinen Vetter aus Liebe geheiratet?“

Miranda erinnerte sich an ein Gespräch, das sie mit Julian auf der Terrasse gehabt hatte. „Ich mache mir große Sorgen um dich, Miranda“, hatte er gesagt. Seine blauen Augen hatten noch mehr Besorgnis als sonst ausgedrückt. „Du weißt, ich werde sterben, nicht wahr? Natürlich weißt du das. Jedermann weiß das, weil ich kein Geheimnis daraus mache. Ich bin hier, weil meine Eltern darauf bestanden haben. Sie glauben, das Klima täte mir gut. Ich wollte sie nicht enttäuschen, befürchte jedoch, weder die Sonne noch der Wein können mich gesund machen.“

In ihrer einjährigen Bekanntschaft war Julian, was seine Krankheit betraf, immer sehr sachlich gewesen und hatte nicht zugelassen, dass man ihn bemitleidete. Er hatte geäußert, er habe sein Leben gelebt und sähe keinen Anlass, sich zu beklagen. Vor seinem Tod wolle er sich jedoch noch einen Wunsch erfüllen, Miranda heiraten und sie auf diese Weise vor ihrer berüchtigten Stiefmutter retten.

„Ich bin ein angesehener Mann, Miranda, und stamme aus guter Familie“, hatte er gesagt. „Die Fitzgibbons können ihre Vorfahren über Jahrhunderte hinweg zurückverfolgen. Unsere Ahnen waren immer sehr zielstrebig und haben stets bekommen, was sie wollten. Es hat also keinen Sinn, Miranda, mich zurückzuweisen. Ich will dir helfen, und das werde ich tun.“

Sie wurde sich gewahr, dass Leo sie beobachtete und sichtlich auf eine Antwort wartete. Plötzlich lächelte er. Sein Lächeln war wie eine Offenbarung. Miranda wäre nicht weniger aus dem inneren Gleichgewicht geraten, hätte er ihr über die Wange gestrichen.

Unvermittelt furchte er die Stirn, und sein Blick wurde argwöhnisch. Miranda starrte ihn an. Leo und ihre Schwiegermutter hielten sie offensichtlich für ihre Stiefmutter. Sie musste ihnen mitteilen, dass sie nicht Adela war. Sie öffnete den Mund, um diesen Punkt klarzustellen, und zog gleichzeitig ihr Ridikül auf, in dem sie Julians Brief hatte.

„Es war also doch keine Liebesheirat? Wie schade! Nun, lass uns ehrlich zueinander sein, Adela. Ich glaube, du bist jemand, der ein offenes Wort zu schätzen weiß.“

Die Stiefmutter hätte jetzt gelacht und eine anzügliche Bemerkung gemacht. Miranda hingegen war so perplex, dass sie kein Wort herausbrachte. Leo redete in so sachlichem Ton weiter, als spräche er über irgendetwas Belangloses. Sie konnte nicht wissen, dass er trotz seines zivilisierten Benehmens innerlich ebenso aus der Fassung gebracht war wie sie.

Und der Umstand, dass er aus dem inneren Gleichgewicht geraten war, machte ihn ärgerlich.

„Ich werde dir zehntausend Pfund geben. Diesen Betrag lasse ich deiner Bank in Italien überweisen, und du kannst die Summen abheben, die du von Fall zu Fall benötigst. Außerdem zahle ich dir die Rückreise und erwarte, dass du für immer in Italien bleibst. Es versteht sich von selbst, dass ‚The Grange‘ in den Besitz der Familie zurückfällt.“ Leo lächelte wieder, doch nun hatte dieses Lächeln für Miranda den Zauber verloren.

Er war ein Teufel, und sie fing an, ihn zu hassen.

Er bemerkte das Glitzern in ihren wundervollen Augen. Endlich hatte er ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie war nicht glücklich darüber, dass er ihr mieses Spiel so schnell durchschaut hatte. Nun, sie würde noch unglücklicher sein, wenn er mit ihr fertig war. Er näherte sich ihr einen Schritt und versuchte, sie einzuschüchtern. Sie ließ sich jedoch sichtlich nicht verängstigen. Im Gegenteil, sie straffte sich und schaute ihn herausfordernd an. Wider Willen war er beeindruckt. Sie hatte Mut. Das musste er ihr lassen. Er fand es schade, dass sie so skrupellos und unmoralisch war.

Erstaunt merkte er, welche Richtung seine Gedanken nahmen, und rief sich zur Ordnung. „Du glaubst vielleicht, dass du durch die Ehe mit Julian die Gans bekommen hast, die goldene Eier legt“, sagte er leise, aber drohend. „Indes kannst du sicher sein, Adela, dass dies das einzige goldene Ei ist, das du je von mir bekommen wirst. Solltest du zurückkommen und mehr haben wollen, werde ich nicht so großzügig sein. Ich betrachte es als schlechten Stil, einen ahnungslosen Mann in die Ehefalle zu locken.“ Er richtete den Blick auf das Papier, das sie aus dem Ridikül genommen hatte. „Was ist das?“

Miranda zwinkerte. Das Ultimatum, das er ihr gestellt hatte, denn nichts anderes war es, hatte sie innerlich erstarren lassen. Sie sah, dass er auf Julians Brief blickte, den sie aus dem Ridikül genommen hatte, um ihn Leo zu zeigen und ihm zu sagen, er sei einem Trugschluss erlegen.

Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, ihm die Wahrheit zu sagen und das schreckliche Missverständnis aufzuklären. Die Verärgerung über Leos Betragen war jedoch zu groß, wurde immer stärker und verdrängte alle vernünftigen Gedanken. Miranda fragte sich, wie Leo es wagen konnte, in dieser Weise mit ihr zu reden und ihr zu drohen. Schließlich war sie in der Hoffnung hergekommen, so aufgenommen zu werden, wie es ihr als Julians Witwe zustand. Die unfreundliche Haltung würde der Schwiegermutter und vor allem Leo noch leidtun!

„Was das ist?“, fragte sie scharf. „Das ist die Aufstellung meiner Ausgaben, Leo!“ Wütend schaute sie ihn an.

Der zornige Ausdruck in ihren Augen irritierte ihn flüchtig. Er holte tief Luft und fand, sie sei eine wahre Schönheit. Wie schade, dass sie eine so durchtriebene Person war. Erneut begriff er, wie leicht ein für ihre Reize empfänglicher Mann ihr in die Krallen geraten konnte. Ihr makelloser Teint, ihre vollen Lippen, ihre schlanke, wohlgeformte Figur …

Unvermittelt kam Leo ein erschütternder Gedanke. Er furchte die Stirn. Adela war eigentlich viel zu jung, um die „dekadente Gräfin“ sein zu können. Ihm war aufgefallen, dass sie, als sie in den Salon kam, von der langen Reise sehr abgespannt und müde gewirkt hatte. Jetzt hatte sie die Erschöpfung jedoch überwunden und strahlte Vitalität und jugendliches Feuer aus. Er verengte die Augen und überlegte, ob Italienerinnen auf schönheitsfördernde Hilfsmittel zurückgreifen konnten, von denen man hier noch nie etwas gehört hatte.

Nachdem ihm dieser Widerspruch bewusst geworden war, stellte er fest, dass es noch andere Diskrepanzen gab. Zunächst hatte Adela ziemlich unsicher gewirkt, fast schüchtern, jedenfalls nicht wie eine welterfahrene Frau. Sie hatte ganz und gar nicht dem Eindruck entsprochen, der bei ihm nach der Beschreibung seiner Tante von ihrer Schwiegertochter entstanden war. Vielleicht war dieses wechselnde Betragen Teil ihres schäbigen Spiels.

Leo zog die Stirn noch mehr in Falten und näherte sich der angeheirateten Cousine noch einen Schritt. Er wusste nicht genau, was er tun oder sagen würde, hatte jedoch vor, sie noch weiter zu befragen.

„Was meinst du mit Ausgaben, Adela?“

Miranda lächelte süßlich. „Man hat mir gesagt, meine Forderungen seien etwas hoch, es jedoch wert, beglichen zu werden.“

„Forderungen!“, wiederholte Mrs. Fitzgibbon entsetzt und legte die Hand auf den wogenden Busen. „Mein armer, armer Junge.“

Leo hatte keinen Zweifel mehr. Nur eine Abenteurerin konnte so freimütig reden. Er wusste jetzt, dass sie, auch wenn sie zu Beginn einen zurückhaltenden Eindruck gemacht hatte, noch verdorbener war, als man sie ihm beschrieben hatte. Er würde dafür sorgen, dass sie seiner Familie nie mehr zur Last fiel.

„Ich bin sicher, Tante Ellen, dass Adela vernünftig ist und mein Angebot annehmen wird.“ Seiner Stimme war nicht anzuhören gewesen, was wirklich in ihm vorging. Nur jemand, der ihn gut genug kannte, hätte bemerkt, dass sein Blick frostiger geworden war und eine leichte Röte seine Wangen überzog, beides Anzeichen dafür, dass er innerlich vor Wut kochte.

Miranda lachte. Die Wut machte sie kühn. Am liebsten hätte sie Leo an den Revers seines Gehrocks ergriffen und ihn heftig geschüttelt. Man hielt sie also für vulgär und nicht für wert, eine Fitzgibbon zu sein? Gut, dann sollte man merken, wie vulgär sie sein konnte!

„Ich werde darüber nachdenken. Mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen. Ich bin hergekommen, um mich zu amüsieren, und das gedenke ich zu tun. Bitte, sag mir, Leo, wo ich die elegantesten Geschäfte finden kann, und bei wem ich mich sehen lassen muss. Außerdem erwarte ich, dass du mir den Zutritt zu Almack’s ermöglichst. Ach, und nenn mir die wichtigsten Spielklubs. Ich habe vor, mir jede Art Vergnügen zu verschaffen.“

Beim Sprechen hatte sie die kokette Art der Stiefmutter imitiert und sah, dass die Schwiegermutter und Julians Cousin über ihre Äußerungen erschüttert waren.

Mrs. Fitzgibbon wurde blass. „Aber du kannst doch nicht … und ohne Begleitung …“

„Oh, ich bin sicher, dass niemand Anstoß daran nehmen wird, wenn ich allein ausgehe. Schließlich bin ich die Witwe deines Sohns. Und unser Familienname ist doch sehr angesehen, nicht wahr?“ Hochnäsig schaute Miranda die Schwiegermutter und deren Neffen an. „In Italien tue ich immer das, was mir gefällt. Aber das habt ihr natürlich schon gehört.“

Die eintretende Stille war sehr beredt.

„Wo wohnst du hier?“, erkundigte sich Leo. „Im Hafenviertel?“

Miranda wusste nicht, dass es seiner übel beleumdeten Schenken wegen berüchtigt war, vermutete das jedoch angesichts des boshaften Ausdrucks in Leos Augen. Unwillkürlich krampfte sie die Finger fester um das Ridikül und wünschte sich, es möge Leos Hals sein. Am liebsten hätte sie ihn so lange gewürgt, bis sein süffisanter Blick zerknirscht wurde.

„An sich hatte ich hier wohnen wollen“, antwortete sie, warf einen Blick durch den Salon und täuschte durch ein Naserümpfen Missfallen an der eleganten Einrichtung vor. „Aber ich habe mich anders entschieden. Ich bin eine erlesenere Umgebung gewohnt. In Italien ist alles so farbenprächtig. Ich hätte nicht gedacht, dass deine herzogliche Residenz, Leo, so langweilig ist. Nein, ich werde mich in ein Hotel begeben. Welches empfiehlst du mir?“

Er starrte sie an, als würde er sie am liebsten erwürgen.

„Ich … ich glaube, das ‚Armstrong‘ soll sehr gut sein, Adela“, antwortete Mrs. Fitzgibbon zögernd.

„Danke. Gut, dann werde ich dort absteigen und dir später die Rechnung schicken, Leo.“

Er neigte leicht den Kopf.

Miranda drehte sich um und verließ den Salon.

Offenen Mundes und aus weit aufgerissenen Augen starrte Mrs. Fitzgibbon den Neffen an. „Du hast gesagt, du würdest die Sache erledigen“, brachte sie zitternd heraus. „Jetzt hast du alles nur noch schlimmer gemacht, Leo!“

Er drehte ihr den Rücken zu, ging zu einem Fenster und blieb davor stehen. Ihm war schwindlig, und er befürchtete, er habe sich eine Erkältung zugezogen. Er fühlte sich ganz und gar nicht auf dem Posten, und das erklärte wohl, warum er die Situation so ungeschickt gehandhabt hatte.

Er war zu sehr daran gewohnt, seinen Kopf durchsetzen zu können und alles so zu arrangieren, wie es ihm passte. Er war stets imstande gewesen, sein Leben zu kontrollieren, hatte jetzt jedoch plötzlich das Gefühl, nicht mehr Herr der Lage zu sein.

Eine schlanke Gestalt erschien vor seinem Haus auf der Straße. Die „dekadente Gräfin“ steckte die Liste in ihr Ridikül, rückte ihren Hut zurecht und stieg dann in die vor dem Portal stehende Kutsche. Das Gefährt fuhr ab und war bald nicht mehr zu sehen.

Leo, den im Allgemeinen nichts so leicht aus der Fassung bringen konnte, war zutiefst beunruhigt.

2. KAPITEL

Das „Armstrong“ war ein großes, elegantes und sehr bequemes Hotel. Leider war Julian, wie sein grässlicher Vetter ihr zu verstehen gegeben hatte, nicht reich. Das Hotel war jedoch offensichtlich für reiche Gäste bestimmt. Eine so belanglose Kleinigkeit beunruhigte Miranda im Moment indes nicht, weil sie noch viel zu wütend war. Sie erkundigte sich nach einem freien Zimmer, bekam es und stieg, gefolgt von Lakaien, die ihr das Gepäck hinterhertrugen, die Haupttreppe hinauf. Ehe sie Italien verlassen hatte, war sie so geistesgegenwärtig gewesen, sich von der Bank ihres Vaters einen Brief geben zu lassen. Der Angestellte in der Bank war zu höflich gewesen, sie darauf hinzuweisen, der Kreditrahmen ihres Vaters sei nicht sehr groß. Der Hauptzweck des Schreibens bestand daran, ihre Identität zu bestätigen und, was ebenso wichtig war, ihre Verwandtschaft mit dem Duke of Belford.

Der Empfangschef des Hotels hatte sich vor Servilität fast überschlagen.

Nachdem die Zimmertür geschlossen worden war und Stille im Raum herrschte, ließ Miranda sich in einem brokatbezogenen Sessel nieder und dachte über ihre Lage nach. Sehr viele Möglichkeiten hatte sie nicht. Leo hatte sie, und damit auch Julian, im Stich gelassen. Sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Verwandten sie nie willkommen heißen würden. Im Gegenteil! Sie konnte von Glück reden, wenn die Schwiegermutter und Leo überhaupt noch ein Wort mit ihr redeten. Aber das war ihr gleich. Was sie betraf, so konnten beide sie in alle Ewigkeit für ihre Stiefmutter halten.

Wäre die Situation nicht so prekär gewesen, hätte Miranda darüber gelacht. Adela war vierzig Jahre alt, obwohl man ihr das nicht ansah. Sie war noch sehr attraktiv, wenngleich sie mehr und mehr auf kosmetische Hilfsmittel zurückgreifen musste. Äußerlich unterschied sie sich sehr von Miranda. Sie war zierlich, hatte schwarzes Haar und ein kleines, spitzes Gesicht. Miranda war sicher, dass weder die Schwiegermutter noch deren Neffe ihre Stiefmutter je kennengelernt hatten.

Die „dekadente Gräfin“!

Diesen Beinamen hatte Miranda schon in Hampshire in der Schule gehört und nie vergessen. Sie fand, er passe nicht gut zu ihrer Stiefmutter, begriff jedoch, warum diese so genannt wurde. Adela konnte sehr anzüglich lächeln und hatte oft einen ebenso anzüglichen Ausdruck in den Augen. Schon bevor sie Mirandas Vater geheiratet hatte, war sie etwas leichtlebig gewesen. Als seine Witwe nahm sie jetzt jedoch nicht die geringste Rücksicht auf gesellschaftliche Gepflogenheiten und tat stets das, was ihr gefiel.

Nach der Ankunft in Italien war Miranda geneigt gewesen, die Stiefmutter nicht zu mögen, da diese sich sehr von ihrer sanftmütigen und zurückhaltenden Mutter unterschied. Die Stiefmutter war faul und sorglos, und ihre moralischen Vorstellungen ließen in mancher Hinsicht sehr zu wünschen übrig. Aber sie war auch sehr lustig, lachte viel und hatte ein gutes Herz. Sie war großzügig und konnte nie widerstehen, wenn sie Leid und Not sah. Daher war ihr Haus stets voll von Bedürftigen, indes auch von Leuten, die Mildtätigkeit nicht verdient hatten.

Miranda hatte oft versucht, sie in jeder Hinsicht zur Mäßigung anzuhalten, doch ohne Erfolg. Schon vor dem Tod des Vaters war seine zweite Frau in ihrem Haus von merkwürdigen Gestalten – wirklich Notleidenden, ehrlich Verzweifelten und manchmal sogar zwielichtigen Leuten – umgeben gewesen.

Nach dem Tod des Vaters vor einem Jahr hatte Miranda sie nicht verlassen. Wohin hätte sie sich auch wenden sollen? Außerdem hatte sie die Stiefmutter inzwischen trotz oder gerade ihrer Fehler wegen lieb gewonnen.

Selbst Julian hatte seine angeheiratete Schwiegermutter gemocht, auch wenn er nicht mit allem einverstanden gewesen war, was sie tat. Die Umstände, unter denen Miranda lebte, hatten ihn natürlich entsetzt. Nachdem sie in Italien eingetroffen war, hatten sie, ihr Vater und ihre Stiefmutter von der Hand in den Mund gelebt. Zu Lebzeiten ihres Vaters hatte sie sich einigermaßen sicher gefühlt, weil er sich in seiner sorglosen Art doch um sie gekümmert hatte. Unglücklicherweise war er schwer erkrankt und dann gestorben. Danach hatte Miranda mit ihrer Stiefmutter und deren zunehmend zwielichtiger werdenden Gästen in der heruntergekommenen Villa gelebt.

Zu dieser Zeit war Julian sehr um sie besorgt gewesen, und nicht zu Unrecht, weil sie eines Tages von einem Verehrer ihrer Stiefmutter gegen ihren Willen geküsst worden war. Danach hatte sie begriffen, dass sie mit ihrem guten Aussehen in der Villa nicht mehr sicher war. Die Stiefmutter hatte zwar den Mann, von dem Miranda belästigt worden war, des Hauses verwiesen, aber es war klar, dass andere Männer seinem schlechten Beispiel folgen würden. Damals hatte Miranda Julian erst ein halbes Jahr gekannt. Sie hatte seine Gesellschaft zwar sehr genossen, aber auch gewusst, sie könne ihn nie mit dieser Leidenschaft lieben, die ihre Stiefmutter bei jedem neuen Liebhaber bekundete. Julian hatte gesagt, er habe sie sehr gern und sei bereit, sich mit ihr zu vermählen, damit sie als verheiratete Frau besser von ihr unliebsamen Avancen verschont blieb. Außerdem hatte er ihr vorgeschlagen, nach seinem Tod nach England zu reisen und bei seinen hoch angesehenen Verwandten zu leben.

Widerstrebend, aber auch gleichzeitig dankbar hatte sie ihn erhört und einige Wochen später geheiratet. Schon damals war er zu schwach gewesen, um sich ohne Hilfe auf den Beinen halten zu können. Seine bis dahin schleichend verlaufende Krankheit war voll zum Ausbruch gekommen, sodass Miranda mehr seine Pflegerin als seine Gattin gewesen war. Einen Monat nach der Hochzeit war er gestorben.

Miranda fragte sich, ob die Schwiegermutter und deren Neffe Julians Brief nicht gelesen hatten. Julian hatte ihr versprochen gehabt, an seine Mutter zu schreiben und ihr alles zu erklären, und ihr gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen, weil Leo sich um sie kümmern würde.

Und wie der angeheiratete Vetter sich um sie gekümmert hatte!

Sie würde ihm eine Lehre erteilen, sodass er sich wünschte, sie nie zu Gesicht bekommen zu haben. Oh, ja, sie würde ihn lehren, sie nicht so zu behandeln, wie er das getan hatte!

Man konnte sie nicht daran hindern, nach Somerset zu fahren und in „The Grange“ zu wohnen. Vielleicht kam der grässliche Leo sogar zu der Überzeugung, „The Grange“ sei eine ebenso gute Lösung wie ein andauernder Aufenthalt in Italien, da das Anwesen so weit von London entfernt lag. Vielleicht ließ er sie in Ruhe, wenn er merkte, dass sie nichts Arges im Sinn hatte.

Miranda atmete tief durch. Sie war nicht gewillt, ihre Drohung wahr zu machen, ihn die Hotelrechnung begleichen zu lassen. Am nächsten Vormittag würde sie sogleich zu Julians Bank gehen und herausfinden, wie ihre finanzielle Situation war. Abgesehen davon, dass sie für die Hotelkosten aufkommen musste, brauchte sie auch Geld für das Leben in „The Grange“, selbst wenn sie sich sehr einschränken würde.

Bei dem Gedanken, dort in dem fremden Haus allein zu leben, war ihr etwas unbehaglich zumute. Sie verdrängte jedoch die Bedenken, da sie meinte, es habe keinen Sinn, aus Feigheit Abstand von ihren Plänen zu nehmen.

„Warte, Leo!“

Stirnrunzelnd drehte Leo sich um. Er wäre lieber allein gewesen, konnte Jack jedoch nicht gut sagen, er solle ihn in Ruhe lassen. Schließlich war er von Kindesbeinen an mit ihm befreundet. Jacks Eltern lebten auf der anderen Seite von Ormiston, dem Dorf, wo der Landsitz der Fitzgibbons lag. Jack nährte sogar die Hoffnung, seine Schwester Sophie möge eines Tages Leo heiraten. Aber Leo hatte nicht die Absicht, sich mit ihr zu vermählen. Sie weilte auf dem Land, und da Jack in letzter Zeit die Sprache nicht mehr auf sie gebracht hatte, hoffte er, der Freund möge seinen Lieblingstraum, die beiden Familien durch diese von ihm gewünschte Ehe zu vereinen, fallen gelassen haben.

„Ich dachte, du würdest mit Ingham spielen, Jack“, antwortete er. „Hast du schon so viel verloren?“

Jack lachte gutmütig. „Du weißt, dass ich nicht gut Karten spiele, Leo. Nein, ich war auf der Suche nach dir, bis jemand mir sagte, du seist bereits gegangen. Ich hoffte, du hättest etwas Unterhaltsameres im Sinn.“ Jack schloss sich dem Freund an.

„Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Ich bin auf dem Heimweg. Ich habe ein Problem, das mich beschäftigt, und befürchte, ich werde heute Abend kein guter Gesellschafter sein.“

Verständnislos schaute Jack ihn an und räusperte sich dann. „Ich weiß, ich bin kein sehr heller Kopf, Leo, aber wenn du in Schwierigkeiten sein solltest, kannst du getrost mit mir darüber reden.“

Leo lächelte. „Das ist mir klar, Jack. Es handelt sich jedoch um eine Familienangelegenheit, die mit Julian zusammenhängt.“

„Mit Julian? Es tat mir leid zu hören, dass er den Kampf gegen die Krankheit verloren hat. Ich habe dir einen Kondolenzbrief geschickt.“

„Ja, ich habe ihn erhalten. Vielen Dank, Jack. Die erwähnte Angelegenheit betrifft auch mehr Julians Witwe.“

Jack kratzte sich am Kopf. „Ich habe nicht gewusst, dass er verheiratet war“, sagte er überrascht.

„Das ist auch nicht allgemein bekannt. Noch nicht.“

„In meiner Gegenwart hat er sich nie für eine bestimmte Frau interessiert. Hat er heimlich geheiratet?“

Leo schüttelte den Kopf. „Nein, Jack, wenngleich ich mir im Nachhinein wünsche, er hätte das getan.“ Er verengte die Augen. „In Italien ist er in die Klauen einer Frau geraten, die Tante Ellen nur widerstrebend durch den Dienstboteneingang ins Haus lassen würde und erst recht nicht durch die Vordertür. Kurzum, er hat die so genannte ‚dekadente Gräfin‘ geheiratet.“

„Die vormalige Countess Ridgeway?“

Überrascht schaute Leo den Freund an. „Du hast von ihr gehört?“

„Das hat doch jeder! Sie ist berüchtigt. Erzähl mir bloß nicht, dass Julian sich ausgerechnet in sie verliebt hat! Das wäre unfassbar! Sorg dafür, dass sie in Italien bleibt, Leo. Gib ihr Geld, wenn du dazu gezwungen sein solltest. Du kannst es dir leisten. Engagiere Männer, die in allen Häfen aufpassen, und lass diese Frau, falls sie irgendwo den Fuß an Land setzen sollte, sofort verhaften.“

Wider Willen musste Leo lachen. Nachdem er wieder ernst geworden war, sagte er: „Vielen Dank für den Rat, Jack. Leider kommt er zu spät. Adela ist bereits in der Stadt. Ich hatte schon das Vergnügen, sie kennenzulernen.“ Er setzte eine nachdenkliche Miene auf. „‚Vergnügen‘ ist sicher nicht das richtige Wort. Hast du sie bereits gesehen, Jack? Sie ist sehr schön.“

Jack machte noch größere Augen. „Nein, ich habe sie nie gesehen, nur von ihr gehört. Aber du erliegst doch hoffentlich nicht auch ihren Reizen, oder doch?“

Leo zog eine Augenbraue hoch. „Natürlich nicht. Ich schätze Schönheit, ohne gleich den Kopf zu verlieren. Einige der gefährlichsten und tückischsten Geschöpfe auf Erden sind schön, doch das heißt nicht, dass ich ihnen in die Nähe geraten möchte.“

Jack schüttelte den Kopf. „Vielleicht nicht, Leo. Aber du bist im richtigen Alter. Wenn du dich einer Frau wegen zum Narren machen willst, dann tu es jetzt. Hast du den Fluch vergessen, der auf deiner Familie lastet? Dein erster Vorfahr hat ein leichtes Mädchen geheiratet, und seither war das der Ruin aller männlichen Fitzgibbons. Denk an deinen Großvater und diese Schauspielerin.“

„Ich werde deine Warnung beherzigen, Jack“, erwiderte Leo trocken. „Und nun entschuldige mich bitte.“

Überrascht schaute Jack ihn an und sah, dass man vor der Residenz des Freundes angekommen war. „Fährst du in diesem Monat nach Ormiston?“, erkundigte er sich beiläufig.

Leo schüttelte den Kopf. „Nein. Warum willst du das wissen?“

„Oh, ich dachte, ich könnte das Sophie gegenüber erwähnen. Das heißt, wenn du gefahren wärst.“

Innerlich seufzte Leo. „Gute Nacht, Jack.“

Er stieg die Freitreppe zum Portal hinauf und fragte sich dabei, warum manche Männer Einfluss auf das Leben ihrer Schwestern nahmen. Er mochte seine Schwester, versuchte jedoch nicht, ihr Leben zu bestimmen. Ganz gewiss hatte er sich nicht bemüht, einen Gatten für sie zu finden. Dazu war sie selbst in der Lage gewesen und hatte eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Zurzeit weilte sie auf dem Land, da sie erst vor Kurzem ihr zweites Kind, einen gesunden Jungen, zur Welt gebracht hatte.

Pendle machte die Haustür auf.

„Cognac in der Bibliothek, Pendle.“

„Ja, Euer Gnaden.“

„Irgendwelche Nachrichten?“

„Nein, Euer Gnaden.“

Natürlich nicht. Weshalb auch? Adela musste nur seinen nächsten Schritt abwarten. Schließlich hatte sie die besseren Karten.

Nachdem Pendle ihm den Cognac serviert und den Raum verlassen hatte, ließ Leo sich in seinem Lieblingssessel nieder. Er war die Höflichkeit und Ruhe in Person. Das würde jeder im ton bestätigen. Er wurde nie wütend und regte sich niemals über irgendetwas auf. Die Leute, die neidisch auf ihn waren, behaupteten, er sei kaltherzig und unmenschlich. Denn wenn jemand keine Gefühle hatte, konnte er sie auch nicht zeigen, und Leo zeigte selten Gefühle.

Natürlich hatten diese Leute ihn nicht gekannt, als er jung gewesen war. Damals war er sehr temperamentvoll gewesen und wild. Der Tod des Vaters und die seither auf seinen jungen Schultern lastende Verantwortung hatten sein ungezügeltes Benehmen jedoch gedämpft. Er hatte sich sehr bemüht, so zu werden, wie ein Herzog seiner Meinung nach sein sollte, und war bislang der Ansicht gewesen, sein Ziel erreicht zu haben.

An diesem Abend waren seine Vorstellungen jedoch ins Wanken geraten. Er fühlte sich eigenartig rastlos und überlegte, wie es sein mochte, wenn seine Gattin und seine Kinder ihn hier erwartet und mit fröhlichem Gelächter und Lärm empfangen hätten. Solche Grübeleien waren ihm wesensfremd, doch an diesem Abend fühlte er sich einsam.

Dank seines jährlichen Einkommens von zwanzigtausend Pfund, des Landsitzes in Somerset, des Jagdschlosses in den Shires und der Londoner Residenz hatten viele Mütter ihn für ihre Töchter zum Gatten auserkoren. Er wusste von mindestens einem Dutzend junger Damen aus bester Familie, von denen jede ihn nur zu bereitwillig geheiratet hätte. In letzter Zeit hatte er die Honourable Miss Julia Yarwood als seine Gemahlin in Betracht gezogen. Er musste für Nachwuchs sorgen. Das war seine Pflicht, und seine Pflichten vernachlässigte er nie.

Tags zuvor war die ehrenwerte Miss Julia Yarwood ihm noch als ziemlich attraktive Lösung für dieses Problem erschienen, doch nun hatte einiges sich geändert. Er schloss die Augen und fluchte, weil er nicht an die ehrenwerte Miss Julia Yarwood gedacht hatte. Aus irgendeinem ihm unerklärlichen Grund war das Adelas Schuld. Sie hatte ihm den Kopf verdreht. Sie hatte sein perfekt arrangiertes Leben auf den Kopf gestellt. Am nächsten Tag würde er sie aufsuchen und sie nötigen, sein Angebot anzunehmen. Er wollte, dass sie England verließ. Das war er seiner Zurechnungsfähigkeit schuldig.

Kurz vor zehn Uhr suchte Leo die angeheiratete Cousine im Hotel auf. Für manche Damen wäre dieser Zeitpunkt zu früh gewesen, und genau das hatte Leo gehofft, weil er sie überrumpeln wollte. Er wurde enttäuscht.

Er hörte sie in den Empfangssalon kommen, blieb jedoch mit dem Rücken zu ihr vor dem Kamin stehen. Im Spiegel sah er sie die Tür schließen und ihn eine Weile betrachten.

„Halte ich der Prüfung stand, Adela?“

Sie reckte das Kinn und schaute ihn im Spiegel an. Er lächelte, doch sein Lächeln wirkte nicht herzlich, eher selbstgefällig und herablassend. Er war, wie sie meinte, daran gewöhnt, von Frauen bewundert zu werden, und sie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm einen Dämpfer zu verpassen. Verärgert reckte sie das Kinn noch höher.

„Du siehst passabel aus, Leo. Ich habe jedoch schon viele besser aussehende Männer gesehen.“

Flüchtig erschien ein verärgerter Ausdruck in seinen dunkelblauen Augen. Dann senkte er halb die Lider. „Ach, wirklich?“, erwiderte er eine Spur mokant. „Du verfügst natürlich über sehr viel Erfahrung.“

Miranda empfand die ungerechtfertigte Bemerkung wie einen Stich. „Oh! Sehr viel!“, sagte sie und lächelte verkrampft. „Was willst du von mir? Ich wollte soeben ausgehen.“

„Das sehe ich. Ich werde dich auch nur kurz aufhalten.“ Leo zögerte, drehte sich um und musterte kühl die ungeduldig vor ihm stehende schöne Witwe seines Vetters. An diesem Morgen sah sie trotz der Schatten unter ihren wundervollen Augen noch hübscher aus. Leo fragte sich, ob er daran schuld sein mochte, dass sie Schatten unter den Augen hatte. Widerstrebend verdrängte er den Gedanken. Sie war der Grund gewesen, warum er schlecht geschlafen hatte. Er bezweifelte jedoch, dass sie seinetwegen eine unruhige Nacht verbracht hatte. Aber er fühlte sich zumindest auf dem Posten. Eine Wiederholung des unverzeihlich unbeholfenen Benehmens vom Vortag würde es nicht geben.

„Möchtest du dich nicht setzen?“, fragte er in höflich-kühlem Ton. „Wir haben einiges zu besprechen und können es uns ebenso gut bequem machen, ehe wir miteinander reden.“

Miranda hatte ein ungutes Gefühl im Magen, gab indes nicht zu erkennen, wie unbehaglich ihr zumute war. Stattdessen erwiderte sie ebenso eisig: „Danke, aber ich ziehe es vor, stehen zu bleiben.“

„Wie du willst. Wie ich hörte, nennst du dich hier Mrs. Fitzgibbon.“

„So heiße ich.“

„Im Moment.“ Wieder dieses selbstgefällige Lächeln.

Miranda lachte in einer Weise, die ihr fremd war. Sie war leichtsinnig, leicht verrückt, zu allem fähig. Ihre Stiefmutter und ihre Freunde hätten sie nicht wieder erkannt. Sie kam sich wie eine Fremde vor und empfand gleichzeitig ein befreiendes, berauschendes Gefühl.

„Mir war nicht bewusst, dass du Scheidungen aussprechen kannst, Leo.“ Das hatte sie in einem sarkastischen Ton geäußert, dessen sie sich nie für fähig gehalten hätte.

„Ich bin zu vielem imstande, Adela. Noch kennst du mich nicht.“

War das eine Drohung? Leo hatte sehr leise gesprochen.

„Da Julian oft über dich geredet hat, glaube ich, dich zu kennen“, erwiderte Miranda leichthin, als sei ihr alles gleich.

Bei der Erwähnung des Vetters hatte Leo die Augen verengt. „Ach, er hat über mich geredet?“

„Oft. Du warst sein Vorbild. Er hat sehr viel von dir gehalten.“

Leo wirkte überrascht und einen Augenblick lang beinahe angreifbar. Dann furchte er jedoch finster die Stirn, und Miranda nahm an, sie habe es sich nur eingebildet, dass er verwundbar sei.

Er war indes überrumpelt worden. Mit einer solchen Eröffnung hatte er nicht gerechnet. Nur einen Moment zuvor hatte Adela ihn mit blitzenden Augen angesehen und den Eindruck erweckt, ihn eher ermorden statt ihm ein Kompliment machen zu wollen. Er fragte sich, was diesen plötzlichen Sinneswandel herbeigeführt haben mochte. Er kam sich wie ein kleines Boot auf sturmgepeitschten Wellen vor, aus dem Gleichgewicht geraten und gefährlich abgetrieben. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, die „dekadente Gräfin“ könne plötzlich zeigen, dass sie ein Herz hatte. Im Stillen schüttelte er den Kopf. Wenn er zuließ, dass er abgelenkt wurde, würde er nie die Oberhand haben. Der einzige Weg, wie er diese Angelegenheit zum gewünschten Abschluss bringen konnte, war, bei der Sache zu bleiben.

„Hast du dir mein Angebot noch einmal überlegt, Adela?“

So, das war besser! Sie hatte wieder diesen glitzernden Blick und krümmte die Finger um den Griff des Sonnenschirms, ganz so, als würde sie ihn Leo am liebsten auf den Schädel schlagen.

„Dein Angebot?“, wiederholte sie und warf den Kopf in den Nacken. Sie täuschte eine Sorglosigkeit vor, die ihr nicht zu eigen war. „Nein, das habe ich nicht. Ich habe auch nicht die Absicht. Von nun an ist England meine Heimat, und ich bleibe hier, ob dir das passt oder nicht.“

Leo furchte die Stirn. Erneut hatte er das untrügliche Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Adela war nicht ehrlich zu ihm. Das ahnte er, und seine Ahnungen trogen ihn selten. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, schritt er zu ihr und hielt vor ihr an.

Miranda wich nicht vor ihm zurück. Sie wollte sich nicht von ihm einschüchtern lassen. Gegenseitig starrte man sich an, er stirnrunzelnd, sie in dem Bemühen, sich wie ihre Stiefmutter zu geben, obwohl sie zunehmend unsicherer wurde.

„Italien ist deine Heimat, Adela“, erwiderte er leise. „Dort würdest du dich entschieden wohler fühlen. Und mit den dir vor mir angebotenen fünfzehntausend Pfund könntest du sehr bequem leben, wenn du maßhältst.“

Miranda verengte die Augen und schaute ihn prüfend an. Er hatte das Angebot erhöht und rechnete wahrscheinlich damit, dass sie darauf einging. Er konnte nicht wissen, dass Geld ihr überhaupt nichts bedeutete. Sie würde sein Angebot auch dann nicht annehmen, wenn er ihr eine Million Pfund bot.

„Ich kann nicht maßhalten“, antwortete sie gleichgültig und bemerkte erst einen verwirrten, dann einen verärgerten Ausdruck in seinen Augen.

„Ich gebe dir zwanzigtausend Pfund, Adela. Das ist mein letztes Angebot. Wenn du dich trotzdem weigerst, das Land zu verlassen, sehe ich mich gezwungen, andere Maßnahmen zu ergreifen, die dir nicht gefallen werden. Sei also gewarnt! Ich lasse nicht mit mir spaßen.“

Nein. Sie war sicher, dass er nicht mit sich spaßen ließ. Sie feuchtete sich die Lippen an. Das schien seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Sein Blick richtete sich auf ihren Mund. Plötzlich fühlte sie sich beklommen.

Er hatte Mühe, sich daran zu erinnern, weshalb er überhaupt hergekommen war. Adela war fast so groß wie er. Eine ihm fremde innere Stimme sagte ihm, das sei sehr praktisch, wenn er Julians Witwe küssen wolle. Er musste nur leicht den Kopf neigen, und dann konnte er sie küssen. Er überlegte, wie es sein mochte, sie zu küssen. Bestimmt waren ihre Lippen warm, feucht und weich.

Und wie er sich danach sehnte, sie zu küssen! Nie im Leben hatte er sich etwas so gewünscht. Zum ersten Mal im Leben gab er einem Drang nach. Das Ergebnis war himmlisch. Ihre Lippen waren so weich und süß, wie er sie sich vorgestellt hatte, aber ach, sehr viel wärmer. Er legte ihr den Arm um die Taille, und sie drängte sich vertrauensvoll an ihn, ganz so, als sei das die natürlichste Sache der Welt.

Leo küsste sie stürmischer.

Mit einem halb erstickten Aufschrei stieß sie ihn fort.

Sie musste sich anstrengen, ihn von sich fernzuhalten. Er blinzelte benommen, wich einige Schritte zurück und bemerkte ihr gerötetes Gesicht, ihre zornige Miene. Jäh kam er zur Vernunft.

„Es ist nicht meine Art, fremde Männer in einem Hotelsalon zu küssen, Leo, ganz gleich, was du von mir halten magst“, brachte sie atemlos heraus.

Er lachte. Trotz allem musste er lachen. Am liebsten hätte er sie gefragt, wann und wo sie fremde Männer küssen würde, doch das wäre unverzeihlich gewesen, so unverzeihlich wie das, was er soeben getan hatte. Jäh wurde er ernst.

Adelas Empörung und Verärgerung waren für eine Frau ihres zweifelhaften Rufes sehr stark, doch daran dachte Leo nicht. Sein Verhalten machte ihn viel zu verlegen. Er fragte sich, wie er, der sonst so vernünftig war, derart den Verstand hatte verlieren können, und wieso er von der Frau, die er vertreiben wollte, dermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.

Er verneigte sich steif. „Ich bitte um Verzeihung, Adela, auch wenn es für mein ungehöriges Benehmen keine Entschuldigung gibt.“ Sein Blick drückte aus, dass er es ernst meinte. Diese Ehrlichkeit überraschte Miranda. „Verzeihst du mir, Adela?“

Miranda zögerte mit der Antwort und schaute ihm in die Augen. Sie gestand sich ein, dass sie den Kuss sehr genossen und das Gefühl gehabt hatte, nichts Unrechtes zu tun. Und nun sah Leo so … so geknickt aus. Sie hatte vorgehabt, ihn abzukanzeln oder in Tränen auszubrechen. Stattdessen antwortete sie: „Ja, ich nehme deine Entschuldigung an, Leo. Tun wir so, als sei nichts geschehen.“

Ihre Blicke trafen sich, und dann wandte jeder von ihnen unbehaglich die Augen ab.

Er räusperte sich. „Nimmst du mein Angebot über die zwanzigtausend Pfund an, Adela?“

Er wartete, derweil sie sich unglaublich lange Zeit mit der Antwort ließ. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, hielt sich jedoch vor, es sei darauf zurückzuführen, dass er sie unbedingt „Ja“ sagen hören wollte.

„Nein, Leo. Ich nehme dein Angebot nicht an.“

Seine Miene war unergründlich. Er hatte sich wieder gut unter Kontrolle. Er drehte sich um und starrte ins Kaminfeuer.

„Darf ich wissen, warum du mein Angebot nicht annimmst?“ Seine Stimme hatte ausdruckslos geklungen.

„Nein, das darfst du nicht.“ Miranda hatte sich bemüht, so gut wie möglich den gleichen Ton anzuschlagen, obwohl ihr Herz noch immer heftig schlug und sie innerlich zitterte. „Aber keine Angst, Leo. Du wirst meine Gesellschaft nicht länger ertragen müssen. Ich ziehe so schnell wie möglich nach ‚The Grange‘ um. Ich bin sicher, du wirst mir zustimmen, dass das eine Erleichterung für uns beide sein wird.“

Er drehte sich um und starrte Miranda an, als könne er den Ohren nicht trauen. „Nach ‚The Grange‘?“, platzte er heraus. „Du hast doch nicht vor, dort zu leben?“

Seine fassungslose Miene und sein ungläubiger Ton schockierten Miranda gleichermaßen. Es gelang ihr jedoch, das mit einem Auflachen zu kaschieren. „Natürlich habe ich vor, dort zu leben. Das ist jetzt mein Zuhause, Leo.“

„Es ist …“

„Seit Jahrhunderten im Besitz der Familie. Ja, das hat Julian mir erzählt. Aber auch ich bin jetzt eine Fitzgibbon.“

Leo lächelte grimmig. Er würde nicht noch einmal die Contenance verlieren. „Weißt du eigentlich, wo ‚The Grange‘ liegt?“

Aufgeregt sah Miranda ihn Hut und Reitpeitsche vom Konsoltisch nehmen. „In Somerset, in der Nähe von St. Mary Mere. Ist dir das weit genug entfernt?“

Er antwortete nicht sofort. Er ging zur Tür, blieb davor stehen und drehte sich zu Miranda um. Sie machte sich auf etwas gefasst.

„Du wirst es bereuen, meinen Vorschlag abgelehnt zu haben, Adela“, sagte Leo ruhig. Wieder dieser prüfende Blick. Erneut verneigte sich Leo. „Auf Wiedersehen.“ Schnellen Schrittes ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Erstaunt starrte Miranda sie an. Sie befand sich in einem Aufruhr der Gefühle. Sie zweifelte nicht daran, dass Leo meinte, was er gesagt hatte. Er wollte sie los sein und würde nicht rasten noch ruhen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Offenbar verabscheute er sie sehr. Sie hatte gewollt, dass er sie verabscheute, regte sich jetzt jedoch über sein Verhalten auf. Es ärgerte sie, dass er in dieser Weise mit ihr geredet hatte. Und gleichzeitig empfand sie ein starkes Gefühl, das sie sich nicht erklären konnte. Er hatte sie geküsst. Und sie war nicht angewidert gewesen, nein, überhaupt nicht. Sie hatte nicht gewollt, dass er sie küsste, und auch nicht damit gerechnet, aber als er sie dann geküsst hatte, war das himmlisch gewesen.

Sie rief sich zur Ordnung. Es war ohne Bedeutung, ob sie den Kuss genossen hatte oder nicht. Kein Ehrenmann machte einer Dame unerwünschte Avancen. Aber vielleicht hielt Leo sie nicht für eine Dame. Sie stöhnte auf. Natürlich! Er hielt sie für ihre Stiefmutter, eine welterfahrene Frau. Er glaubte, solche Avancen seien ihr recht, oder dass sie zumindest wisse, wie sie damit umgehen müsse. Und sie hatte zugelassen, dass er das glaubte, ihn sogar ermutigt.

Das bedeutete wohl, dass sie sich selbst die Schuld geben musste. Andererseits war sie nicht dieser Meinung. Wenn irgendjemand Schuld hatte, dann war das Leo. Er war derjenige, der von Anfang an falsche Schlussfolgerungen gezogen und sie so wütend gemacht hatte, dass ihr keine andere Wahl geblieben war, als ihn zu bestrafen.

Miranda berührte ihre Lippen und entsann sich der Wonnen, die sie bei seinem Kuss empfunden hatte. Und sie dachte auch noch an etwas anderes. Sie hatte das Gefühl gehabt, zu ihm zu gehören. Er, Leo Fitzgibbon, Duke of Belford, war offensichtlich noch viel gefährlicher, als sie angenommen hatte.

3. KAPITEL

Mr. Ealing war sehr entgegenkommend gewesen. Miranda hatte erfahren, Julian habe ihr etwas Geld hinterlassen, genug, um bescheiden leben zu können. Der Bankdirektor hatte ihr dringend nahe gelegt, „The Grange“ zu verkaufen und ein kleineres Anwesen zu erstehen, ein Cottage in St. Mary Mere. Höflich hatte sie ihm zugehört, sich jedoch geweigert, eine Entscheidung zu treffen, ehe sie „The Grange“ gesehen hatte. Julian hatte den Besitz geliebt, und daher fand sie, es sei ihre Pflicht, das Haus erst in Augenschein zu nehmen, ehe Mr. Ealing und das Schicksal eine Gelegenheit hatten, es ihr wegzunehmen.

Auf dem Weg ins Hotel dachte sie wieder an Leo und ärgerte sich erneut über ihn. Sie spürte die Hitze ins Gesicht steigen und fragte sich, ob sie sich eine Erkältung zugezogen habe. Sie konnte sich nicht erinnern, sich je in einer so unüberlegten und unvernünftigen Art und Weise verhalten zu haben. Die Stiefmutter hatte sie immer um ihren Rat gebeten, weil sie sachlich, praktisch und vernünftig dachte und stets gefasst war. Nein, das alles war Leos Schuld. Der angeheiratete Vetter brachte sie völlig durcheinander, und je früher sie aufs Land und in die Stille von „The Grange“ flüchten konnte, desto besser. Dorthin würde er ihr gewiss nicht folgen, oder doch? Sie hatte das dumpfe Gefühl, er sei zu allem fähig, wenn es darum ging, seinen Kopf durchzusetzen.

Es begann zu regnen, ehe sie das Hotel erreichte. Rasch betrat sie das Foyer und dachte an die hohe Rechnung, die sie würde begleichen müssen. Sie hatte genug Geld, doch die Ausgabe für das Hotel würde ein großes Loch in ihren Beutel reißen. Sie würde haushalten müssen, bis die Bank ihr einen Teil des geerbten Geldes überwies. Nie hätte sie aus lauter Ärger auf Leo ins Hotel ziehen dürfen. Es war leicht, Julians Cousin die Schuld zu geben. Miranda war jedoch ehrlich genug, einen Teil der Schuld auf sich zu nehmen.

Sie befand sich vor der Haupttreppe, als ein Saaldiener sich ihr näherte, sie nach ihrem Namen fragte und ihr dann einen Brief überreichte. Verdutzt ging sie in ihr Zimmer und riss den versiegelten Umschlag auf. Das Schreiben war von Mr. Frederick Harmon. Diesen Namen hatte sie noch nie gehört. Sie las den Brief, in dem der Absender ihr mitteilte, er sei ein entfernter Verwandter der Countess of Ridgeway, die ihn gebeten habe, ihre Stieftochter in London aufzusuchen. Er fragte höflich an, ob Miranda ihm an diesem Abend die Ehre erweisen würde, im Hotel mit ihm zu dinieren, und bat sie, ihm ihre Antwort an die angegebene Adresse zu schicken.

Sie fand es nett, dass die Stiefmutter sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatte. Das war typisch. Die Freunde der Stiefmutter waren leider jedoch nicht immer die respektabelsten Leute. Daher war Miranda unschlüssig, ob sie die Einladung annehmen solle. Aber Leo würde es sehr stören, wenn sie mit einem Fremden dinierte. Das würde ihn nur in seiner schlechten Meinung über sie bestätigen. Und dieser Gedanke gab den Ausschlag.

Rasch ging sie zum Schreibtisch, setzte sich und schrieb Mr. Harmon, sie nähme seine Einladung an.

Mr. Harmon traf pünktlich im Hotel ein. Er war ungefähr im gleichen Alter wie Leo, jedoch von kleinerem Wuchs und weniger gut aussehend. Er hatte ein langes, schmales Gesicht und braunes, sich bereits lichtendes Haar. Er strahlte eine gewisse Sorglosigkeit aus, die Leo nicht hatte, die Miranda jedoch recht anziehend fand.

Unter anderen Umständen hätten sein Lächeln und der freundliche Ausdruck in seinen Augen sie für ihn eingenommen, doch sie hatte bereits Leo kennengelernt. Wiewohl es ihr noch nicht bewusst war, hatte er ihr das Interesse an anderen Männern genommen.

Mr. Harmon begrüßte sie herzlich, aber nicht zu übertrieben, um sie nicht zu beunruhigen. Er bestätigte, ein weitläufiger Verwandter ihrer Stiefmutter zu sein, ein Vetter dritten Grades. Leicht verlegen erzählte er ihr, er habe sein kleines Erbe unklug investiert und sei in Not geraten. Adela habe ihm großzügig geholfen und es ihm so ermöglicht, wieder auf die Beine zu kommen. Jetzt sei er wieder flüssig, wie er scherzhaft hinzufügte. Natürlich sei er bestrebt, Adela ihre Freundlichkeit zu vergelten. Nachdem er gelesen hatte, wie besorgt sie um ihre Stieftochter sei, war ihm klar gewesen, dass er ihrer Bitte unbedingt entsprechen müsse.

Miranda und Mr. Harmon war ein abseits stehender Einzeltisch zugewiesen worden. Sie nahm an, das sei ein Zufall. Sie konnte nicht wissen, dass Mr. Harmon durch ein großzügig bemessenes, dem Oberkellner zugestecktes Trinkgeld diesem „Zufall“ nachgeholfen hatte.

Er überließ nie etwas dem Zufall.

„Sie haben sich sehr schnell mit mir in Verbindung gesetzt, Sir“, bemerkte Miranda.

Schuldbewusst zwinkerte er ihr zu. „Ich muss Ihnen gestehen, dass ich im Schifffahrtskontor jemanden habe, der mich von Ihrer Ankunft benachrichtigt hat. Ich hoffe, Mrs. Fitzgibbon, Sie finden es nicht aufdringlich, dass ich Ihnen umgehend geschrieben habe. Ihre Stiefmutter glaubt jedoch, dass Sie auf den Rat von jemandem angewiesen sind, der den größten Teil seines Lebens in London verbracht hat.“

Mr. Harmons ernste, freundliche und ehrliche Art machten Miranda sehr geneigt, ihm zu verzeihen, falls Vergebung erforderlich war. „Natürlich, Sir. Glauben Sie mir, ich wollte Ihr Verhalten nicht kritisieren. Ehrlich gesagt, war ich nie so auf einen Freund angewiesen wie jetzt.“

Mr. Hamon fand, es sei noch Zeit genug, Mrs. Fitzgibbons Abwehr zu durchbrechen. Im Moment hielt er es für ratsamer, gemäßigt vorzugehen. Eifrig beugte er sich vor und schenkte ihr Wein nach. „Es tat mir leid, von Ihrem schweren Verlust zu hören, Madam“, sagte er. „Sie sind, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, noch viel zu jung, um schon Witwe zu sein.“

Sie nahm sein Mitgefühl durch ein Neigen des Kopfes zur Kenntnis. „Sind Sie verheiratet, Sir?“, erkundigte sie sich höflich und nicht aus Neugier.

„Ich war verheiratet. Leider bin auch ich jetzt allein“, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu.

Für einen Witwer war sein Verhalten zwar nicht zu beanstanden, doch plötzlich kam es Miranda irgendwie verlogen vor, obwohl es keinen Grund zu dieser Annahme gab. Sie lächelte freundlich. „Heute Abend sollten wir nicht über unseren Kummer reden, Sir.“

Damit war Mr. Harmon sofort einverstanden. Einige Zeit später gelangte Miranda zu der Erkenntnis, dass sie einem falschen Eindruck erlegen war. Mr. Harmon war ein lebhafter Gesellschafter, den sie sehr charmant gefunden hätte, wäre sie in Gedanken nicht dauernd woanders gewesen. Wann immer sie ihm jedoch in seine braunen Augen schaute, wähnte sie, zwei blaue zu sehen.

Vielleicht lag es an den Gewissensbissen, die sie hatte, weil sie ihm nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkte, dass sie freundlicher und weitaus unvorsichtiger war, als sie es sonst gewesen wäre. Denn als man das Essen beendet hatte, gestattete sie Mr. Harmon, den Mokka in einem Separee servieren zu lassen.

Schaden konnte das nichts. Sie war Witwe und brauchte keine Anstandsdame. Außerdem war das Hotel ein respektables Haus. Im Übrigen war Mr. Harmon ein Verwandter ihrer Stiefmutter, die trotz ihres angegriffenen Rufes nicht auf den Einfall kommen würde, Mirandas Ansehen absichtlich zu gefährden, indem sie sie mit einem schlechten Mann zusammenbrachte.

Sie berichtete Mr. Harmon von „The Grange“ und ihrer Absicht, so schnell wie möglich dort hinzufahren. Sie fand ihre Stimme zu laut und vermutete, daran sei der Weingenuss schuld, zu dem Mr. Harmon sie genötigt hatte.

Er nickte ernst. „Ich vermute, dass Ihre Angehörigen froh sein werden, den Besitz in Ihren Händen zu wissen.“

Miranda lachte. „Froh! Sie tun alles, um ihn zurückzubekommen.“

Entgeistert starrte Mr. Harmon sie an, wenngleich er im Stillen entzückt war. Er war so gut wie sicher gewesen, das werde der Fall sein, und nun hatte Mrs. Fitzgibbon ihm die Vermutung bestätigt. Nicht umsonst hatte Adela ihm geschrieben, sie befürchte, ihre liebe Stieftochter, die der Meinung sei, ihre Verwandten würden sie freundlich aufnehmen, werde wie ein Lamm unter die Wölfe fallen. Besonders der Vetter des Schwiegersohns habe den Ruf, hartherzig und rücksichtslos zu sein. Bestimmt versuchte man bald, Miranda das Wenige zu nehmen, was ihr Mann ihr hinterlassen hatte, denn „The Grange“ sei für die Fitzgibbons eine Art Glücksbringer.

Frederick Harmon war froh, dass Adela ihm diesen Brief geschrieben hatte. Die alberne, weichherzige Person konnte nicht wissen, dass die reiche und einfältige Miss Sophie Lethbridge jetzt längst an ihn gebunden wäre, gäbe es den Duke of Belford und Mr. Jack Lethbridge nicht, dessen dämlichen Freund. Mr. Harmon hatte Sophie Lethbridge schon fast in den Klauen gehabt, als der Duke of Belford sich einmischte. Er verabscheute ihn nicht nur. Er hasste ihn und würde alles tun, um sich an ihm zu rächen.

„Vielleicht erlauben Sie mir, an Ihrer Stelle mit Seiner Gnaden zu reden“, schlug er betont beiläufig vor und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Er beugte sich vor, ergriff Mrs. Fitzgibbons Hand und tätschelte sie wie ein liebevoller Onkel.

Miranda bemerkte das nicht, weil sie daran dachte, wie gut es sein würde, wenn Leo sich mit einem Mann auseinandersetzen müsse, statt mit einer schutzlosen Frau.

Leo wusste jetzt, dass er der ehrenwerten Miss Julia Yarwood nicht den Hof machen und sie erst recht nicht heiraten konnte. Wahrscheinlich würde er als unvermählter Hagestolz sterben, der Letzte seines Namens. Und das alles war Adelas Schuld.

So bald es ihm möglich war, verließ er den Ballsaal und ging in den Spielsalon, wo er den Freund antraf. Jack verlor. Der Freund grinste ihn an und entschuldigte sich bei den Mitspielern.

„Hast du Julians Witwe vertrieben, Leo?“, wollte er wissen.

„Noch nicht. Aber ich werde sie bald nach Italien zurückgeschickt haben.“

Jack furchte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Es ist so, wie ich sagte, Leo. Sie hat dich in den Klauen. Du wirst dich jetzt nicht mehr von ihr befreien können.“

Leo lachte auf. „Überhaupt nicht. Sie hat Angst.“

„Ach, wirklich?“ Jack setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Auf mich hat sie nicht verängstigt gewirkt, als ich sie vor etwa einer Stunde sah. Und auch Mr. Harmon sah nicht verschreckt aus. Im Gegenteil! Beide schienen sich prächtig zu verstehen.“

Leo verengte die Augen und starrte den Freund an. Der Blick machte Jack unbehaglich, wie er später eingestand.

„Wovon redest du?“

„Ganz ruhig, Leo! Ich habe nur gesagt …“

„Ich weiß, was du gesagt hast“, unterbrach Leo mit zusammengebissenen Zähnen. „Du redest doch nicht von diesem Schuft?“

„Nun …, ja. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.“ Überrascht schaute Jack den Freund an. „Du doch auch!“

Leo knirschte mit den Zähnen. „Um Himmels willen, Jack, konzentrier dich! Wo hast du Adela und Mr. Harmon gesehen?“

„Im ‚Armstrong‘.“

„Was hast du da gemacht?“, wollte Leo wissen. Er hatte nicht mehr gereizt, sondern verblüfft geklungen.

Jack räusperte sich. „Ich … äh … ich dachte, ich schaue mal im Hotel vorbei. Weißt du, manchmal kommen Freunde vom Land zu Besuch und wohnen dort. Ich dachte, ich sehe mal nach.“

Ungläubig starrte Leo den Freund an. „Du bist ins Hotel gegangen, um Adela nachzuspionieren?“

Jack riss die Augen auf. Sein sich rötendes Gesicht verriet ihn jedoch. „Nun, so würde ich das nicht nennen. Ich wollte nur einen Blick auf Julians Witwe werfen. Ein Lakai hat sie mir gezeigt. Ich wollte wissen, wie sie aussieht.“ Plötzlich machte er ein ernstes Gesicht. „Jetzt begreife ich, warum du nicht mehr du selbst bist, Leo. Das ist, wie ich gesagt habe, der auf den Fitzgibbons lastende Fluch.“

„Ich bin wie immer, Jack, und an Flüche glaube ich nicht. Erzähl mir mehr.“

Jack tat dem Freund den Gefallen. „Adela dinierte mit einem Herrn im Speisesaal. Sie saßen an einem Einzeltisch. Alles sehr schicklich. Sie lachten und plauderten wie alte Freunde. Der Mann war Frederick Harmon. Du weißt, was er Sophie in der vergangenen Saison angetan hat. Damals wollte ich ihn zum Duell fordern, doch meine Schwester hat mich angefleht, das nicht zu tun. Sie hat gesagt, dass würde für sie alles nur noch schlimmer machen.“

„Das hätte es“, warf Leo ein.

„Nun, ich kann dir sagen, dass ich sehr befremdet war, ihn heute Abend mit deiner Gräfin da so dreist sitzen zu sehen. Im Allgemeinen bin ich gutmütig, aber in diesem Moment hatte ich das Bedürfnis, in den Speisesaal zu stürzen und Frederick einen Kinnhaken zu verpassen.“

Auf dieses Eingeständnis erwiderte Leo lediglich: „Adela ist nicht ‚meine Gräfin‘!“ Er empfand jedoch ein flaues Gefühl im Magen, ganz so, als säße er in einem auf hohen Wellen schaukelnden Ruderboot. Die Vorstellung, dass Adela und Mr. Harmon lachend und plaudernd beim Essen zusammensaßen, machte ihn wütend. Er ballte die Hände zu Fäusten.

Beunruhigt schaute Jack ihn an. „Du machst dich doch hoffentlich nicht zum Narren!“

Leo lachte, aber es klang nicht heiter.

„Ich wünschte, ich hätte dir das nicht erzählt“, murmelte Jack. „Ich lasse dich jedoch nicht allein ins Hotel gehen. Ich werde dich begleiten und dich unterstützen.“

„Du musst nicht mitkommen. Ich möchte nur das von dir beschriebene hübsche Bild mit eigenen Augen sehen, um sicher zu sein. Ich habe nicht die Absicht, mich mit jemandem wie Frederick zu prügeln.“

Jacks Miene sah immer noch zweifelnd aus. Leo verabschiedete sich vom Freund und suchte nach den Gastgebern, um sich auch von ihnen zu verabschieden.

„Versuchst du, mein Angebot in die Höhe zu treiben, Adela?“

Erstaunt drehte Miranda sich halb um und sah Leo mit wütendem Blick in der offenen Tür stehen. Er war sichtlich sehr verärgert und sehr, sehr eifersüchtig. Doch Letzteres konnte sie nicht wissen. Angesichts seiner Verärgerung schnappte sie nach Luft und sank im Sessel zusammen.

Im Gegensatz dazu stand Mr. Harmon auf. Seine Lippen verzogen sich zur Karikatur eines besorgten Lächelns. „Euer Gnaden“, sagte er, und seine knappe Verneigung war eine eindeutige Beleidigung.

Achtlos blickte Leo zu ihm hinüber. „Wenn du die Absicht hattest, mich mit deinem Begleiter zu beeindrucken, Adela, dann hättest du dir jemand anderen als Mr. Harmon aussuchen müssen. Ich habe ihm schon als Kind einmal die Nase blutig geschlagen. Sei versichert, dass ich das wieder tun kann und werde.“

Vor Wut wurde Mr. Harmon rot. Er zwang sich jedoch, die Ruhe zu bewahren. „Mrs. Fitzgibbon hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie nicht die Absicht hat, auf ‚The Grange‘ zu verzichten. Sie …“

„Ihre Ladyschaft kann mir selbst sagen, welche Absichten sie hat“, unterbrach Leo in geringschätzigem Ton.

Frederick Harmon furchte die Stirn. „Wieso nennen Sie sie ‚Ihre Ladyschaft‘?“

Unsicher erhob sich Miranda. Sie fühlte sich plötzlich beklommen, und ihr war schwindlig. Gleichzeitig erkannte sie deutlich an Leos Miene, was er von ihr dachte. Sein Blick war verächtlich, und sein Lächeln geringschätzig. Sie hätte sich darüber freuen sollen, wollte ihn jedoch unbedingt davon überzeugen, dass das, was er von ihr dachte, nicht der Wahrheit entsprach. Es war ungeheuer wichtig, dass er Verständnis aufbrachte.

„Mr. Harmon ist ein entfernter Verwandter meiner … von mir“, sagte sie hastig. „Er war so freundlich … das heißt, wir haben gemeinsam im Speisesaal des Hotels diniert. Und dann hat er mir vorgeschlagen, den Mokka hier zu trinken, und ich … Du hast keinen Grund …“

„Er hat deine Hand gehalten“, unterbrach Leo das Gestammel in eisigem Ton.

Miranda zwinkerte. „Ach ja?“ Sie schaute Mr. Harmon an und furchte die Stirn. Dann richtete sie den Blick wieder auf Leo und seufzte. „Oje, das stimmt. Ich nehme an, das liegt am Weingenuss. Ich habe mehrere Gläser Wein getrunken. Mir scheint, ich habe den Durchblick verloren.“ Verstört sank sie in den Sessel zurück.

„Trinkst du normalerweise so viel?“, wollte Leo wissen. „Ich erinnere mich nicht, dass Tante Ellen dich mir als Säuferin geschildert hat.“

„Nein, das tue ich nicht“, antwortete Miranda gereizt. „Glaubst du, ich hätte Hemmungen, dir zu sagen, dass ich eine … eine Säuferin bin, wenn ich das wäre? Selbst in Italien, wo man mehr Wein als Wasser trinkt, habe ich nie viel Wein getrunken. Hätte ich mich heute ebenfalls zurückgehalten, wäre ich jetzt vielleicht nicht in dieser misslichen Lage. Außerdem hat Mr. Harmon mir dauernd nachgeschenkt.“

Mit geballten Händen ging Leo zu Adela. „Soll das heißen, dass er dich zum Trinken gezwungen hat?“

„Nein, das wollte ich nicht damit sagen!“, entgegnete Miranda. „Hör bitte auf, es auf eine Auseinandersetzung anzulegen!“

Mr. Harmon, der diesem Wortwechsel voller Interesse zugehört hatte, sagte: „Es würde mich nicht stören, Mrs. Fitzgibbons, wenn Seine Gnaden handgreiflich wird, denn er wäre der Unterlegene.“

„Nein!“, rief sie aus und schlug die Hand vor die Augen. Das war ein Albtraum, und sie hatte genug. „Bitte, ich möchte allein sein. Ich habe Kopfschmerzen und morgen eine lange Reise vor mir. Ich ziehe nach ‚The Grange‘.“

Leo furchte die Stirn. „Allein?“, fragte er scharf.

Miranda hob den Kopf und schaute aufgebracht den angeheirateten Vetter an. „Natürlich allein!“

Beinahe hätte er gelächelt. Er verneigte sich. „Dann überlasse ich dich deinen Reisevorbereitungen. Ich versichere dir jedoch, dass diese Angelegenheit noch längst nicht erledigt ist. Gute Nacht.“ Er warf Mr. Harmon einen flüchtigen Blick zu und verließ das Separee.

Mr. Harmon sah Mrs. Fitzgibbons fragend an. Sie starrte zum Fenster, sodass er nur ihr Profil sehen konnte. Sie sah sehr jung und blass aus und wirkte, als sehne sie sich verzweifelt nach jemandem, bei dem sie sich ausweinen konnte. Für ihn war das eine ideale Gelegenheit. Er beschloss, sich entrüstet zu geben.

Autor

Carole Mortimer
<p>Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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Deborah Miles
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