Historical Lords & Ladies Band 87

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STÜRMISCHE HERZEN IM HERBST von JOANNA MAITLAND
Getarnt als Zofe, verschafft Amy sich Einlass auf Lyndhurst Chase. Sie sucht ihren Bruder – und entdeckt stattdessen einen unbekleideten Fremden im Ankleidezimmer des Gastgebers. Gegen ihren Willen spürt sie ein erregendes Prickeln beim Anblick dieses geheimnisvollen Mannes …

EINE UNKONVENTIONELLE LADY von LOUISE ALLEN
Welch zartes Antlitz für einen Postillion! Oder wird die Postkutsche gar von einer Frau gelenkt? Max, Earl of Penrith, staunt nicht schlecht, als ihm bei einem nächtlichen Kutschenrennen eine schöne Unbekannte begegnet. Überraschend trifft er sie auf einem glanzvollen Ball wieder. Welches Geheimnis verbirgt die schöne Bree?


  • Erscheinungstag 03.09.2021
  • Bandnummer 87
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502542
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Joanna Maitland, Louise Allen

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 87

1. KAPITEL

Amy Devereaux blieb vor der Schlafzimmertür des Hausherrn stehen und lauschte. Nichts. Wie zu vermuten gewesen war. Der Major nahm gerade mit seinen Gästen das Dinner ein. Vor weniger als fünf Minuten hatte sie seinen Diener im unteren Stockwerk gesehen. Er hatte es sich mit einem Krug Bier am Küchentisch gemütlich gemacht. Und da der bedauernswerte Anthony Lyndhurst keine Frau hatte, die ihm das Bett anwärmte, gab es niemanden, der Grund hatte, sich in seinem Schlafzimmer aufzuhalten.

Doch noch immer zögerte Amy.

Sie fasste sich an die hässliche große Haube, um sich zu vergewissern, dass sie noch fest saß. Ein kleines Haarbüschel war gerade über ihrem rechten Ohr herausgerutscht. Rasch schob sie es unter die Haube zurück. Niemand durfte ihr Haar zu Gesicht bekommen, dessen leuchtend blonde Farbe unvergesslich war. Ebenso wie ihre violettblauen Augen, die sogar noch hinter den dicken Brillengläsern auffielen. Sowohl die Haare als auch die Augen konnten die Aufmerksamkeit der Herrschaften auf sie lenken, die nach Möglichkeit durch sie hindurchsehen sollten, wie sie es beim Personal normalerweise taten. Auffälligkeit war für ihre Rolle als Amelia Dent, erstklassige Zofe der noblen Countess of Mardon, katastrophal.

Ihr Herz raste. Amy fasste nach dem Türgriff und drückte ihn nach unten. Unter ihren feuchten Händen entglitt ihr der Griff. Sie war furchtbar nervös. Eilig wischte sie sich die Finger am Rock ihres unscheinbaren weiten Kleides ab.

Tief durchatmen. Öffne die Tür. Geh hinein, als ob du jedes Recht hättest, dich dort aufzuhalten. Sollte sich jemand darin befinden, musst du bloß behaupten, du suchtest nach deiner Herrin und hättest dich im Zimmer geirrt. Geh jetzt hinein!

Im Nu war Amy im Inneren und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie atmete auf. Obwohl es draußen noch immer hell war, waren die Vorhänge dicht zugezogen. Da keine Kerzen brannten, spendete nur das Kaminfeuer ein wenig Licht. Amy blieb einen Moment reglos stehen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und das große leere Zimmer in Augenschein nehmen konnte. Alles schien in bester Ordnung. Lediglich der große Paravent fiel ihr auf, der zwischen der Tür und dem Kamin aufgestellt war, vermutlich um den Major von Zugluft abzuschirmen, wenn er ein Bad nahm. Oh je! Was, wenn die Stubenmädchen noch kommen, um den Badezuber auszuleeren?

Mit klopfendem Herzen huschte Amy auf den Kamin zu. Sie konnte es nicht riskieren, den Raum zu durchsuchen, bevor sie nicht einen Blick hinter den Paravent geworfen hatte.

„Guten Abend.“

Amy schrie erschrocken auf und erstarrte zur Salzsäule. Vor ihr im Badezuber nahe dem Kaminfeuer stand ein vollkommen nackter Mann.

„Würden Sie mir bitte das Handtuch reichen?“

Amy vermochte sich nicht zu bewegen. Sie bekam kaum noch Luft, und ihr ganzer Körper stand wie unter Feuer.

„Sind Sie taub? Das Handtuch, bitte.“

Einen langen gefährlichen Moment konnte Amy ihre Blicke nicht von seinem nackten Körper abwenden. Schließlich zwang sie sich, den Kopf zu senken und die Augen zu schließen, um sich vor dem Anblick zu schützen. Aber das Bild war noch da und hatte sich in ihre Netzhaut eingebrannt. Der erste nackte Mann, den sie in ihrem Leben gesehen hatte. Von glatter Haut gezügelte Muskelkraft, auf der die letzten Tropfen des Bades schimmerten.

Inzwischen war er des Wartens überdrüssig geworden. Fluchend stieg er aus dem Zuber und griff nach dem großen Handtuch, das nah beim Feuer hing.

Allerdings machte er keine Anstalten, damit seinen nackten Körper zu bedecken. Stattdessen drehte er sich wieder zu ihr um, wobei er das Handtuch lässig in einer Hand hielt. Er musterte sie forsch, erst ihr stark gerötetes Gesicht und dann ihren Körper. Sogar in diesem Halbdunkel war es, als ob er sie mit seinen Blicken auszöge. Ganz so als wäre sie ebenso nackt wie er!

Schließlich suchte er mit seinen Blicken ihre Augen. Seine Miene wirkte hart und misstrauisch. „Wer sind Sie?“, fragte er in harschem Tonfall. „Was tun Sie hier?“

Amy schluckte schwer und wagte es nicht, ihn direkt anzusehen. Es war, als ob ihr Verstand aussetzen würde. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und in jedem Fall brachte sie kein Wort heraus.

Er fluchte erneut. Diesmal klang es ärgerlicher. Dann, mit einer einzigen fließenden Bewegung legte er ihr die Hände um die Schultern und zog sie an sich. Sie spürte die flauschige Wärme des Handtuchs auf ihrer Nackenhaut und seine kraftvollen Finger, die sich durch den groben Kleiderstoff in ihr Fleisch gruben.

„Vielleicht bringt Sie das wieder zum Sprechen“, murmelte er sanft.

Und dann senkte er den Kopf, um sie zu küssen.

Amy war zu erschrocken, um ihn von sich zu stoßen. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Ein nebelhafter Traum, in dem es dezent nach Seife und sauberer Haut duftete. Mit einem Mal wurde aus dem Traum Wirklichkeit, und zwar in aller Lebendigkeit. Seine warmen Lippen waren direkt über ihren. Amy fuhr sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe.

„Nein“, sagte er leise ganz nah an ihrem Mund. „Verführerisch … aber besser nicht.“ Er schob sie unsanft von sich und rieb sich weiter mit dem Handtuch ab.

Amy starrte zu Boden. Was um Himmels willen war in sie gefahren? Warum hatte sie ihn nicht aufgehalten?

Der Mann wandte ihr nun den Rücken zu. Vor dem Kaminfeuer trocknete er seine Beine ab. Sie musste irgendein Geräusch von sich gegeben haben, denn er drehte den Kopf zu ihr um. Seine Miene verriet eine Mischung aus Langeweile und Widerwillen. „Für so ein abgebrühtes Dienstmädchen sind Sie erstaunlich mundfaul. Haben Sie es sich zur Angewohnheit gemacht, sich Ihrer Herrschaft anzubieten? Wir lassen uns nicht alle so leicht um den kleinen Finger wickeln, müssen Sie wissen.“ Er richtete sich auf und schlang das Handtuch um die Hüften.

Endlich!

„Ich habe nicht …“ Amy versagte die Stimme. Sie holte tief Luft und schluckte schwer. „Sie irren sich, Sir. Ihre Worte sind beleidigend.“ Sie wagte es, kurz aufzusehen und ihm direkt ins Gesicht zu blicken.

Er zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Sind sie das?“

Wie dumm! Kein Dienstmädchen würde je so etwas zu einem Gentleman sagen. Auch dann nicht, wenn es der Wahrheit entsprach. „Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber … Sie haben mir Unrecht getan. Das, was Sie mir unterstellen, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Meine Herrin ist in diesem Haus zu Gast, und ich … ich habe mich lediglich im Zimmer geirrt. Ich muss gehen. Meine Herrin wird sich bereits wundern, wo ich bleibe.“ Sie drehte sich zur Tür.

„Einen Moment.“

Mit Mühe unterdrückte Amy den Drang davonzulaufen. Sie vermied es allerdings, sich wieder zu ihm umzudrehen, denn sie hatte Angst vor seinen bohrenden Blicken.

„Wir wissen beide genau, dass Ihre Herrin Ihre Dienste im Augenblick nicht benötigt. Sie wird längst hinunter in den Speisesalon gegangen sein, um mit den anderen das Dinner einzunehmen. Wer ist denn Ihre Herrin?“

„Die Countess of Mardon. Ich bin ihre Zofe.“ Amy versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu klingen.

„Soso, ihre Zofe. Nun gut, wie heißen Sie denn?“

„Dent, Sir.“ Amy wandte sich zu ihm um. Sie musste sich auf die Rolle konzentrieren, die sie spielte. Eine erstklassige Dienerin dürfte sich nicht wegducken, selbst dann nicht, wenn sie mit einem so bedrohlich wirkenden Mann konfrontiert war. Sie straffte die Schultern, blickte aber weiterhin sittsam zu Boden.

Den Kopf zur Seite gelegt, musterte er sie. Er fuhr sich nachdenklich mit einer Hand über das Kinn. Trotz der dämmrigen Beleuchtung bemerkte Amy, dass er sich mindestens eine Woche lang nicht mehr rasiert hatte, wenn nicht sogar länger. Sein nasses Haar reichte ihm fast bis zu den Schultern. Wer um Himmels willen war das? Was tat er in Major Lyndhursts Zimmer und noch dazu badend?

„Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ein weiterer Gast angereist ist“, bemerkte Amy freundlich, aber mit fester Stimme. Sie war froh, nun wieder einigermaßen ruhig zu klingen. „Haben Sie vor, länger zu bleiben, Sir?“

Überrascht lachte er auf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Sie für eine hochwohlgeborene Lady halten, Dent. Die meisten Debütantinnen würden eine solche Konversation nicht besser hinkriegen. Meinen Glückwunsch!“

Amy wurde erneut rot vor Scham. Oder ärgerte sie sich in Wahrheit über ihr loses Mundwerk? Sie musste unbedingt verhindern, dass man ihre Maskerade entdeckte. Es durfte auf gar keinen Fall dazu kommen, denn sie hatte zu viel riskiert.

Sie knickste unterwürfig. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Sir, ich habe noch Botengänge für meine Herrin zu erledigen. Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie gestört habe. Ich kann es mir nicht leisten, bei meiner Herrin in Misskredit zu geraten.“ Sie bemühte sich, eine furchtsame Miene aufzusetzen, wie es zu einer Bediensteten passte, die Angst um ihre Stelle hatte. Immerhin war es möglich, dass sogar dieser Mann eine Spur von Ritterlichkeit besaß – irgendwo hinter der erbarmungslosen Fassade verborgen.

Prüfend blickte er sie an. Es gab kein Anzeichen für Ritterlichkeit, überhaupt keines. „Ich werde über dieses Zusammentreffen nicht mit Ihrer Herrin reden“, versprach er schließlich. „Aber dafür verlange ich eine Gegenleistung.“

Amy erstarrte vor Schreck. Also unterschied er sich nicht von den anderen Lüstlingen in diesem Haus.

„Ich verlange, dass Sie meine Anwesenheit mit keinem Wort erwähnen. Und zwar niemandem gegenüber. Nicht einmal gegenüber Major Lyndhurst. Haben Sie das verstanden?“

„Ich … ja.“

„Dann sind wir uns also einig, Dent?“

Amy holte tief Luft und hob das Kinn. Sie spürte, dass er sie anstarrte. Sie nickte entschieden. „Ja, Sir, wir sind uns einig.“

Kaum hatte sie das gesagt, lächelte er sie an. Mit einem Mal war all die Härte aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte jünger und trotz des unrasierten Kinns ausgesprochen attraktiv. „Dann schlage ich vor, dass Sie jetzt zu Ihren Pflichten zurückkehren, Dent. Außer Sie bevorzugen es, mir beim Ankleiden zu helfen?“

Amy keuchte und floh aus dem Zimmer.

Erst als Amy im Zimmer der Countess in Sicherheit war, fiel ihr auf, dass ihre Haube verrutscht war. Überall trat ihr leuchtend blondes Haar hervor! Sie murmelte einen wenig damenhaften Fluch und begann, ihre Tarnung wiederherzustellen. Dabei tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass niemand sie gesehen hatte.

Außer ihm.

Er durchschaute vielleicht, wer sie war, oder zumindest, was sie vorgab zu sein. Er konnte ihr Geheimnis verraten.

Aber er würde es nicht tun. Immerhin konnte sie ihrerseits sein Geheimnis verraten. Denn aus irgendeinem Grund wollte der Gentleman, der so ungezwungen zu abendlicher Stunde im Schlafzimmer des Hausherrn ein Bad nahm, nicht, dass seine Gegenwart im Haus publik wurde. Aber weshalb?

Amy zerbrach sich die ganze Nacht über vergeblich den Kopf. Es machte überhaupt keinen Sinn. In der Tat war es eine weitere unbeantwortete Frage in einem Haus, in dem es von Rätseln und Ungereimtheiten nur so wimmelte. Ein Haus, das ihren Bruder Ned regelrecht verschluckt zu haben schien, ohne dass auch nur eine Spur von ihm zurückgeblieben war.

Vorsichtig balancierte Amy das Tablett mit dem Frühstück, während sie mit einer Schulter hinter sich die Schlafzimmertür schloss und sich erleichtert gegen die Wandverkleidung lehnte. „Das übersteigt einfach mein Fassungsvermögen“, sprach sie leise vor sich hin und schloss für einen Moment die Augen.

„Dent?“

Vorsicht! Offenkundig ist noch jemand da! „Ja, Mylady.“ Amy richtete sich wieder gerade auf und schritt mit dem Tablett durch das Zimmer, bis zu dem Baldachinbett. „Ich bringe Ihr Frühstück, Mylady, so früh wie Sie es gewünscht haben.“

Lady Mardon, der die Schamesröte ins Gesicht trat, was ihr gut stand, lag gegen einen Haufen spitzenbesetzter Kissen gelehnt.

Ihr Gatte, der am Kopfende des Bettes stand, sprach ruhig auf sie ein. Er trug lediglich ein dünnes seidenes Nachthemd und tat, als ob dieser intime Aufzug das Normalste von der Welt wäre. „Und Anthony hat für heute eine Jagd geplant. Ich werde also vermutlich erst am späten Nachmittag wieder zurück sein.“

„Oh“, erwiderte seine Frau enttäuscht.

Er lächelte sie warmherzig an. „Wenn du den Wunsch verspüren solltest, uns zu sehen, kannst du einfach in die Kuppel steigen. Von dort kann man meilenweit gucken.“

Die Countess klimperte mit ihren langen Wimpern. „Vielleicht. Wenn ich nichts Besseres zu tun habe …“

Er grinste und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war. „Ich würde es niemals wagen, mich in deine Pläne einzumischen, Liebling. Und jetzt lasse ich dich in Ruhe frühstücken.“ Er küsste seine Frau kurz auf eine Wange. „Genieße den Tag.“ Ohne der Zofe die geringste Beachtung zu schenken, umrundete er das Bett und verschwand durch die Verbindungstür in sein Ankleidezimmer.

Amy schluckte. Dies war ein anderer unvorhergesehener Aspekt ihrer jetzigen Stellung. Aus der Nonchalance des Earls ging deutlich hervor, dass er soeben das Bett seiner Gattin verlassen hatte. Die Beine und Füße unter seinem feinen dünnen Nachthemd waren nackt. An den Rest seines Körpers wollte Amy gar nicht denken. Nackte Männerkörper waren … gefährlich.

Lady Mardon beugte sich aus dem Bett, um sicherzugehen, dass ihr Gatte die Tür fest hinter sich geschlossen hatte. Dann lächelte sie ihre so genannte Zofe nervös an. „Mein Gott, Amy! Das war ganz schön knapp. Wenn ich geahnt hätte, wie viel Verlogenheit man dafür braucht …“

„Ich weiß, dann hättest du nie deine Zustimmung gegeben.“ Vorsichtig stellte sie das Tablett auf dem Schoß der Countess ab. Seufzend ließ sie sich auf der Bettkante nieder und stahl dreist eine Scheibe Toast. „Glaube mir, Sarah, wenn ich auch nur die geringste Vorstellung davon gehabt hätte, wie schwierig es werden würde, hätte ich dich niemals um Hilfe gebeten.“ Sie biss in die Toastscheibe und kaute nachdenklich darauf herum. „Allerdings täuschst du deinen Gatten nicht wirklich, denn er nimmt überhaupt keine Notiz von den Dienstboten, außer wenn sie ihn verärgern. Bestimmt könnte ich einfach morgen als ich selbst hereinschneien, und er würde mich überhaupt nicht erkennen.“

Die Countess lachte auf. „Ja, das stimmt vermutlich. Aber er ist nicht … nicht gefühllos, musst du wissen.“

Amy merkte, dass die Countess plötzlich wieder errötete. Vielleicht war das nicht weiter überraschend. Als Amy das Zimmer betreten hatte, hatte Sarah ausgesprochen zufrieden ausgesehen. Ohne Frage genossen Sarah und der Earl die Freuden ihres Ehebetts. Welche auch immer das waren.

Die Countess tat, als ob sie sich ganz auf das Frühstückstablett konzentrierte. „Er war halt sein ganzes Leben lang von eifrigen Bediensteten umgeben. Er nimmt das als selbstverständlich wahr und achtet nicht mehr darauf.“

Amy griff nach einer zweiten Toastscheibe. „Genauso wie die meisten Gentlemen in diesem Haus. Allerdings haben sie unterschiedliche Arten, das zu zeigen. Ich glaube, ignoriert zu werden, ist mir immer noch die liebste Variante. Das gilt ebenso für die oberen wie für die unteren Räumlichkeiten.“

„O je! Aber du hast dich nicht hergeben sollen, oder?“

„Nein, glücklicherweise nicht.“ Amy war sich bewusst, dass sie nun ebenfalls rot anlief. Natürlich fühlte sie sich schuldig. Wenn Sarah gewusst hätte, was in Major Lyndhursts Schlafzimmer geschehen war … Dieser Unbekannte war wahrscheinlich der einzige Gentleman in diesem Haus, der ihre Tarnung durchschaute. Sie musste schlucken, wenn sie an seine durchdringenden Blicke dachte. Er war gänzlich nackt gewesen, aber sie war es, die sich verlegen verhalten hatte. Er wirkte stolz, sogar arrogant. Sein Anblick hatte sie schockiert, und dennoch … Sie hatte nie für möglich gehalten, dass der Körper eines Mannes so schön war. Noch immer war ihr, als ob sich seine Berührung in ihre Haut eingebrannt hätte. Es war, als ob die Wärme seiner Finger …

„Amy?“

Amy schreckte aus ihren Gedanken und sagte: „Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Mühe es bereitet, in diesem Haus den gierigen Händen zu entkommen, Sarah. Erst war da dieser abscheuliche Grant. Ich bin weiß Gott froh, dass er weg ist, aber sein ehemaliger Herr ist aus demselben Holz geschnitzt. Ich hatte eben eine Begegnung der besonderen Art mit William Lyndhurst-Flint, als ich dein Frühstückstablett vorbeitrug. Er stellte sich hinter mich und legte seine Hand auf …“ Sie erschauderte. „Wenn ich gekonnt hätte, wie ich wollte, hätte ich ihm deine heiße Schokolade über den Kopf geschüttet. Er ist widerwärtig.“

„Vielleicht hat er erkannt, wie hübsch du hinter diesen grässlichen Brillengläsern aussiehst.“

„Sarah! Willst du ihn etwa verteidigen? Er hat nicht die geringste Ahnung, wie ich in Wahrheit aussehe. Er hat mir nicht ein einziges Mal ins Gesicht geblickt.“ Amy ignorierte Sarahs verschämtes Gekicher, denn sie hatte sich gerade warm geredet. „Bei den anderen Dienstmädchen verhält er sich genauso. Immer berührt er sie oder stößt rein zufällig mit ihnen zusammen. Gestern habe ich gesehen, wie er gerade eine Hand unter das Mieder eines Hausmädchens schieben wollte. Wenn ich nicht hinzugekommen wäre …“

„Amy! Bitte nimm dich bloß vor ihm in Acht!“

„Mach dir keine Sorgen, Sarah. Ich habe mich genauso verhalten, wie es sich für eine sittsame Zofe geziemt. Ich gab einen entsetzten Schrei von mir und musterte die beiden mit gerümpfter Nase. Du wärest stolz auf mich gewesen. Und das Mädchen wird sich bestimmt Mühe geben, künftig einen großen Bogen um ihn zu machen.“ Sie hielt inne. „Wirst du es deinem Mann erzählen?“

Sarah zögerte. „Nein, besser nicht“, erwiderte sie schließlich. „Ich glaube, das ist kein geeigneter Zeitpunkt. John und William haben ohnehin jede Menge Differenzen. Selbst wenn John das alles glauben würde, er will William sicherlich nicht gerade jetzt zur Rede stellen. Es gab in der letzten Zeit so viel Streit, musst du wissen. Und John weiß, wie traurig es mich macht, Streit unter Brüdern zu erleben, insbesondere, wo es meine Schuld ist.“

Amy hob erstaunt die Augenbrauen.

„John hat lange verkündet, dass er nie wieder heiraten würde und dass folglich William sein Erbe werden würde. Und William hatte sich offenkundig an diesen Gedanken gewöhnt. Als John und ich heirateten und dann unsere beiden Jungen geboren wurden, hat sich William benachteiligt gefühlt. John hat deshalb noch immer ein schlechtes Gewissen.“

„Und das entschuldigt in seinen Augen, dass der Bruder jedem Dienstmädchen nachstellt?“

„Oh, das gewiss nicht.“

Amy schüttelte den Kopf. „Bei William scheint es wie eine zwanghafte Reaktion zu sein. Sobald er weibliche Formen erblickt, muss er sie anfassen.“

„Bei Damen nicht, Amy.“

„Nicht? Vielleicht lassen sich seine Bedürfnisse bei den Dienstmädchen stillen. Bei denen muss er sich nicht zurückhalten … Bei uns muss er sich nicht zusammenreißen.“ Sie verzog das Gesicht, als sie daran dachte, welche Stellung sie jetzt einnahm, wenn es auch nur vorübergehender Natur war.

Die Countess nippte genussvoll an ihrer heißen Schokolade. „Es wäre besser gewesen, du hättest dich als Gouvernante oder Gesellschafterin ausgegeben. Dann hätte dich William mit Sicherheit wie eine Dame behandelt.“

„Möglicherweise. Aber das hätte mir überhaupt nicht weitergeholfen. Wie hätte ich in dieser Rolle etwas über Neds Verschwinden herausfinden sollen? Als deine Zofe kann ich unten im Dienstbotentrakt erscheinen und mich dort umhören, ohne aufzufallen. Und stets habe ich eine geeignete Ausrede, wenn ich da angetroffen werde, wo ich mich nicht aufhalten sollte. Wenn ich ein Schlafzimmer durchsuchen will, gehe ich einfach kühn hinein und tue so, als ob es das Normalste von der Welt wäre. Bisher …“ Sie machte eine Pause, blickte zu Boden und kreuzte ihre Finger hinter dem Rücken. „Bisher waren alle Räume leer. Aber falls ich jemanden antreffe, kann ich stets behaupten, ich wäre auf einem Botengang für dich unterwegs und hätte mich im Zimmer geirrt. Eine Gouvernante befände sich da gewiss in anderen Erklärungsnöten! Oder gar eine Gesellschafterin! Niemand würde ihr ein solches Märchen abkaufen.“

„Ja, das stimmt natürlich. Du hast mich auch zunächst mit deinem Schauspieltalent völlig überzeugt. Das war allerdings, bevor du die Zofenrolle in der Realität spielen musstest! Ich hätte nie gedacht, dass es so schwierig werden würde. Und so gefährlich. Wenn du auffliegst, ist dein Ruf ruiniert.“

„Das ist mir bewusst. Und das Leben im Dienstbotentrakt ist … ist anders, als ich erwartet hatte. Dort gibt es sogar noch mehr Regeln, als wir sie haben! Nur deinetwegen habe ich meine Maske nicht schon kurz nach unserer Ankunft abgelegen müssen. Glücklicherweise bist du im Haus die ranghöchste Dame, weshalb ich in der Rangordnung vor den anderen weiblichen Bediensteten stehe. Wenn ich nicht begreife, wovon die Rede ist, tue ich einfach, als ob es unter meiner Würde wäre.“ Amy kicherte nervös. „Ich kann dir sagen, meine Liebe, dass ich schon zwei-, dreimal nicht wusste, worüber sie reden. Ich habe dann die Nase hochgehoben und der Haushälterin von oben herab erklärt, dass wir es in Mardon Park anders halten. Es war bloß gut, dass der Diener deines Mannes nicht zugegen war, als ich diese Ammenmärchen auftischte.“

„Amy Devereaux, es wird noch schlimm mit dir enden!“

„Zweifelsohne“, entgegnete Amy mit einem verschwörerischen Lächeln. „Besonders, wenn jemand hört, dass du mich mit diesem Namen anredest. Ich bin Dent, die Zofe, wenn es Ihnen recht ist, Mylady. Amelia Dent.“ Sie langte nach Sarahs Morgenrock. „Und darf ich nun, sofern Ihre Ladyschaft Ihr Frühstück beendet hat, nach dem Dienstmädchen läuten, damit das Tablett abgeräumt wird? Und welches Kleid möchte Ihre Ladyschaft für heute Morgen herausgelegt bekommen?“

Durch das geöffnete Fenster hörte man eine Kutsche an der Auffahrt Halt machen. „Um Himmels willen!“, rief Sarah. „Wer kann das sein? Großtante Harriet wird doch nicht schon eintreffen!“

Amy reichte Sarah den Morgenrock und trat ans Fenster. „Von hier aus kann ich leider nichts erkennen. Allerdings gehe ich gern hinunter und finde heraus, um wen es sich handelt.“

„Ja, tu das bitte. Falls es Großtante Harriet ist, wird sie keine eigene Zofe mitgebracht haben. Wenn jemand dich fragt, sage einfach, dass … dass ich dich geschickt hätte, um Miss Lyndhurst nach der langen und ermüdenden Reise Hilfe anzubieten.“

Amy lachte. „Aus dir ist in der kurzen Zeit auch schon eine vollendete Lügnerin geworden, Sarah. Aber danke. Je mehr Entschuldigungen ich habe, um mich in der Nähe der Gäste aufzuhalten, desto größer sind meine Chancen, etwas darüber herauszufinden, was Ned hier entdeckt hat. Ich bin mir ganz sicher, dass es etwas in diesem Haus sein muss. Etwas Wichtiges und Gefährliches.“

„Sei bloß vorsichtig, Amy. Wenn Ned recht hatte … denk doch nur. Wenn Ned tatsächlich entführt worden ist, wie du befürchtest, schwebst du genauso in Gefahr. Wäre es nicht besser, John die ganze Geschichte anzuvertrauen? Ich bin mir sicher, dass er dir helfen würde.“

„Wenn er nicht erst einmal einen Schlaganfall bekommt, sobald er erfährt, dass sich die beste Freundin seiner Frau als Dienstbotin verkleidet hat.“ Als sie Sarahs schmerzverzerrte Miene bemerkte, fuhr Amy in ernsterem Tonfall fort: „Ich kann deinem Mann nicht alles anvertrauen. Ich habe ja gar nichts in Händen, Sarah. Ich könnte nicht mehr berichten, als dass Ned mir geschrieben hat, dass er in Lyndhurst Chase etwas Nebulöses entdeckt hat und mir alles ausführlich erzählen würde, sobald er wieder daheim wäre. Und dass er nicht zurückgekehrt ist. Ich spüre zwar, dass ihm etwas zugestoßen sein muss, aber es basiert allein auf der Tatsache, dass ich Ned so genau kenne. Jeder andere nähme vermutlich an, er würde sich einfach irgendwo herumtreiben, vielleicht mit seinen Freunden die Zeit am Spieltisch verbringen und hätte schlicht versäumt, mich von seinen geänderten Plänen in Kenntnis zu setzen. Und das mag ja auch stimmen. Ich habe nur das ungute Gefühl, dass es sich anders verhält.“

„Aber du hast auch nichts herausgefunden, oder?“

„Nichts über Neds Aufenthaltsort, zugegebenermaßen. Allerdings habe ich mitangehört, wie sich Lady Townend über Ned beschwert hat. Sie sagte, er habe Lyndhurst Chase ohne ein Wort des Abschieds verlassen. Sie meinte, er wäre unverzeihlich unhöflich. Ich gebe zu, dass Ned sehr leichtsinnig und egoistisch sein kann, aber sogar Ned wahrt ein paar Anstandsregeln. Auf jeden Fall hätte er sich ordnungsgemäß verabschiedet. Es sei denn, ihn hat jemand davon abgehalten.“

„Ja, ich verstehe. Und was hat das deines Erachtens zu bedeuten?“

„Es heißt, dass Ned etwas zugestoßen ist. Und zwar hier, in Lyndhurst Chase, und wahrscheinlich als er gerade abreisen wollte. Was auch immer er entdeckt hat, es muss wichtig genug gewesen sein, um eine Entführung zu rechtfertigen. Ich hoffe nur, dass er noch am Leben ist.“

„Amy, du glaubst doch nicht etwa …?“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Sarah. Ich bete einfach nur, dass Ned, egal wo er sich jetzt gerade befindet, nicht ernsthaft zu Schaden gekommen ist.“ Amy schluckte schwer, um gegen das niederschmetternde Gefühl und die Ängste um ihren Bruder anzukämpfen. Niemand hat ihm etwas Böses angetan. Oder etwa doch? Er ist doch trotz all seiner Fehler nicht mehr als ein gedankenloser Junge.

Amy wischte sich die feuchten Handflächen an der Schürze ab. Sie musste aufhören zu grübeln und etwas unternehmen. „Wenn ich einen dienstbeflissenen Eindruck erwecken möchte, gehe ich jetzt besser zu den neuen Gästen hinunter. Der Gedanke, aufgrund meiner Verspätung bei Miss Lyndhurst in Ungnade zu fallen, behagt mir nicht. Ich habe nicht vergessen, was sie für ein strenges Regiment führt.“

Bei diesen Worten lächelte Sarah wieder. Amy war froh, dass die Besorgnis aus der Miene ihrer Freundin verschwand. Es reichte vollkommen, dass sie selbst solche Ängste um Ned ausstand. Sie musste nicht auch noch Sarah mit ihrer Nervosität anstecken.

„Amy!“

Amy war bereits auf halbem Weg zur Tür.

„Denk bitte daran, meine Liebe, dass Miss Lyndhurst ihr Gift an dir erproben wird. Du musst bei ihr unbedingt darauf achten, dich wie eine Bedienstete und nicht wie eine Dame zu verhalten.“

Amy knickste gesittet. „Ja, Mylady. Natürlich, Mylady. Ich habe mein Handwerk an der Seite Ihrer Ladyschaft gelernt. Wie könnte mein Benehmen da anders sein als das einer perfekten Zofe?“ Sie knickste erneut, wobei sie sich ein freches Grinsen erlaubte.

Mit gespielter Verzweiflung schüttelte Sarah den Kopf. „Ich weiß, dass ich meiner Zofe niemals hätte erlauben dürfen, mit mir zu frühstücken.“

2. KAPITEL

Ganz sicher nicht! In meinem Alter bin ich auf ein wenig mehr Rücksichtnahme angewiesen. Ich verlange ein Schlafzimmer im ersten Stock!“

„Wie du möchtest, Tante Harriet.“ Major Lyndhurst wirkte außergewöhnlich erbost, während er auf die kleine Gestalt der betagten Großtante herabschaute.

„So geziemt es sich, in der Tat!“ Miss Lyndhurst blickte sich nach ihrer Gesellschafterin um. Die Frau machte den Eindruck, als ob sie im Erdboden versinken wollte. Immerfort starrte sie zu Boden, und ihr Gesicht war beinahe vollständig von der breiten Krempe ihres dunkelblauen Hutes verdeckt. Amy hätte nicht sagen können, ob sie alt oder jung war. Auf jeden Fall war sie genauso schlank wie ihre Herrin. Amy empfand eine spontane Sympathie für sie. Es musste ein Albtraum sein, für einen alten Drachen wie Miss Lyndhurst zu arbeiten. Zweifelsohne war die Gesellschafterin völlig mittellos und hatte keine andere Wahl.

Bei diesem Gedanken musste Amy schwer schlucken. Wenn Ned etwas Ernsthaftes zugestoßen war, würde ihr ebenfalls nicht viel anderes übrig bleiben, als für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Auf jeden Fall würde sie das versuchen.

Major Lyndhurst schien ihr Erscheinen gar nicht wahrgenommen zu haben. Sein Gesicht hatte einen ausgesprochen düsteren Ausdruck angenommen.

Mit ihrem Messinghörrohr stieß Miss Lyndhurst ihm gegen die Brust. „Willst du mich hier den ganzen Tag stehen lassen, Anthony? Ich dachte, deine Mutter hätte dir bessere Manieren beigebracht.“

Major Lyndhurst warf der alten Dame einen schiefen Seitenblick zu. Es war ein fragender Blick, wie es Amy schien, aber darin lag auch etwas Bedrohliches, oder genauer gesagt Finsteres.

„Ich hatte meine Haushälterin angewiesen, für dich ein Zimmer im zweiten Stock fertig zu machen, sodass du nicht vom Kommen und Gehen in den unteren Räumen gestört würdest. Derzeit sind alle Räumlichkeiten im ersten Stock belegt und …“

Miss Lyndhurst fuchtelte aufgebracht mit ihrem Hörrohr herum, was den Hausherrn veranlasste, einen Schritt zurückzuweichen. „Papperlapapp! Verschone mich mit deinen faulen Ausreden, Junge. Quartiere einfach irgendwelche Gäste woanders ein!“

„Wie du wünschst, Tante“, erwiderte er tonlos. „Ich werde William bitten, das Zimmer zu wechseln. Allerdings kann ich sonst niemanden aus dem ersten Stock ausquartieren, um deiner Gesellschafterin ein angemessenes Zimmer anzubieten. Sie wird also in einer der oberen Etagen untergebracht.“

„Das kommt gar nicht infrage“, protestierte die alte Dame. „Miss Saunders wird in meinem Ankleidezimmer schlafen. Ich nehme an, dass du immerhin in der Lage sein wirst, mir ein Zimmer mit Ankleide anzubieten, oder nicht?“

Der Major funkelte sie zornig an. Einen Augenblick lang schwieg er. Schließlich sagte er mit frostiger Stimme: „In deinem Ankleidezimmer soll sie also schlafen, Tante? Wie … ungewöhnlich. Wenn du mich vorgewarnt hättest, welche … äh … originellen Anforderungen für deine Gesellschafterin gelten, hätte ich bereits im Vorfeld alles entsprechend in die Wege geleitet.“

Miss Lyndhurst starrte ihn ärgerlich an, erwiderte aber nichts. Stattdessen tippte sie missmutig und ungeduldig mit dem Fuß auf.

Als ihm Amys Gegenwart schließlich bewusst wurde, fragte der Major kurz angebunden: „Hat Lady Mardon Sie geschickt? Gut. Führen Sie Miss Lyndhurst und ihre Begleiterin nach oben in das Damenzimmer. Und anschließend informieren Sie bitte die Haushälterin, damit Mr. Lyndhurst-Flints Gepäck umquartiert und sein Zimmer für Miss Lyndhurst und ihre Gesellschafterin vorbereitet wird.“ Er warf der verschämten Gesellschafterin einen ärgerlichen Blick zu. Amy hätte schwören könne, dass er vor Wut kochte. Aber warum?

Gehorsam knickste Amy und trat einen Schritt vor. „Würden Sie mir bitte dort entlang folgen, Madam? Das Damenzimmer befindet sich im ersten Stock mit Blick auf den Park.“

Miss Lyndhurst machte keinerlei Anstalten sich zu bewegen. Mit ihren glänzenden dunklen Augen musterte sie Amy von Kopf bis Fuß. Amy brach der Schweiß aus. Miss Lyndhurst war zweifelsohne ein echter Besen, eine Plage für jeden Bediensteten. Amy nahm sich vor, von nun an besonders vorsichtig zu sein.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, wollte die alte Dame wissen.

„Dent, Madam. Ich bin Lady Mardons Zofe.“

Miss Lyndhurst zog eine Augenbraue hoch. „Sieht so die Zofe einer Countess aus?“ Sie zog einen Handschuh aus und befühlte abschätzig den Stoff von Amys Kleid. „Was für eine Zofe trägt denn so etwas? Das würde ich nicht einmal ein Spülmädchen tragen lassen. Ich weiß ja, was Lady Mardon für einen Ruf genießt …“

„Tante Harriet!“ Ein warnender Tonfall lag in der Stimme des Majors.

„Hm! Aber sogar Lady Mardon sollte es besser wissen. Ich werde mit ihr darüber sprechen. Und zwar sofort. Wo ist sie?“

„Ihre Ladyschaft nimmt gerade in ihrem Schlafzimmer das Frühstück ein, Madam. Da ihr bekannt war, dass Sie keine eigene Zofe mitbringen würden, schickte sie mich hinunter, damit ich Ihnen meine Hilfe anbiete.“

„Ich brauche keine Zofe“, fuhr die alte Dame sie an. „Miss Saunders wird sich um alles kümmern, was ich benötige. Dazu ist eine Gesellschafterin schließlich da.“ Entschlossenen Schritts ging sie in Richtung der Treppe. Dann warf sie ihrem Großneffen noch einen eigenartigen Blick zu und ergänzte: „Oder irre ich mich, Anthony?“ Sie wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern gab ihrer Gesellschafterin ein ungeduldiges Zeichen, ihr zu folgen.

Amy wunderte sich. Übellaunig starrte der Major auf Miss Lyndhursts Rücken. Zweifellos besaß sie eine herausfordernde Art, aber bislang hatte der Major sich gegenüber allen Gästen als perfekter Gastgeber gezeigt, sogar dann, wenn sie sich ausgesprochen provokant aufgeführt hatten. Doch jetzt schien ihn eine einzelne alte Dame mit ihrer Sturheit und ein paar unfreundlichen Worten fast zum Explodieren zu bringen.

„Dort entlang, Madam“, wies Amy höflich den Weg.

Miss Lyndhurst nickte knapp. Mit einem flüchtigen Lächeln folgte sie Amy und erklomm die Stufen. Ihre schweigsame Gesellschafterin, die den Kopf nach wie vor gesenkt hielt, folgte ihr auf den Fersen.

„Miss Lyndhurst ist angekommen, Sarah.“

Lady Mardon warf nur einen kurzen Blick auf Amys Miene und bemerkte mitfühlend: „Offenkundig hat sie schon einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Du bist kreidebleich.“

„Die Großtante deines Gatten hat eine Zunge, die spitzer und schärfer ist als jedes Schlachtermesser.“

„Ja, ich weiß. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie mich inzwischen an Johns Seite akzeptiert. Sie hat sich zwar nach unserer Hochzeit in ihr Haus in Cornwall zurückgezogen, aber sie hat mehr als deutlich gemacht, dass … Naja, vielleicht verhält es sich inzwischen anders. Immerhin habe ich John zwei Söhne geschenkt. Seine erste Frau hat das nicht getan, trotz ihrer großartigen Ahnentafel.“

„Ich glaube, das Problem liegt derzeit woanders. Ich muss dich vorwarnen, weil sie vorhat, dich meinetwegen zu tadeln. Sie hält mich für vollkommen unpassend gekleidet.“

„Wenn es weiter nichts ist!“ Sarah lächelte. „Damit kann ich umgehen. Ich werde ihr erzählen, dass du über herausragende Fähigkeiten und großen Diensteifer verfügst, dass dir aber deine Frömmigkeit gebietet, dich schlicht und demütig zu kleiden. Du solltest allerdings halbwegs bibelfest wirken, falls sie dich mit irgendwelchen Zitaten auf die Probe stellt. Und damit musst du ganz fest rechnen.“

„Du machst einen sehr zuversichtlichen Eindruck, Sarah. Was ist, wenn sie …?“

„Ich komme mit allen Streitanlässen klar, meine Liebe, außer wenn sie mir vorwirft, nicht die passende Frau für einen Earl zu sein. Sollte sie es wagen, etwas in dieser Art anzudeuten …“

Besänftigend legte Amy eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin. „Das wird sie nicht tun. Warum sollte sie auch? Du hast John überglücklich gemacht und hast ihm überdies zwei gesunde Erben geschenkt. Miss Lyndhurst wird keine Zweifel mehr hegen, sobald sie sieht, wie gut ihr beiden zusammenpasst.“

„Vielleicht. Ich nehme allerdings an, dass sie grundsätzlich nicht viel von der Ehe hält. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber auf jeden Fall wurde sie zugunsten einer reicheren Frau sitzen gelassen, als sie noch ganz jung war. Damals soll sie sich geschworen haben, in ihrem Leben niemals einem Mann das Regiment zu überlassen. Als ihr ehemaliger Verlobter im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fiel, hat sie ihm angeblich keine Träne nachgeweint. Ich vermute, dass sie ihn nicht wirklich geliebt hat.“

„Wenn er einfach eine andere geheiratet hat, würde ich eher sagen, er hat sie nicht wirklich geliebt, Sarah.“

„Auch heutzutage ist es nicht immer möglich, aus Liebe zu heiraten, Amy. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Nimm dich zum Beispiel. Wenn Ned …“

„Ich habe nicht vor, zu diesem Zeitpunkt über meine düsteren Aussichten zu sprechen, Sarah. Ich möchte erst einmal herausfinden, was mit meinem Bruder passiert ist.“ Sie lachte ein wenig bitter. „Mit viel Glück ist meine Mitgift noch unangetastet, auch wenn es nicht viel ist. Ich hoffe es zumindest. Möglicherweise muss ich sie einsetzen, um Neds Freiheit zu erkaufen.“

„Das kannst du nicht machen! Ohne Mitgift hast du …“

Amy zuckte mit den Schultern. „Mir ist schon klar, dass meine Chancen, eine gute Partie zu machen, täglich schwinden. Mittlerweile liegt meine erste Saison immerhin sieben Jahre zurück. Vielleicht kommt mir ja die praktische Erfahrung als Zofe noch zugute. Wer weiß? Es kann ja sein, dass dies eines Tages tatsächlich zu meinem Beruf wird.“

„Unsinn! Das werde ich niemals zulassen, und John wird das ebenso wenig gestatten. Du kannst immer bei uns wohnen. Die Jungen würden sich wie Schneekönige freuen.“

„Deine Söhne haben bereits eine hervorragende Gouvernante, die nach ihnen sieht. Sie brauchen nicht noch eine weitere.“

Sarah ignorierte ihren Einwand. „Ich würde mich ebenfalls sehr freuen, wenn du zu uns zögest.“

„Dann wäre ich also Gesellschafterin“, schlussfolgerte Amy. „Ich sollte Miss Saunders aufmerksam beobachten, um zu sehen, wie man sich in dieser Rolle benimmt. Was meinst du, verwandelst du dich dann auch in so eine Furie wie Miss Lyndhurst?“

„Natürlich. Wie könnte es anders sein?“ Sarah bemühte sich ernst zu bleiben, scheiterte allerdings.

Und Dent, die fromme Zofe, fiel sofort in ihr Gelächter ein.

Amy hatte das Schlafzimmer der Countess kaum verlassen, als sie beinahe mit einer kleinen, in Schwarz gekleideten Gestalt zusammenstieß, die aus der Tür zur Hintertreppe eilte.

„Oh, Sie sind es, Miss Dent. Gott sei Dank.“ Die Haushälterin keuchte noch von der Anstrengung, die ihr das hastige Treppensteigen bereitet hatte. Sie ließ ihre Blicke in Richtung der Haupttreppe schweifen, als ob sie nach jemandem Ausschau hielte. Doch es war niemand in Sicht.

„Ist alles in Ordnung, Mrs. Waller?“, erkundigte sich Amy freundlich. „Sie wirken ein wenig angespannt, wenn ich das so sagen darf.“

„Das stimmt, das ginge Ihnen ganz ähnlich, wenn …“ Sie brach den Satz ab und schaute sich unruhig um. Noch immer war niemand zu sehen. „Ich versuche, diesen übergeschnappten jungen Lakai zu finden, der zu Mr. Williams neuem Diener erklärt wurde. Der Himmel weiß, wo er wieder steckt! Er hält sich für was Besseres, seit Grant entlassen wurde und er seine Stellung eingenommen hat. Es ist seine Aufgabe, die Sachen von Mr. William nach oben zu tragen und nicht meine. Bisher ist nichts geschehen, und zu allem Überfluss wirkt Miss Lyndhurst jede Sekunde gereizter.“

Amy lächelte und nickte der älteren Frau aufmunternd zu. Sie hoffte, mit dieser Geste die richtige Mischung aus Zuversicht und Mitgefühl zu demonstrieren. „Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Amy war froh, dass sich die Miene der Haushälterin ein wenig entspannte. Das war eine Gelegenheit, die sie nutzen musste. „Ich habe Miss Lyndhurst und ihre Gesellschafterin ins Damenzimmer gebracht, wie Sie sicher wissen, und Miss Lyndhurst … Nun, ehrlich gesagt machte Miss Lyndhurst den Eindruck, als ob sie nicht gewillt wäre, länger als zwei Minuten auf das Herrichten ihres Zimmers zu warten. Ohne Mr. Williams Diener ist das in der Tat nicht in solcher Eile zu bewerkstelligen. Aber vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein? Wenigstens, bis der neue Diener auftaucht?“

„Das ist sehr nett von Ihnen, Miss Dent. Sie wissen ja, dass ich den Zimmermädchen nicht auftragen kann, Mr. Williams feine Kleidung zusammenzupacken. Nachher beschwert er sich wieder, dass etwas Schaden genommen hätte. Wenn Sie mir beim Zusammenlegen helfen könnten, wären wir sicherlich im Nu fertig. Ich muss nur noch den Mädchen Anweisungen geben, das Bett zu machen und das neue Zimmer zu lüften, und dann können wir sofort anfangen, für Mr. William zu packen.“

„Natürlich, Mrs. Waller. Ich helfe Ihnen gern. Ich kann auch einfach schon mit dem Zusammenlegen beginnen, während Sie den Mädchen Bescheid geben. Dann gewinnen wir ein wenig Zeit, oder nicht? Ich habe Miss Lyndhursts spitze Zunge bereits heute Morgen zu spüren bekommen. Je schneller das Zimmer bezugsfertig ist, desto größer ist für alle die Chance, ihrem Tadel zu entgehen.“

Die Haushälterin strahlte sie an. „Sie sind ein Schatz, Miss Dent! Vielen Dank. Ich brauche nur ein paar Minuten … vorausgesetzt, ich finde die Mädchen dort vor, wo sie sein sollten. Die meisten von ihnen sind sehr flatterhaft, das kann ich Ihnen sagen. Wenn ich nicht alles überwachte, lägen überall Staub und Dreck herum. Als ich mit meiner Tätigkeit hier begonnen habe, herrschte noch eine andere Gründlichkeit.“

„Bei uns war es ebenso“, stimmte Amy energisch zu. „Uns wurde noch der Wert harter Arbeit vermittelt. Und außerdem galten klare Grundsätze. Gottesfurcht und Ordnung sind das halbe Leben.“

„Genauso ist es“, bestätigte Mrs. Waller. „Aber ich sollte jetzt besser gehen. Ich komme so rasch wie möglich in Mr. Williams Zimmer nach.“

„Welches Zimmer ist das von Mr. William, Mrs. Waller?“ Die Haushälterin sollte nicht erfahren, dass Amy längst wusste, wo alle Gäste des Hauses untergebracht waren.

„Oh, entschuldigen Sie, Miss Dent. Das habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Sie können das natürlich nicht wissen. Mr. William hat das gelbe Schlafzimmer, direkt neben dem Damenzimmer. Er wird ein Stockwerk höher ziehen, in das Zimmer, das direkt über dem des Majors liegt.“

„In Ordnung, ich werde mich sofort ans Werk machen.“ Amy steuerte auf die Tür zu, die zur Hintertreppe führte. Im letzten Moment trat sie zur Seite. „Nach Ihnen, Mrs. Waller“, sagte sie. Damit zollte sie dem Rang der Haushälterin unter den Bediensteten des Hauses ihren Respekt. Mrs. Waller errötete vor Freude und stapfte unter Dankesgemurmel die Treppe hinunter.

Amy folgte ihr bis zum ersten Stock. Ihr blieben fünf Minuten, höchstens zehn, um Mr. Lyndhurst-Flints Zimmer zu durchsuchen. Diesmal hatte sie wenigstens eine gute Entschuldigung, wenn sie erwischt wurde. Und die allseits respektierte Haushälterin würde ihre Angaben bezeugen.

Amy legte den ersten Stapel Hemden heraus und ergriff den nächsten. Ganz offenkundig sparte Mr. Lyndhurst-Flint bei seiner Kleidung nicht an der Stoffqualität. Einen Moment lang fuhr sie mit einer Handfläche über das weiche Tuch. Ihr Bruder Ned besaß nichts, was auch nur halb so kostspielig war. Überhaupt gelang es Amy nur, die Rolle einer Zofe glaubwürdig zu spielen, weil sich die Devereaux seit geraumer Zeit in einer finanziell schwierigen Situation befand und sie zu Hause hatte lernen müssen, selbst die Ärmel hochzukrempeln.

Mit dem Stapel Hemden in den Händen ging Amy zu dem zierlichen Schreibtisch neben der Tür zum Ankleidezimmer. Dort lagen zahlreiche Papiere unordentlich übereinander, die nicht weggeräumt worden waren. Grant hätte es vielleicht getan, da er die Nachlässigkeit seines Herrn kannte, aber der junge Diener, der übergangsweise an seine Stelle getreten war, hatte sich wahrscheinlich nicht getraut, die Dokumente anzurühren.

Amy warf einen flüchtigen Blick in Richtung Zimmertür. Sie war nach wie vor fest geschlossen. Und mit den Hemden würde es so scheinen, als ob sie mit dem Packen beschäftigt wäre, wenn Mrs. Waller eintrat.

Amy blätterte die Papiere durch, um deren Inhalt zu überfliegen, ohne sie zu sehr durcheinander zu bringen. Bei den meisten handelte es sich um Rechnungen, zumeist über erhebliche Beträge. Außerdem gab es zwei oder drei belanglose Briefe und eine Einladung. Und ganz unten lag schließlich ein unfertiger Brief von Mr. Lyndhurst-Flint persönlich! Amy zog ihn heraus und las. Es schien …

Vom Gang her waren Stimmen zu hören. Männerstimmen! Hastig schob Amy den Briefbogen an seinen Platz zurück und ging mit den Hemden in Richtung Tür.

Die Stimmen wurden deutlicher. Mit einem Ohr gegen eine Ritze im Holz gelehnt, konnte sie jedes Wort verstehen.

Mr. Lyndhurst-Flint stand offenkundig unmittelbar vor der Tür. „Das war eine unerfreuliche Begegnung, Anthony, auch wenn es gut war, dass ich zugegen war. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hätten sie sich sicher an Ort und Stelle mit Pistolen duelliert. Stell dir vor, was das für einen Skandal gegeben hätte! Frobisher war völlig betrunken und konnte kaum mehr stehen. Und bei Marcus war es kaum besser.“

„Wir hatten schon genug Skandale, William“, erwiderte Major Lyndhurst verbittert. „Was zum Teufel hat Marcus bloß dazu gebracht?“

„Ich weiß es leider nicht. Er war an diesem Abend in einer sehr sonderbaren Stimmung. Das war gar nicht zu übersehen. Ich habe ihn noch nie so reden hören. Vielleicht kam es vom Alkohol. Marcus hat immer so auf Pflicht und Loyalität – vor allem dir gegenüber – gepocht, dass ich über seine Worte regelrecht entsetzt war. Und dann seine Bemerkungen über Georgiana …“

„Was? Was hat Marcus über meine Frau gesagt?“

„I…ich kann mich nicht mehr ganz genau erinnern, Anthony. Schau mich nicht so böse an. Ich war es nicht, der verächtlich über deine Gattin geredet hat, da kannst du ganz sicher sein.“

„Willst du mir etwa erzählen, dass es bei dieser Auseinandersetzung zwischen Marcus und Frobisher um meine Frau ging?“, polterte der Major.

„Nun … ja. Ich erinnere mich nicht mehr an jede Einzelheit. Ich hatte selbst einiges getrunken. Aber ich weiß noch, dass Frobisher aufstand und Marcus wegen dessen Redeweise getadelt hat. Worum es ganz genau ging, kann ich dir nicht sagen. Aber ich erinnere mich sehr gut an Marcus’ Drohung. Das würde niemand vergessen, der das miterlebt hat! Er stand da mit geöffnetem Mund, fletschte die Zähne wie ein tollwütiger Hund, und aus seinen Augen schienen Funken zu sprühen. Es sah aus, als hätte ein höllischer Dämon von ihm Besitz ergriffen. Er schwor, er würde Frobisher töten, wenn er ihm jemals wieder unter die Augen träte. Kein Zweifel, dass er es völlig ernst meinte. An Frobishers Stelle hätte ich klein beigegeben und schnell gesehen, dass ich fortkomme. Aber offenkundig hat er das nicht getan. Sonst würde er jetzt nicht in den letzten Zügen liegen.“

„Dieser verfluchte Frobisher!“

„Anthony! Wahrscheinlich stirbt der Mann! Und wenn Marcus tatsächlich dafür verantwortlich ist, sollten wir …“

„Genug, William! Ich möchte nichts mehr davon hören. Ich erlaube niemandem – absolut niemandem – schlecht über meine Frau zu reden.“

„Ja, aber was machen wir mit Marcus? Bestimmt wird er früher oder später gefasst. Und falls Frobisher stirbt, droht Marcus der Galgen.“

Es war keine Antwort zu vernehmen. Amy hörte lediglich Schritte, die sich entfernten. Es schien, als ob Major Lyndhurst ohne ein weiteres Wort weggegangen wäre. Was bedeutete, dass Mr. Lyndhurst-Flint allein zurückblieb.

Sie huschte schnell zum Kleiderschrank und stieß ein stilles Gebet gen Himmel, dass Mrs. Waller bald kommen möge. Denn wenn Mr. Lyndhurst-Flint hereinkam, war sie seinen ekelhaften Annäherungsversuchen hilflos ausgeliefert.

Als sie die Stimme der Haushälterin auf dem Korridor hörte, atmete Amy erleichtert auf. Sie war vor Mr. Lyndhurst-Flint sicher. Fürs Erste jedenfalls.

Marcus langweilte sich zu Tode. Außerdem verließ ihn allmählich der Mut. Wochen waren inzwischen vergangen, und noch immer gab es keine Nachricht. Warum war die Entscheidung nicht längst gefallen? Alles schien doch ganz einfach und eindeutig gewesen zu sein.

Es war nicht einfach. Ganz und gar nicht einfach und eindeutig. Und dass keine entlastenden Aussagen öffentlich wurden, gefährdete seine Beziehung zu Anthony. Wenn Anthony doch nur die ganze Wahrheit über das Vorgefallene wüsste … Aber niemand würde es wagen, ihm alles zu erzählen. Es war unmöglich, die furchtbaren Beleidigungen einem Mann von Ehre gegenüber zu wiederholen. Wenn Anthony erfuhr, was Frobisher über ihn geäußert hatte, würde er mit Sicherheit Genugtuung verlangen. Dann würde es noch mehr Blutvergießen geben.

Marcus stieß einen stummen Fluch aus. Es war alles seine Schuld. Er hätte besser darauf vorbereitet sein müssen. Er hätte Anthony eine plausible Erklärung für den Streit liefern müssen, eine, die Anthony ohne weitere Nachfragen akzeptiert hätte. Doch so, wie die Dinge lagen, hatten die in aller Hast zurechtgelegten Ausführungen Anthony nicht vollständig überzeugt, auch wenn er es nicht sofort zur Sprache gebracht hatte. Die Tage verstrichen, und Anthonys Vertrauen in seine Beteuerungen schien zu schwinden. Marcus konnte ihm das kaum verübeln. An Anthonys Stelle wären ihm dieselben Zweifel gekommen, egal wie groß ihre Freundschaft war.

Marcus fuhr fort, im Ankleidezimmer auf und ab zu laufen. Das stillte zwar in keiner Weise seinen Bewegungsdrang, war aber immerhin überhaupt eine Betätigung. Was hätte er nicht alles für einen wilden Galopp durch den nahen Wald gegeben!

Der bloße Gedanke an das Vergnügen, frische Luft zu atmen, ließ ihn laut aufniesen. Du liebe Zeit! Er würde doch nicht zu allem Überfluss auch noch krank werden? Das würde dem Fass den Boden ausschlagen! Er suchte nach einem Taschentuch. Er hatte keines dabei. Zu eilig und unvorbereitet war er aus London geflohen. Schon jetzt musste er hauptsächlich auf Wäsche zurückgreifen, die Anthony ihm lieh. Wobei er stets darauf achtete, dass die Bediensteten keinen Verdacht schöpften und nichts von seiner Anwesenheit im Haus mitbekamen. Da er nun schon einmal eines von Anthonys Hemden trug, konnte er sich ebenso gut eines seiner Taschentücher ausleihen.

Er zog die oberste Schublade der Kommode heraus und schob auf der Suche nach einem möglichst abgetragenen Exemplar einen Stapel sorgfältig gebügelter Stofftaschentücher beiseite.

Allerdings besaß Anthony weder alte noch verschlissene Taschentücher. Auch ganz zuunterst war alles makellos. Stattdessen fand er am Grund der Schublade eine winzige Miniatur, die eine attraktive dunkelhaarige Dame mit sehr hellem Teint zeigte.

Fasziniert nahm Marcus das Porträt aus der Schublade, um es genauer zu betrachten. Die Dame sah ganz entzückend aus, und überdies schien sie sehr jung zu sein – nicht älter als siebzehn oder achtzehn Jahre. Erst jetzt wurde Marcus klar, dass dies Anthonys rätselhafte Ehefrau sein musste, die Frau, die ihn ausgerechnet zu der Zeit verlassen hatte, als er auf Waterloos Schlachtfeldern für sein Land kämpfte.

Warum um alles in der Welt hatte Anthony das Bild aufbewahrt? Er konnte doch eine Frau, die ihn so schlecht behandelt hatte, nicht mehr lieben? Kein einziges Wort hatte sie in den vier langen Jahren von sich hören lassen, die seitdem vergangen waren. Sie hatte nichts unternommen, um die niederträchtigen Gerüchte im Keim zu ersticken, die in der Londoner Gesellschaft zum gängigen Ton gehörten. Der betrunkene Frobisher hatte in diesem Spielcasino nur skrupellos das nachgeplappert, was alle hinter vorgehaltener Hand von sich gaben: Dass Anthony Lyndhurst seine Frau ermordet hätte, nachdem er sie mit einem Liebhaber erwischt hatte. Und dass Anthony Lyndhurst anschließend dafür gesorgt hätte, dass der Geliebte seiner Gattin auf den Schlachtfeldern von Waterloo umkam. Kurz, dass Anthony Lyndhurst trotz seines Reichtums niemand war, mit dem ein Gentleman, der etwas auf sich hielt, Umgang pflegte.

Lügen! Kein einziges Wort davon entspricht der Wahrheit! Marcus wusste nur zu gut, dass es in ganz England keinen aufrichtigeren und ehrenwerteren Mann als Anthony Lyndhurst gab. Aber die geschwätzige Gesellschaft gab einem pikanten Gerücht in jedem Fall den Vorzug vor der offenkundigen Wahrheit. Allein durch die gebetsmühlenartige Wiederholung waren die infamen Verleumdungen zu einer Art Tatsache geworden.

Und alles nur, weil diese Frau sich weigerte, in Erscheinung zu treten und die ungeheuerlichen Behauptungen Lüge zu strafen!

Marcus wandte sich dem Fenster zu, um das Porträt der Frau intensiver in Augenschein zu nehmen, der Begriffe wie Pflicht und Loyalität fremd sein mussten. Er bemühte sich, heuchlerische oder lasterhafte Züge in ihrem Gesicht zu finden. Aber er fand keine. Es war ein freundliches Antlitz mit haselnussbraunen Augen, die dem Betrachter offen entgegenblickten. Auf dem Bildnis war kein Hinweis auf Verderbtheit zu erkennen.

Die Tür knallte mit voller Wucht zu. „Marcus!“, herrschte Anthony ihn an.

Marcus schreckte zusammen. Anthony schien außer sich vor Wut. Er bebte am ganzen Körper vor Zorn. Er warf Marcus einen hasserfüllten und, wie ihm schien, angewiderten Blick zu. Dann stapfte er ihm entgegen, riss ihm das Bild aus den erstarrten Fingern und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu.

Marcus war erschüttert. Selten hatte er Anthony derart aufgebracht erlebt. Anthony schien sich sonst stets unter Kontrolle zu haben. Doch als er die Miniatur ergriff, hatten seine Finger gezittert. Und auch jetzt machte er den Eindruck, als kämpfte er gegen übermächtige Gefühle an.

„Anthony, verzeih mir.“ Marcus trat einen Schritt auf seinen Cousin zu und berührte ihn leicht am Arm. „Ich wollte nicht herumschnüffeln. Ich habe es gefunden, als ich nach …“

Unwirsch schüttelte Anthony Marcus’ Hand ab. Er drehte sich nicht um. „Ich möchte nicht mit dir darüber reden, was du getan hast oder was du tun wolltest, Marcus. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Du kannst bloß von Glück sagen, dass mich mein Familiensinn dazu zwingt, dich nicht zu verraten.“

Vor Entsetzen verschlug es Marcus die Sprache. Das war doch nicht Anthony, sein Cousin und engster Freund, der da sprach. Er durfte nicht zulassen, dass sich eine solche Kluft zwischen ihnen auftat und noch dazu wegen einer treulosen Frau. Er holte tief Luft, um eine Entschuldigung hervorzubringen.

Doch es war längst zu spät. Anthony schob die Miniatur in die Innentasche seines Gehrocks und stapfte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Zimmer.

3. KAPITEL

Amy stützte ihre Ellbogen auf die Knie und ihr Gesicht auf die Hände. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Bislang hatte sie nichts herausgefunden, was den Aufwand wert gewesen wäre. Zwar hatte sie diesen unfertigen Brief in Mr. Lyndhurst-Flints Zimmer entdeckt, der gab keinerlei Aufschluss über Neds Verbleib.

Der einzige Raum, der jetzt noch blieb, war das Schlafzimmer des Majors. Die anderen hatte sie alle durchsucht – sogar das Arbeitszimmer und die Bibliothek im Erdgeschoss.

Sie wechselte die Lage auf der unbequemen dünnen Matratze. Sie wusste, dass sie sich über ihre Unterbringung nicht beschweren konnte. Immerhin hatte sie ein Zimmer für sich allein und noch dazu ein ziemlich geräumiges, mit Blick auf den langen, von Gras gesäumten Reitweg, der nach einer Meile zur nördlichen Pförtnerloge führte. Konnte Ned sich irgendwo in den Wäldern befinden, die entlang dieses Reitwegs lagen? Verletzt? Vielleicht sogar …? Amy erschauderte. Sie konnte doch nicht die ganze Gegend durchsuchen.

Sie sah sich gezwungen, sich auf das Haus zu konzentrieren. Ein weiteres Mal musste sie in Major Lyndhursts Schlafzimmer zurückkehren, in den Raum, in dem sie den rätselhaften Mitbewohner angetroffen hatte.

Amy merkte, dass ihr bei der Erinnerung an die Begegnung mit ihm ganz heiß wurde. Das kam natürlich durch die Verlegenheit. Es musste jedenfalls so sein. Sie hatte sich ausgesprochen dumm verhalten. Einfach stehen zu bleiben und zuzulassen, dass er seine Hände um ihre Schultern legte …

Um Himmels willen, nein! Diese Gedankenspiele waren wahrhaftig nicht der richtige Ansatz, um Ned zu retten.

Sie schwang die Beine von der Matratze und erhob sich. Ganz automatisch griff sie nach der Brille und glättete ihre Röcke. Sie vergewisserte sich, ein paar passende Bibelsprüche auf Lager zu haben, vorzugsweise aus dem Alten Testament. Amelia Dent sollte die Art von Mensch repräsentieren, die auf das Fegefeuer schwor und die Abtötung des Fleisches für unerlässlich hielt. Fleisch … Sie musste schwer schlucken, weil ihr in diesem Moment ein sehr lebendiges Bild vor Augen trat. Das Bild des nackten Mannes in Major Lyndhursts Schlafzimmer … Wenn er wenigstens fett, alt oder hässlich gewesen wäre. Aber nein, nichts davon war der Fall.

Und es war möglich, dass er sich nach wie vor dort aufhielt und ihr auflauerte, sobald sie das Zimmer betrat. Eigentlich durfte sie auf gar keinen Fall wieder hingehen.

Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig. Sie hatte keine andere Wahl.

Zum wiederholten Mal fragte sich Amy, warum sie Sarah nicht die ganze Geschichte gebeichtet hatte. Wahrscheinlich hätte Sarah ihr etwas über den rätselhaften Fremden erzählen können. Aber vielleicht auch nicht. Denn wenn sie etwas darüber wusste, hätte sie doch bestimmt davon gesprochen. Sarah pflegte keine Geheimnisse vor ihr zu haben, und es würde sie gewiss verletzen, wenn sie erfuhr, dass sie etwas vor ihr verbarg.

Nichtsdestotrotz fühlte Amy sich an das naive Versprechen gebunden, das sie dem Mann gegeben hatte. Und wenn sie ganz ehrlich war, faszinierte sie der Unbekannte. Warum hatte er ihr verboten, ihn gegenüber Major Lyndhurst zu erwähnen? Der Major musste doch in jedem Fall wissen, dass sich ein Fremder in seinem Schlafzimmer aufhielt. Und der Kammerdiener des Majors ebenso. Er musste doch …

Amy hielt inne und richtete ihre Haube gerade. Ja, Timms wusste mit Sicherheit Bescheid. Amy hatte mit angehört, wie er eines der jungen Stubenmädchen angewiesen hatte, das Schlafzimmer des Majors nur dann zu reinigen, wenn er selbst zugegen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte das in ihren Ohren sehr sonderbar geklungen. Sie hatte angenommen, Timms wolle das Eigentum seines Herrn schützend im Auge behalten und unbedingt verhindern, dass das Stubenmädchen irgendetwas Kostbares zerbrach. Aber was, wenn es um weit mehr ging? Sehr mysteriös. Ja, vieles in diesem Haus war und blieb nebulös. Genau, wie Ned es in seinem Brief beschrieben hatte.

Des Rätsels Lösung musste sich also in Major Lyndhursts Schlafzimmer befinden.

Sobald ich sicher sein kann, dass die Gäste sich im Erdgeschoss befinden, werde ich es herausfinden. Egal, welches Risiko ich dabei eingehe.

Als Amy erneut vor der Schlafzimmertür des Majors stand, hatte sie sich eingeredet, dass der ominöse Fremde längst verschwunden war. Seit ihrer Begegnung waren schließlich schon mehrere Tage vergangen. Es schien undenkbar, dass der Hausherr den Fremden für eine so lange Zeit in seinem Schlafzimmer verbarg. Möglicherweise war der Mann aus guten Gründen ein oder zwei Tage dort untergetaucht. Doch wer auch immer er war, inzwischen musste er sich längst aus dem Staub gemacht haben. Sie riskierte also nicht, ihn anzutreffen, wenn sie das Schlafzimmer des Majors durchsuchte. Alle anderen Überlegungen schienen abwegig. Trotzdem holte Amy tief Luft, bevor sie die Türklinke hinunterdrückte und das Zimmer betrat.

Sie war allein. Sie seufzte vernehmlich auf und lehnte sich erleichtert von innen gegen die Tür, wobei sie sich vorsichtig umblickte. Der Paravent war zusammengefaltet, und es war kein Badezuber zu sehen. Kein Kaminfeuer erhellte den Raum, aber die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf den See und den kleinen Tempel am anderen Ufer frei. Ein goldenes, leicht rötliches Abendlicht drang durch die Fenster. Es war ein normales und vollkommen leeres Schlafzimmer.

Dennoch blieb sie zögernd an der Tür stehen und lauschte angestrengt. Sie konnte einen Teil des Ankleidezimmers sehen, aber ohne dass sie es betrat und nachsah, besaß sie keine Gewissheit, allein zu sein. Was war, wenn der Unbekannte sich darin aufhielt?

Verhalte dich ganz ungezwungen. Geh einfach in das Ankleidezimmer, als ob du jedes Recht dazu hättest. Du wurdest geschickt, um ein … ein Taschentuch zu holen. Falls er sich tatsächlich darin befindet, weiß er nicht hundertprozentig, dass du schwindelst. Dann kannst du einfach ein Taschentuch nehmen und wieder verschwinden, bevor er irgendetwas dagegen unternehmen kann.

Sie drückte den Rücken durch und ging ziemlich langsam in das Ankleidezimmer. Sie schaute sich ruhig um, als ob sie nach dem Ort suchen würde, wo die Taschentücher aufbewahrt wurden. Dort war die Kommode! Und die große Kleidermangel, das schmale Bett des Dieners und all die anderen Utensilien, die in den Ankleideraum eines Gentlemans gehörten. Außer ihr befand sich niemand im Zimmer. Der Fremde war verschwunden.

„Gott sei Dank!“, flüsterte sie, weil sie ihrer Erleichterung Luft machen musste.

Es war nur ein kurzer Augenblick der Schwäche. Sie hatte keine Zeit, um an den rätselhaften Mann zu denken. Sie musste mit dem Suchen beginnen und zwar rasch. Eilig kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und schaute sich nach einem geeigneten Platz um, wo sie damit am sinnvollsten beginnen konnte. Ja, natürlich! Der kleine Schreibtisch am Fenster. Es war ohnehin ein eigenartiges Möbel für das Schlafzimmer eines Herrn. Immerhin erledigte der Major alle Verwaltungsarbeit im Arbeitszimmer des Erdgeschosses, zudem gab es einen Schreibtisch in der Bibliothek. Wenn er also hier, in der Zurückgezogenheit seines Schlafzimmers, Briefe oder Dokumente verfasste, musste es sich um Dinge handeln, die kein anderer zu Gesicht bekommen sollte.

Ja, wenn es überhaupt einen Hinweis gibt, dann in den Schubladen dieses Schreibtischs!

Anders als bei Mr. Lyndhurst-Flint war alles an seinem Platz. Es lagen keine Dokumente herum, nur ein paar Bögen unbeschriebenes Briefpapier, Federn und Tinte befanden sich auf der Tischfläche. Amy öffnete die breite Schublade in der Mitte. Sie enthielt weiteres Papier, Siegellack und anderes Schreibzubehör, sonst nichts. Sie schloss die Schublade behutsam, ohne ein Geräusch zu verursachen. Es gab noch zwei kleine Schubladen an jeder Seite. Sie versuchte, die obere auf der rechten Seite zu öffnen. Sie war abgeschlossen! Sie stieß einen leisen Fluch aus. Warum schloss jemand seine Schreibtischschublade zu, wenn niemand außer dem persönlichen Diener das Zimmer unbeaufsichtigt betreten durfte?

Amy wollte nicht aufgeben. Sie konnte es natürlich nicht wagen, das Schloss aufzubrechen. Aber vielleicht war der Schlüssel ganz in der Nähe versteckt? Fieberhaft durchsuchte sie erneut die unverschlossenen Schubladen.

„Haben Sie sich wieder verlaufen, Dent?“

Oh, nein!

„Für die Zofe einer hochgestellten Lady haben Sie einen einzigartig schlechten Orientierungssinn.“

Die tiefe Stimme ließ sie zusammenfahren. Er war da! Wieder! Sie hatte keine Ahnung, wo er herkam, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Er war da. Und er hatte sie dabei erwischt, wie sie Major Lyndhursts Schreibtisch durchsuchte. Gab es dafür irgendeine Entschuldigung? Sie presste die verschränkten Hände gegen ihren Körper, starrte auf die abgenutzte lederne Tischoberfläche und hoffte auf irgendeine Eingebung, die ihren nahenden Untergang noch abwenden konnte.

„Dent, es wäre ausgesprochen höflich, wenn Sie sich zu mir umdrehten und meine Frage beantworteten.“

Amy schluckte schwer und drehte sich langsam um, wobei sie kurz überlegte, was sie diesmal sehen würde. Was, wenn er …?

Er war angezogen, wenn auch nicht gerade ausgehfertig. Er trug Reithosen und ein weites Hemd, das am Hals offen war und den Blick auf den oberen Brustbereich freigab. Lässig lehnte er gegen die Tür des Ankleidezimmers, als ob seine Gegenwart das Normalste von der Welt wäre. Und mit seinen schlanken Fingern strich er wie abwesend über das nach wie vor unrasierte Kinn. Mit diesem Bartwuchs und dem langen dunklen Haar machte er einen ungemein gefährlichen Eindruck.

Er war gefährlich!

Sie starrte auf den Boden und schwieg.

Eine schier endlose Weile blieb er einfach reglos stehen. Amy hörte nur ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen.

Dann begann er schließlich zu sprechen. „Offenkundig haben Sie Ihre Sprache ebenso verloren wie Ihren Orientierungssinn.“ Er kam langsam auf sie zu. Seine Schritte verursachten keine Geräusche auf dem Teppich.

In diesem Augenblick wurde Amy klar, wie sich eine in die Ecke gedrängte Maus fühlen musste, wenn ein Kater auf sie zusprang. Aber dieser Kater stürzte sich nicht sofort auf sie. Er hielt inne und wartete.

„Haben Sie wirklich gar nichts dazu zu sagen?“, fragte er freundlich.

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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Joanna Maitland
Joanna wurde in Schottland mit schottischen und irischen Wurzeln geboren. Sie studierte einschließlich eines Jahres in Frankreich als Sprachassistentin für Englisch und einem Semester auf einer Universität in Deutschland moderne Sprachen und Geschichte auf der Glasgow Universität. Während dieser Phase erhielt sie Einblicke in die Essgewohnheiten Frankreichs und die Gepflogenheiten...
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