Historical Lords & Ladies Band 86

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SCHICKSALSNACHT IN BARTON PARK von AMANDA MCCABE
Darf eine junge Witwe mit beschädigtem Ruf auf ein neues Glück hoffen? Unverzagt schmiegt sich Emma an Sir Davids breite Brust. Sie spürt, dass die Sehnsucht, die in seinen graublauen Augen glüht, ihr allein gilt. Doch ihre skandalöse Vergangenheit verfolgt Emma gnadenlos …

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  • Erscheinungstag 02.07.2021
  • Bandnummer 86
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502535
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amanda McCabe, Diane Gaston

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 86

PROLOG

England, 1814

Emma Bancroft war sehr geschickt darin, die Fassade aufrechtzuerhalten. Diese Fähigkeit konnte sie bei den – wenn auch seltenen – gesellschaftlichen Anlässen, an denen sie teilnahm, stets noch ein wenig verbessern, und an diesem Abend bekam sie reichlich Gelegenheit dazu.

An ihrem Glas mit wässrigem Punsch nippend, lehnte sie an der Wand des Dorfsaales und ließ den Blick über die Menge schweifen. Trotz der kalten, feuchten Witterung waren überraschend viele Gäste gekommen. Emma hatte angenommen, dass die meisten Menschen es in einer solchen Nacht vorziehen würden, zu Hause zu bleiben, statt sich in Schale zu werfen und der Kälte zu trotzen, um Tanz und Konversation zu frönen. Der Raum war jedoch überfüllt mit lachenden Menschen in Festtagsgarderobe.

Emma hingegen hätte nichts lieber getan, als es sich vor dem Kamin gemütlich zu machen, obwohl sie Gesellschaften nicht gänzlich abgeneigt war. Die Menschen faszinierten sie, und sie vertrieb sich gern die Zeit damit, sie unauffällig zu beobachten und ihren Unterhaltungen zu lauschen. Sich eigene Geschichten zu diesen Gesprächen auszudenken, geheime Leben, die sich hinter dem allgegenwärtigen Lächeln und beiläufigen Geplauder verbargen, empfand sie als beinahe ebenso fesselnd wie ein gutes Buch.

An diesem Abend hatte sie jedoch die Lektüre eines ausgezeichneten Buchs über Botanik unterbrechen müssen. Die Pflanzenwelt war, nach der elisabethanischen Architektur und dem Anbau von Tee in Indien, ihre neueste Leidenschaft. Die verstaubten Werke in der Bibliothek ihres Vaters, die seit seinem Tod vor mehreren Jahren kaum jemand mehr betrat, boten eine Fülle von Themen, die Emma mit Begeisterung erforschte.

Dieser regnerische, kalte Abend schien wie gemacht zu sein für gemütliche Lesestunden bei einer Tasse Tee, mit ihrem Hund Murray zu ihren Füßen. Ihre Schwester Jane hatte jedoch darauf bestanden, dass sie den Dorfball besuchten. Sie hatte sogar einige ihrer vornehmen Londoner Roben zu diesem Anlass herausgeholt.

„Ich bin eine schreckliche Schwester, weil ich dich zu einem solchen Einsiedlerleben zwinge, Emma“, hatte Jane gesagt und ihr eine hellblaue Seidenrobe hingehalten. „Du bist erst sechzehn und so hübsch. Du solltest tanzen, dich amüsieren und das tun, was hübsche junge Damen eben gerne tun.“

„Ich bleibe gern hier und lese“, hatte Emma erwidert, obwohl ihr das Kleid gefiel. Es war sehr viel hübscher als die ausgeblichenen Röcke, Schürzen und festen Stiefel, die sie gewöhnlich trug, auch wenn es natürlich nicht zum Ausgraben von Pflanzen für ihre Studien geeignet war. Jane ließ sie an diesem Abend sogar den Perlenschmuck ihrer Mutter tragen. Und dennoch wäre sie lieber zu Hause geblieben und hätte gelesen.

Oder nach dem verschollenen legendären Schatz von Barton Park gesucht, so wie ihr Vater zu Lebzeiten. Aber davon musste Jane nichts wissen. Ihre Schwester hatte bereits genug Sorgen.

„Ich weiß, es wird dir gefallen“, hatte Jane gesagt, als sie nach Nadel und Faden suchte, um das Kleid zu kürzen. „Du wirst erwachsen. Wir können uns nicht bis in alle Ewigkeit in Barton Park verkriechen.“

„Warum nicht?“, hatte Emma gefragt. „Mir gefällt es hier, es ist unser Zuhause. Wir können tun und lassen, was wir wollen, und müssen uns keine Gedanken um …“

Um schreckliche Schulen machen, wo hochnäsige Mädchen über sie lachten und tratschten und der Musiklehrer ihr im Korridor zu nahe getreten war. Wo sie sich so einsam gefühlt hatte. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie ins Internat geschickt worden, und Jane hatte Hayden geheiratet, den Earl of Ramsay. Emma hatte ihrer großherzigen Schwester jedoch nichts von den Vorfällen in der Schule erzählt. Niemand sollte je erfahren, dass ihr Musiklehrer, dieser Schuft, ihre närrische Schwärmerei ausgenutzt und sie im Dunkeln geküsst und noch Schlimmeres versucht hatte, bevor Emma es endlich gelungen war, ihm zu entkommen. Von Männern wollte sie seitdem nichts mehr wissen.

Emma bemerkte den Ausdruck von Besorgnis, der in Janes haselnussbraune Augen getreten war, ehe sie den Kopf über die Nadel beugte. Rasch ergriff Emma ihre Hand. „Du hast recht, Jane, ein Abend unter anderen Leuten würde uns sicher guttun“, sagte sie und zwang sich zu einem Lachen. „Dir ist sicherlich schon fürchterlich langweilig, so ganz allein mit mir und meinen Büchern, da du doch in London ein solch aufregendes Leben geführt hast. Wir sollten zum Ball gehen und uns amüsieren.“

Auch Jane lachte, aber Emma entging ihre Traurigkeit nicht. Diese Traurigkeit war Janes ständiger Begleiter, seit sie Emma vor beinahe drei Jahren nach Barton Park geholt hatte. Ihr Gatte hatte sie seitdem kein einziges Mal besucht. Emma wusste nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war, und es ging sie auch nichts an, aber sie wollte ihrer Schwester nicht noch mehr Kummer bereiten.

„Mein Leben in London war gar nicht so aufregend“, erklärte Jane. „Und ich bin dankbar, dass es hinter mir liegt. Aber du wirst bald in die Welt hinausziehen, Emma. Das Landleben bietet nicht viele Gelegenheiten, sich in gesellschaftlicher Etikette zu üben, das ist wahr, aber der Dorfball ist zumindest ein Anfang.“

Insgeheim fürchtete Emma sich davor, in die Welt hinausziehen zu müssen. Sie war zu temperamentvoll veranlagt – eine Schwäche, um die sie zwar wusste, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie sie in den Griff kriegen konnte, und daher große Angst, schreckliche Fehler zu begehen.

Nun also lehnte Emma an der Wand des Gemeindesaales, nippte an ihrem Punsch und versuchte, Janes hübsches Kleid nicht zu ruinieren. Beim Blick in den Spiegel hatte sie sich kaum selbst wiedererkannt. Jane hatte ihr die blonden lockigen Haare hochgesteckt und mit Bändern geschmückt. Zudem durfte sie das Perlencollier ihrer Mutter tragen. Selbst Emma musste zugeben, dass sie viel hübscher aussah als nur mit Zopf und Schürze.

Den jungen Männern aus dem Dorf schien das auch aufgefallen zu sein. Einige standen vor dem Fenster zusammen – raue, herzliche, rotgesichtige Burschen vom Land in ihrer Festtagskleidung, die Emma beobachteten und miteinander tuschelten. Die Aufmerksamkeit verursachte ihr jedoch Unbehagen. Sie wandte sich ab und gab vor, etwas höchst Erbauliches auf der anderen Seite des Saales anzuschauen.

Dort entdeckte sie Jane, die sich mit einem Gentleman in dunkelblauem Jackett neben dem Tisch mit den Erfrischungen unterhielt. Obwohl Emma sich nicht gerade prächtig amüsierte, machte das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester sie froh.

Jane erwähnte ihren entfremdeten Gatten und die Zeit in London nur selten, aber Emma hatte das gesellschaftliche Leben ihrer Schwester in den Zeitungen verfolgen können und wusste, dass es sehr glamourös gewesen sein musste. Barton Park dagegen war überhaupt nicht glamourös, und obwohl Jane beharrlich behauptete, sie sei glücklich, machte sich Emma Sorgen, dass sie es nicht war.

An diesem Abend jedoch lächelte Jane, lachte sogar. Ihr dunkles Haar schimmerte im Kerzenschein, und sie sah in ihrer lila Spitzenrobe bezaubernd aus. Sie schüttelte den Kopf über etwas, das der große Gentleman zu ihr sagte, und machte eine Geste in Emmas Richtung. Emma straffte unwillkürlich die Schultern, als die beiden zu ihr herüberblickten.

„Verflixt“, flüsterte sie und lächelte schnell, als eine ältere Dame ihr einen missbilligenden Blick zuwarf. Aber sie konnte sich das Fluchen nicht verkneifen, denn inzwischen hatte sie den Gentleman, der mit ihrer Schwester sprach, erkannt. Es war ausgerechnet Sir David Marton.

Seit Kurzem machte er ihnen seine Aufwartung häufiger, als es Emma recht war. Er brachte schicklicherweise stets seine Schwester Miss Louisa mit, und da ihre Anwesen aneinandergrenzten und sie Nachbarn waren, sprach eigentlich auch nichts gegen seine Besuche. Aber dennoch. Jane war immerhin verheiratet, auch wenn sich Lord Ramsay in Barton Park nicht blicken ließ. Und Sir David war viel zu attraktiv. Und zu ernst. Emma bezweifelte, dass er jemals lachte.

Sie musterte ihn und versuchte dabei, nicht die Stirn zu runzeln. Er nickte, nachdem Jane eine Bemerkung gemacht hatte, und sah hinter seiner Brille mit unbewegter Miene zu Emma herüber. Sie war froh, dass sie weit genug entfernt von ihm stand, sodass sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Die hatten eine seltsame durchdringend graue Farbe, und immer wenn er Emma ansah, schien er ihr bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken.

Unbewusst strich sich Emma über den Rock. Plötzlich fühlte sie sich sehr zappelig und dumm. Wie ein Kleinkind. So wollte sie allerdings ganz gewiss nicht auf Sir David wirken. Er nickte Jane erneut zu und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Jane gegenüber verhielt er sich stets freundlich und respektvoll. Einen kurzen Augenblick lang blitzte sogar ein seltener Funke von Humor in seinen außergewöhnlichen Augen auf. Ein solch freundliches, amüsiertes Funkeln stand nie in seinen Augen, wenn er Emma ansah. Sie bedachte er stets mit einem strengen, ja sogar argwöhnischen Blick.

Noch nie war Emma auf ihre Schwester eifersüchtig gewesen. Jane war ihr eine gute Schwester, obwohl sie selbst so unglücklich zu sein schien. Jedes Mal aber, wenn Sir David Jane seine Aufmerksamkeit zollte, stieg in Emma eine gewisse Verbitterung auf, die sie fast als Eifersucht bezeichnet hätte. Aber nur fast.

Der Grund dafür blieb ihr ein Rätsel. Sir David war nun ganz gewiss nicht die Art von Mann, die sie bewundern könnte. Er war viel zu still, viel zu ernst. Viel zu … altmodisch, steif und konventionell. Emma wurde einfach nicht schlau aus ihm.

Und jetzt – oh, verflixt! Jetzt kamen sie auch noch zu ihr herüber.

Emma wusste nie, worüber sie sich mit Sir David unterhalten sollte. Sie fürchtete, er hielte sie für jung und dumm und lachte sie insgeheim aus.

„Emma, Liebes, ich habe Sir David gerade von deinem Interesse an der Botanik erzählt“, sagte Jane, als sie sich zu ihr gesellten.

Emma sah zu Sir David, der sie mit undurchdringlichem, steinernem Blick betrachtete. Das Lächeln, das zuvor noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, war verschwunden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, einen Knoten in der Zunge zu haben, jegliche Worte schienen aus ihrem Gehirn wie weggeblasen zu sein. Seit dem Verlassen der Schule war sie nicht mehr so aufgeregt und unsicher gewesen – und das gefiel ihr gar nicht.

„Ach ja?“, brachte sie schließlich mit gesenktem Blick hervor.

„Meine Schwester hat erwähnt, sie sei Ihnen vor ein paar Tagen begegnet“, sagte Sir David. „Sie bot wohl an, Sie in der Kutsche mitzunehmen, allerdings hätten Sie abgelehnt, um Ihre Arbeit zu beenden. Da es ein verregneter Tag war und die Straße sehr schlammig, fand Louisa das ein wenig, nun ja … ungewöhnlich.“

Emma spürte, wie ein leiser Ärger in ihr hochkroch; zugleich fühlte sie sich gekränkt. Und es wurmte sie, dass sie sich darum scherte, was andere über sie dachten. Miss Louisa Marton war eine alberne Gans mit einer ausgeprägten Vorliebe für Klatschgeschichten. Es ließ sich nicht mit Gewissheit sagen, was sie ihrem Bruder über sie erzählt hatte und schon gar nicht, wie er nun über sie urteilte. Fand er ihr Interesse für Botanik lächerlich? Verachtete er sie gar, weil sie so undamenhaft im Matsch buddelte?

„Ich habe gerade erst mit meinen Studien angefangen“, erklärte Emma. „Mir geht es hauptsächlich darum, interessante Pflanzen zu finden und diese genauer zu untersuchen. Wenn die Erde feucht ist, kann man die Pflanzen nun mal viel leichter ausgraben. Es war jedoch sehr freundlich von Ihrer Schwester, dass sie meinetwegen gehalten hat.“

„Ich fürchte, seit ich sie aus der Schule geholt habe, kann Emma ihren Wissensdurst nur in sehr begrenztem Maße stillen“, meinte Jane. „Leider bin ich keine Lehrerin.“

„Oh, nein, Jane!“ Der bedauernde Tonfall ihrer Schwester hatte Emmas Schüchternheit vertrieben. „Ich lebe gern in Barton Park, und Mr. Lorne aus dem Buchladen sorgt dafür, dass mir der Lesestoff nicht ausgeht. Ich habe hier viel mehr gelernt als in der Schule. Obwohl Sir David meine Bemühungen womöglich als töricht erachtet.“

„Ganz und gar nicht, Miss Bancroft“, erwiderte er, und zu ihrer Überraschung hörte sie ein Schmunzeln in seiner Stimme. Sie sah auf und stellte fest, dass tatsächlich der Anflug eines Lächelns um seine Mundwinkel herum zu erkennen war, das attraktive Grübchen in seinen Wangen erscheinen ließ.

Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie ihn besser nicht angeschaut hätte. Aus nächster Nähe sah er wirklich umwerfend aus, mit schmalem Gesicht und Zügen, die wie gemeißelt wirkten, einer klassischen Statue nicht unähnlich. Sein glänzendes kastanienbraunes Haar, das er normalerweise streng glatt gekämmt trug, wellte sich ein wenig in der feuchten Luft und lud förmlich zum Berühren ein. Unvermittelt fragte sie sich, ob er die Brille nur trug, um zu verhindern, dass die Damen ihm scharenweise zu Füßen lagen. Ein vergebliches Unterfangen, falls dem tatsächlich so war.

„Sie halten meine Studien nicht für töricht, Sir David?“, fragte Emma und kam sich wie eine Närrin vor, weil ihr keine schlagfertigere Bemerkung eingefallen war.

„Überhaupt nicht. Alle Menschen, ganz egal, ob Mann oder Frau, sollten ihre Interessen pflegen, damit ihr Geist wach und ihr Verstand scharfsinnig bleibt“, entgegnete er. „Ich hatte das Glück, in der Nähe eines Onkels aufzuwachsen, dessen Bibliothek mit über fünftausend Büchern reich gefüllt ist. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört? Mr. Charles Sansom von Sansom House.“

„Fünftausend Bücher!“, rief Emma lauter als beabsichtigt. „Das muss ein wahrhaft atemberaubender Anblick sein. Hat er besondere Interessen?“

„Griechische und römische Antiquitäten sind sein Steckenpferd, aber es gibt fast zu jedem Thema mindestens ein Buch in seiner Bibliothek. Ganz gewiss auch zur Botanik“, antwortete er, und sein Lächeln wurde breiter. Noch nie hatte er einen so jungen und offenen Eindruck gemacht, und Emma trat unbewusst einen Schritt näher an ihn heran. „Er hat uns bei unseren Besuchen immer alles lesen lassen, wonach uns der Sinn stand. Meine Schwester hat von diesem Angebot leider kaum Gebrauch gemacht.“

Emmas Blick schweifte durch den Saal zu Miss Marton; in ihrem reich mit Federn geschmückten Turban war sie leicht auszumachen. Sie unterhielt sich mit ihrer Busenfreundin Miss Maude Cole, die wegen ihrer himmelblauen Augen, rotblonden Locken und edlen Roben als Dorfschönheit galt. Die Augen unverwandt auf Emma gerichtet, tuschelten die beiden Frauen hinter ihren Fächern miteinander.

Wie all die albernen Mädchen in der Schule.

„Das kann ich mir denken“, murmelte Emma. Sie hatte weder Miss Marton noch Miss Cole je von etwas anderem sprechen hören als von Hüten, Mode oder dem Wetter. „Lebt Ihr Onkel immer noch in der Nähe, Sir David? Ich wünschte, ich könnte ihn einmal kennenlernen.“

„Ja, er lebt noch in der Nähe, Miss Bancroft. Bedauerlicherweise hat er sich jedoch wegen seines fortgeschrittenen Alters weitgehend aus der Gesellschaft zurückgezogen. Gelegentlich sucht er noch Mr. Lornes Buchhandlung auf; vielleicht treffen Sie ihn ja eines Tages dort.“

Ehe Emma darauf antworten konnte, setzte das Orchester, eine Gruppe Musiker aus dem Dorf, die eher durch ihre Begeisterung denn ihr Talent auffielen, zu einer Mazurka an.

„Oh, ich mag diesen fröhlichen Tanz“, sagte Jane. Emma bemerkte, wie ihre Schwester mit wehmütigem Blick zu den Paaren auf der Tanzfläche schaute, die Aufstellung nahmen. „Die Mazurka war mein erster Tanz mit …“

Jane brach ab und gab ein seltsames Lachen von sich. Emma fragte sich, ob sie diesen Tanz in London oft mit ihrem Gatten getanzt hatte. Obwohl Jane nie über ihn sprach, dachte sie sicherlich oft an ihn.

„Jane …“, fing Emma an.

Sir David wandte sich mit freundlichem Lächeln an Jane. „Zwar sind meine Tanzkünste ein wenig eingerostet, aber ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ehre erweisen würden, Lady Ramsay.“

Einen Augenblick lang zögerte Jane, und Emma spürte erneut diesen Stich der Eifersucht. Sie hasste sich selbst dafür und verdrängte den Gedanken schnell mit einem aufgesetzten Lächeln.

„Oh nein, ich tanze nicht mehr“, erwiderte Jane.

„Vielleicht erweist mir Miss Bancroft dann die Ehre?“, fragte Sir David höflich und bot Emma seinen Arm.

Plötzlich sehnte sie sich danach, herauszufinden, wie es wohl wäre, wenn er ihre Hand hielte. Ihm nahe zu sein, wenn er sie durch die Schritte des Tanzes führte.

Ganz gewiss war er stark und zuverlässig und würde sie nicht fallen lassen. In seiner Nähe könnte sie sich sicher fühlen. Vielleicht würde er sie sogar anlächeln und mit seinen schönen grauen Augen bewundernd anblicken.

Derlei romantische Gefühle hatte sie seit ihrer ersten Begegnung mit Mr. Milne nicht mehr verspürt. Und damals hatte es in einer Katastrophe geendet. Nein, sie konnte ihren Gefühlen nicht trauen, nie wieder.

Emma trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Sir David ließ den Arm sinken. Sein Lächeln verblasste, und dieser steinerne, unergründliche Ausdruck trat wieder in sein Gesicht.

„I…ich möchte heute Abend lieber nicht tanzen“, stammelte Emma, verwirrt von alten Erinnerungen und neuen rätselhaften Empfindungen. Sie hatte einen Fehler begangen, weil sie Mr. Milne und ihren Gefühlen vertraut hatte. Sie musste lernen, vorsichtiger und vernünftig zu sein, so wie Jane. So wie Sir David.

„Natürlich, Miss Bancroft“, entgegnete Sir David mit gelassener Stimme. „Ich verstehe.“

„David, mein Lieber“, hörte sie Miss Marton sagen.

Emma drehte sich um und stellte fest, dass sie und Miss Cole hinter ihnen standen. Sie war so abgelenkt gewesen, dass sie das Kommen der beiden gar nicht bemerkt hatte. Miss Cole musterte sie mit spöttischem Lächeln, und Emma kam sich noch dümmer vor.

„David, mein Lieber“, sagte Louisa erneut. „Weißt du nicht mehr, dass Miss Cole dir die Mazurka versprochen hat? Du hast sehr beharrlich darauf bestanden, dass sie dir den Tanz reserviert, und ich weiß, wie sehr ihr beide euch darauf gefreut habt.“

Sir David schenkte Emma noch einen letzten fragenden Blick, bevor er sich Miss Cole zuwandte und ihr seinen Arm bot. „Natürlich. Sehr erfreut, Miss Cole.“

Emma sah ihm nach. Miss Cole lachte und tändelte mit ihm so leicht und unbeschwert, wie Emma es nie gekonnt hätte. Obwohl es in dem überfüllten Raum grässlich stickig war, fröstelte es Emma plötzlich, und sie rieb sich wärmend über die nackten Arme.

„Ich weiß, du hältst Sir David für langweilig, Emma“, sagte Jane leise. „Aber er ist wirklich sehr nett. Du hättest mit ihm tanzen sollen.“

„Ich kann nicht gut tanzen.“ Emma versuchte, unbeschwert zu klingen. „Ich wäre ihm nur auf die Füße getreten, und dann hätte er sich verpflichtet gefühlt, mir eine Predigt über Anstand und Etikette zu halten.“

Jane schüttelte den Kopf, aber Emma brachte es nicht über sich, ihre wahren Gefühle zu äußern, ihre Angst, was vielleicht geschehen mochte, wenn sie dem attraktiven Sir David näherkam. Sie kannte ihre wahren Gefühle ja nicht einmal selbst richtig. Sie wusste lediglich, dass David Marton sie durcheinanderbrachte und ganz gewiss nicht der richtige Mann für sie war.

Emma Bancroft war eine höchst ungewöhnliche junge Dame.

David versuchte, über die anderen Tänzer hinweg einen Blick auf sie zu erhaschen, doch ihr goldblonder Schopf war nirgendwo zu entdecken. Fast hätte er aufgelacht, als er darüber Enttäuschung verspürte. Er war zu alt und viel zu pflichtbewusst für ein solch ungestümes, hübsches Geschöpf wie Miss Bancroft, und es war offensichtlich, dass sie ihn nicht leiden konnte.

Seinen Missmut darüber konnte er nicht verleugnen. Sie faszinierte ihn. Was ging ihr wohl durch den Kopf, wenn sie die Welt um sich herum so aufmerksam beobachtete? Lady Ramsay hatte erwähnt, dass sich ihre Schwester unter anderem für Botanik interessiere, und David hätte zu gerne erfahren, welche Interessen sie außerdem hegte, obwohl er bestimmt besser daran tat, keinen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden.

Für jemanden wie Emma Bancroft war kein Platz in seinem Leben. Das aufregende, abenteuerliche Leben, das sie offenbar suchte, konnte er ihr nicht bieten. Sein Vater hatte zu Temperamentsausbrüchen geneigt, und nachdem Davids Unbedachtheit einmal beinahe zu einem Fiasko für seine Familie geführt hätte, hatte er sich geschworen, stets in allen Belangen die Beherrschung zu wahren. Damals hatte er in London mit seinen lasterhaften Freunden zu viel getrunken, zu oft am Kartentisch gesessen und sich mit der falschen Sorte Frauen eingelassen, in dem Glauben, er könne seinen Pflichten auf diese Weise eine Weile entkommen. Erst als ihm bewusst geworden war, dass er mit seinem Verhalten andere Menschen verletzte, war er zu Verstand gekommen und hatte sich geändert.

David lauschte den Klängen der Musik und wartete darauf, seine Partnerin die Reihe der Paare entlangzuführen. Er sah, wie seine Schwester ihn vom Rand aus mit einem zufriedenen Funkeln in den Augen beobachtete. Seit dem Tod ihrer Eltern, seit er die Verantwortung über ihren Familiensitz Rose Hill und für Louisa übernommen hatte, suchte sie wild entschlossen nach einer geeigneten Gemahlin für ihn. „Eine gute Partie“, verkündete sie oft, womit sie eine ihrer Freundinnen meinte. Eine junge Dame aus einer Familie, die sie gut kannten, mit der Louisa gern Zeit verbrachte, und die nur wenige Änderungen im Haushalt vornehmen würde.

Für Miss Bancroft hatte Louisa nur missbilligende Worte übrig. „Ich weiß nicht, was sich dieses Mädchen denkt“, hatte sie sich einmal mokiert. „Sie wandert ständig mit diesem schrecklichen Hund durch die Landschaft, ohne sich darum zu kümmern, ob sie sich die Röcke beschmutzt. Sie besitzt keinerlei Anstand. Und ihre Schwester erst! Wo ist Lady Ramsays Gatte überhaupt? Das möchte ich zu gern wissen. Wie kann der Earl es zulassen, dass die beiden allein in Barton Park leben? Das Haus ist ja kaum bewohnbar zu nennen. Vermutlich müssen wir trotzdem freundlich zu ihnen sein, da sie unsere nächsten Nachbarn sind.“

David entdeckte Lady Ramsay, die suchend an der Tanzfläche entlangging. Hielt sie Ausschau nach ihrer Schwester? Er konnte Miss Bancroft nirgendwo sehen. Zugegeben, die Lebenssituation der beiden Schwestern war höchst ungewöhnlich, und seine Eltern hätten sie ebenfalls missbilligt. Zwei Damen, die allein in einem maroden Haus lebten, kaum ausgingen, und ein Gatte, der stets abwesend war. Lady Ramsay wirkte oft traurig und gedankenverloren, aber Miss Bancroft schien sich sehr um sie zu sorgen und zu kümmern, was er höchst eindrucksvoll fand.

David hielt die beiden Schwestern für bemerkenswert tapfer, und ganz offensichtlich waren sie einander sehr zugetan. Eine weitere Sache, die Miss Bancroft höchst außergewöhnlich und faszinierend machte.

Seine Hand wurde auffordernd gedrückt, und als er daraufhin zu seiner Tanzpartnerin sah, stellte er fest, dass er seinen Einsatz verpasst hatte.

Miss Cole schenkte ihm ein verführerisches Lächeln, und er geleitete sie mit den schnellen, hopsenden Schritten, die der Tanz verlangte, an den anderen Paaren vorbei.

Im Gegensatz zu Miss Bancroft war Miss Cole exakt die Art von Gemahlin, an deren Seite seine Schwester ihn gerne sehen würde. Sie war die Tochter eines respektablen Landadeligen und seit Ewigkeiten mit Louisa befreundet. Sie war hübsch, hatte gute Manieren und glänzte in der Gesellschaft. Außerdem verfügte sie über eine stattliche Mitgift. Gewiss würde sie ihren Haushalt ausgezeichnet führen und sich gefällig in sein sorgfältig aufgebautes Leben einfügen. Und sie schien ihn zu mögen.

Miss Bancroft dagegen war ganz gewiss nicht die Richtige für ihn. Sie war viel zu jung, zu abenteuerlustig. Sein ganzes Leben war von ihm und seiner Familie sorgfältig vorausgeplant worden. Schon einmal hätte er beinahe alles aufs Spiel gesetzt. Das durfte nicht noch einmal geschehen.

Miss Cole wäre ihm sicherlich eine gute Gemahlin. Warum also konnte er nicht aufhören, sich ständig nach Emma Bancroft umzusehen?

Aus dem Tagebuch von Arabella Bancroft, 1663

Ich bin zu guter Letzt in Barton Park angekommen. Die Reise war nicht lang, aber ich komme mir vor wie in einer anderen Welt. Tante Marys Haus in London, die endlosen Stunden mit Näharbeiten, während derer sie all das beklagte, was sie in den Kriegen verloren hatte, der Schmutz der Straßen – all das kommt mir so fern vor. Hier bin ich umgeben von grüner Natur und frischer Luft.

Ich bin zutiefst dankbar, dass ich im wunderschönen Haus meines Cousins leben darf, ein Geschenk, das ihm der neue König gemacht hat. Als arme, siebzehnjährige Waise bin ich von der Großzügigkeit anderer abhängig, und es erscheint mir wie ein Traum, dass ich hier sein darf. Die Gemahlin meines Cousins hat genügend Dienstmädchen. Ich habe nichts zu tun, außer mich in meinem neuen Zimmer einzurichten – ich habe ein eigenes Zimmer, ganz für mich allein – ein Paradies! – und die wundervollen Gärten zu erkunden.

Das Zimmermädchen hat mir eine höchst faszinierende Geschichte erzählt. Wie es scheint, hat einer von König Charles’ Mannen ganz in der Nähe einen großen Schatz vergraben, doch keiner weiß genau, wo.

Ich liebe derlei Geheimnisse.

1. KAPITEL

Sechs Jahre später

Barton Park. Emma konnte kaum fassen, dass sie nach so langer Zeit endlich wieder hier war. Alles war ihr so fremd, dass sie das Gefühl hatte, sie sei von einem Wirbelsturm in eine völlig andere Welt geweht worden.

Sie stand auf einem Hügel und blickte auf das graue Band der Straße, das sich zu den Toren von Barton Park zog. Sie standen leicht offen, wie um sie willkommen zu heißen, aber Barton Park war nicht länger ihr Zuhause. Sie fühlte sich nirgendwo mehr zu Hause, sondern eher wie ein Stück Treibholz, das von den Fluten hierhergespült worden war.

Der starke Wind zerrte an ihren Röcken, und sie raffte sie rasch mit einer Hand und hielt sie fest. Unten, auf der Straße, wartete der Kutscher ihres Schwagers auf dem Bock der feinen Karosse geduldig auf sie. Zweifellos war er durch den Klatsch im Dienstbotentrakt bestens über die launenhafte Schwester von Lady Ramsay informiert.

Emma wusste, sie sollte sich schleunigst auf den Weg ins Haus machen, doch sie konnte sich noch nicht recht dazu überwinden, obwohl der Wind immer stürmischer wurde und die grauen Wolken am Himmel Regen verhießen. Ihr Hund Murray winselte und stupste mit der Schnauze gegen ihre behandschuhte Hand, aber er wich ihr nicht von der Seite. Wenigstens Murray hatte sich nicht verändert.

Fünf Jahre zuvor hatte sie Barton Park verlassen, voller Hoffnung, doch zugleich auch mit einer gewissen Furcht vor ihrer ersten Ballsaison. Nun kam sie als Mrs. Carrington zurück, eine junge, mittellose Witwe, deren Ruf durch Skandale und Tratsch ruiniert worden war. Die Angst war ihr geblieben, aber die Hoffnung war inzwischen gestorben.

Sie beschattete die Augen und betrachtete die roten Backsteinschornsteine von Barton Park, die sich über die Baumkronen erhoben. Der Frühling lag in der Luft, und die Äste trugen bereits die ersten grünen Knospen. Früher hatte sie Barton Park im Frühling geliebt. Es war eine Zeit des Neuanfangs, der neuen Träume gewesen.

Verzweifelt wünschte sich Emma dieses Gefühl zurück. Einst war sie so neugierig auf das Leben gewesen, aber diese Neugier hatte sie nur von einer Katastrophe zur nächsten geführt, die größte davon war ihre Ehe mit Henry Carrington gewesen.

Emma schloss die Augen, um den Kummer zu unterdrücken, der sie unvermittelt überflutete. Henry. So attraktiv, so charmant, so atemberaubend. Er war wie ein Orkan gewesen, der sie von den Füßen fegte, voller Lebensfreude und aufregend romantischer Abenteuerlust.

Bis diese Lebensfreude sich in Wahnsinn verwandelt und sie immer tiefer in die Misere hineingerissen hatte. Auf ihrer endlosen Reise durch europäische Badeorte ging er keinem Kartenspiel aus dem Weg. Jedes Mal war er sich sicher, dass sich ihr Schicksal wendete und ihnen das Glück mit der nächsten Flasche Wein, dem nächsten Kartenspiel endlich hold sein würde. Am Ende hatte sie seine Besessenheit jedoch in immer schäbigere Unterkünfte geführt, in immer verrufenere Stadtviertel.

Dann war Henry bei einem Duell gestorben – durch den Schuss des Gatten einer Frau, in die er sich angeblich in Vichy verliebt hatte. Der Skandal hatte Emma keinen anderen Ausweg gelassen, als nach Barton Park zurückzukehren.

„Lass mich dir helfen“, hatte Henrys Cousin Philip gesagt und ihre Hand ergriffen, als er ihr die schreckliche Nachricht über den Ausgang des Duells überbrachte. „Ich kümmere mich um dich. Henry hätte es so gewollt. Und du weißt, wie sehr ich dich immer bewundert habe, liebste Emma.“

Philip hatte sich in der Tat immer als guter Freund erwiesen, ein Freund, der zwar mit Henry feierte, ihm aber auch Geld lieh und dafür sorgte, dass er den Weg nach Hause fand. Oft hatte er Emma besucht und sie abgelenkt, wenn sie allein und verängstigt in einer fremden Unterkunft saß, ohne Kenntnis, wann Henry zurückkehren würde. Sie schätzte Philips Freundschaft, auch wenn seine Aufmerksamkeiten manchmal die Grenze der Schicklichkeit zu überschreiten drohten.

Nachdem sie von Henrys Tod erfahren hatte, war sie so erschüttert gewesen, dass sie Philip beinahe tatsächlich erlaubt hätte, „sich um sie zu kümmern“. Fast hätte sie der Einsamkeit und Furcht nachgegeben. Dann jedoch war, wenn auch nur kurz, dieser gewisse Schimmer in seinen Augen aufgeblitzt, und das hatte ihr noch mehr Angst eingejagt. Dieser Schimmer leidenschaftlicher Besitzgier hatte auch im Blick ihres Musiklehrers Mr. Milne gelegen und in dem des Schurken, der sie während eines Sturms in Barton Park entführt hatte, kurz bevor beide ihr Schmerz zugefügt hatten.

Aus diesem Grund hatte sie Philip fortgeschickt, ihren Stolz hinuntergeschluckt und ihrer Schwester geschrieben. Jane hatte sie vor Henry gewarnt und sie gebeten, ein Jahr zu warten, bevor sie einer Verlobung zustimmen wollte, worauf Emma mit Henry durchgebrannt war – der erste einer langen Reihe von Skandalen. Wie Henry wenig später hatte feststellen müssen, hatten Jane und ihr Gatte dafür gesorgt, dass er keinen Zugriff auf Emmas Mitgift und das geringe Einkommen aus dem Vermögen ihrer Mutter erhielt, worauf seine Leidenschaft für Emma abrupt erloschen war.

Jane hatte Emma gelegentlich geschrieben und sie manchmal sogar getroffen, wenn Emma mit ihrem Gatten Italien bereiste. Sie waren sich nicht völlig entfremdet, aber auf Bitten um Geld gab Jane niemals nach. „Es gehört dir, wenn du diejenige bist, die es benötigt, Emma“, hatte sie immer gesagt, worauf Henry ihr den Kontakt zu ihrer Schwester und ihrem Schwager untersagte.

Nach Henrys Tod hatte Jane ihr sofort Geld und eine Kutsche geschickt, die sie nach Hause bringen sollte. Da Jane guter Hoffnung war, konnte sie selbst nicht zu ihr reisen. Ihre Schwester würde sie nie im Stich lassen, das wusste Emma. Nur ihre Scham hatte sie bisher von Barton Park ferngehalten und sie daran gehindert, Henry früher zu verlassen. Sie fragte sich, was sie wohl hinter den Toren vorfinden würde. Murray winselte lauter und lehnte sich gegen sie. Emma tätschelte ihm lachend den Kopf.

„Tut mir leid, mein Freund“, sagte sie. „Ich weiß, es ist kalt. Wir gehen ja auch.“ Er trottete neben ihr den Hügel hinunter und sprang hinter ihr in die Kutsche. Seit ein paar Monaten machte Murray sein Alter zu schaffen; sein Fell wurde grau und die Knochen steif, dennoch wedelte er eifrig mit dem buschigen Schwanz. Er schien zu wissen, dass sie bald zu Hause sein würden.

Die Fahrt nach Barton Park führte über eine sich malerisch windende Straße, vorbei an kleinen Baumgruppen und alten Statuen. In der Ferne konnte Emma das alte Labyrinth erkennen; das weiße Kuppeldach des wiederaufgebauten Pavillons in der Mitte ragte über den Hecken auf. In der anderen Richtung erstreckten sich die Felder und Weiden von Rose Hill, dem Anwesen der Martons, und die Ruine einer alten Burg, die Emma schon immer gerne einmal erkunden wollte.

Dann kam die Kutsche zu einer Abzweigung. In der einen Richtung führte sie zu einem alten Obstgarten und einer Reihe von Cottages, in der einst die pensionierten Arbeiter von Barton Park gelebt hatten. Der andere Weg führte zum Haupthaus.

Emma beugte sich neben Murray aus dem Fenster, als Barton Park vor ihren Augen in Sicht kam. Das Haus war kurz nach der Rückkehr von König Charles II für einen seiner Höflinge erbaut worden, einem Vorfahren von Emmas Familie. Die roten, mit weißen Ziersteinen versetzten und von Efeuranken überzogenen Mauern boten einen einladenden Anblick.

Als Emma mit Jane dort gelebt hatte, vor deren Versöhnung mit Hayden, waren die Mauern bröckelig gewesen und die Gärten von Unkraut überwuchert. Nun sah alles hübsch und adrett aus. In den Rabatten sprossen die ersten Blumen, die niedrigen Hecken waren akkurat geschnitten und die neuen Statuen aus Italien strahlten in blendendem Weiß. Mehrere Gärtner gingen eifrig ihrer Arbeit nach.

So vieles hatte sich verändert, und doch war so vieles noch gleich.

Kaum hatte die Kutsche gehalten, öffnete sich auch schon die Haustür und Jane lief so schnell, wie ihr kugelrunder Bauch es zuließ, zu ihr herüber. Ihre braunen Augen funkelten, und sie klatschte lachend in die Hände. „Emma, Liebes. Endlich bist du da.“

Sobald Emmas Füße den Kiesweg berührten, zog Jane sie in die Arme und küsste sie auf die Wangen. „Willkommen zu Hause.“

Zu Hause. Emma drückte ihre Schwester und atmete den blumigen Duft ihres Fliederparfüms ein. Fast fühlte sie sich auch schon wieder daheim. In Sicherheit.

Auf ihren rastlosen Reisen durch Europa hatte sie jedoch die dunklen Seiten der Menschen kennengelernt und wusste, dass kein Ort vollkommene Sicherheit gewährte. Und obwohl sie ihre Schwester umarmte, plagten sie immer noch Schuldgefühle, weil sie Jane durch die überstürzte Hochzeit Kummer bereitet hatte.

Jane musterte sie eingehend, und Emma zwang sich zu einem strahlenden Lächeln. Dank Henry hatte sie gelernt, ihre wahren Gefühle zu verbergen, aber es fiel ihr immer noch schwer. „Barton Park sieht ganz wundervoll aus. Wie du. Du siehst aus wie das blühende Leben.“

Jane lachte und strich sich mit der Hand über den Bauch. „Ich bin so breit wie eine Kutsche und doppelt so schwerfällig. Dieses Mal geht es mir jedoch weitaus besser als bei den Zwillingen. Morgens ist mir kaum übel. Und jetzt, da du hier bist, geht es mir gleich noch besser. Ich habe dich so sehr vermisst.“

„Und ich dich.“ Mehr noch, als ihr bewusst gewesen war. „Und Barton Park.“

Jane hakte sich bei ihr unter und führte sie in die Halle. Emma stellte fest, dass auch im Haus allerlei Veränderungen vorgenommen worden waren. Das alte, verkratzte Parkett war durch moderne schwarz-weiße Marmorfliesen ausgetauscht worden. Ein vergoldetes Geländer zog sich entlang der Treppe nach oben, die mit einem dicken blau-goldenen Teppich ausgelegt war. Auf einem Marmortisch stand eine Vase mit Gewächshausrosen, und blaue Satinstühle reihten sich entlang der von gestreiften Seidentapeten bedeckten Wände.

Emma hatte jedoch kaum Zeit, die Einrichtung zu bewundern.

„Ist das Tante Emma?“, rief eine Kinderstimme von der Treppe.

Emma sah nach oben und entdeckte zwei kleine Gesichter mit gleichermaßen haselnussbraunen Augen und blonden Locken auf dem oberen Absatz.

„Ja, ich bin eure Tante Emma“, antwortete sie, und ihr Herz zerbrach beinahe beim Anblick der Zwillinge, die sie so lange nicht gesehen hatte. „Ihr seid bestimmt William und Eleanor. Ihr seid ziemlich gewachsen. Bei unserer letzten Begegnung seid ihr kaum größer als ein Brotlaib gewesen.“

Kichernd kamen die beiden die Treppe hinunter und musterten Emma aus neugierigen Augen, deren Farbe denen ihrer Mutter glich, von Kopf bis Fuß.

„Du bist viel jünger, als wir dachten“, sagte William.

„Und dünner“, fügte Eleanor hinzu. „Du solltest mehr Cremetörtchen essen.“

„Kinder!“, mahnte Jane. „Denkt an eure Manieren, bitte.“

Eleanor knickste und William verbeugte sich, wobei sie „Guten Tag“ murmelten, ehe Jane sie zum Tee in den Salon schickte.

„Es tut mir leid, Emma“, sagte sie, während sie sich anschickte, den Kindern zu folgen. „Hayden, das Kindermädchen und ich geben uns die allergrößte Mühe, ihnen Anstand beizubringen, aber in diesem Alter sind Kinder nun mal recht unverblümt.“

Emma lachte. „Genau wie wir damals? Ich fürchte jedoch, dass ich meine Zunge manchmal immer noch nicht im Zaum halten kann, während du die perfekte Countess bist.“ Ihr Blick fiel auf mehrere Reisetruhen neben der Tür. „Wollt ihr verreisen?“

„Wir hatten beabsichtigt, zu meinem Termin nach London zu fahren“, erklärte Jane. „Hayden hält es für ratsam, dass ich mich in der Nähe eines Arztes aufhalte. Aber jetzt, da du da bist …“

„Du solltest trotzdem fahren.“ Insgeheim war Emma erleichtert, dass sie Gelegenheit bekam, ihre Gedanken zu ordnen, ohne dass Jane sie umsorgte wie ein Baby. „Deine Gesundheit geht vor. Mach dir keine Gedanken um mich.“

„Aber du kannst doch nicht allein in Barton Park bleiben. Du solltest mit uns nach London kommen.“

London war so ungefähr der letzte Ort, an dem Emma sich aufhalten wollte, bei all den Klatschzungen, die sie mit neugierigen Augen verfolgen und nur zu gern die alten Gerüchte über ihre desaströse Ehe wieder hervorkehren würden. „Ich dachte eigentlich, dass ich in einem der alten Cottages wohnen könnte. Sie sind so klein und gemütlich – der perfekte Ort, um über meine Zukunft nachzudenken.“

„Eines der Cottages“, entgegnete Jane entrüstet. „Oh, Emma Liebes, nein. Das hier ist doch dein Zuhause.“

„Du hast selbst gesagt, das Haus ist zu groß für eine Person. Und im Moment fühle ich mich wirklich nicht in der Lage, nach London zu reisen. Noch nicht. Du hast mir geschrieben, dass Hayden sich darum kümmert, mir bald Zugriff auf das Vermögen von Mama zu verschaffen. Damit werde ich schon zurechtkommen, wenn ich in einem der Cottages lebe.“

„Aber …“ Jane schien sich mit Emmas Entschluss nicht abfinden zu wollen, doch zum Glück riefen die Zwillinge nach ihr. „Wir sprechen später darüber, Emma“, sagte sie und eilte in den Salon.

Emma folgte ihr, wohlwissend, dass ihr die Diskussion nicht erspart bleiben würde, aber sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer Entscheidung abbringen zu lassen. Sie würde in eines der Cottages ziehen, um in aller Ruhe darüber nachzudenken, wie sie die dummen Fehler der Vergangenheit zukünftig vermeiden konnte.

Die Zwillinge saßen bereits an einem üppig gedeckten Tisch vor dem Fenster, das zum Garten zeigte. Die Sonne spiegelte sich im silbernen Teegeschirr ihrer Großmutter, und die zu kunstvollen Pyramiden aufgetürmten Sandwiches und Kuchen sahen schlicht köstlich aus.

Die Kinder konnten die Augen nicht davon lassen, saßen jedoch artig mit im Schoß gefalteten Händen da.

„Ist das alles für mich?“, fragte Emma lachend.

„Hannah hat dich auch vermisst“, antwortete Jane und erzählte, dass Hannah, die früher viele Jahre lang ihr einziges Dienstmädchen gewesen war, inzwischen die Stellung der Haushälterin von Barton Park innehatte.

„Hier, Tante Emma. Diesen Kuchen musst du unbedingt kosten.“ Eleanor reichte ihr ein Stück mit rosafarbenem Zuckerguss.

„Vielen Dank, Eleanor, Liebes“, sagte Emma.

Während sie den Tee tranken, ließ Emma den Blick über den Garten schweifen. Die Blumenrabatten erstreckten sich bis hinunter zum Heckenlabyrinth und würden im Sommer sicherlich ein prächtiges Farbenspektakel bieten. „Was gibt es Neues im Dorf? Irgendetwas Interessantes?“

„Oh ja, sehr viel sogar“, erwiderte Jane fröhlich. „Wir haben einen neuen Vikar, einen vollkommenen Gentleman namens Mr. Crawford. Er ist Lady Wheelingtons Sohn aus erster Ehe. Du erinnerst dich doch noch an Lady Wheelington? Sie ist ebenfalls erst kürzlich von ihren Reisen zurückgekehrt. Mr. Crawford ist noch Junggeselle, aber wie mir zu Ohren kam, wird sich dies bald ändern. Seine Mutter sprach von einer jungen Dame aus Brighton. Und die alte Lady Firth hat im vergangenen Jahr endlich den Preis für die schönste Rose gewonnen. Das war längst fällig. Ach, und Sir David Marton lebt jetzt wieder in Rose Hill.“

„Sir David?“, fragte Emma erschrocken. Sie fürchtete, dass ihre Stimme schärfer klang als beabsichtigt, und wandte sich rasch ihrem Kuchen zu. „Ich wusste gar nicht, dass er das Dorf je verlassen hat. Er erschien mir nicht besonders reisefreudig oder abenteuerlustig.“

„Du erinnerst dich also noch an Sir David?“, fragte Jane.

Natürlich erinnerte sich Emma noch an ihn. Er war unglaublich attraktiv und voller Bewunderung für Jane gewesen. Ihr gegenüber hatte er sich jedoch immer sehr zurückhaltend gegeben und sie stets mit solch eindringlichem Blick gemustert, dass sie gefürchtet hatte, er könne ihre geheimsten Gedanken lesen.

Mit welchem Blick würde er sie jetzt wohl anschauen, nach allem, was geschehen war? Würde er überhaupt noch mit ihr reden?

Beim Gedanken, dass Sir David für sie nichts weiter als Missbilligung übrig haben könnte, wurde ihr das Herz schwer. „Ja, ich erinnere mich noch gut an ihn. Er hat also das Dorf verlassen?“

„Ja. Er hat sich mit Maude Cole vermählt. Kennst du sie noch?“

Miss Cole, mit der Sir David vor langer Zeit bei einem Dorffest getanzt hatte. Die schöne, bezaubernde Miss Cole. Die perfekte Gemahlin für einen Mann wie ihn. „Natürlich. Sie war damals sehr hübsch und eine enge Freundin seiner Schwester. Eine sehr passende Partie für ihn.“

Jane runzelte die Stirn. „Das dachten alle.“

„Ist die Ehe denn nicht glücklich?“

„Das weiß niemand so recht. Lady Marton bevorzugte das Stadtleben und bald nach der Hochzeit zogen die beiden nach London und kamen nur selten hierher zurück. Hayden und ich hingegen halten uns meistens lieber in Ramsay House oder hier in Barton Park auf, doch wie wir gehört haben, war Lady Marton überall die Ballkönigin.“

„War?“

„Bedauerlicherweise ist sie im vergangenen Jahr verstorben. Sir David ist daraufhin mit seiner kleinen Tochter nach Rose Hill zurückgekehrt. Wir sehen die beiden nicht oft, aber das arme Kind erscheint recht still.“

„Sicherlich vermisst sie ihre Mutter“, sagte Emma leise. Und auch Sir David fehlte seine hübsche Frau bestimmt. Ganz gewiss hätte er nie zugelassen, dass sein Eheleben so katastrophal verlief wie das ihre. Das arme Mädchen – der Verlust musste ihr unsäglichen Kummer bereiten.

„Louisa Marton, inzwischen Mrs. Smythe, soll bereits eifrig auf der Suche nach einer neuen Schwägerin sein.“

„Es muss sie sehr verdrießen, dass sie hier so wenig Auswahl und Gelegenheit hat, sich als Kupplerin zu betätigen“, meinte Emma leichthin. Sie wollte nicht länger über Sir David reden oder an ihn denken. Das erinnerte sie bloß daran, wie sehr sich die Dinge seit ihrer letzten Begegnung verändert hatten. „Sagt, William und Eleanor, spielt ihr gerne Blinde Kuh? Das war früher das Lieblingsspiel eurer Mutter. Vielleicht können wir ja später eine Runde spielen …“

Aus dem Tagebuch von Arabella Bancroft

Ich denke, ich kenne nun den Grund, warum man mich nach Barton Park geschickt hat. Als Gegenleistung für das geschenkte Herrenhaus erwartet der König, dass mein Cousin viele Gesellschaften für seinen Hof gibt. Die Gesundheit der Gattin meines Cousins ist jedoch angegriffen. Daher hat man mich zu ihrer Unterstützung geholt. Ich kenne mich mit der Planung von prächtigen Bällen zwar nicht aus, aber ich muss zugeben, dass mir die neuen Roben gefallen – so viel Seide und Spitze, so viele Hüte mit Federn und Pelzmäntel!

Auch die Gäste sind höchst faszinierend. Ich hatte früher kaum Gelegenheit, mich in gesellschaftlicher Konversation zu üben, aber sobald ich meine Kartenspielkünste verbessert habe, werde ich mich sicherlich gut einfügen können.

Ich habe mich nach dem verschollenen Schatz erkundigt, aber außer immer fantastischeren Geschichten konnte ich nichts Neues in Erfahrung bringen …

2. KAPITEL

Auf dem Kutschbock herrschte Totenstille.

David warf seiner Tochter Beatrice einen Blick zu. Ihr Gesicht war zum Großteil durch den Rand ihres Strohhuts verdeckt, aber er konnte die Spitze ihrer Nase sehen und die fest zusammengepressten Lippen, während sie die vorbeiziehende Landschaft betrachtete. Die rotgoldenen Locken, geziert von einer adretten rosa Schleife, fielen glänzend über den Rücken ihres blauen Samtmantels.

Beatrice sah immer wie eine perfekte kleine Dame aus, ein hübsches Porzellanpüppchen, das stets eine echte Puppe unter den Arm geklemmt mit sich herumtrug. Jeder fand nur lobende Worte für sie. „So ein kleiner Engel, David“, sagte seine Schwester immer. „Sie weint nie und macht auch nie Wirbel, obwohl sie so viel durchmachen musste …“

Louisa hatte recht. Beatrice war ein Engel, spielte still mit ihren Puppen oder lauschte aufmerksam dem Unterricht, den das Kindermädchen ihr erteilte. War sie vielleicht zu ruhig? Zu selbstbeherrscht für eine Fünfjährige?

„Nachdem ich meine geschäftlichen Angelegenheiten im Dorf erledigt habe, können wir zum Spielzeugladen gehen“, schlug David vor, während er das Gespann um eine Kurve lenkte. „Was hältst du davon, Bea?“

Zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt von Rose Hill sah sie ihn an. In ihren grauen Augen lag ein leerer Blick. „Nein danke, Papa.“ Beatrice schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Landschaft zu. Vereinzelte Cottages markierten den Dorfrand, und in der Ferne ragte der quadratische Glockenturm der Kirche auf.

Beatrice war nicht immer so schweigsam gewesen. Bei dem Gedanken daran stieg Verzweiflung in David auf. Einst war seine Tochter so lebhaft und fröhlich gewesen wie die anderen Kinder im Dorf. Sie hatte sich in seine Arme geworfen und gekichert, wenn er sie im Kreis herumwirbelte. Sie hatte ihm Tee in winzigen Porzellantassen an ihrem kleinen Tisch im Kinderzimmer serviert und dabei die ganze Zeit geschnattert.

Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich jedoch verändert. Maude war mit ihrem Liebhaber durchgebrannt und an seiner Seite bei einem Kutschunfall auf einer steinigen schottischen Straße ums Leben gekommen. Natürlich hatte er seiner Tochter diese tragischen Umstände verschwiegen und ihr lediglich erzählt, dass Maude sehr krank geworden und während einer Kur an der See verstorben sei.

In den Wochen danach hatte sich Beatrice immer mehr in sich zurückgezogen und war so still wie eine ihrer kostbaren Puppen geworden. David hatte gehofft, dass das Leben auf seinem Landsitz Rose Hill, in der Nähe seiner Schwester und deren Familie, sie wieder aus ihrem Schneckenhaus herauslocken würde. Kinder blühten doch in frischer Landluft gewiss auf? Allerdings schien Beatrice nur noch stiller geworden zu sein.

Normalerweise hatte David sein Leben fest im Griff. Er war ein guter Geschäftsmann, führte sein Anwesen erfolgreich und kümmerte sich um die Nöte und Sorgen seiner Pächter und seiner Familie. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er für seine Schwester bis zu deren Hochzeit gesorgt. Er war ein guter Sohn gewesen, ein guter Bruder, und darauf war er stolz. Er hatte nach einer kurzen wilden Zeit als Lebemann sogar einen guten Ehemann abgegeben und war seiner Gemahlin stets treu geblieben. Er hatte gesehen, in welches Verderben Zügellosigkeit führen konnte, und sich deshalb gegen einen ausschweifenden Lebensstil entschieden.

Warum hatte er also als Vater derart versagt?

Als er seine Tochter anschaute, schmerzte ihm das Herz vor Liebe. Er wollte ihr so gern helfen, doch er konnte es nicht.

Die Wut auf Maude, die er lange Zeit zu unterdrücken versucht hatte, brodelte erneut in ihm hoch. Maude – so hübsch, so bezaubernd. So frivol. Anfangs schien sie die perfekte Gemahlin zu sein, bis er herausgefunden hatte, dass sich hinter ihrer charmanten Fassade ein romantischer Geist verbarg, der sie ihre Familie und Pflichten völlig vergessen ließ. So, wie er einst seine Pflichten vergessen hatte.

„Du solltest dich wieder vermählen“, lag seine Schwester ihm unaufhörlich in den Ohren. „Wenn Beatrice eine neue Mutter hätte und Rose Hill eine Herrin, käme alles wieder in Ordnung. Was sagst du zu Lady Penelope Hader? Oder Miss King?“

Er hatte schon einmal auf Louisas Rat gehört und ihre gute Freundin Miss Cole geehelicht. Aus diesem Grund schenkte er ihren Kandidatinnen auch keinen zweiten Blick. Mit einer Sache hatte sie allerdings recht – eines Tages würde er wieder heiraten müssen. Dafür kam jedoch ausschließlich eine Dame mit Vernunft und untadeligem Ruf infrage. Eine Dame, die ihre Pflichten kannte und ihn bei den seinen unterstützte. Eine Frau, die es nicht in die Stadt zog und die sich mit einem friedlichen Leben auf dem Land zufriedengab.

In seinem und vor allem in Beatrices Leben gab es keinen Platz mehr für romantische Abenteurerinnen.

Im Dorf herrschte hektisches Treiben. Die schmalen Gehwege waren mit Menschen übersät, die eilig ihren Erledigungen nachgingen. Überall standen die Türen der Läden offen, um die laue Frühlingsluft hereinzulassen, die allen neuen Elan zu verleihen schien.

David wünschte, er könnte diesen Elan ebenfalls verspüren. Die aufkeimende Hoffnung. In seinem Inneren herrschte jedoch eine seltsame Taubheit.

Arbeit war die Antwort darauf. Darin lag Vergessen. An den Dorfgemeinschaftsställen hielt er an und stieg aus der Kutsche. Er hob Beatrice vom Bock und nahm ihre behandschuhte Hand in seine. Ohne zu murren, folgte sie ihm, die Puppe im Arm.

„Ich werde nicht lange beim Anwalt bleiben, Bea. Wenn du nicht in den Spielzeugladen gehen möchtest, könnten wir dir anschließend auch eine Nascherei besorgen, was meinst du? Zitronenbonbons magst du doch so gerne.“

„Danke, Papa“, sagte sie leise.

Sie kamen nur langsam voran, da mehrere Fußgänger stehen blieben, um David zu grüßen und sich kurz mit ihm über Rose Hill zu unterhalten. Er war erst vor Kurzem heimgekehrt, und die Neugier über den Skandal in London war noch nicht verebbt. In den Augen der Menschen, die sich mit ihm unterhielten, stand immer noch dieses wissbegierige Glitzern, und er hörte ihnen an, dass sie sorgsam jedes Wort abwägten. Selbst die Menschen, die ihn seit seiner Kindheit kannten, ließen ihn die größte Katastrophe seines Lebens nie ganz vergessen.

Auf der Höhe des Gemeindesaals vernahm er unvermittelt die Stimme seiner Schwester. „David, Lieber! Ich wusste gar nicht, dass du heute ins Dorf kommen wolltest. Du hättest mir Bescheid geben sollen, dann hätten wir gemeinsam speisen können, bevor ihr nach Rose Hill zurückkehrt.“

David drehte sich um. Seine Schwester eilte, ihre beiden Söhne im Schlepptau, auf ihn zu. Die Jungen schubsten einander, wie so oft. David spürte, wie Beatrice neben ihm erstarrte.

„Ich wollte dir keine Umstände bereiten, Louisa.“ Er küsste sie auf die Wange.

„Das macht doch keine Umstände. Wir sehen euch viel zu selten“, antwortete sie. Schwerfällig, weil sie guter Hoffnung und ihr Bauch bereits sichtlich gerundet war, beugte sie sich hinunter und nahm die reglose Beatrice in den Arm. „Wie hübsch du heute aussiehst, Beatrice! Ich hoffe, dass es dieses Mal ein Mädchen wird. Kinder, lasst die Rangelei. Begrüßt euren Onkel.“

Die Jungen verbeugten sich rasch und murmelten einen Gruß, um sich sogleich weiterzuzanken. Louisa wisperte in Davids Ohr: „Beatrice sieht schrecklich bleich aus. Du solltest sie bei mir lassen, während du deinen Geschäften nachgehst. Sie kann mit ihren Cousins spielen. In Rose Hill ist sie viel zu oft allein.“

Beatrice schien sie gehört zu haben, denn sie warf David einen erschrockenen Blick zu. „Danke für dein freundliches Angebot, Louisa“, wiegelte er rasch ab, „aber wir haben gemeinsame Besorgungen zu machen. Ein anderes Mal, das verspreche ich dir.“

Louisa schnaubte. „Na, wie du meinst. Aber du weißt schon, dass es Beatrice guttun würde, wenn sie Geschwister hätte. Hast du Miss Harding schon kennengelernt? Sie ist bei ihrem Onkel, dem Admiral, zu Besuch. So ein hübsches, bodenständiges und freundliches Geschöpf. Genau die Art von Frau, die du brauchst.“

Beatrice schwieg, aber er spürte, wie sich ihre Hand fester um seine schloss. „Nein, ich habe Miss Harding noch nicht kennengelernt.“

„Dann solltest du nächste Woche unbedingt zum Dorfball kommen. Sie wird sicher zugegen sein, und ich habe bereits in den höchsten Tönen von dir gesprochen.“

„Ich habe noch immer so viel in Rose Hill zu tun …“

„Jetzt sag nicht, dass du die ganze Nacht durcharbeitest. Du musst wieder unter Leute gehen, David. Das würde dich auf andere Gedanken bringen. Außerdem wirst du nie eine neue Gemahlin finden, wenn du dich immer in Rose Hill verkriechst. Also, David, was ich dir über Miss Harding noch sagen möchte …“

Louisa plapperte und plapperte, aber Davids Aufmerksamkeit wurde plötzlich von einer ganz in Schwarz gekleideten Frau auf der anderen Straßenseite angezogen.

Sie war nicht sehr groß, aber schlank und hielt sich sehr aufrecht. Die elegante Haltung und der zielstrebige Gang kamen ihm irgendwie vertraut vor, obwohl er keine Dame im Dorf kannte, die erst kürzlich Witwe geworden war. Dennoch konnte er den Blick nicht von ihr lassen. Sie besaß eine vitale Ausstrahlung – wirkte so … lebendig.

Mit einem Mal wurde David bewusst, dass er sich seit langer Zeit nicht mehr lebendig gefühlt hatte. Schon lange hatte ihn nichts mehr derart fasziniert wie die Dame in Schwarz.

Auch andere blieben stehen und sahen ihr nach, doch nur wenige grüßten sie.

Sie blieb vor Mr. Lornes Buchladen stehen, und während sie die staubigen Bücher im Schaufenster betrachtete, erhaschte David einen Blick auf das Gesicht hinter dem schwarzen Tüllschleier, das so makellos war wie das einer griechischen Statue.

„Emma Bancroft“, flüsterte er, völlig perplex. Es überraschte ihn, wie genau er sich noch an sie erinnerte, obwohl seit ihrer letzten Begegnung Jahre vergangen waren. Er fühlte sich hundert Jahre älter als damals beim Dorfball. Emma Bancroft schien sich indes überhaupt nicht verändert zu haben. Wie damals umrahmten goldblonde Locken ihr Gesicht, und auf ihren vollen, rosigen Lippen lag ein Lächeln.

Ihre schwarze Trauerkleidung verriet jedoch, dass auch sie seit ihrer letzten Begegnung einiges durchgemacht haben musste. Als sie die Tür aufstieß und im Inneren des Ladens verschwand, kehrte David abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er nahm das geschäftige Treiben um sich herum wahr, spürte Beatrices Hand in seiner, hörte Louisas abfälliges Schnauben.

„Oh ja“, sagte sie abfällig. „Emma Bancroft. Sie ist nach Barton Park zurückgekehrt, obwohl es mich überrascht, dass ihre Schwester sie wieder aufgenommen hat. Immerhin hat sie einen Skandal verursacht, und ein solches Verhalten ziemt sich nicht für die Schwägerin eines Earls.“

David schenkte ihr einen neugierigen Blick, und Louisa lächelte selbstgefällig. Es bereitete ihr immer eine diebische Freude, wenn sie über Klatschgeschichten Bescheid wusste, die andere nicht kannten. „Davon hast du doch gewiss gehört, David. Vielleicht aber auch nicht, du bist ja immer so beschäftigt. Weißt du nicht, dass Miss Bancroft mit Henry Carrington durchgebrannt ist?“

David erinnerte sich vage daran. Emma Bancroft hatte sich während ihrer ersten Ballsaison entgegen dem Rat ihrer Schwester in Schottland mit einem bekannten Lebemann vermählt. Die Gerüchte waren von London bis nach Rose Hill gedrungen. Da man Miss Bancroft jedoch schon immer für ein seltsames Mädchen mit eigensinnigen Vorstellungen gehalten hatte, war die Dorfgemeinschaft über die Nachricht nicht sonderlich überrascht gewesen. Bald darauf standen andere Skandale im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, und als David mit Maude und ihrer frisch geborenen Tochter nach London abreiste, sprach kaum noch jemand über Lady Ramsays skandalöse Schwester. Der Skandal um Maude hatte bald darauf alles andere überschattet.

David verspürte insgeheim einen Stich der Enttäuschung, als er sich an Miss Bancrofts – oder besser gesagt Mrs. Carringtons – wahre Natur erinnerte. Einen Augenblick lang hatte er Freude über das Wiedersehen empfunden, sogar einen Funken Hoffnung verspürt. Nun jedoch erschien ihm ihre sonnige, lebensfrohe Ausstrahlung wie eine unberechenbare Gefahr.

Er konnte sich keine weiteren Skandale leisten. Weder eigene noch die anderer.

„Angeblich ist Mr. Carrington bei einem Duell irgendwo in Frankreich ums Leben gekommen“, fuhr Louisa fort. „Lady Ramsay blieb wohl gar keine andere Wahl, als ihre Schwester bei sich aufzunehmen.“

So wie David nie eine Wahl geblieben war? Leicht gereizt erwiderte er: „Denkst du vielleicht, sie hätte ihre Schwester besser in einem Pariser Arbeitshaus verkümmern lassen sollen?“

„David! Welch furchtbarer Gedanke! Natürlich hat Lady Ramsay Mrs. Carrington aufnehmen müssen, aber es wäre anständiger gewesen, wenn sie nach all dem Aufsehen, das sie erregt hat, nicht wieder zurückgekommen wäre. Aber Blut ist dicker als Wasser, wie es so schön heißt. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass sie in Barton Park ein zurückgezogenes Leben führt und niemanden mehr in Verlegenheit bringt.“

„Ich muss mich um meine Geschäfte kümmern, Louisa.“ Insgeheim verspürte David den Drang, Emma Bancroft zu verteidigen, selbst gegen etwas, das sich nicht rechtfertigen ließ. „Mein Anwalt erwartet mich.“

„Oh ja, natürlich. Ich weiß, du hast grässlich viel zu tun, David, Lieber. Aber vergiss nicht! Miss Harding und ich erwarten dich nächste Woche beim Dorfball.“

Er murmelte eine unverbindliche Antwort und ging mit Beatrice weiter. Sie folgte ihm still, während er über Emma Bancroft grübelte, und sich zunehmend nach Dingen sehnte, die er nicht haben konnte.

Ihr Papa brauchte keine andere Gemahlin. Jedenfalls keine, die Tante Louisa für ihn aussuchte.

Beatrice saß auf einem Stuhl und baumelte mit den Füßen, während ihr Vater sich mit dem grauhaarigen Anwalt Mr. Wall unterhielt. In dem stichigen Büro roch es nach Zigarren und Staub, aber das machte Beatrice nichts aus, denn während die beiden über Dinge redeten, von denen sie nichts verstand, konnte sie in Ruhe nachdenken.

Das tat sie sehr oft, seit ihre Mutter sie verlassen hatte. Eine Weile lang war alles sehr verwirrend gewesen, immerzu waren Leute gekommen und gegangen. Ihr Großvater Cole hatte mit rotem Gesicht gebrüllt, und ihr Papa, der gewöhnlich mit ihr lachte und spielte, war still und ernst geworden.

Jedes Mal, wenn er sie ansah, wirkte er so traurig. Niemand sagte ihr je irgendetwas. Ihre Tränen und wütend gebrüllte Fragen hatten ihr nichts weiter gebracht als mitleidige Blicke und neue Puppen. Diese Erfahrung hatte sie gelehrt, in aller Stille zu beobachten, was um sie herum vorging. Wenn sie sich still in eine Ecke zurückzog, vergaßen die Leute schon bald ihre Anwesenheit und sprachen ganz offen über ihre Angelegenheiten, ohne diese blöde Babysprache zu verwenden. Seit dem Tod ihrer Mutter behandelten die meisten Erwachsenen sie wie ein Baby.

Vor allem Tante Louisa. Beatrice seufzte und strich den Rock ihrer Puppe glatt. Sie war eine gute Tante, immer freundlich und großzügig mit Zitronenbonbons, aber sie wollte ständig, dass Beatrice mit ihren schrecklichen Söhnen spielte. Die Jungen hatten allerdings kein Interesse an einer Unterhaltung und versuchten immer nur, ihre Puppen zu stibitzen. Ihrer Lieblingspuppe hatten sie sogar einmal die Haare abgeschnitten, worauf Beatrice in Tränen und Tante Louisa in Geschrei ausgebrochen war.

Nein, Besuche bei Tante Louisa bereiteten ihr keine Freude. Da war selbst die Warterei in diesem langweiligen Büro schöner.

Das Schlimmste an Tante Louisa war jedoch, dass sie Papa ständig riet, er solle so schnell wie möglich wieder heiraten, weil Beatrice eine neue Mutter bräuchte.

Beatrice konnte sich nicht vorstellen, wozu. Ihre eigene Mutter hatte sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie war schön wie ein Engel gewesen, aber sie hatte nie mit ihr gespielt. Auch eine Mutter wie Tante Louisa wäre kaum lustiger, weil sie ständig alle herumkommandieren wollte.

Dennoch hatte Beatrice nicht grundsätzlich etwas gegen eine neue Mutter einzuwenden. Die Mütter in ihren Büchern sahen immer hübsch aus und sie flochten ihren Töchtern Bänder ins Haar oder lasen ihnen Geschichten vor. Und Papa brauchte jemanden, der ihn öfter zum Lachen brachte.

Diese Miss Harding klang jedoch ganz und gar nicht so, wie sich Beatrice eine neue Mutter vorstellte. Sie war zwar nur ein kleines Mädchen, aber sie wusste genau, was sie wollte.

Sie wusste nur nicht, wo sie es finden konnte.

„… kurz gesagt, Sir David, der Verkauf sollte zu diesem Preis ohne Probleme abgewickelt werden können“, sagte der alte Anwalt. „Ihr Anwesen wird sich beträchtlich vergrößern. Sind Sie sicher, dass Sie sich tatsächlich noch mehr Verantwortung aufbürden wollen?“

„Hat man sich etwa über meinen Mangel an Verantwortung beschwert, Mr. Wall?“, fragte ihr Vater in leicht belustigtem Ton, ohne jedoch zu lächeln.

„Nein, natürlich nicht. Sie gelten als guter und sehr fortschrittlicher Gutsherr mit großem Interesse an modernem Ackerbau. Sie werden sicherlich keine Probleme haben, Pächter für die Höfe auf den angekauften Ländereien zu finden. Man kann aber auch zu viel arbeiten, wie mir Mrs. Wall gelegentlich sagt.“

„Ach ja? Da bin ich anderer Ansicht.“

Nachdem sie sich von Mr. Wall verabschiedet hatten und wieder auf die Straße getreten waren, fröstelte Beatrice leicht. Nach dem Aufenthalt in dem überhitzten Büro war die laue Brise unerwartet kühl.

„Wir sollten nach Hause fahren, bevor du dich noch erkältest“, sagte Papa und nahm ihre Hand.

Beatrice wollte jedoch noch nicht zurück in das stille Kinderzimmer. Sie wollte aber auch nicht zu Tante Louisa. „Können wir noch in den Buchladen gehen?“, fragte sie. „Vielleicht hat Mr. Lorne ein paar neue Bilderbücher bekommen. Ich habe alle meine Bücher schon mindestens zwei Mal gelesen.“ Außerdem betraten Tante Louisa und ihre Söhne niemals den Buchladen. Dort waren sie sozusagen in Sicherheit.

Ihr Papa zögerte erst, was seltsam war, denn normalerweise besuchte er Mr. Lornes Laden gern. Er schaute zu dem Laden auf der anderen Seite und kniff die Augen hinter der Brille zusammen, als versuchte er, durch die staubigen Scheiben zu spähen. Schließlich nickte er, und gemeinsam überquerten sie die Straße.

3. KAPITEL

Emma lächelte, als sie das vertraute Geräusch der Ladenglocke von Mr. Lornes Buchladen vernahm. Einst war es das schönste Geräusch in ihrem Leben gewesen, denn es bedeutete die Flucht aus der Wirklichkeit.

Jane und Hayden waren inzwischen mit den Kindern nach London gereist, und da es ihr im Haus viel zu ruhig geworden war, hatte sie beschlossen, einen Spaziergang ins Dorf zu machen.

Während sie die Tür hinter sich schloss, dachte sie an die musternden Blicke der Menschen, die ihr auf der Straße begegnet waren. Natürlich hatte sie nicht erwartet, dass man sie mit offenen Armen empfing, aber mit dieser völligen Stille hatte sie nicht gerechnet. Man hatte sie angestarrt, als wäre sie ein Geist.

Emma war es leid, dass man sie wie einen Geist behandelte. Sie wollte leben, sich wieder so lebendig fühlen wie vor ihrer unglücklichen Ehe mit Henry. Sie wusste nur nicht, wie sie das anstellen sollte.

Mr. Lornes Buchladen schien ihr ein guter Ausgangspunkt zu sein. Immer noch lächelnd sah sie sich um. In all den Jahren schien sich nichts verändert zu haben. Die Regale waren immer noch zum Bersten gefüllt, und die Bücher stapelten sich auch auf dem Boden und den überall verstreuten Trittleitern.

Mr. Lornes grauer Schopf blickte hinter einem wackeligen Bücherturm auf dem Tisch hervor. „Du lieber Himmel! Sind das wirklich Sie, Miss Bancroft?“

Emma lachte, erleichtert, dass sie wenigstens für ihn kein Geist zu sein schien. Zumindest ein Mensch im Dorf redete mit ihr. Sie schüttelte Mr. Lornes beängstigend dünne, faltige Hand.

„Ja, ich bin es, Mr. Lorne, obwohl mein Name jetzt Mrs. Carrington lautet.“

„Ah ja, ich erinnere mich. Seit sie fortgegangen sind, hat mich niemand mehr nach neuen Büchern über Pflanzen gefragt. Was kann ich heute für Sie tun?“

„Ich bin nicht sicher.“ Unschlüssig zog sich Emma die Handschuhe aus. „Haben Sie vielleicht ein Werk über die Geschichte von Barton Park?“ In ihrer Jugend hatte Emma leidenschaftlich nach dem legendären Schatz von Barton gesucht. Ohne Erfolg.

„Ich denke nicht.“

„Dann vielleicht einen Roman? Etwas Amüsantes für die langen Abende?“

„Damit kann ich Ihnen weiterhelfen, Mrs. Carrington.“ Mr. Lorne griff zu einem Gehstock und ging ihr voran zu einem Regal am anderen Ende des Raumes. „Wenn auch vermutlich nicht mehr lange, leider.“

Emma sah den alten Mann verwundert an. Früher war Mr. Lorne immer fröhlich gewesen, hatte seine Arbeit geliebt und begeistert über die Bücher in seinen Regalen geplaudert. „Was soll das denn heißen, Mr. Lorne?“

„Wie es scheint, muss ich den Laden bald schließen.“

„Schließen?“, rief Emma erschrocken. „Aber Sie haben den einzigen Buchladen in der Gegend.“

„Ja, die Entscheidung fällt mir auch nicht leicht, aber meine Augen werden immer schlechter, und es wird immer schwieriger, allein zurechtzukommen. Meine Tochter besteht darauf, dass ich zu ihr nach Brighton ziehe.“

Emma nickte voller Mitgefühl. Sie konnte verstehen, dass Mr. Lorne die Arbeit zu schwer wurde. Der Gedanke, ihre einzige Zuflucht im Ort zu verlieren, war ihr jedoch unerträglich. „Das ist zu schade, Mr. Lorne. Das bedaure ich wirklich sehr.“

„Ach, in Brighton gibt es sicherlich genug Bücher für mich, auch wenn meine Enkel sie mir wohl vorlesen müssen. Und vielleicht kauft mir ja jemand den Laden ab und führt ihn an meiner Stelle weiter.“

„Das will ich hoffen. Auch wenn es ohne Sie nicht mehr dasselbe sein wird.“

Mr. Lorne lachte. „Sie schmeicheln einem alten Mann, Mrs. Carrington.“

Emma lachte ebenfalls. „Nun ja, ich kenne keinen Mann, der sich so angeregt über Bücher mit mir unterhält wie Sie.“

„Dann schlage ich vor, Sie suchen sich etwas aus, und wir unterhalten uns darüber, wenn Sie es gelesen haben. Noch bin ich kein Tattergreis.“

Während Mr. Lorne zu seinem Tisch zurückging, ließ Emma den Blick über die Bücherrücken schweifen und kletterte schließlich auf die klapprige Leiter, um einen besseren Blick auf die oberen Reihen zu haben. Ein Buch mit dem Titel „Der Freibeuter“ klang besonders verheißungsvoll. Sie schlug es auf und fing an zu lesen. Schon bald war sie völlig in die Geschichte versunken. Sie war so vertieft darin, dass sie jäh zusammenzuckte, als die Ladenglocke ertönte. Erschrocken drehte sie sich um, verfing sich dabei mit ihren Röcken und verlor das Gleichgewicht. Einen grässlichen Augenblick lang hegte sie die Befürchtung, auf den harten Boden zu stürzen, doch starke, muskulöse Arme fingen sie auf.

Der Schreck raubte ihr den Atem, und plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Der Schleier nahm ihr zusätzlich die Sicht. Entschlossen, nicht in Ohnmacht zu fallen, hob sie den verflixten Tüll vor dem Gesicht und blinzelte gegen die Benommenheit an.

„Vielen Dank, Sir“, sagte sie atemlos. „Sie verfügen über ein gutes Reaktionsvermögen.“

„Ich bin froh, dass ich zufällig zur Stelle war.“ Die Stimme ihres Retters klang unheimlich vertraut. Tief und sanft, so angenehm wie ein Glas süßer Wein an einem kalten Abend, tröstlich und aufregend zugleich.

Schon lange hatte sie diese Stimme nicht mehr gehört, und doch erinnerte sie sich noch so gut daran. Verblüfft legte sie den Kopf schräg; sie hatte sich nicht getäuscht, es war tatsächlich Sir David.

Seine Miene wirkte so steinern wie in Marmor gemeißelt, und er schien keinen Tag älter als bei ihrer letzten Begegnung zu sein. Seine Züge waren ebenso markant und attraktiv wie eh und je, die grauen Augen hinter der Brille unverändert eindringlich. Seine leicht gebräunte Haut verlieh ihm eine vitale Ausstrahlung und verriet, dass er wohl viel Zeit im Freien verbrachte. Ja, David Marton sah gut aus. Nein, mehr als gut. Gefährlich attraktiv. Doch er wirkte auch härter, kälter, noch argwöhnischer als früher.

Vermutlich war der Verlust seiner Gemahlin der Grund dafür. Sie beide hatten harte Schicksalsschläge erlebt, die bei ihnen beiden offenbar Spuren hinterlassen hatten.

Ausdruckslos blickte er sie an, als rettete er jeden Tag Damen in Not; kein Wiedererkennen spiegelte sich in seinem Gesicht. Wieso bloß fühlte sie sich in seiner Gegenwart immer so unsicher und sehnte sich dennoch nach seiner Nähe?

Plötzlich wurde Emma bewusst, dass er sie immer noch im Arm hielt, so mühelos, als wäre sie leicht wie eine Feder. Und sie hatte die Arme um seine Schultern geschlungen, während sie einander schweigend musterten.

Er schien dies im selben Moment zu bemerken wie sie, denn er setzte sie abrupt auf den Boden. Sie schwankte leicht, und er gab ihr mit einer Hand Halt.

„Es tut mir leid.“ Emma zwang sich zu einem Lächeln. „Das war schrecklich tollpatschig von mir.“

„Nein, gar nicht.“ Er musterte sie immer noch durchdringend, und Emma wünschte sich, sie könnte seine Gedanken lesen, obwohl sie ihre vor ihm zu verbergen suchte. Henrys Freunde, die mit ihr getändelt und versucht hatten, sie in ihr Bett zu bekommen, hatte sie so mühelos lesen können wie ein offenes Buch. David Marton dagegen war eher wie ein lateinisches Sonett, kompliziert und ihr unverständlich. Er verunsicherte sie.

„Ich fürchte, ich habe Sie erschreckt“, sagte er. „Außerdem sind diese Leitern viel zu gefährlich, weshalb Sie nicht wie ein Eichhörnchen darauf herumklettern sollten.“

Dieses Mal lachte Emma aufrichtig. Sir David hatte sich also nicht gänzlich verändert. Der Beschützer in ihm, der hie und da hinter seiner Beherrschtheit hervorlugte, war ihr damals in ihrer Jugend schon aufgefallen. Er war wie ein edler Ritter. „Oh, ich habe mich schon an viel gefährlicheren Orten aufgehalten.“

Er lächelte kaum wahrnehmbar, aber Emma freute sich unbändig darüber. Sie fragte sich, was sie wohl tun musste, damit er ihr ein echtes Lachen schenkte.

„Dessen bin ich mir sicher“, erwiderte er schließlich.

„Bisher hatte ich jedoch nicht das Glück, dass mich jemand vor drohenden Gefahren gerettet hat.“

Sie wurde mit dem erhofften Lächeln belohnt. Fasziniert beobachtete Emma, wie sich dabei Grübchen in seinen Wangen bildeten. Es sollte verboten werden, dass jemand so umwerfend aussah. Besonders wenn dieser Jemand so unnahbar und abweisend war wie Sir David.

„Wie schön, dass Sie wieder zu Hause sind, Miss Bancroft“, sagte er.

Autor

Diane Gaston
<p>Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten. In ihrer Kindheit...
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