Historical Lords & Ladies Band 94

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LIEBESWUNDER IM SCHNEE von ANN LETHBRIDGE
Der Schneesturm heult über das Moor von Yorkshire, und verzweifelt versucht Merry Draycott, ihre verunglückte Kutsche freizubekommen. Da nähert sich Charles Mountford, Marquess of Tonbridge! Der ersehnte Retter – oder ein Mann, der Herz und Ruf in Gefahr bringt?

LORD CARLTONS HEIMLICHER EHESCHWUR von ANNE HARRIES
„Einer von euch muss meine Schwester Cassie heiraten.“ Fünf Gentlemen geben Jack Thornton ihr verschwiegenes Ehrenwort, bevor er in den Kampf zieht. Aber nur Lord Carlton ist überzeugt, dass er der Richtige für Cassandra ist. Doch darf er sie um ihre Hand bitten, solange ein dunkles Geheimnis ihn belastet?


  • Erscheinungstag 04.11.2022
  • Bandnummer 94
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511261
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ann Lethbridge, Anne Herries

HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 94

1. KAPITEL

Januar 1820

Nur ein pflichtbewusster Mann reiste im Januar. Hoch oben auf dem Sitz seiner Karriole, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um sich gegen die Kälte zu schützen, erkannte Charles Henry Beltane Mountford, Marquess of Tonbridge, die Ironie in den stolzen Worten seines Vaters. Was bleibt mir anderes übrig, als meine Pflicht zu erfüllen, wenn Robert wieder im Schoß der Familie aufgenommen werden soll? dachte Charles. Wenn er gefunden wurde. Nein, nicht wenn. Sobald er gefunden wurde.

Das Gesicht brennend vor Kälte, die Ohren vom eisigen Wind attackiert, wandte er seinen Blick von der Straße ab und schaute zum bleigrauen Himmel auf. Dann betrachtete er das öde Moor, das vor ihm lag.

Seit drei Jahren hatte er kein Lebenszeichen von seinem eigenwilligen Zwillingsbruder erhalten. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass Robert keinen körperlichen Schaden erlitten hatte. Aber wann immer er sich an den Blick des Bruders bei der letzten Begegnung erinnerte, wurde er von schmerzhaften Schuldgefühlen geplagt.

Was er damals gesagt hatte, war nicht richtig gewesen. Niemals hätte er versuchen dürfen, Robert das Pflichtbewusstsein aufzuzwingen, das er selber in so hohem Maße besaß. Äußerlich mochten sie einander gleichen, ihre Charaktere waren jedoch vollkommen unterschiedlich. Ihre Lebenswege folgten verschiedenen Richtungen, jeder spielte seine eigene Rolle.

Schließlich, nach jahrelangen Diskussionen und flehenden Bitten hatte Charles seine Seele verkauft und sich bereit erklärt, Robert heimzuholen. Zudem würde er Lady Allison besuchen und umwerben, weil sein Vater so großen Wert darauf legte. Schwerer denn je lasteten die Pflichten auf seinen Schultern, und die Kälte in seinem Innern erschien ihm noch frostiger als der Winter.

Verdammt, was in drei Teufels Namen war los mit ihm? Lady Allison, eine perfekt akzeptable junge Dame aus guter Familie, würde eine wunderbare Duchess abgeben. Und diese Ehe wäre nur ein kleines Opfer, das er bringen müsste, um Robert nach Hause zu locken und die Trauer aus den Augen seiner Mutter zu verbannen.

Eifrig bestrebt, das Gasthaus in Skepton noch vor dem Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, jagte er das müde Gespann über den Grat des Hügels. Was zum Teufel – ein Phaeton, der auf der Seite lag und die Straße versperrte … Die Räder hingen über dem Graben zur Linken. Unkontrolliert bäumten sich die Pferde auf.

Charles zog abrupt an den Zügeln, die Hengste strauchelten, und die Karriole neigte sich, sodass sie nur mehr auf einem Rad balancierte. Zum Glück landete sie alsbald auch auf dem zweiten und kam parallel zu dem Hindernis zum Stehen, nur wenige Zoll von einem jungen Mann in einem weiten Kutschermantel entfernt, der sich über die Geschirre des verängstigten Phaeton-Gespanns neigte, ohne die Gefahr zu bemerken.

Verdammt, welch ein Ärgernis … Charles sprang vom Wagensitz, die Zügel in der Faust, da er seine Pferde nirgendwo festbinden konnte. „Brauchen Sie Hilfe?“, überschrie er den heulenden Wind.

Der junge Mann fuhr herum. „Großer Gott, haben Sie mich erschreckt!“

Kein Mann. Ein Mädchen. Charles spürte, wie seine Kinnlade nach unten klappte. Unter dunklen Brauen weiteten sich die leuchtend blauen Augen der sichtlich verwirrten jungen Frau. Der Wind hatte ihre Wangen gerötet. Wild zerzaust umflatterte das schwarze Haar ihr ovales Gesicht. Perfekt, hörte Charles eine innere Stimme.

Die fein geschwungenen Brauen zogen sich zusammen, die junge Frau runzelte die hohe weiße Stirn. „Stehen Sie nicht einfach herum, Sie Schwachkopf! Wenn Sie ein Messer haben, helfen Sie mir, die vermaledeiten Zugriemen zu durchschneiden!“ Sie sprang über die Stangen und begann an den Lederriemen auf der anderen Seite zu sägen, mit einem Werkzeug, das wie ein Brieföffner aussah.

Wortlos schloss Charles den Mund, zog einen Dolch aus einem seiner Stiefel und zerschnitt die Riemen an seiner Seite.

„Benutzen Sie lieber das da“, schlug er vor und hielt ihr mit dem Griff voraus den Dolch hin.

Sie nahm ihn entgegen und durchtrennte den letzten Riemen. Dann entwirrte sie die verkeilten Beine der Pferde, ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten.

Mit einer Hand umklammerte Charles die Zügel seines eigenen Gespanns, mit der anderen packte er das Zaumzeug des anderen.

Die junge Frau richtete sich auf. Wie er jetzt feststellte, war sie überdurchschnittlich groß. „Danke.“ Lächelnd strich sie das wirre Haar aus ihrem Gesicht. „Die verdammte Achse ist gebrochen. Wahrscheinlich bin ich zu schnell gefahren.“

Da sie sich wie ein Kutscher ausdrückte, passte ihre Sprechweise zu ihrem Mantel.

„Ihr Glück, dass ich gerade vorbeikam …“, meinte er und sah sich um. „Wo ist Ihr Reitknecht?“ Keine ehrbare Dame ging allein auf Reisen.

„Pah!“ Verächtlich winkte sie ab. „Ich bin nur nach Skepton gefahren. Für eine so kurze Strecke brauche ich keine Begleitung.“

Schierer Leichtsinn – und eine Gefahr für andere Reisende, dachte er. „In dieser Situation offenbar doch.“ Natürlich durfte er sie nicht ihrem Schicksal überlassen, so kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit. „Die Achse ist gebrochen, sagen Sie?“ Vielleicht lag es nur an einem Riemen, dann konnte er den Schaden beheben. „Halten Sie bitte die Pferde fest.“

Mit einem Vertrauen in die Fähigkeiten einer Frau, das er normalerweise nicht aufbrachte, kauerte er sich neben den umgestürzten Phaeton. Verdammt, die Achse war tatsächlich entzweigebrochen.

„Da kann ich leider nichts machen. Ich fahre Sie nach Hause.“

„Oh, das ist sehr freundlich von Ihnen.“

Ihr Lächeln erschien ihm wie ein Sonnenstrahl – eine Ablenkung, die er nicht brauchte. „Wo wohnen Sie?“, fragte er schärfer, als er es beabsichtigte.

Sofort erlosch das Lächeln. „Bemühen Sie sich nicht, ich werde reiten und …“

„Eines Ihrer Pferde lahmt, das andere ist zu nervös und würde vermutlich durchgehen. Außerdem bin ich dazu verpflichtet, Sie in Sicherheit zu bringen.“

„Wenn Sie darauf bestehen, Sir … Binden Sie meine Pferde an Ihrem Wagen fest.“

Nachdem er das getan hatte, erklärte er: „Ich muss das Wrack von der Straße entfernen.“ Mit aller Kraft stemmte er eine Schulter gegen den Phaeton, der schließlich tiefer in den Graben hinabrutschte. Nun würde kein Fahrer im Dunkeln damit zusammenstoßen.

„Wie stark Sie sind …“, meinte sie.

Wider Willen fühlte er sich geschmeichelt und unterdrückte ein Grinsen, stieg auf den Sitz seiner Karriole und ergriff die Zügel seines Gespanns, das rastlos tänzelte. „Können Sie allein heraufklettern?“

Behände folgte sie ihm und setzte sich an seine Seite. Unter dem pelzbesetzten Saum ihres Mantels sah er schmale Fußknöchel in Seidenstrümpfen und festes Schuhwerk.

„Welche Richtung?“

„Da ich aus Skepton gekommen bin, müssen Sie wenden.“

Skepton, eine Fabrikstadt, lag mindestens fünf Meilen entfernt. Kein Ort, den eine respektable Frau ohne Begleitung aufsuchen sollte. Wer mochte sie sein? Das würde er bald herausfinden. Er wendete das Gespann, warf ihr einen Seitenblick zu und sah eine kleine, gerade Nase, volle Lippen, die Küsse herausforderten. Wäre Robert an meiner Stelle, würde er die Situation zweifellos ausnutzen und sich mit der Frau amüsieren, die offenbar keiner vornehmen Familie entstammt, dachte Charles.

Aber er war laut seiner letzten Geliebten ein Langweiler. Und in seinen Ohren gellten noch die Abschiedsworte seines Bruders. Versuch doch ausnahmsweise, ein bisschen Spaß zu haben. Klar, Robert konnte sich das leisten. Er war nicht der Erbe eines Herzogtums, nicht verantwortlich für das Wohl von einigen Hundert Menschen.

Als Charles sich das letzte Mal amüsiert hatte, war der Spaß zu einer Katastrophe ausgeartet. Für alle Beteiligten, Robert eingeschlossen. Nie wieder …

Also war es ratsam, dieser Frau nicht näherzutreten, so reizvoll sie auch sein mochte.

Aus Rücksicht auf das lahmende Pferd, das am Heck der Karriole festgebunden war, versetzte er sein Gespann in gemäßigten Trab. Um sich über dem Brausen des Windes Gehör zu verschaffen, hob er die Stimme. „Da wir Reisegefährten sind, sollten wir uns vorstellen – Tonbridge, zu Ihren Diensten.“

„Honor Meredith Draycott. Nennen Sie mich Merry. Danke, dass Sie angehalten haben.“

Als wäre ihm etwas anderes übrig geblieben.

„Tonbridge? Das ist ein Ort.“

„Auch mein Name.“

„Also of Tonbridge? Duke oder Earl?“

„Marquess. Mein Vater ist der Duke of Westhaven.“

„Und was machen Sie in dieser Gegend?“

„Ich fahre nach Durn.“

„Zum Landsitz des Duke of Westhaven. Dann haben Sie noch einen weiten Weg vor sich.“

„Ja“, bestätigte Charles, „ich wollte in Skepton übernachten.“

Nachdem sie den Hügel überquert hatten, führte die Straße ebendahin. Hier schienen die Wolken noch tiefer zu hängen, der Wind verstärkte sich.

Miss Draycott holte tief Luft. „Bald wird es schneien.“

Skeptisch schaute er zum Himmel auf und fand die Wolken nicht bedrohlicher als zuvor. „Wieso wissen Sie das?“

„Weil ich mein ganzes Leben in diesem Moor verbracht habe. Deshalb rieche ich den Schnee.“

Er versuchte sich ein Lächeln zu verkneifen. Offenbar vergeblich, denn sie seufzte.

„Ich rieche es auch, wenn es regnen wird. Oder ich spüre es auf meiner Haut.“

„Sehen Sie es auch voraus, wenn Ihr Wagen zusammenbricht?“, fragte Charles belustigt.

„Daran war ich nicht schuld“, entgegnete sie kühl und spähte über ihre Schulter. „Ich glaube, das arme Tier hinkt bedenklich.“

„Wie weit ist es noch?“ Auch er schaute nach hinten. Das Pferd trat nur ganz vorsichtig mit einem seiner Vorderhufe auf.

„Zwei Meilen. Biegen Sie an der Kreuzung nach rechts.“

Wenn sie in diesem Tempo weiterfuhren, würde er die nächste Stadt erst um Mitternacht erreichen. Zur Hölle mit der Frau …

„Setzen Sie mich an der Kreuzung ab.“

Hatte sie seine Gedanken gelesen? Oder sie bemerkte seine mürrische Miene, was er für wahrscheinlicher hielt. In Zukunft würde er vorsichtiger sein. „Selbstverständlich bringe ich Sie bis zu Ihrer Tür, Miss Draycott.“

„Stur wie ein Esel“, murmelte sie.

Eindeutig keine Dame. Eher Bourgeoisie, mit viel Geld, was ihre Seidenstrümpfe und der elegante Phaeton verrieten, und schlecht erzogen.

Bei der Kreuzung begannen weiße Flocken herabzuschweben und schmolzen auf den Pferderücken.

„Da sehen Sie’s“, sagte Miss Draycott.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und stellte fest, dass sie gar nicht glücklich aussah. „Müssen wir mit einem starken Schneefall rechnen?“

„Hier im Hochmoor?“ Sie zuckte die Achseln. „Vermutlich nicht. Der Wind wird den Schnee verwehen.“

Nicht besonders tröstlich. Bald gingen die sanft herabgleitenden Flocken in einen dichten weißen Wirbelsturm über, und Charles konnte die Straße kaum noch sehen.

Vor Kälte erschaudernd zog Miss Draycott ihren Mantel enger um die Schultern. Auch er spürte die beißende Kälte in seinen Fingern und Zehen. Endlich zeigte sie nach vorn. „Da.“

Undeutlich sah er die Umrisse eines großen Hauses. Er drehte sich zu dem lahmenden Pferd um, das sichtliche Qualen ausstand. „Gibt es hier jemanden, der sich um das arme Tier kümmern kann?“

„Ja. Natürlich bleiben Sie über Nacht hier.“

Charles öffnete den Mund, um zu widersprechen.

„Seien Sie nicht albern. Sie würden den Weg zur Hauptstraße gar nicht mehr finden.“

Nun verschwand das Haus hinter einem weißen Wall, eisige Flocken stachen ihm ins Gesicht. „Ihr Domizil schätzungsweise auch nicht, Miss Draycott.“

„Lassen Sie die Pferde einfach laufen, sie werden auf der Straße bleiben. Da ich erwartet werde, steht sicher jemand mit einer Laterne bei der Tür.“

Diese Leute hätten ihr nicht erlauben dürfen, allein wegzufahren, und das würde er ihnen auch klarmachen.

Tatsächlich – als er die Zügel lockerte, trotteten die Pferde weiter, als würden sie den Weg kennen. Nach wenigen Minuten sah er ein Licht, das hin und her schwang. Zwischen Torpfosten tauchte ein alter Mann in einem weiten Umhang auf. Das Gespann bog in die Zufahrt. Im Flockenwirbel blinkten weitere Lichter, und die Karriole hielt vor einem imposanten Säulenportikus. Zwei Männer eilten herbei, ebenfalls mit Laternen gerüstet, und der eine überschrie den pfeifenden Wind: „Wir sorgen für die Pferde! Gehen Sie hinein, Miss Draycott, bevor Sie sich erkälten!“

Einer der Dienstboten half ihr, vom Wagensitz zu steigen, und Charles sprang auf der anderen Seite hinab.

„Hierher!“, rief Miss Draycott, rannte die Eingangsstufen hinauf, und er folgte ihr. Die Tür schwang auf, eine Hitzewelle schlug ihm entgegen. Erst jetzt merkte er, wie erbärmlich er gefroren hatte.

Merry zog ihren Mantel aus und übergab ihn Gribble.

Mit einem strahlenden Lächeln drückte er seine Erleichterung aus. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“

„Gribble, das ist der Marquess of Tonbridge“, erklärte sie und zeigte auf den ernsthaften dunkelhaarigen Mann, der sich mit schmalen Augen umschaute. Nur mühsam unterdrückte sie ein Kichern. Ohne jeden Zweifel war es erstaunlich, wie sich ihr Großvater das Dekor im Herrschaftshaus eines reichen Industriellen vorgestellt hatte. „Mein Retter braucht ein Zimmer für heute Nacht. Bitte veranlassen Sie alles Nötige.“

Tonbridges Blick schweifte zu ihrem Gesicht, dann zu ihrem Busen im tiefen Dekolleté des grünen Musselinkleids hinab, das die Brustwarzen kaum verhüllte. An diesem Tag hatte sie das Kleid absichtlich angezogen. Offenbar missfiel es ihrem Gast, denn er presste die Lippen zusammen, bevor er wieder in ihre Augen schaute.

Kokett klimperte sie mit den Wimpern. „Sie haben keine Wahl, Sir.“

„Das Grüne Zimmer ist bereits hergerichtet, Miss Draycott“, verkündete Gribble. „Mylord, Brian wird Ihr Gepäck nach oben bringen und Ihnen während Ihres Aufenthalts in unserem Haus als Kammerdiener zur Verfügung stehen. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?“

Die Stirn gerunzelt, schlüpfte Tonbridge aus seinem modischen Mantel und reichte ihn dem Butler mitsamt seinem Hut und den Handschuhen. Ohne den Mantel wirkte er nicht weniger imposant. Der schwarze Gehrock saß wie angegossen und betonte die breiten Schultern, und Merry vermutete, dass sein Kammerdiener für den komplizierten Knoten des Krawattentuchs Stunden gebraucht haben musste.

Diese Sorte kannte sie. Ein reicher Aristokrat, der nichts mehr zu tun hatte, als seine äußere Erscheinung zu kultivieren. Und da gab es einiges zu schmücken. Über eins achtzig groß, schätzte sie. Obwohl sie für eine Frau ziemlich groß war, musste sie zu ihm aufblicken.

Seltsam – ihr Herz pochte viel zu schnell. Und in ihrem Bauch schienen Schmetterlinge umherzuschwirren. Fürchtete sie ihn?

Oder spürte sie erst jetzt die Wirkung der Ereignisse in diesen letzten Stunden? Dem Ärger über die unnachgiebige Haltung der Fabrikbesitzer war der Unfall gefolgt. Kein erfreulicher Tag … Doch dann straffte sie die Schultern. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.

Sie musste mit Caroline reden. „Wo ist Mrs. Falkner, Gribble?“

„Im Salon“, antwortete der Butler. „Dort wartet sie auf das Dinner.“

Verdammt … Sie musste sich umziehen. Also würde sie die Situation erst später mit Caroline besprechen können. Sie wandte sich zu Tonbridge. „Nun wird Gribble Sie zu Ihrem Zimmer führen, Sir. Wenn Sie sich frisch gemacht haben, kommen Sie bitte in den Salon.“

Leichtfüßig eilte sie die Stufen hinauf. Solche Dandys brauchten endlos lange für ihre Toilette. Auf halber Höhe der Treppe blieb sie stehen und drehte sich um. Tonbridge beobachtete sie mit unergründlichen dunklen Augen.

„In einer Stunde essen wir zu Abend, Sir. Verspäten Sie sich nicht.“

Seine Kinnlade klappte nach unten. Beinahe wäre sie in Gelächter ausgebrochen. Er musste sie für furchtbar unhöflich halten. Und das war sie ja auch. Sie lief in ihr Zimmer. Wenn sie sich sputete, konnte sie vielleicht mit Caroline reden, bevor der Gast nach unten ging.

Unter Caros kastanienroten Löckchen zeigten sich Stirnfalten, tiefer Kummer verdüsterte die haselnussbraunen Augen. „Also keine Hilfe von dieser Seite“, seufzte sie, nachdem Merry in knappen Worten Bericht erstattet hatte.

So trist Caroline sich auch kleidete – für diesen Abend hatte sie ein schmuckloses, hochgeschlossenes Kleid aus dunkelblauer Merinowolle gewählt – oder so betrübt ihr herzförmiges Gesicht auch wirken mochte, die zierliche Frau war eine hinreißende Schönheit.

„Gewiss nicht.“ Neben ihrer Freundin fühlte Merry sich stets wie eine Riesin. „Sorg dich nicht, die Frauen können so lange wie nötig hierbleiben.“ Sie wanderte im Salon umher, dann kehrte sie zu Caro zurück. „Tut mir leid, dass ich die Leute nicht umstimmen konnte.“

Mit einer sanften Geste berührte Caroline die behandschuhte Hand ihrer Freundin. „Deine Schuld ist es nicht. Wir werden einen anderen Weg finden.“

„Wenn ich bloß wüsste, welchen …“

„Irgendetwas wird uns einfallen. Wie ist unser Gast?“ Mit diesem großmütigen Themenwechsel überspielte Caro ihre Enttäuschung.

„Tonbridge? Attraktiv, nehme ich an. Und ich fürchte, er missbilligt mein Verhalten.“

„Weil er dich nicht kennt.“

Würde er mich besser kennen, wäre er noch schockierter … Merry setzte sich neben Caro. „Hoffentlich braucht er nicht zu lange für seine Abendtoilette. Ich bin halb verhungert.“ Sie schaute auf die Wanduhr. In einer Minute würde die Stunde vorbei sein.

Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür, und Tonbridge betrat den Salon. Er hatte sich rasiert und seine Reisekleidung mit einem dunkelblauen Abendfrack, hellbraunen Pantalons, einer elfenbeinweißen Weste und einem gestärkten weißen Krawattentuch vertauscht. Diesem fashionabel gekleideten Gentleman würde niemand ansehen, dass er erst vor Kurzem das Wrack eines Phaetons ohne Hilfe in den Straßengraben geschoben hatte.

Er sah einfach großartig aus.

„Kommen Sie doch näher, Lord Tonbridge“, bat Merry. „Darf ich Sie mit meiner lieben Freundin und Gesellschafterin, Mrs. Caroline Falkner, bekannt machen?“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Falkner.“ Formvollendet verbeugte er sich.

Kühl und distanziert. Der hochwohlgeborene Aristokrat mischte sich unter das gewöhnliche Volk. Kein Wunder, dass Caro so unbehaglich dreinschaute …

„Hoffentlich bereitet Ihnen meine unerwartete Ankunft keine allzu schlimmen Unannehmlichkeiten“, bemerkte er und postierte sich vor dem Kaminfeuer.

Caroline verbarg ihre Gedanken hinter einer höflichen, aber nichtssagenden Miene, und ihre Stimme klang erstaunlich ruhig. „Keineswegs. Ich bin so froh, weil Sie zur Stelle waren und Miss Draycott helfen konnten.“ Sie stand auf und ging zum Sideboard. „Hoffentlich haben die Dienstboten gut für Sie gesorgt?“

„Sogar ganz ausgezeichnet.“

„Und Ihr Zimmer gefällt Ihnen?“

„Ja, in der Tat.“

Anscheinend ein geübter Lügner … Merry unterdrückte ein Lächeln. So wie das ganze Haus war auch das grüne Gästezimmer ein protziger Albtraum.

„Darf ich Ihnen einen Drink anbieten, der Sie nach der ganzen Strapaze erwärmen wird?“, fragte Caro. „Für dich Sherry, Merry? Einen Brandy, Mylord?“

Erstaunt schaute er sie an. Kein Wunder, dachte Merry. Das damenhafte Benehmen ihrer Freundin und die bescheidene äußere Erscheinung bildeten einen krassen Gegensatz zur vulgären Opulenz des Hauses.

Beklemmende scharlachrote Samtvorhänge, Vergoldungen im Überfluss, grellbunte Teppiche, wild gemusterte Seidentapeten … Beinahe glaubte sie Tonbridge stöhnen zu hören, während er seinen Blick durch den Salon schweifen ließ.

Ihr Großvater hatte verhindern wollen, dass irgendjemand seinen Reichtum unterschätzte.

„Um einen solchen Raum vollzustopfen, braucht man eine Menge Zaster“, konstatierte sie.

Da wandte er sich zu ihr. „Schönheit braucht keinen Schmuck.“ In seinen Augen funkelte milder Spott. Auf diese Reaktion war sie nicht gefasst. Also verbarg sich ein gewisser Humor hinter der aristokratischen Fassade.

Oh, wie gern würde sie die arrogante Fassade niederreißen und sein wahres Wesen enthüllen … Um sich zu beweisen, wie richtig sie ihn einschätzte, und dieses alberne Herzrasen zu beenden.

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Zur Hölle mit deinem Sherry, Caro! Auch für mich Brandy. Ich friere immer noch bis auf die Knochen. Vielleicht würden Sie eine Tasse Tee vorziehen, Sir?“

Wie erwartet runzelte er die Stirn. Offensichtlich irritierte ihn ihre Hänselei. Aber er lächelte sanft. „Auch ich hätte gern einen Brandy, Miss Draycott.“

„Nennen Sie mich Merry.“ Darum hatte sie ihn schon draußen im Moor gebeten. „So wie alle Leute. Ich hasse Formalitäten. Sie etwa nicht?“

Nun wirkte er zu ihrer Genugtuung leicht verwirrt. „Wie Sie wünschen – Merry.“ Seinen eigenen Vornamen verriet er nicht. Zweifellos hatte er ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen längst festgestellt und stand über solchen Vertraulichkeiten.

Caro schenkte den Brandy ein, und Merry ergriff beide Gläser. Eines davon reichte sie Tonbridge. „Auf meinen Ritter in schimmernder Rüstung!“, lautete ihr kühner Trinkspruch. Dann leerte sie ihren Schwenker in einem Zug. Brennend rann der Alkohol durch ihre Kehle.

Auch Tonbridge hob sein Glas. „Auf eine schöne Maid in höchster Not.“

Wie charmant … Dieses betörende Lächeln musste er vor einem Spiegel geübt haben.

Vorsichtig nippte er an seinem Brandy und nickte. „Exzellent.“

„Mein Großvater legte sehr viel Wert auf einen erstklassigen Weinkeller“, erklärte sie nicht ohne Stolz. Mochte ihm der gesellschaftliche Schliff auch gefehlt haben – von Qualität hatte er einiges verstanden. Von erlesenem Stil bedauerlicherweise gar nichts. Deshalb das kostspielige, aber grausige Dekor seines Hauses.

Nun öffnete Gribble die Tür. „Das Dinner wird bald serviert, Miss.“

„Meine Damen?“ Tonbridge bot Merry und Caroline je einen Arm, und der Butler hob verblüfft die buschigen grauen Brauen.

Sprachlos starrte Merry ihre Freundin an, die kaum merklich die Achseln zuckte. Wie üblich verrieten ihre haselnussbraunen Augen nicht, was sie dachte.

Sie war Merry in einem Gasthaus in York aufgefallen, wo sie als Kellnerin gearbeitet hatte. Sofort erkannte Merry die Notlage der Frau – eine vornehme Dame, in Schwierigkeiten geraten – und bot ihr spontan die Stellung einer Gesellschafterin an. Darauf war Caro bereitwillig eingegangen. Über ihre Vergangenheit sprach sie nie. Und sie äußerte nur selten eine Meinung.

Nicht, dass Merry auf die Ansichten anderer Leute angewiesen gewesen wäre … Das hätte ihr Großvater niemals gestattet. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen.

Lächelnd legte sie ihre Hand auf Tonbridges rechten Unterarm, Caro berührte den linken.

Auf dem Weg ins Speisezimmer musterte Merry verstohlen das Profil ihres Gastes und sah nur ausdruckslose Höflichkeit. Das machte sie nervös. Denn die Höflichkeit verbarg meistens Lügen und Dolche. Doch sie wusste mit Täuschungsmanövern umzugehen. In kummervollen Jahren hatte sie eine besondere Strategie entwickelt – den Frontalangriff.

2. KAPITEL

Ist das Ihr erster Besuch in Yorkshire, Mylord?“, fragte Caroline, nachdem das Essen serviert worden war und der Butler sich zurückgezogen hatte.

„Keineswegs.“ Charles, der gerade die gebratene Ente anschnitt, hielt inne und lächelte höflich. „In meiner Jugend kam ich oft mit meiner Familie hierher. Allerdings sind seit meinem letzten Besuch mehrere Jahre verstrichen.“

„Welch ein Glück für mich, dass Sie gerade diesen Tag gewählt haben!“, flötete Merry. Um die Mädchen nachzuahmen, die sie in der Schule stets verachtet hatte, klimperte sie wieder mit den Wimpern, und Caro blinzelte verwirrt.

Tonbridge fuhr fort, die Ente zu tranchieren. „Offenbar hatten wir beide Glück. Bei diesem starken Schneefall hätte ich Skepton wohl kaum erreicht und in der Wildnis des Moors gewiss keine so wundervolle Gastfreundschaft gefunden.“

Oder eine so vulgäre, dachte Merry.

„Darf ich Ihnen etwas von diesem köstlichen Vogel reichen, Mrs. Falkner?“, fragte Charles.

„Ja, danke“, antwortete Caroline.

„Für mich nicht.“ Merry zeigte mit ihrer Gabel, auf der eine kleine Möhre steckte, in die Richtung des Gemäldes hinter ihr an der Wand. „Mein Großvater, Josiah Draycott. Vom einfachen Schafhirten hat er sich zum Besitzer einer der größten Tuchfabriken in Yorkshire hochgearbeitet.“

„Eindrucksvoll“, meinte Charles und legte die besten Fleischteile auf Carolines Teller. Den Rest nahm er sich selbst.

Merry war nicht sicher, ob er das Porträt meinte, auf dem ihr Großvater mit üppiger Perücke und Adlerblick so aussah, als würde er kleine Kinder zum Frühstück verspeisen. „Sein gesamtes Vermögen hat er mir vermacht“, erklärte sie und zerschnitt ihr Fleisch in mundgerechte Stücke.

„Also besitzen Sie eine Fabrik?“, fragte er und hob die Brauen.

Ha! Endlich gelang es ihr, ihn zu überraschen. „Ja, die Firma Draycott’s Mills gehört mir.“

„Den Namen kannte ich natürlich. Aber ich hätte nicht erwartet …“

„Eine Frau an der Spitze?“

Geschickt umging er die Frage. „Wir verkaufen Durn-Wolle an Draycott’s.“ Er schob einen Bissen Entenfleisch in den Mund und kaute.

Wie konnte jemand so hinreißend aussehen, wenn er kaute? Hastig riss sie ihren Blick von seinen Lippen los. „Sehr gute Wolle.“

„Die beste.“

„In den letzten Jahren haben Sie nicht mehr so viel produziert.“

„Gewiss, die Einkünfte sind gesunken“, gab er zu, „einer der Gründe meines Besuchs.“

Und die anderen Gründe?

Er wandte sich zu Caroline. „Arbeiten Sie auch für Draycott’s, Mrs. Falkner?“

„Oh nein.“

„Was ich ohne ihre Gesellschaft tun würde, weiß ich gar nicht“, versicherte Merry, und Caroline lächelte ihr dankbar zu.

Tonbridge ließ seinen Blick von einer zur anderen wandern, seine Mundwinkel verkniffen sich ein wenig. Neue Missbilligung? „Wie glücklich müssen Sie sich schätzen, weil Sie eine so gute Freundin haben, Miss Draycott“, bemerkte er leise.

In seinen Worten schwang eine geheimnisvolle Bedeutung mit, die Merry nicht zu ergründen vermochte. Was um alles in der Welt dachte er? Sie hatte ihren Großvater zu vielen geschäftlichen Verhandlungen begleitet und dabei gelernt, die Gedanken der Männer zu lesen. Aber dieser Aristokrat war ihr ein Rätsel. Eine Herausforderung.

„Was tun Sie, wenn Sie die Außenposten des Mountford-Imperiums nicht besuchen?“, erkundigte sie sich.

Er lachte. „Anscheinend pflegen Sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen, Merry.“ Als sie sich entschuldigen wollte, hob er eine Hand. „Schon gut, das gefällt mir – ich finde es erfrischend.“

Erfrischend? Das bedeutete wahrscheinlich naiv. Unbeleckt von gesellschaftlichem Schliff. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Freut mich, dass Sie mein Verhalten anregend finden.“

In seinen dunklen Augen tanzten bernsteinfarbene Funken. „Oh, Sie haben keine Ahnung.“

Doch. Denn ihr Blut erhitzte sich, und ihr Puls pochte in Körperstellen, die sie an einer ehrbaren Dinnertafel nicht spüren dürfte. Monatelang, vielleicht sogar jahrelang hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt. Und zum ersten Mal seit ihrem schandbaren Benehmen fühlte sie wieder dieses erregende Prickeln.

Lust.

Glücklicherweise kannte sie die Gefahr und konnte ihr widerstehen.

Caroline warf ihr einen warnenden Blick zu, um ihr zu bedeuten, der Flirt dürfe nicht außer Kontrolle geraten.

Was machte es schon aus, wenn sie ein bisschen flirtete? Damit würde sie ihren Ruf nicht noch mehr ruinieren. Und es reizte sie, diesen kühlen, distanzierten Mann aus der Reserve zu locken. Eine Braue hochgezogen, gab sie vor, sie hätte Caros Ermahnung nicht verstanden. „Nun, Lord Tonbridge? Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Vielleicht sind Sie ein Spieler oder ein Lebemann.“

„Beides“, entgegnete er, die Wangen leicht gerötet. „Möchten Sie meine Fähigkeiten prüfen?“

Caroline hustete und verschüttete ein paar Tropfen aus ihrem Wasserglas. „Oh, meine Kehle ist ganz trocken“, murmelte sie nach einem großen Schluck.

Mit einem solchen Mann konnte man nur auf eine einzige Art und Weise umgehen, das wusste Merry. Man musste ihn zwingen, Farbe zu bekennen. „Also, wie fangen wir an, Sir? Mit einem Spiel? Oder mit einer Verführung?“

Nach einem kurzen Blick auf die sichtlich verlegene Caro erwiderte er mit seidenweicher Stimme: „Natürlich füge ich mich Ihren Wünschen.“

Merry starrte ihn sprachlos an. Verdammt. So leicht ließ er sich keine Angst einjagen. Die meisten Aristokraten, die ihr begegnet waren, würden in diesem Moment das Weite suchen, um sich vor ihr zu retten.

Lautlos trat Gribble ein, von einem Lakaien gefolgt. Die beiden räumten den Tisch ab und verschafften ihr eine Gelegenheit, ihre Strategie zu planen.

„Bleiben Sie lange in Durn, Mylord?“, fragte Caroline, um das drückende Schweigen während der Tätigkeit der Bediensteten zu brechen.

„Da bin ich mir nicht sicher“, antwortete er und schaute Merry an. „Es hängt von verschiedenen Umständen ab.“

Auch von mir? Ihre beschleunigten Herzschläge gefielen ihr ganz und gar nicht. Mochte er auch der attraktivste Mann sein, den sie jemals gesehen hatte – er strahlte eine kalte Arroganz aus, die auf seiner überlegenen Position und seinem Reichtum beruhte. Sollte sie sich geehrt fühlen, wenn er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte? Dieser Gedanke verletzte ihren Stolz. Nun, sie würde ihm schon noch den Wind aus den Segeln nehmen.

„Beginnen wir mit einem Spiel, Sir?“, fragte sie, sobald die Dienstboten ihre Pflicht erfüllt und das Speisezimmer verlassen hatten.

„Karten? Oder würfeln Sie lieber?“

„Was halten Sie von Billard?“

„Einverstanden.“

Dann drehte sich die Konversation nur mehr um belanglose Dinge. Caroline entschuldigte sich bereits nach wenigen Minuten und ließ ihre Freundin mit dem Gast allein.

Zweifellos war das Billardzimmer der komfortabelste Raum in diesem Haus, den Charles bisher betreten hatte. Das glänzende Eichenholz der getäfelten Wände sorgte für eine gemütliche Atmosphäre, die wuchtigen Möbel entsprachen dem Stil des Barock. In der Mitte, auf einem rot und grün gemusterten Teppich, stand der Billardtisch mit der grünen Filzplatte.

Weder Samt noch vergoldete Schnörkel, eine Erleichterung für meine ermüdeten Augen, dachte Charles. Das Einzige, was im Lampenschein leuchtete, war Miss Merry Draycott.

Sie musterte die Kugeln und strich mit der Handfläche über ihren Queue. Beim Anblick ihrer schmalen Finger stellte er sich andere Aktivitäten vor, die sie damit vollbringen könnte. Sinnliche Aktivitäten. Die unwillkommene Erregung, die er schon den ganzen Abend verspürte, wuchs.

Noch nie hatte er sich so spontan zu einer Frau hingezogen gefühlt. Entschlossen kämpfte er dagegen an. Eine Ablenkung wie Merry Draycott konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.

Für eine schutzlose Frau benahm sie sich viel zu kühn. Und ihre Ausdrucksweise ließ zu wünschen übrig. Andererseits wirkte sie fast vornehm. Das verwirrte ihn.

An der Dinnertafel hatte er kurzfristig den Eindruck gewonnen, mit Mrs. Falkner würde sie nicht nur eine platonische Freundschaft verbinden und die beiden könnten der Sappho huldigen. Doch im Verlauf der Mahlzeit hatte er diese Mutmaßung verworfen und nur mehr warmherzige Zuneigung zwischen den beiden wahrgenommen.

Er begehrte Merry, das musste er sich wohl oder übel eingestehen. Wann hatte er eine Frau zum letzten Mal so reizvoll gefunden? Daran erinnerte er sich nicht. Natürlich durfte er als Hausgast dem Impuls, sie zu verführen, nicht nachgeben. Oder wünschte sie sich das? Darauf schien das Knistern, das fast greifbar in der Luft lag, sogar hinzuweisen.

Selbstverständlich durfte sich ein Mann, der kurz vor der Verlobung stand, nicht mit einer anderen Frau einlassen. Aus diesem Grund hatte er soeben seiner langjährigen Geliebten den Laufpass gegeben. Also war die Begegnung mit der hinreißenden Miss Draycott ein verdammtes Ärgernis.

Zu allem Überfluss spielte sie auch noch ausgezeichnet Billard. Die erste Partie gewann sie – vielleicht, weil er ihrem hübschen kleinen Hinterteil zu viel Aufmerksamkeit schenkte, wenn sie sich über den Tisch beugte. Das reckte sie ihm gewiss absichtlich entgegen.

Während er sie mit schwingenden Hüften um den Tisch schlendern sah, verkrampften sich seine Kinnmuskeln. Gnadenlos quälte sie ihn, in einem Kleid, das ihre Brüste und alle anderen Kurven nachzeichnete.

Ganz eindeutig, diese Frau war eine Bedrohung. Einen Mann von seinem Status herauszufordern – das würde sie noch bereuen. Vielleicht brauchte sie eine Lektion in akzeptablem Benehmen. Eine Warnung.

Gähnend hielt er eine Hand vor den Mund. „Entschuldigen Sie mich jetzt. Es war ein langer Tag, und ich würde mich gern zurückziehen.“

„Fürchten Sie eine weitere Niederlage?“

„Keineswegs …“, erwiderte er gedehnt. „Aber mein Interesse lässt nach. Anscheinend brauche ich eine größere Herausforderung.“

Voller Argwohn musterte sie ihn. „Fünfzig Guineen für einen Punkt und hundert für einen Sieg müssten ein ausreichender Anreiz sein.“

„Gewiss können wir beide uns Verluste von einigen Hundert leisten, Merry.“

Ihre Augen verengten sich. „Erhöhen wir auf tausend?“

Grinsend stützte er sich auf seinen Queue. „Da würde sich nicht viel ändern.“ Oh Gott, dafür würde er in der Hölle schmoren … „Wie wäre es, wenn jeder nach einem verlorenen Punkt ein Kleidungsstück ablegt?“

Die Augen weit aufgerissen, starrte sie ihn an. „Pro Punkt – ein Kleidungsstück?“, fragte sie atemlos. Ihre Wangen färbten sich rosig.

„Was immer Sie am Leib tragen.“

„Gilt das auch für Schmuck? Immerhin haben Sie mehr Sachen an als ich.“

„Ja, Sie dürfen auch Ihren Schmuck ablegen.“

Abschätzend betrachtete sie ihn von oben bis unten, als versuchte sie festzustellen, ob der Anblick seines hüllenlosen Körpers das Risiko lohnen würde. „Also gut. Pro Punkt fünfzig Guineen und ein Kleidungs- oder ein Schmuckstück. Bis zu zwölf Punkten. Und es bleibt bei den hundert Guineen für den Gesamtsieg.“

Wie ihre Miene verriet, erwartete sie zu gewinnen. Oder würde er sie nackt sehen? Mit einem tiefen Atemzug bezwang er seine Erregung. „Klingt fair“, meinte er kühl.

Nun lachte sie leise. „Vielleicht sollte ich Gribble bitten, das Kaminfeuer zu schüren, bevor wir anfangen. Damit wir uns nicht erkälten.“

„Oh, das ist wohl kaum nötig. Unser Erröten wird uns wärmen.“

Merry erwiderte keck: „Nur Ihr Erröten, Sir.“

Welch eine Überraschung, diese Frau – die erste, die es seit Jahren wagte, ihn herauszufordern. Normalerweise zierten sie sich oder himmelten ihn an. An diesem Punkt hätte er das Spiel beenden müssen. Doch das wollte er nicht. „Beginnen Sie, meine liebe Merry.“

Ihr nächster Versuch war ein Fehlschlag. Offenbar flatterten ihre Nerven. So blasiert, wie sie sich gab, war sie offenbar doch nicht.

„So ein Pech – ein Strafpunkt“, entschied er.

Sie nahm die Perlenkette von ihrem Hals und legte sie auf ein Wandtischchen. „So viel Glück werden Sie nicht lange haben.“

Sorgfältig zielte er mit seinem Queue, seine Kugel stieß gegen ihre und blieb dicht vor dem Loch liegen.

„Daneben“, triumphierte Merry, „ein Punkt für mich.“

Charles schlüpfte aus seinem Frackrock und hängte ihn über die Lehne eines Stuhls, während seine Gegnerin um den Tisch herumging und die Anordnung der Kugeln studierte.

Nonchalant auf seinen Queue gestützt, wartete er.

Mit einer flinken Drehung ihres Ellbogens sandte sie ihre Kugel ins Loch.

„Guter Schuss“, lobte er lächelnd.

„Das weiß ich.“

Er entfernte seine Krawattennadel und legte sie neben die Perlenkette. Dann löste er langsam den Knoten des Krawattentuchs. Merry wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. Weil sie den Punkt gewonnen hatte? Oder weil sie mehr von ihm sehen wollte? Teuflischerweise wünschte er sich Letzteres. Trotz seiner Narbe widerstrebte es ihm nicht, sich vor einer Frau zu entkleiden.

Lässig platzierte er das Krawattentuch auf seinem Frack und schaute an sich hinab. „Was kommt als Nächstes dran?“

Auch den nächsten Punkt entschied Merry für sich. Charles stieg aus seinen Schuhen. Die Strümpfe zog er ebenfalls aus, indem er abwechselnd auf einem Bein hüpfte. Ihr Blick auf seinen nackten Waden entging ihm nicht – auch nicht ihre Zungenspitze, die über ihre Lippen glitt. Brennend heiß strömte das Blut zwischen seine Schenkel.

Mit einiger Mühe konzentrierte er sich auf einen weiteren Versuch.

„Was glauben Sie, wie viel Sie anhaben?“, fragte sie.

„Weniger als die Punkte, die wir brauchen würden, um die Partie zu beenden.“

„Gut.“

Nun erschien sie ihm etwas nervös. „Wie gut Sie Billard spielen, haben Sie mir verschwiegen“, warf er ihr vor und rieb das Ende seines Queues mit Kreide ein.

„Oh, ich spielte sehr oft mit meinem Großvater. Damit vertrieben wir uns an langen Winterabenden die Zeit. Und währenddessen erklärte er mir alles, was ich über die Fabrik wissen muss.“

„Offenbar war er ein großartiger alter Gentleman.“

„Gewiss …“ Wie von innen her begann ihr Gesicht zu leuchten. Dann erlosch der Glanz in ihren Augen. „Und ich vermisse ihn schmerzlich.“ Ihr Kummer wirkte echt und bewegte sein Herz.

Wozu diese unsinnigen Gefühle? Er hatte genug eigene Sorgen.

Mit einer raffinierten Karambolage sandte er die rote Kugel und Merrys weiße in die mittleren Löcher. „Sieben Punkte“, verkündete er seelenruhig und richtete sich auf.

„Sie sind ein Betrüger!“

„Tatsächlich?“ Charles verschränkte die Arme vor der Brust, die gebieterische Geste eines künftigen Duke.

„Oh ja! Sie haben den Anschein erweckt, Sie wären kein besonders guter Billardspieler. Aber einen solchen Schuss bringt nur ein Experte zuwege.“

„Sollen wir Schluss machen?“

„Natürlich nicht!“

„Also – sieben Gegenstände.“

Sie zog drei Spangen aus ihren kunstvoll arrangierten schwarzen Locken und legte sie zu den Perlen. Dann nahm sie ein Armband ab. Noch mehr Schmuck trug sie nicht. Sie warf einen vernichtenden Blick in Charles’ Richtung, den er zu ihrem Leidwesen ignorierte.

Seufzend sank sie in einen Sessel und begann die Schuhbänder um ihre Fußknöchel zu entknoten. Wie ein Rabenflügel fiel ihr Haar nach vorn und verbarg ihr Gesicht.

„Soll ich Ihnen helfen?“, bot er an.

3. KAPITEL

Merry spürte, wie ihr heiße Röte in die Wangen stieg. „Nein danke, ich komme schon zurecht.“ Den Kopf gesenkt, öffnete sie die Schleife und schlüpfte aus dem Schuh.

Oh Gott, nur mehr sieben Punkte. Vier musste Tonbridge noch gewinnen. Und was müsste sie entfernen, wenn er weitere sieben Punkte für sich entschied? Niemals hätte sie sich zu diesem skandalösen Spiel überreden lassen dürfen. Und zu allem Überfluss hatte er sie auch noch getäuscht und den Eindruck erweckt, er wäre kein allzu guter Billardspieler.

Das Band gab nicht nach, Merry zerrte daran und verknotete es noch fester.

Nun erschienen seine nackten Zehen in ihrem Blickfeld, das sich auf ihre Füße, den Saum ihres Rocks und den Teppich beschränkte.

„Darf ich Ihnen helfen?“, fragte er erneut.

Seine Stimme erinnerte sie an den Geschmack heißer Schokolade, so warm und verlockend.

„Nicht nötig.“

Er kauerte sich auf die Fersen, und Merry hob den Kopf. Aber er blickte nicht auf und starrte ihren Fuß an.

Ungeduldig stöhnte sie. „Also gut, versuchen Sie Ihr Glück.“

Sie konnte kaum atmen, ihr Mund wurde trocken.

Jetzt umfasste der Schurke ihren Fuß, legte ihn auf sein Knie, und die Wärme seiner Hand jagte ein wohliges Prickeln durch ihren ganzen Körper. Beinahe hätte sie nach Luft geschnappt.

„Was für ein hübscher Knöchel“, murmelte er und begann das Band zu bearbeiten.

Schmelzende Gefühle schwächten ihre Glieder. Um Himmels willen, wenn er allein schon mit der Berührung ihres Fußes solche Flammen in ihr entfachte – was mochte erst geschehen, wenn er sie von ihren Strumpfbändern befreite? Nein, das würde sie ihm nicht erlauben. „Danke, Sir“, erwiderte sie, erbost über den atemlosen Klang ihrer Stimme.

Lächelnd schaute er zu ihr auf. „Dafür müssen Sie mir nicht danken, ich habe nur die Wahrheit gesagt.“

Wann immer er ihr dieses charmante Lächeln schenkte, wirkte er unglaublich attraktiv – ein unergründlicher Dämon mit dem Gesicht eines Engels. Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass er nur mit ihr flirtete. Doch er spielte seine Rolle viel zu gut, fast überzeugend. Meinte er es womöglich ernst?

Sie zeigte auf ihren Fuß. „Mein Schuh, Sir.“

Da neigte er seinen Kopf wieder hinab und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Merry verspürte den Impuls, sein dichtes, welliges braunes Haar zu streicheln. Stattdessen umklammerte sie die Armstützen ihres Sessels.

Er öffnete die Schleife und streifte den Schuh von ihrem Fuß. Dabei liebkoste er den Spann. Köstlich. Betörend. Doch sie beherrschte sich und lächelte gezwungen, statt entzückt zu seufzen.

Behutsam stellte er ihren Fuß auf den Boden, und sie wünschte, sie würde einen Fächer und keinen Queue in der Hand halten, um ihre erhitzten Wangen zu kühlen. Oh, diese Glut, die sie erfüllte … Wie konnte das sein? Sie war kein unschuldiges Schulmädchen, dem ein gut aussehender Mann den Kopf verdrehte. Ein Aristokrat schon gar nicht. Trotzdem wünschte sie sich nichts sehnlicher, als in Tonbridges Arme zu sinken, die breite Brust an ihrem Busen zu spüren, die Finger in sein Haar zu schlingen. Wie albern …

„Bei meinem Strumpfband brauche ich keine Hilfe“, würgte sie hervor, und er blickte wieder auf.

„Jetzt enttäuschen Sie mich.“

Irgendwie brachte sie ein leises Lachen zustande. „Mit Absicht, Sir. Sie würden es nicht verdienen, dass ich Ihnen solche Vertraulichkeiten gestatte. Drehen Sie sich um.“

Er stand auf, und seine wehmütige Miene beschleunigte ihre Herzschläge. „So wenig ist die Rettung Ihres Lebens wert?“

„Seien Sie nicht ungerecht!“, mahnte sie, amüsiert über seinen raffinierten Versuch, ihre Schuldgefühle zu wecken. Welch ein Schuft … Und sie war eine Närrin, wenn sie das Spiel fortsetzte. „Immerhin biete ich Ihnen Kost und Logis und vertreibe Ihnen die Zeit, bevor Sie schlafen gehen.“

Seine Mundwinkel zuckten. Aber er verbeugte sich und kehrte ihr den Rücken. Die Uhr auf dem Kaminsims schlug Mitternacht, und Merry vermochte kaum zu glauben, wie schnell die Stunden verstrichen waren. Sie sprang auf und wandte sich ab, falls Tonbridge es wagen sollte, über seine Schulter zu spähen.

Hastig entfernte sie eines ihrer Strumpfbänder – zarte Gebilde aus feinster Nottingham-Spitze, die sie nach einer Besichtigung dieser Fabrik gekauft hatte und nun auf Tonbridges Krawattentuch legte.

„Bringen wir unser Spiel zu Ende.“ Merry gab vor, es würde sie nicht stören, dass der Strumpf, vom Band befreit, langsam an ihrem Bein hinabrutschte. Oder dass die Hitze in ihrem Innern allmählich der in einem Schmelzofen glich. Zu Recht hatte Tonbridge behauptet, ein heftiges Erröten würde sie beide wärmen.

Zumindest sie. Denn er blieb erstaunlich gefasst.

„Nun bin ich dran“, sagte sie.

Er verneigte sich wieder und bedeutete ihr, an den Billardtisch zu treten.

Tief durchatmend verbannte sie ihre beschämenden Gedanken. Wenn sie noch auf einen Sieg hoffen durfte, brauchte sie sieben Punkte. So etwas war ihr früher manchmal gelungen. Allzu oft nicht. Und schon lange nicht mehr. Sie inspizierte die Kugeln auf dem grünen Filz. Kein leichtes Unterfangen.

Sie beugte sich über den Tisch. Mit bebenden Händen umklammerte sie den Queue. Ein zielsicherer Schuss jagte die rote Kugel über die Fläche, traf Tonbridges weiße und versenkte sie in der Ecke. Am Rand des mittleren Lochs zitterte die rote Kugel – und rührte sich nicht mehr.

Unfassbar … Merry starrte sie an, wollte sie mit ihrer Willenskraft zwingen, weiterzurollen. Nur ein kleines bisschen. Vergeblich …

„Oh, zu schade.“ Das Bedauern ihres Gegners wirkte sogar echt.

Resignierend zuckte sie die Achseln. „Vier Punkte.“ Doch sie brauchte sieben.

„Nun, sie liegt so dicht vor dem Loch. Tun wir so, als wäre sie drin.“

„Sir, ich bin kein Kind, das man gewinnen lassen muss“, protestierte sie. „Noch gebe ich mich nicht geschlagen.“ Sie warf ihr Haar in den Nacken. „Von vier Kleidungsstücken müssen Sie sich trennen. Erinnern Sie sich?“

Lächelnd zog er seine Weste aus. Dann öffnete er langsam die Knöpfe seines Hemds. Unverwandt sah er Merry dabei an.

Obwohl ihr das Atmen schwerfiel, konnte sie ihren Blick nicht von ihm losreißen.

Er zog das Hemd aus dem Hosenbund und über seinen Kopf. Dann legte er es auf das wachsende Kleiderbündel.

Wie fabelhaft er aussah … „Oh Gott“, hauchte Merry.

Nie zuvor hatte sie eine so wundervolle männliche Gestalt betrachtet. Kein einziges Mal auf den Feldern, wo die Männer an heißen Tagen mit nacktem Oberkörper arbeiteten.

Und Jeremy hatte gewiss nicht so fabelhaft ausgesehen. Obwohl sie der Anblick seines Körpers stets fasziniert hatte.

Tonbridges muskulöse Brust und die golden gebräunte Haut raubten ihr den Atem. Zu einer Hüfte zog sich eine weiße Narbe hinab, die seine Vollkommenheit kaum beeinträchtigte.

Plötzlich verspürte Merry den Wunsch, diese Narbe zu berühren – zu küssen und dadurch irgendwie verschwinden zu lassen. Über ihren Rücken rann ein angenehmer Schauer. Entzücken. Lust. Aber sie hatte ihre Gefühle unter Kontrolle. Oder nicht? Sie musterte Tonbridges Gesicht. Aufmerksam beobachtete er sie, als versuchte er ihre Gedanken zu ergründen. Vielleicht hatten andere Frauen seine verunstaltete Brust abstoßend gefunden.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Was werden Sie das nächste Mal ausziehen?“

„Viel haben wir beide nicht mehr.“

Und jetzt würde er wieder an den Billardtisch treten. Wie peinlich … Vier Punkte wären schlimm genug, bei sieben müsste sie sich vollends entkleiden.

„Möchten Sie aufhören?“

Warum musste er so galant sein? In seinen Augen las sie die Überzeugung, sie würde niemals klein beigeben. „Nein, das wäre feige.“ Ihr Blick schweifte wieder zu der Narbe. „Was ist Ihnen zugestoßen?“

„Eine Säbelwunde.“

„Bei einem Duell?“

„So ähnlich …“

„Ich finde Duelle ziemlich dumm. Nach meiner Ansicht lösen richtige Männer ihre Probleme, ohne übereinander herzufallen.“

Ohne zu antworten, ordnete er die Kugeln auf dem grünen Filz.

Mühsam schluckte sie. Wenn er sieben Punkte schaffte, wäre es eine Katastrophe. Nur um Haaresbreite verfehlte seine weiße Kugel die rote. Erleichtert seufzte Merry auf.

Tonbridge starrte den Tisch an, als könnte er sein Pech nicht fassen, und runzelte die Stirn. „Beim Jupiter!“

„Im letzten Moment haben Sie Ihre Schulter gesenkt“, sagte sie.

Er schnitt eine Grimasse, nahm seinen Siegelring ab und legte ihn neben die Perlenkette. Dann holte er tief Luft und lenkte Merrys Blick wieder auf seine nackte Brust, die sich merklich weitete. Ihre Hände wurden feucht.

Oh, sie würde gewinnen. Nun gab es fast nichts mehr, was er von seinem Körper entfernen konnte. Sie wischte die Finger an ihrem Rock ab. Höchste Zeit, das verrückte Spiel zu beenden …

Aber sie musste sich gegen seine Arroganz wehren. Und sie würde einfach nicht hinschauen, wenn er sich vollends auszog.

„Sie sind dran, Merry.“

Aus irgendeinem Grund liebte sie es, wie er ihren Namen aussprach. Als würde er jeden Vokal und jeden Konsonant genießen und auf seiner Zunge zergehen lassen.

„Ja.“ Ihre Hände zitterten wieder. Etwas Besonderes musste sie gar nicht leisten, nur seine Kugel in der Ecke versenken.

„Wann immer Sie bereit sind.“

Sie zuckte zusammen. Um das gefährliche Spiel endlich hinter sich zu bringen, zielte sie überhastet. Die weiße Kugel prallte gegen die rote und verschwand im Loch am Ende des Tisches.

Aus Tonbridges Kehle rang sich ein halb erstickter Laut, der wie unterdrücktes Gelächter klang.

Eine Sekunde später erkannte Merry, warum. Sie hatte ihre eigene Kugel versenkt. „Oh, verdammt!“

„Drei Punkte für mich, nicht wahr?“

„Das weiß ich“, stöhnte sie und starrte seine Kugel an, die reglos rechts von der roten lag. So ein Fehler war ihr seit Jahren nicht mehr unterlaufen. Sie wandte sich zu Tonbridge und sah sein breites Grinsen. Verdammt, der Anblick seines halb nackten Körpers hatte sie um den Verstand gebracht.

Mühsam zwang sie sich zu einem Lächeln. „Darf ich fragen, ob Sie ein bestimmtes Kleidungsstück bevorzugen?“

Er musterte sie von oben bis unten. „Das andere Strumpfband, würde ich sagen. Und beide Strümpfe. Auf das restliche Spiel verzichte ich.“ In seinen Augen erschien ein boshaftes Funkeln. „Wenn sie mir gestatten, diese Dinge zu entfernen.“

Schweren Herzens beschloss Merry, seinen Wunsch zu erfüllen. Natürlich wäre es furchtbar, seine warmen Hände auf ihrer Haut zu spüren. Furchtbar verlockend. Aber die einzige Möglichkeit, wenigstens einen Rest ihrer Würde zu bewahren, ehe sie sich völlig entblößen müsste, sollte ihm der nächste Schuss gelingen.

Oder würde er noch einmal versagen? Sie erinnerte sich an seine seltsam geneigte Schulter. Normalerweise bewegte er sich geschmeidig und sicher … Das hatte er absichtlich getan, um ihr eine Chance auf den Sieg zu geben. Und sie hatte es verbockt.

Kein Wunder, dass er sie auslachte …

Sekundenlang schloss sie die Augen. Falls ihre Vermutung zutraf, verdiente er eine Belohnung. Sie begann zu zittern und bekämpfte vergeblich eine wachsende Erregung. Schließlich nickte sie und sank wieder in den Sessel. „Ihre Hände dürfen sich bis zu meinen Knien bewegen, Sir, keinen Zentimeter weiter nach oben. Und das gilt auch für Ihren Blick.“

„Wie Sie wünschen.“

Sie raffte ihre Röcke, sodass sich nur der obere Rand des linken Strumpfs zeigte, der bis zur Wade hinabgerutscht war.

„Welch ein zauberhafter Anblick …“, murmelte er und kniete vor ihr nieder.

„Hoffentlich halten Sie Ihr Wort.“

Sein Gesicht sah sie nicht. Aber seine Schultern bebten kaum merklich, als würde er seinen Lachreiz bezähmen. Sie selbst erkannte keine Komik in der Situation, denn er hatte sie beim Spiel betrogen. Daran zweifelte sie nicht.

Während sie auf seine Berührung wartete, prickelte ihre Haut. Langsam schob er seinen Daumen unter den Rand des Strumpfs, rollte ihn von ihrem Bein und legte ihn beiseite. „So, das war der eine.“

Gar nicht so schlimm. Keine Liebkosung, die sie verwirrt hätte.

Nun schob er ihre Röcke hoch, um ihr rechtes Knie zu erreichen. Sie versuchte, ihn nicht anzuschauen, seine Gedanken nicht zu erraten. Gewiss hatte ein Lebemann von seiner Sorte schon unzählige nackte Frauenbeine gesehen. Ihre eigenen waren lang und muskulös, weil sie wie ein Mann, mit kraftvollen Schritten, durch ihre Fabrik schritt, wenn sie ihre Geschäfte erledigte – ebenfalls wie ein Mann. Unter ihren Röcken würde Tonbridge nichts Weiches, Feminines finden. Vermutlich erschien sie ihm sogar reizlos.

Sie starrte die gegenüberliegende Wand an und biss die Zähne zusammen.

Sobald er am Strumpfband zupfte, pulsierten lasterhafte Emotionen in ihrem Innern. Sie fühlte sich nackt und ausgeliefert. Aber als sie hinabspähte, war der Rocksaum an der rechten Seite nur bis zum Rand des Strumpfs heraufgeglitten. Keinen Zentimeter höher.

Und doch – viel zu dicht kniete Tonbridge vor ihr, und sie spürte seinen warmen Atem an ihrem nackten Schenkel.

Dann schwenkte er das Strumpfband vor ihren Augen. „Nummer zwei.“

Sie schluckte, widerstand dem Impuls, ihre Röcke nach unten zu zerren, und ignorierte die glühende Röte in ihren Wangen. Sicher würde er nichts tun, was sie ihm verbot. Unglücklicherweise musste sie befürchten, sie könnte ihm Freiheiten erlauben. Nun, sie würde trotzdem ihr Wort halten. Das verdiente er dank seiner Großzügigkeit. „Gut, machen Sie weiter.“

Grinsend warf er ihr einen kurzen Blick zu. „Ihr Wunsch ist mir Befehl, Merry.“

Oh, am liebsten würde sie ihn ohrfeigen. Stattdessen verdrehte sie die Augen, starrte zur Zimmerdecke hinauf und gähnte. Aber sobald er sich wieder seiner Tätigkeit widmete, beobachtete sie, wie er den Strumpf an ihrem Bein hinabstreifte. Sie glaubte zu schmelzen. Und das Atmen fiel ihr immer schwerer.

Tonbridge beugte sich vor und drückte einen Kuss auf ihr Knie – warme Lippen auf ihrer nackten Haut.

Zitternd umklammerte sie die Armstützen ihres Sessels. „Jetzt gehen Sie zu weit, Sir!“

„So viel Schönheit muss gewürdigt werden.“

„Sie verspotten mich!“

„Keineswegs.“

Ein sinnliches Lächeln umspielte seine Lippen, und ihr Körper ersehnte nicht nur zarte Berührungen. Nein, sie durfte nicht kapitulieren – sie hatte beschlossen, sich niemals einem Mann zu unterwerfen. Sie war ihre eigene Herrin. Nur in Tonbridges Nähe verspürte sie diese gefährliche Schwäche. Sie biss sich auf die Lippe.

„Bitte, kommen Sie zum Ende.“

Sorgsam wie eine Zofe rollte er den Strumpf hinab, um die feine Seide nicht zu beschädigen. Noch ein paar Zentimeter, noch ein Kuss auf die nackte Haut. Durch ihre Adern rasten Feuerströme, und Merry wappnete sich verzweifelt gegen die Versuchung. Doch sie konnte ihren Blick nicht von Tonbridges Händen losreißen.

Schließlich erreichte er ihren Fußknöchel und umfasste ihn so behutsam, als hätte er einen kostbaren Schatz enthüllt. Ihr Verlangen wuchs, sosehr sie sich auch dagegen sträubte.

Nachdem er den Strumpf entfernt hatte, begann er ihre nackte Sohle mit seinem Daumen zu massieren, und sie hätte fast wie eine Katze geschnurrt. Leicht benommen musterte sie seine muskulösen Schultern.

Sollte sie es wagen, ihn zu berühren?

Er zog ihre Röcke hinab, stand auf und hob die Brauen. Offenbar wartete er auf ihre Entscheidung, was nun geschehen sollte.

Als sie schwieg, verneigte er sich. „Nun ist es wohl an der Zeit, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.“ Er steckte seinen Ring an den Finger. Dann sammelte er seine übrigen Sachen ein.

Heiße Sehnsucht drängte Merry, ihm in sein Zimmer zu folgen, seinen vollkommenen Körper zu genießen – und die Freuden, die er ihr schenken würde.

Seit sie das letzte Mal ihre Sinnenlust in den Armen eines Mannes ausgekostet hatte, war sehr viel Zeit verstrichen. Aber sie hätte nie geglaubt, sie würde sich zu einem arroganten Aristokraten wie Tonbridge hingezogen fühlen. Zweifellos würde er sie in seinem Club, im Kreis seiner Freunde, verspotten. Verdammt … Von ihrem Stolz angestachelt, hatte sie sich von ihm betören lassen und war zu weit gegangen, von seinem schönen Körper bezaubert. Welch eine Närrin ich bin …

Zum Glück würde er am nächsten Tag abreisen und sie in Frieden lassen.

„Morgen werde ich meinen restlichen Gewinn kassieren“, kündigte er an.

Beinahe blieb ihr Herz stehen.

Geld. Er meinte das Geld. „Gut, ich werde Sie erwarten“, entgegnete sie so ruhig, wie sie sich keineswegs fühlte.

Leise schloss er die Tür hinter sich. In ihrem Sessel zusammengesunken, stellte sie sich vor, wie er die Treppe hinaufstieg. Langsam und zögernd, in der Hoffnung, sie würde ihm folgen? Oder würde er immer zwei Stufen auf einmal nehmen, froh und erleichtert, weil er ihr entronnen war?

Wusste er, dass sie sich hingegeben hätte, wäre er beharrlicher gewesen? Dass sie die ganze Nacht wach in ihrem Bett liegen und an seine Hände auf ihrer nackten Haut denken würde?

Tiefe Scham trieb neue brennende Röte in ihr Gesicht. Würde sie niemals klüger sein? Sie stand auf und betrachtete das Porträt ihres Großvaters neben dem Kamin – ein weniger strenges als jenes im Speisezimmer. „Heute Abend habe ich eine große Dummheit gemacht, nicht wahr?“, flüsterte sie. Wenn Tonbridge seinen Freunden von den Ereignissen in diesem Haus erzählte, würde sich ein neuer Skandal mit dem Namen Meredith Draycott verbinden.

Gott sei Dank, morgen wird er verschwinden …

4. KAPITEL

Stimmen. Weibliche Stimmen. Während das Bewusstsein zurückkehrte, blieb Charles unbeweglich liegen, die Augen geschlossen, den kalten nackten Körper erstarrt. Höhnisches Gelächter ließ seine Seele frösteln.

„Glaubst du, er hat sich mit der Herrin vergnügt?“

„Warum sonst hätte sie ihn nach Hause mitgenommen?“

Seltsam … Charles hob ein Augenlid. Blinzelnd sah er zwei Frauen am Fußende eines monströsen Vierpfostenbetts stehen und erinnerte sich – er war in Yorkshire, nicht auf einem Schlachtfeld in Europa. Erleichtert seufzte er und entspannte sich.

Die Frauen waren bescheiden gekleidet wie Dienstmädchen – eine rundliche junge Blondine mit neugierig gerunzelter Stirn, eine blasse Brünette, bereits jenseits der ersten Jugendblüte.

Dreist und schamlos inspizierten sie seinen Körper. Charles zog ein Laken über seine Hüften und setzte sich lächelnd auf. „Guten Morgen, meine Damen.“

Die Blondine kreischte, die Brünette stemmte ihre Hände in die Taille. „Verzeihen Sie, Mylord, wir wollten Sie nicht wecken. Gerade haben wir Feuer im Kamin gemacht und danach Ihren Anblick bewundert.“

„Wenn Sie nicht angestarrt werden möchten, hätten Sie die Bettvorhänge zuziehen müssen“, verteidigte sich die Jüngere, und Charles zügelte seinen Lachreiz.

Was für ein ungewöhnliches Personal Merry Draycott beschäftigte … Aber nichts an ihr war normal.

„Sie werden unserer Herrin doch nicht erzählen, dass wir Sie gestört haben?“, fragte die Ältere besorgt. „Wir wollten ganz leise sein.“

„Natürlich nicht. Danke für das Feuer.“

Ungeniert musterte die Brünette die Stelle in Höhe seiner Hüften, wo sich das Laken wölbte. „Falls Sie das loswerden wollen – für ein paar Shillings helfe ich Ihnen dabei.“

„Und ich würde es umsonst machen“, erbot sich die Blonde.

Großer Gott, was für ein Haus war das? „Besten Dank – nein“, murmelte er. „Wenn Sie jetzt so freundlich wären, mein Zimmer zu verlassen …“

Gefolgt von der Blondine, die einen Kohleneimer, einen Besen und eine Schaufel schleppte, rauschte die Brünette hinaus.

Charles sank lachend in die Kissen zurück. Das hätte er sich angesichts des modischen Stils, den Merry bevorzugte, und aufgrund ihrer Sprechweise denken können – die Frau leitete ein Bordell.

Hatte sie deshalb Feinde? In der Nacht hatte er über die zerbrochene Achse ihres Phaetons nachgedacht. Diesen Wagen musste er noch einmal untersuchen. War es kein Unfall gewesen? Diese Vermutung legten seine Beobachtungen an diesem Morgen nahe.

Er sah sich in seinem Zimmer um. Das erstaunlich helle Tageslicht fiel auf einen üppig vergoldeten, reich geschnitzten, mit Samt und Seide geschmückten Albtraum in allen Grünschattierungen.

Nun wirkte das Ambiente noch grausiger als am vergangenen Abend. Er schlug das Laken zurück, stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Auch dessen Vorhänge hatte er gestern Nacht nicht zugezogen. Für das unnatürliche Licht sorgte ein gleißendes Weiß, das sich bis zum Horizont erstreckte. Wahrscheinlich waren die Straßen nicht passierbar. Er war eingeschneit und saß in einem Haus von üblem Ruf fest. Das würde seinem Zwillingsbruder gefallen. Zweifellos würde Robert in spöttisches Gelächter ausbrechen. Aber Charles fand es kein bisschen komisch. Und Merry hätte ihn am letzten Abend auf ihre mangelnde Ehrbarkeit hinweisen müssen.

In seiner Fantasie erschien eine Version ihrer schönen nackten Beine. Seine Erregung hatte ihn die halbe Nacht gequält. Und er war einer Bordellwirtin wie ein perfekter Gentleman begegnet. Was für ein Narr musste er sein …

Als die Tür aufschwang, drehte er sich um. Brian kam herein, frisch geputzte Stiefel in der Hand, und verneigte sich. „Guten Morgen, Mylord. Mr. Gribble hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, das Moor würde im Schnee versinken.“

„Das dachte ich mir bereits. Sie müssen mir nicht beim Ankleiden behilflich sein.“ Sichtlich gekränkt über die Zurückweisung, senkte der Bursche den Kopf, und Charles fügte hinzu: „Wenn es möglich wäre – bürsten Sie meinen dunkelroten Gehrock aus und bügeln Sie mein Krawattentuch.“

Brian blickte auf, und seine Miene erhellte sich. „Sehr gern, Mylord.“

Eine knappe Stunde später stapfte Charles durch hohen Schnee zum Stall. Am Tor stieß er beinahe mit einer Gestalt zusammen – Miss Draycott in ihrem maskulinen Kutschermantel. Dazu trug sie einen breitkrempigen Filzhut.

„Guten Morgen.“ Lächelnd lüftete er seinen Hut. „Um diese frühe Stunde hätte ich Sie nicht hier zu sehen erwartet.“

Sein Anblick schien sie nicht zu erfreuen, denn sie runzelte die Stirn. „In London stehen die Damen sicher erst um die Mittagszeit auf.“

„Offenbar hat Beau Brummel, der berühmte Lebemann, uns allen einen schlechten Ruf verschafft. Ich wollte nach den Pferden sehen.“

„Trauen Sie meinem Personal nicht zu, die Tiere gut zu versorgen?“

„Würde ich Ihren Leuten misstrauen, wäre ich gestern Abend nicht hierhergekommen. Außerdem möchte ich mich nach Ihrem lahmen Pferd erkundigen. Wie geht es seinem Vorderbein?“

„Nicht gut“, seufzte Merry. „Jed hat es mit einem Umschlag umwickelt. Aber es ist stark geschwollen.“

„Darf ich’s mir ansehen?“

„Gewiss.“

Sie betraten den Stall und gingen an einer Reihe sauberer, gepflegter Boxen und erstaunlich vielen Bewohnern vorbei – sowohl Reit- als auch Zugpferde. Anerkennend nickte Charles.

Im mittleren Block waren die Kutschpferde untergebracht. Der alte Mann, der am letzten Abend mit einer Laterne vor der Haustür gewartet hatte, stützte sich auf einen Besenstiel und beobachtete, wie der verletzte Hengst etwas Hafer fraß.

„Jed, das ist Lord Tonbridge“, erklärte Merry.

„Ah, Mylord, zwei sehr schöne Pferde haben Sie. Die finden Sie zwei Boxen weiter unten.“

„Danke, Miss Draycott sorgt sich um dieses hier. Darf ich mir das Bein mal anschauen?“

„Wenn Sie’s nicht stört, durch den Mist zu waten …“

Charles kauerte sich neben das verletzte Pferd und inspizierte den Umschlag mit warmen Heilkräutern. „Was glauben Sie, wie schlimm es ist?“

„Wahrscheinlich nur eine Zerrung.“

„Das arme Tier blieb in den Zugriemen hängen“, sagte Merry. „Hoffentlich hat es keinen bleibenden Schaden erlitten.“

„Haben Sie schon versucht, das Bein mit Schnee einzupacken, Jed?“, fragte Charles.

Der alte Mann kratzte die grauen Bartstoppeln an seinem Kinn. „Von so einer Behandlung habe ich noch nie gehört. Bei einer Zerrung?“

„Das hat mein Reitknecht herausgefunden, und es lindert die Schwellung schneller als warme Umschläge. Probieren Sie’s mal aus.“

„Ja, tu das, Jed“, bat Merry. „Ich fühle mich so elend. Noch nie im Leben habe ich ein Pferd verletzt.“

„Sicher war’s meine Schuld, Miss“, erwiderte Jed. „Ich hätte mir den Wagen ansehen müssen. Und ich hätte Ihnen nicht erlauben dürfen, allein wegzufahren.“

„Allerdings nicht“, stimmte Charles zu. „Die Pferde hätten sich sämtliche Beine brechen können. Von Miss Draycotts Sicherheit ganz zu schweigen.“

„Nein, Jed soll sich keine Vorwürfe machen“, protestierte Merry. „Außerdem spielt das jetzt keine Rolle mehr – das arme Geschöpf steht Höllenqualen aus. Später sehe ich noch einmal nach ihm.“

Für so gefühlvoll hätte Charles sie nicht gehalten. Ein weicher Kern unter der rauen Schale? Er hoffte, in Zukunft würde der alte Reitknecht sie an solchen Fahrten hindern. Mit dem Mann musste er noch einmal reden. Unter vier Augen.

Merry folgte ihm zu der Box, in der sein Gespann stand. „Natürlich war es meine Schuld. Ich hatte mich geärgert. Und wegen des schlechten Wetters fuhr ich zu schnell. Offenbar geriet der Phaeton in eine Furche.“

„Auf dieser Straße gab es keine so tiefen Furchen, die einen Achsenbruch verursacht hätten. Und wenn Sie sich jetzt sorgen, ändern Sie nichts mehr.“

Charles untersuchte die Hufe und Beine seiner Pferde. Wie er feststellte, hatte jemand die beiden gestriegelt. Zufrieden strich er über das glänzende braune Fell. Dann verließ er mit Merry den Stall. „Allem Anschein nach muss ich Ihnen noch etwas länger zur Last fallen“, bemerkte er.

„Das ist keine Last“, murmelte sie geistesabwesend. Offenbar dachte sie an etwas anderes. „Wir waren schon öfter tagelang eingeschneit.“

„Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Vielleicht kann ich mich mit einer Schlittenfahrt revanchieren.“

„Bei diesem Wetter?“

„Wenn es aufklart. Übrigens …“ Er zögerte. „Heute Morgen unterhielt ich mich mit zwei ungewöhnlichen Frauen. In meinem Zimmer.“

Merry hielt den Atem an. „Mit Beth und Jane?“

„Ihre Namen nannten sie nicht. Aber sie waren sehr – entgegenkommend.“

„Oh, haben sie etwa …“ Sie presste eine Hand auf ihren Mund.

„Nein.“ Doch sie hätten sich ihm hingegeben. Und das wusste Merry.

„Großer Gott, ich muss mich entschuldigen. Das sind – Hausmädchen in der Ausbildung. Ich hätte sie veranlassen sollen, Ihr Zimmer Brian zu überlassen.“

Hausmädchen in der Ausbildung? Eine neue Bezeichnung für ein altes Gewerbe? Merry wich seinem ungläubigen Blick aus. „Selbstverständlich werde ich mit den beiden reden“, versprach sie kühl. „Wenn sich das Wetter bessert, unternehmen wir eine Schlittenfahrt. Vorher muss ich mich um meine Geschäfte kümmern.“

Welche Geschäfte?

„Setzen Sie sich doch bis dahin in die Bibliothek, Sir“, schlug sie vor. „Dort finden Sie sicher Bücher, die Sie interessieren. Und ein warmes Feuer.“

Vor dem Stall blieben sie stehen und betrachteten die Welt, die sich in eine weiße Wüste verwandelt hatte. Charles holte tief Luft. Tatsächlich, Merry hatte recht – der Schnee verströmte einen eigenen Duft. Warum war ihm das nie zuvor aufgefallen?

Er nahm seinen Schal ab und schlang ihn um ihren Hals, den Mund und die Nase. „Lassen Sie sich erst einmal ins Haus bringen.“

Über dem Rand des Schals lachten ihn ihre blauen Augen an. Er nahm ihren Arm, und sie machten sich auf den Rückweg. Es gefiel ihm, wie sie sich vertrauensvoll auf seinen Unterarm stützte. Wenn sie auch keine schutzbedürftige Frau war – ihre lockende Weiblichkeit spürte er deutlich genug. Und es drängte ihn mit aller Macht, das Rätsel zu lösen, das sie umgab. Vielleicht würde er dabei auch herausfinden, wer ihr schaden wollte.

Den rauen Wind, der an seinem Mantel zerrte und eisige Flocken in sein Gesicht peitschte, nahm er kaum wahr. Denn zum ersten Mal seit langer Zeit tat er etwas, das ihm echte Freude bereitete.

5. KAPITEL

Merry lief einen Korridor entlang. Warum sie sich beeilte, wusste sie. Keineswegs, um mit den beiden Frauen zu reden, sondern um zu fliehen. Vor ihm.

Nicht, weil sie sich zu Tonbridge hingezogen fühlte. Gegen diese Gefahr konnte sie sich behaupten, und sie fand seine begehrlichen Blicke sogar sehr angenehm. Etwas anderes bewirkte ihr Unbehagen. Wann immer er sie mit seinen durchdringenden dunklen Augen ansah, fürchtete sie, er könnte ihre geheimsten Gedanken lesen. Andererseits wahrte er Distanz, denn er missbilligte ihr Verhalten.

Je schneller er abreiste, desto besser.

Sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche ihres Rocks und sperrte die Tür des ehemaligen Kinderzimmers auf. Merry betrat den Raum und sah ihre Freundin den Pulten gegenübersitzen, an denen die beiden Dienstmädchen und Thomas, Caros sechsjähriger Sohn, Platz genommen hatten. Eifrig schrieb er Buchstaben auf eine kleine Schiefertafel. Jede der Frauen hielt ein Buch in der Hand, langsam las Beth einen Satz vor. Beim Anblick der Hausherrin verstummte sie.

Ihren ursprünglichen Beruf konnte man ihnen nicht mehr ansehen. Vor Gesundheit und Sauberkeit strotzten sie geradezu, und sie trugen die schlichte, praktische Kleidung der Fabrikarbeiterinnen.

„Guten Morgen“, grüßte Merry sie lächelnd.

„Guten Morgen, Miss Draycott“, antworteten sie wie aus einem Mund.

„Guten Morgen“, sagte auch Caro und musterte ihre Freundin neugierig. Zweifellos fragte sie sich, was letzte Nacht geschehen war.

„Wenn Sie mir Ihre Aufmerksamkeit schenken würden …“, wandte Merry sich an Beth und Jane. „Wegen des Schnees haben wir einen Gast im Draycott House. Wie ich hörte, haben Sie beide ihn heute Morgen kennengelernt. Sicher wäre es besser, wenn Sie bis zu seiner Abreise in diesem Flügel bleiben würden.“

Beth kicherte, und die brünette Jane runzelte ihre Stirn. „Weshalb? Weil Sie sich für uns schämen?“

Mit dieser Frage ließ sie Merry erröten. Leider war es etwas schwierig, mit Jane umzugehen, obwohl sie aus eigenem Antrieb ihre Hilfe gesucht hatte. Sie stammte aus dem nördlichen London und war weltgewandter als Beth oder die anderen gefallenen Mädchen, die Caro mit der Hilfe ihrer Freundin gerettet hatte.

Und sie hatte sich zur Anführerin dieser Frauen aufgeschwungen. Nach dem Feuer waren alle außer Jane und Beth geflüchtet.

„Nein, ich schäme mich nicht“, erwiderte Merry in entschiedenem Ton. „Zu dieser Vorsichtsmaßnahme habe ich mich nur zu Ihrem Schutz entschlossen. Diesen Gentleman kenne ich nicht sehr gut, und ich möchte vermeiden, dass es zu Missverständnissen kommt.“

„Natürlich will sie ihn für sich selbst behalten“, spottete Jane.

„Das reicht, Jane“, mahnte Caro.

„Für so einen feinen Pinkel interessiere ich mich gar nicht“, schnaufte Jane. „Was ich wissen will – wann kriegen wir anständige Arbeitsplätze, statt ständig nur Kamingitter zu putzen?“

Mit anderen Worten – war das Treffen mit den Fabrikbesitzern erfolgreich verlaufen? Die Stadtbewohner hatten ihr Haus in Skepton „Draycott-Bordell“ genannt, Steine und schließlich Fackeln durch die Fenster geschleudert. Vor der Feuersbrunst waren die meisten Mädchen geflohen.

Bei der Besprechung am Vortag hatte Merry versucht, die anderen Fabrikanten auf ihre Seite zu bringen.

Hoffnungsvoll schauten die beiden Frauen sie an.

„Hier ist es einfach schrecklich“, klagte Jane. „Keine Läden. Nichts zu tun außer lesen.“

„Also, mir gefällt’s“, verkündete Beth. Sie war auf dem Land aufgewachsen, während fast alle anderen geretteten Mädchen aus Städten stammten. Zumeist Töchter von kleinen Ladenbesitzern oder Fabrikarbeitern, waren sie auf die schiefe Bahn geraten und hatten ihren Lebensunterhalt mit dem ältesten Gewerbe der Welt auf den Straßen verdient.

Caro, von reiner Verzweiflung beinahe zu einem ähnlichen Schicksal gezwungen, hatte ihre Freundin gebeten, ihr Geld und ihren Einfluss zu nutzen, um den Frauen zu helfen. Bereitwillig hatte Merry zugestimmt und ihnen in Skepton eine Unterkunft geboten. Mit dem Widerstand der Gemeinde hatte sie nicht gerechnet. Offenbar glaubten die Leute, ihre Familien könnten von den neuen Stadtbewohnerinnen beschmutzt werden.

Schließlich hatten sie die Mädchen vertrieben.

Sie schaute Caro an, die ihr trotz der bitteren Enttäuschung ermutigend zulächelte.

„Leider konnte ich gestern nicht mit den Fabrikbesitzern reden.“

„Weil Sie zu beschäftigt mit Ihrem windigen Galan waren“, warf Jane ihr dreist vor.

„Er ist ein Gentleman. Und er hat mir beigestanden, als mein Wagen auf der Straße zusammenbrach. So bald wie möglich wird er abreisen.“

„Oh, die Gentlemen sind die besten“, wandte Beth ein. „Sie sind höflich. Und sie haben keine Pocken.“

„Einige schon“, betonte Jane.

„Bitte, meine Damen.“ Caroline schlug mit einem Lineal auf ihren Schreibtisch. „Mit diesem Gerede kommen wir nicht weiter.“ Sie schaute ihren Sohn an, der zu schreiben aufgehört hatte. Die Stirn gefurcht, hörte er zu. „Sicher wird Miss Draycott Arbeit und eine Bleibe für Sie finden. In der Zwischenzeit sollten Sie lesen und schreiben lernen. Dafür werden Sie immerhin bezahlt.“

Als Beth stöhnte, musste Merry lächeln.

Keine der beiden Frauen fand den Unterricht besonders wichtig. Nur die Aussicht auf eine Bezahlung hatte sie in das Haus in Skepton gelockt. Bevor sie gezwungen worden waren, um ihr Leben zu laufen, hatten sie gute Fortschritte erzielt. Nun bestand Caro auf weiteren Lektionen im Draycott House, damit sie die Verträge mit neuen Arbeitgebern lesen und unterzeichnen konnten.

Falls sie Stellungen bekamen.

Autor

Ann Lethbridge
Ann Lethbridge wuchs in England auf. Dort machte sie ihren Abschluss in Wirtschaft und Geschichte. Sie hatte schon immer einen Faible für die glamouröse Welt der Regency Ära, wie bei Georgette Heyer beschrieben. Es war diese Liebe, die sie zum Schreiben ihres ersten Regency Romans 2000 brachte. Sie empfand das...
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Anne Herries
Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...
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