Historical Platin Band 12

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DAS HERZ DES LÖWEN von BARCLAY, SUZANNE
Ross Carmichael ist entsetzt: Auf Befehl des Königs muss er Megan Sutherland heiraten. Dabei sind ihre Clans verfehdet! Doch eine sinnliche Nacht mit der betörenden Megan verändert alles. Erbittert tobt nun ein Kampf in seinem Herzen: Darf er seine Feindin lieben?

STURM ÜBER DEN HIGHLANDS von BARCLAY, SUZANNE
Sommer 1367: Friede herrscht in den Highlands, seit Lucais Sutherlands Clan Macht erlangt hat. Trotzdem findet er selbst keine Ruhe. Denn Elspeth Carmichael, ist zurückgekehrt - die Frau, die er nie haben konnte und die auch jetzt noch seine unbändige Sehnsucht weckt!

DAS ERBE DES LÖWEN von BARCLAY, SUZANNE
In den Kerker mit ihm! So eiskalt Laurel Maclellan den Befehl erteilt, so heiß spürt sie das Verlangen. Verlangen nach Kieran Sutherland - dem schönen Highlander, der ihre Burg rauben will. Laurel muss sich entscheiden: zwischen Vernunft und brennender Leidenschaft …


  • Erscheinungstag 23.02.2018
  • Bandnummer 0012
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735401
  • Seitenanzahl 752
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Suzanne Barclay

Historical Platin BAND 12

PROLOG

Im schottischen Hochland

Juli 1358

Die Strahlen der aufgehenden Sonne vermochten kaum die unheilvollen Wolken über Curthill Castle zu durchdringen. Trotz der frühen Stunde drängten sich Soldaten an den Wehrgängen der Burg, die Jahrhunderte zuvor auf den natürlichen Verteidigungsbastionen steiler, dunkler Klippen errichtet worden war.

„Passt auf, Leute!“, mahnte der Hauptmann. „Bald werden sie kommen.“ Nach der durchwachten Nacht rieb sich Archie Sutherland müde die Augen.

„Da, ein Schiff!“, rief der Beobachtungsposten.

Sofort verflog Archies Müdigkeit. Diesem Augenblick fieberte er entgegen, seit er erfahren hatte, Lionel Carmichaels Schiff würde, einen Trupp Soldaten an Bord, nordwärts segeln. Dem Dudelsackspieler befahl er, das Alarmsignal zu geben. „Alle Posten müssen bereitstehen, die Besatzung der Hawk muss sofort Nachricht erhalten“, rief er. „Sobald ich Mylord mitgeteilt habe, das Schiff sei gesichtet worden, komme ich zurück.“

Das schrille, gespenstische Kreischen des Dudelsacks riss die Sutherlands aus den Betten und übertönte das Gepolter der Zugbrücke, die nun herabgelassen wurde. Archie ritt aus der Burg. Da die Zeit drängte, galoppierte er in halsbrecherischer Geschwindigkeit den steilen, gewundenen Weg zum Dorf hinab, das im Windschatten der Klippe lag.

Türen und Fensterläden flogen auf, während er an Holz- und Steinhäusern vorbeisprengte. Angstvolle Stimmen fragten nach dem Feind, der Curthill in den letzten zehn Monaten zweimal attackiert hatte, aber Archie beachtete sie nicht. Erst als er den schmalen Felsenstrand erreichte, wo die Fischerboote lagen, hielt er inne. Dreißig bewaffnete Krieger in ihren Rüstungen sahen ihm entgegen. Er sprang aus dem Sattel und lief zu dem kostbar gekleideten Mann, der sich an einem kleinen Lagerfeuer wärmte. „Carmichaels Schiff segelt auf uns zu, Mylord“, keuchte er.

„Ah!“ Erwartungsvoll wandte sich der Lord zur See. Er war hochgewachsen und gertenschlank, mit scharf geschnittenen Zügen. Trotz seiner schottischen Herkunft trug er eine Rüstung im französischen Stil. Seine hellen Augen verengten sich, als er die Segel des feindlichen Schiffes entdeckte. Und sein Puls beschleunigte sich, im Einklang mit den rastlos schäumenden Wellen, die gegen die Felsbrocken schlugen. Bald würde Carmichael mitsamt seinem Gefolge auf dem dunklen Meeresgrund ruhen, ein passendes Ende für einen Mann, der es wagte, seine Pläne zu durchkreuzen. „Habt Ihr mein Schiff alarmiert?“, fragte er Archie.

„Aye. Alle Eure Befehle wurden befolgt, Mylord. Die Bogenschützen stehen auf den Klippen bereit. Sobald Carmichael in den Hafen eindringt, segelt die Hawk aus der Bucht und greift sein Schiff von hinten an.“

Ein dünnes, kaltes Lächeln belohnte diese Antwort. „Das dürfte dem alten Lionel Carmichael die größte Überraschung seines Lebens bescheren, was?“

„Den nehmen wir ganz schön in die Zange.“ Boshaft stimmte der Hauptmann in das Gelächter seines Anführers ein. „Ich würde meinen Anteil an unserer nächsten Beute dafür geben, könnte ich Carmichaels Gesicht sehen, wenn er merkt, dass Curthill keineswegs ein schutzloses Fischerdorf ist.“

„Nein, das ist es gewiss nicht.“ Der Lord blickte zu den schäbigen Hütten hinüber, die so viel verbargen – die Bewohner und die Arbeit, die sie nachts verrichteten. „Die Dinge haben sich großartig entwickelt“, sagte er mehr zu sich selbst.

Der Hauptmann spuckte auf den steinigen Boden. „Warum gab Carmichael sich nicht mit unserer Behauptung zufrieden, sein Sohn habe einen tödlichen Jagdunfall erlitten?“

„Die Carmichaels halten fest zusammen. Wahrscheinlich macht es für den Alten gar keinen Unterschied, wie Lion gestorben ist. Er will Blut sehen – Sutherland-Blut – und seinen geliebten Erben rächen.“

„Nun, diesmal werden wir ihm Einhalt gebieten, ein für alle Mal. Zum Glück ist die Hawk erst kürzlich in den Hafen eingelaufen, mit reicher Beute. Sonst stünden uns im Kampf gegen Carmichael nur die Burggarnison und Eure Söldner zur Verfügung.“

„Ja, und wir können’s uns nicht leisten, Lionel Carmichael noch länger gewähren zu lassen. Alle paar Monate segelt er hierher und vereitelt unsere Pläne. Wenn wir ihm diesmal nicht den Garaus machen, beschwere ich mich beim König. Er erhielt damals einen lückenlosen Bericht über Lions Tod. Und er weiß, wie tief wir den unglückseligen Zwischenfall bedauern.“ Voller Genugtuung erinnerte sich Seine Lordschaft an den Tag, wo er während der Jagd einen Streit vom Zaun gebrochen und den jungen Ritter beseitigt hatte, der zu einem zweifachen Ärgernis geworden war – in geschäftlicher und persönlicher Hinsicht. „König David war so bewegt angesichts unserer misslichen Lage, dass er versprach, Carmichael mit Acht und Bann zu belegen, sollte der Mann noch weitere Rachefeldzüge unternehmen.“

„Und wenn der König seine Ritter hierher schickt?“

„Was würden sie finden?“, fragte der Lord mit jenem sanften, unschuldigen Lächeln, das schon viele Leute veranlasst hatte, ihn zu unterschätzen. „Ein paar Dorfbewohner, die ihrem ehrbaren Tagewerk nachgehen.“

„Und ein Lagerhaus, vollgestopft mit Sachen, von denen der König nichts ahnt.“

Verächtlich schnaufte Seine Lordschaft. „Ihr führt Euch auf wie ein altes Weib. Nun betreiben wir unsere Geschäfte schon seit zwei Jahren, und niemand hat etwas gemerkt. Nicht einmal Megan Sutherland, die sich einbildet, sie wüsste ganz genau, was in Curthill Castle und im Dorf geschieht.“

„Ja, sie wurde ebenso zum Narren gehalten wie die anderen.“ Archie kicherte. „Nur der junge Lion schöpfte Verdacht.“

„Aber bevor er irgendetwas herausfinden konnte, brachten wir ihn zum Schweigen“, betonte der Herr von Curthill. „So wird es auch allen anderen ergehen, die hier herumschnüffeln und uns ins Handwerk pfuschen wollen.“

1. KAPITEL

Im schottischen Tiefland

Schloss Carmichael

Laird Lionel ist zurückgekehrt.“ Owain of Llangollen sprach mit leiser Stimme, aber sein Herr, der die Einschnitte eines Kerbholzes studiert hatte, richtete sich ruckartig auf.

„Ist er unverletzt?“, fragte Ross Carmichael, die leuchtend blauen Augen voller Angst.

„Ja.“ Owain betrat das Kontor. „Aber Euer Vater trägt den Kopf nicht mehr so hoch wie bei seinem Aufbruch zu dieser Jagd.“

Ross umklammerte das Kerbholz so fest, dass es beinahe zerbrach. „Gewiss lockte ihn kein Rotwild in den Norden, sondern der Sutherland-Clan.“

„Ja, wahrscheinlich“, stimmte der Waliser zu.

„Verdammt! Wenn der König davon erfährt …“

„Das bezweifle ich. Der beschwerliche Ritt vom Sutherland-Gebiet am Dornoch Firth bis nach Edinburgh dauert zwei Wochen.“

„Aber auf dem Seeweg nur vier Tage. Deshalb kam Vater so schnell zurück. Zum Teufel mit seiner Rachsucht!“ Erbost warf Ross das Kerbholz zu Boden und sprang auf. „Wo er meiner Mutter und mir doch versprochen hat, die Sutherlands nicht mehr zu verfolgen!“ Er ging zum schmalen Fensterschlitz und stützte beide Hände gegen die Steinmauer. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf sein markantes Profil mit der breiten Stirn, der aristokratischen Nase, dem eigenwilligen Kinn. Sein hochgewachsener, muskulöser Körper bebte, als er seinen Zorn zu bezähmen suchte. Und es gelang ihm.

Nach all den Jahren, in denen er seinen Vater vor Wut toben sah, hat er gelernt, seine eigenen Leidenschaften im Zaum zu halten, dachte Owain. Die kühle Vernunft seines jungen Herrn hatte ihn bewogen, seine walisische Heimat zu verlassen und ihm zu dienen. Aber Laird Lionels wilder Rachedurst stellte Ross’ Geduld auf eine harte Probe. „Ein Vater hat das Recht, Sühne für den Tod seines ältesten Sohnes und Erben zu fordern“, meinte Owain beschwichtigend.

Davon wollte Ross nichts hören. „Wenn König David das erfährt, wird er uns alle zur Rechenschaft ziehen, so wie er es letztes Mal androhte, als Vater im Hochland zur ‚Jagd‘ ging.“

Owain nickte. Nicht die Sorge um sich selbst bedrückte Ross, sondern die Angst um seine Mutter, die sechs Geschwister und den ganzen Clan. Er nahm seine neue Verantwortung als Erbe sehr ernst, seit Lion vor zehn Monaten gestorben war, während er die Burg Curthill aufgesucht hatte, um Siusan Sutherland zu heiraten. „Vielleicht solltet Ihr zum König gehen und ihm alles erklären“, schlug der Waliser vor.

„Was denn?“ Ross drehte sich verbittert um. „Dass Vater nicht an einen Jagdunfall glauben will, trotz aller Zeugenaussagen behauptet, Eammon Sutherland habe Lion getötet, und weder ruhen noch rasten wird, bis das Blut der Sutherlands die See rot färbt? Davon lässt er sich nicht einmal abbringen, wenn der ganze Clan Carmichael mit Acht und Bann belegt wird.“ Seufzend strich er das dichte schwarze Haar aus der Stirn, das er von seinem Vater geerbt hatte.

„Vermutlich gestattet Euch der Laird nach dieser letzten Niederlage, jemanden nach Curthill zu schicken, der den Sutherlands nachspionieren und die Wahrheit herausfinden könnte.“

„Vater hört nicht auf meine Ratschläge.“ Das verletzte Ross, aber nicht so schmerzlich wie die Weigerung des Vaters, ihn offiziell zum Erben zu ernennen. Inzwischen waren zehn Monate seit Lions Tod verstrichen – und vier seit der Rückkehr des zweitältesten Sohnes aus dem Krieg in Wales. „Die Wahrheit kümmert ihn nicht. Er will nur möglichst viele Sutherlands töten.“

„Aye, manchmal beschwört die Trauer einen solchen Wahn herauf.“

„Ich sollte ihn an sein Bett fesseln, bis er wieder zur Vernunft kommt, sonst bringt uns seine Rachsucht noch ins Grab. Ich segle selbst nach Curthill.“

Erschrocken eilte Owain zu seinem Herrn und packte ihn bei den Schultern. „Dieser Wahnsinn muss ansteckend sein. Was hofft Ihr zu gewinnen, wenn Ihr Euch in Gefahr bringt?“

„Die Wahrheit.“

„Glaubt Ihr, Laird Lionel gibt sich zufrieden, wenn Ihr den armen Burschen anschleppt, dessen Pfeil versehentlich in Lions Rücken stecken blieb? So einfach ist das nicht. Es würde die tiefe Trauer Eures Vaters nicht mildern.“

„Aber die Wahrheit ist alles, was ich ihm zu bieten vermag. Und wenn er dann immer noch von seinem Wahn besessen ist, sperre ich ihn in den Turm.“

„Ross Carmichael, wie kannst du es wagen!“, rief eine Kinderstimme, und er sah seine elfjährige Schwester in der Tür stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die violetten Augen voller Zorn.

Besänftigend hob er eine Hand. „Elspeth, das verstehst du nicht …“

„Ich komme hierher, um dir von Vaters Heimkehr zu berichten, und ertappe dich bei einem Komplott gegen ihn, du Verräter!“ Wütend stürmte sie davon.

„Ehe sie irgendwelchen Unsinn erzählt und alles noch schlimmer macht, gehe ich ihr lieber nach.“ Zuvor nahm Ross sich noch genug Zeit, um die Kerbhölzer und das Buch, in dem die Zahlungen der Pächter eingetragen wurden, in einer Kassette zu verschließen. Seit seinem zwölften Lebensjahr erledigte er die Buchhaltung, denn weder sein Vater noch Lion hatten sich je dafür interessiert.

Er holte tief Atem und überlegte, wie er den Zorn des Lairds am besten bezähmen konnte. Früher hatte er die lebhaften Diskussionen mit dem Vater genossen, aber seit Lions Tod nicht mehr. Denn hinter diesen Willenskämpfen steckten zu viele Schuldgefühle, zu viel Leid. Könnte er doch zurücknehmen, was er an jenem verhängnisvollen Tag gesagt hatte, bevor Lion nach Curthill aufgebrochen war … Aber es gab kein Zurück. Und zwischen Ross und seinem Vater würde niemals Friede herrschen.

Energisch schloss er die Tür zur Vergangenheit und verließ das Schlafgemach hoch oben in der alten Festung, vom ersten Laird Carmichael erbaut. Er stieg die steile, schmale Turmtreppe hinab, deren enge Windungen jeweils nur einem eventuellen Angreifer Platz boten, dann betrat er das Kopfsteinpflaster des Hofs, an allen Ecken von Türmen flankiert, die spätere Generationen des wohlhabenden Clans hinzugefügt hatten. Wie mächtige graue Wächter hüteten sie die niedrigeren Bauten, die Kapelle, die Küche und die Stallungen. Trotz seines inneren Aufruhrs empfand Ross unbändigen Stolz beim Anblick des Lebens und Treibens innerhalb der Mauern der Burg, die er jetzt als sein Erbe betrachtete.

Seit seiner Rückkehr vom Waliser Feldzug trugen seine Kenntnisse in der Landwirtschaft und sein Geschäftssinn reiche Früchte, während andere Clans darbten. Klug und gerecht schlichtete er alle Streitigkeiten zwischen seinen Clansleuten, die ihm Respekt zollten. Aber solange der Laird zögerte, ihn offiziell zum Erben zu ernennen, untergrub er die Bemühungen und Erfolge seines Sohnes.

Im Hof tummelten sich Lionels Männer, die nach der Heimkehr ihre Pferde versorgten und das Rüstzeug wegbrachten. Einige nickten ihm lächelnd zu, andere wichen seinem Blick aus. Andrew Carmichael spuckte zu Boden, als Ross auf ihn zukam, und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

Ärgerlich presste Ross die Lippen zusammen. Verdammt, er wollte sich nicht mit dem grauhaarigen Ritter streiten, Lions einstigem stellvertretenden Kommandanten. Nicht, weil er die Fechtkunst des Mannes fürchtete, der beide Brüder gelehrt hatte, das Schwert zu schwingen, sondern weil ein Zwist die Lage noch verschlechtern würde. Eine seltsame Spannung knisterte in der Luft, die Männer fanden sich zu Gruppen zusammen, ergriffen Partei für diese oder jene Seite, und Ross wusste, dass er die Bemerkung nicht überhören durfte. Sonst würde man ihn für einen Schwächling halten. „Habt Ihr mir etwas mitzuteilen, Andrew?“

Das wettergegerbte Gesicht des Ritters nahm fast die gleiche Farbe an wie die roten Strähnen, die sein graues Haar immer noch durchzogen. Seine braunen Augen drückten Verachtung aus. „Ich sagte nur, Ihr seht völlig erschöpft aus, nachdem Ihr während unserer Abwesenheit unentwegt über Euren Büchern gehockt habt.“

Diese Attacke vonseiten eines Mannes, den er stets bewundert und der bis zu Lions Tod sein Freund gewesen war, verletzte Ross. „Nur gut, dass ich mich um die Geschäfte kümmere!“, stieß er hervor. „Denn sonst könnten wir das Rüstzeug, das Ihr für Eure ‚Jagdausflüge‘ braucht, bald nicht mehr bezahlen.“ Er bedachte Andrew mit einem vernichtenden Blick. Dann musterte er die anderen Männer und entdeckte mehrere blutige Verbände. Einige Pferde hatten ebenfalls Wunden davongetragen. „Vermutlich finde ich den Laird in der Halle“, fügte er hinzu und ging davon.

Als er den Eingang erreichte, hallte die zornige Stimme seines Vaters vom hohen Gewölbe wider. „Wir waren tatsächlich auf der Jagd!“ Auch hier erfüllte eine spürbare Spannung die schwüle Sommerluft, in der sich die seidenen Banner an den Deckenbalken kaum bewegten. An den langen Tischen saßen neugierige Carmichaels. Sogar die Figuren auf den Wandteppichen schienen den Laird anzustarren. Dienerinnen eilten umher, die Brot, Speck, Käse und Ale zur Stärkung anboten.

Lionel stand vor dem großen Kamin, in dem um diese Jahreszeit kein Feuer brannte. „Die Sutherlands müssen bestraft werden!“, brüllte er. Zu seiner Rechten stand Elspeth, und als sie Ross entdeckte, zupfte sie am Ärmel des Vaters. Aber dessen Aufmerksamkeit galt der kleinen, zierlichen Frau, die seinen Blick furchtlos erwiderte.

„Es wäre ein sinnloser Sieg, wenn der König uns mit Acht und Bann belegte“, erinnerte ihn Carina Carmichael. Tapfer stand sie vor ihm, gewandet in blaue Seide, die zu ihren Augen passte. Nie hatte Ross seine Mutter so sehr bewundert wie in diesem Moment. Sie war klug, loyal und charakterstark. Keine Frau konnte sich mit ihr messen, schon gar nicht Rhiannon, die walisische Hexe, deren Verrat so viel Leid heraufbeschworen hatte.

„Ich habe das Recht, den Tod meines Sohnes zu rächen!“, schrie der Laird und hob eine Hand, aber niemand fürchtete, er könnte seine Gemahlin schlagen. Trotz seines zügellosen Temperaments liebte er sie zärtlich und hatte seinen Söhnen stets eingeschärft, man müsse die Frauen ehren und schützen, dürfe sie niemals missachten und prügeln, wie es so manche Männer taten.

Wegen dieser Lektion war ich eine leichte Beute für die tückische Rhiannon, dachte Ross, während er zwischen den Tischen zu seinen Eltern eilte. Nie wieder würde er einer Frau trauen, die nicht seinem Clan angehörte.

„Lion war auch mein Sohn“, betonte Carina.

Schwer sanken Lionels Schultern nach vorn. Die Zornesröte konnte das fahle Grau der Müdigkeit und Verzweiflung, das seine Wangen überzog, nicht verdecken. Wie gern hätte Ross ihn umarmt … Aber der Vater hätte ihn zurückgewiesen, wünschte weder das Mitleid noch die Zuneigung seines zweitältesten Sohnes.

„Nun, hast du diesmal jemanden getötet?“, fragte Ross kühl.

„Nein. Die Sutherlands, diese Schurken, schickten Piraten los, die uns von hinten angriffen. Aber wir konnten rechtzeitig fliehen und müssen nicht mehr beklagen als einen gebrochenen Mast und ein paar blutige Kratzer.“

„Ja, diesmal …“

Die Kinnmuskeln des Lairds verkrampften sich. „Wenigstens wollen die Ritter und ich Lions Tod rächen. Zumindest wir haben keine Angst vor den Sutherlands.“

„Du fürchtest nur die Wahrheit. Deshalb verbietest du mir, Ermittlungen in Curthill durchführen zu lassen. Denn es könnte sich herausstellen, dass Lion tatsächlich einen Unfall erlitten hat.“ Ein Raunen ging durch die Halle, gespannt beugten sich die Zuschauer vor.

„Lionel, Ross – oben in meinem Gemach könnten wir ungestört reden“, schlug Mylady Carina vor.

Wortlos stapfte Lionel zur Treppe. Wie eine Klette hing Elspeth an seiner Hand.

„Warum musst du ihn so bedrängen?“, fragte ihn die Mutter, während sie mit Ross die Stufen hinaufstieg.

„Weil ich nach Curthill fahren und herausfinden möchte, was wirklich mit Lion geschehen ist. Nur dann werden wir wieder in Frieden leben können.“

„Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Ross.“

„Hätte ich Lion begleitet, statt mein Wort zu halten und in Wales zu kämpfen, wäre er vielleicht nicht gestorben.“

Seine Verzweiflung ging ihr sehr nahe. So schmerzlich sie auch um den Erstgeborenen trauerte, nun betrachtete sie es als ihre Pflicht, Ross über seine Schuldgefühle hinwegzuhelfen, die Kluft zwischen Vater und Sohn zu überbrücken. Wenn bloß keine so krassen Gegensätze zwischen den beiden bestünden … War es ein Fehler gewesen, dem Sohn ihres Herzens beizubringen, dass nicht nur der Kampf und die Jagd das Leben eines Mannes bestimmten, dass noch andere Dinge zählten?

Nein, er war tapfer und loyal, einfühlsam und klug genug, um die Gefahr zu erkennen, in die man sich begab, wenn man ein Gebot des Königs missachtete. Ross hatte die Waliser bekämpft, als die Nachricht von Lions Tod eingetroffen war, und erst vor wenigen Monaten zurückkehren können. Danach war er verändert gewesen – härter, kühler, unbeugsamer, vor allem, wenn es um seine Ehre ging.

„Auch in deiner Begleitung hätte Lion sterben können“, erwiderte Lady Carina, aber er zuckte nur die Achseln. Irgendwie muss ich Mittel und Wege finden, um das alles in Ordnung zu bringen, dachte sie, während sie die Kemenate betraten. Webstühle und Rahmen für Wandteppiche nahmen fast die Hälfte des Raumes ein, nun standen sie unbenutzt, und die Dienerinnen würden erst nach oben kommen, wenn die Herrin nach ihnen rief.

Elspeth füllte gerade einen Becher mit gewürztem Wein und brachte ihn dem Vater, der vor dem Kamin saß und nachdenklich ins Leere starrte. Eine Hand auf der geschnitzten Stuhllehne wandte sie sich herausfordernd zu ihrer Mutter und ihrem Bruder. „Vater, Ross hat gedroht, dich zu töten.“

Bestürzt rang Lady Carina nach Atem. „Sicher hat er so etwas nie gesagt.“

„Ha!“, rief Lionel Carmichael höhnisch. „Dann könnte er früher den Titel des Lairds tragen.“

„Gib sofort zu, dass du lügst!“, mahnte Ross. „Oder du wirst es bitter bereuen.“

„Also gut“, murmelte Elspeth mürrisch.

„Schande über dich!“, schimpfte Lady Carina.

„Sie kann nichts dafür“, erklärte Ross. „Frauen sind geborene Lügnerinnen. Zumindest Rhiannon war in dieser Kunst eine Meisterin.“

„Da muss ich ganz energisch widersprechen!“ Lady Carina drückte einen gefüllten Becher in Ross’ Hand. „Die Frauen lügen nicht mehr oder weniger als die Männer.“

Feindselig musterte Lionel seinen Sohn. „Mir wär’s jedenfalls lieber, du würdest mich zum offenen Kampf fordern, statt lauthals zu verkünden, dass du mich in den Turm sperren willst.“

Einen Arm auf das Kaminsims gestützt, umklammerte Ross seinen Becher so fest, dass das Relief des Familienwappens schmerzhaft in seine Hand schnitt. „So kann es nicht weitergehen, Vater.“

„Es ist unser gutes Recht Lion zu rächen“, fiel der Laird ihm ins Wort, „selbst, wenn dir der Mut dazu fehlt.“

Mühsam zwang Ross sich zur Ruhe. Sein Vater wusste, dass es ihm nicht an Mut mangelte. Nur ein Jahr jünger als Lion, war er gemeinsam mit seinem Bruder zum Kämpfer ausgebildet worden, und er verstand es, sein Schwert zu schwingen, aber stets mit Bedacht. Hingegen hatte Lion, ein kopfloser Draufgänger, schon mit fünfundzwanzig Jahren sein Ende gefunden. „Wir müssen herausfinden, was wirklich geschehen ist.“

„Pah!“ Lionel leerte seinen Becher und sprang auf, mit einer Geschmeidigkeit, die seine fünfzig Jahre Lügen strafte, und schenkte sich noch etwas Wein ein. Seine Tochter wollte ihm folgen, aber die Mutter zog sie auf den Schemel, der zu Füßen ihres Armstuhles stand. Eisern hielt sie das Kind fest, trotz seiner heftigen Gegenwehr. Kleine Furie, dachte Ross. Sie hätte als Junge auf die Welt kommen sollen. Beharrlich weigerte sich Elspeth, ein sittsames, mädchenhaftes Verhalten zu zeigen.

„Ich glaube, du bist sogar froh über Lions Tod!“ Abrupt drehte der Laird sich um, Wein tropfte zu Boden. „Von Anfang an hast du ihn um sein Erbe beneidet.“

Ein kalter Schauer lief Ross über den Rücken. Er hatte die Wahrheit gesucht, und nun erkannte er das Krebsgeschwür, das an der Seele des Vaters fraß, seit der Leichnam des Erstgeborenen heimgebracht worden war, in einen Sack genäht.

Aber bevor Ross antworten konnte, erhob sich die Mutter. „Gib doch auf die Teppiche acht, die dich ein Vermögen gekostet haben.“ Rasch nahm sie einen Lappen aus ihrem Flickkorb, sank auf die Knie und betupfte den Fleck, der in Ross’ Augen wie Blut aussah, das sinnlos vergossene Blut seines Bruders. „Wie kannst du nur so von Ross denken? Das verstehe ich nicht. Das alles muss ein Ende haben. Es zerreißt mir das Herz …“

Der Laird blickte auf ihren gesenkten Kopf hinab, die zitternden Schultern. „Ah, Carina!“, seufzte er, stellte den Becher ab und kniete neben ihr nieder. „Du weißt doch, ich will deine Tränen nicht sehen.“ Ungeschickt tätschelte er ihren Rücken.

„Ich weine nicht.“ Mit verschleierten Augen sah sie ihn an. „Indes ertrage ich euern Zwist nicht länger.“

Verzweifelt trat Ross näher und fiel ebenfalls auf die Knie. „Vater, ich schwöre dir – niemals wollte ich haben, was Lion zustand.“

„Ha! Schon immer hast du diese Burg und die Ländereien geliebt.“

„Das leugne ich nicht, aber ich war nie bestrebt, sie für mich zu gewinnen, denn ich hatte andere Pläne.“

„Lionel“, beschwor Lady Carina ihren Gemahl, „siehst du denn nicht ein, wie falsch und gefährlich deine Rachsucht ist?“

„Ich kann nicht anders.“

Und darin liegt das ganze Problem, dachte Ross traurig. Auge um Auge, das forderten die alten Sitten. König David jedoch hatte zwölf Jahre am englischen Hof verbracht und vertrat seither zivilisiertere Ansichten. Dafür bewunderte ihn Ross, und nach seiner Meinung durften die Sutherlands nicht für einen Unfall bestraft werden. Falls Lion tatsächlich einem Unfall zum Opfer gefallen war. „Wir müssen dem König Beweise vorlegen. Vater, erlaube mir wenigstens, Nachforschungen anzustellen …“

„Nein! Eammon Sutherland soll sterben. Immerhin hat er seine verfluchte Tochter bewogen, meinen Sohn in den Tod zu locken.“

Ehe Ross weitere Argumente vorbringen konnte, flog die Tür auf, und Hunter stürmte herein, die Wangen gerötet. „Vater, du bist wieder zu Hause.“ Beim Anblick des knienden Trios hielt der lebhafte Sechzehnjährige verwundert inne. „Was macht ihr denn da? Habt ihr etwas verloren?“

„Sehr viel“, entgegnete Ross grimmig, erhob sich langsam und beobachtete, wie sein Vater der Mutter auf die Beine half.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass du gegen die Sutherlands kämpfen würdest, Vater?“, fragte Hunter vorwurfsvoll. „Ich wäre mitgekommen.“

„Ich auch!“, rief Elspeth.

„Du bist nur ein Mädchen“, spottete Hunter.

Herausfordernd hob Elspeth das Kinn. „Ich reite genauso gut wie du, und Sir Andrew sagt, ich kann meinen Dolch ebenso schwingen wie …“

„Elspeth Carmichael, hast du dich schon wieder auf dem Fechtplatz herumgetrieben?“, wurde sie von der strengen Stimme ihrer Mutter unterbrochen.

Hilfesuchend wandte sich das Mädchen zum Vater, aber er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Das darfst du nicht. Es ist gefährlich, und es schickt sich nicht.“

„Nur weil ich ein Mädchen bin, soll ich ständig im Haus bleiben und nähen und kochen lernen. Ich hasse das alles, Vater …“

„Ist irgendjemand hungrig?“ Avery trug ein Tablett ins Zimmer, über dem ein weißes Tuch lag. Mit ihren vierzehn Jahren war sie bereits eine Schönheit, das Ebenbild ihrer Mutter. Im Herbst sollte sie verheiratet werden. „Sobald wir von deiner Ankunft hörten, beauftragte mich Mama, für dein leibliches Wohl zu sorgen, Vater.“ Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab, stellte sich auf die Zehenspitzen, um seine schmutzige Wange zu küssen, dann rümpfte sie die Nase. „Willst du nicht die Spuren deiner Reise wegwaschen, Vater? Soll ich ein Bad vorbereiten lassen?“

„Später. Erst möchte ich mich ausruhen.“ Er sah so erschöpft und niedergeschlagen aus, dass Ross’ Herz sich schmerzlich zusammenkrampfte. Könnte er seinem Vater doch den Mann präsentieren, den die Schuld an Lions Tod traf …

„Setz dich, ich spiele dir etwas auf meiner Laute vor.“ Fürsorglich führte Avery ihren Vater zu einem Stuhl. „Das wird dich aufmuntern.“

Verächtlich schnitt Hunter eine Grimasse und stopfte ein Stück Brot in den Mund. „Jetzt, wo sie Simon bald heiraten wird, spielt sie dauernd die künftige Burgherrin.“

„Mama überlässt mir einige ihrer Pflichten“, erklärte Avery, die Laute in der Hand, und sank auf den Schemel, wo Elspeth vorher gesessen hatte. „Und Ross gibt mir Unterricht, wie die Bücher zu führen sind.“

„Ja, das kann er“, murrte Lionel.

Gequält seufzte Ross. Wann würde der Vater endlich aufhören, ihn zu kränken?

„Sogar Anne Fraser reitet herüber, wann immer sie Zeit findet, und geht bei Ross in die Lehre“, verkündete Avery und stimmte ihre Laute.

„Tatsächlich? Und was bringt er ihr denn bei?“ In Lionels Augen funkelte ein schwacher Anflug seines früheren Humors.

„Nichts Unschickliches“, versicherte Avery. „Das würde er niemals wagen.“

„Zu schade“, meinte der Laird. „Wann wirst du Anne um ihre Hand bitten, Ross?“

„Niemals.“ Ross dachte an den Tag zurück, wo er im Regen gestanden und seine toten Männer betrachtet hatte – grausam niedergemetzelt, weil sein Vertrauen in Rhiannon enttäuscht worden war. Damals hatte er geschworen, sich niemals wieder mit einer Frau einzulassen. „Ich muss nicht heiraten, denn du hast genug Erben, falls mir etwas zustößt.“

Die Miene seines Vaters verdüsterte sich. „Also hat Andrew recht. Wegen dieser Waliserin fürchtest du dich nun vor allen Mädchen. Darüber solltest du möglichst schnell hinwegkommen. Ich werde nicht jünger, und bevor ich sterbe, möchte ich meinen Enkel im Arm halten.“

Und du wünschst dir, es wäre Lions Sohn, nicht meiner, ging es Ross durch den Kopf. „Ich kenne meine Pflicht, und ich werde sie erfüllen“, erwiderte er kühl.

„Hoffentlich findest du eine Frau, die du wirklich liebst“, seufzte seine Mutter wehmütig.

„Der Erbe so großer Ländereien kann sich diesen Luxus nicht leisten“, gab der Laird zu bedenken – mit boshaftem Vergnügen, wie Ross fand.

„Nun, die Missbilligung meines Vaters hat dich nicht daran gehindert, mich zu heiraten.“ Lady Carina warf dem Gatten einen liebevollen Blick zu.

„Nein. Ich sah, was ich wollte, und das nahm ich mir.“ Schöne Erinnerungen erwachten, als er die Frau anlächelte, die er seinerzeit entführt hatte.

„Auch Ross sollte genau das bekommen, was er will.“

Unwillig wich der Laird dem Blick seiner Gemahlin aus. „Das hat er doch schon. Nach meinem Tod wird er den Titel des Lairds tragen.“

Es klopfte an der Tür, und der Majordomus trat ein. „Eine Nachricht vom König.“

Sechs Augenpaare wandten sich ihm zu. Lady Carina erlaubte dem Boten einzutreten, und der Mann überreichte dem Laird eine Ledertasche, die ein Pergament enthielt.

Nachdem Lionel das Siegel geprüft hatte, nickte er. „Ihr habt Eure Pflicht getan. Geht mit dem Majordomus nach unten, er wird dafür sorgen, dass Euch Speise und Trank gebracht werden.“ Dann gab er den Brief an seine Gemahlin weiter, sobald der Kurier den Raum verlassen hatte.

Mit zitternden Händen brach sie das Siegel und überflog das Schreiben. „Oh mein Gott!“

„Was ist los?“ Ross trat vor und nahm ihr das Pergament aus den schlaffen Fingern. Sein Mund wurde trocken. „Der König weiß Bescheid über den letzten Angriff gegen die Sutherlands. Und er bestraft mich dafür …“

„Du warst doch gar nicht dabei!“, rief Lionel.

Krampfhaft schluckte Ross. „Um die Fehde zu beenden, soll ich Megan Sutherland heiraten.“

„Den Teufel wirst du!“ Lionel entriss ihm das Pergament, sein Blick suchte die empörenden Zeilen. „Niemals! Eammon Sutherlands Blut darf meine Familie nicht besudeln. Genauso gut könnte ich eine Schlange an meinem Busen nähren.“

„Vater bin ich ganz deiner Meinung.“ Um seine Verzweiflung zu verbergen, trat Ross ans Fenster. Was sollte er tun? Er schaute in den sommerlichen Garten hinab, ein Blütenmeer in Rot, Gelb und Weiß. Zwei kleine Gestalten wanderten den Steinplattenweg entlang, den Lady Carina zwischen den Beeten hatte anlegen lassen. Die sechsjährige Brenna trug einen Korb, während Margaret, neun Jahre alt, Blumen abschnitt. So jung – so verletzlich … Wohin würden sie gehen, wenn er den Befehl des Königs missachtete, David sie alle mit Acht und Bann belegte und sie ihr Heim verlassen mussten?

In Edinburgh hatte Ross das Viertel gesehen, wo die Armen in erbärmlichen Hütten hausten und die Dirnen ihrem Gewerbe nachgingen, manche kaum älter als Margaret. Damit durfte er sein Gewissen nicht auch noch belasten. „Ich habe keine Wahl. Und so werde ich nach Curthill reisen, wie es der König befiehlt.“

„Nein!“ Sein Vater eilte zu ihm, packte ihn bei den Schultern, so fest, als wollte er ihn nie mehr loslassen. „Verdammt will ich sein, wenn ich noch einen Sohn nach Norden schicke, um ihn von diesen Schurken ermorden zu lassen.“

So sehr Ross die väterliche Fürsorge auch schätzte – er wusste, dass eine Missachtung der königlichen Wünsche Not und Elend für alle bedeuten würde, die Carmichael hießen. „Ich kann auf mich selber aufpassen.“

„Und wenn Lion aus einem Hinterhalt überfallen wurde? Glaubst du, davor könntest du dich besser schützen?“

„Immerhin bin ich vorgewarnt“, entgegnete Ross zuversichtlich, obwohl ihm ganz anders zumute war. „Ich nehme alle Ritter mit, die du entbehren kannst.“ Und Owain, der sein Leben hingeben würde, um seinen Herrn zu retten, denn das war er ihm schuldig.

„Du wirst Megan Sutherland nicht zu uns bringen. Dieses Biest will ich nicht hier haben.“

Entschlossen hielt Ross dem zornigen Blick des Vaters stand. „Ich sagte, ich würde nach Curthill gehen.“ Und ich will die Wahrheit über Lions Tod herausfinden, ergänzte er in Gedanken. „Aber ich schwöre bei der Seele meines Bruders, niemals in die Familie einzuheiraten, die ihn ermordet hat.“

„Geld oder Leben!“, rief der Räuber.

„Du bekommst etwas ganz anderes!“ Die Prinzessin zog ihr Schwert und versetzte ihm einen kraftvollen Hieb, worauf er wie am Spieß brüllte, dann schlug sie noch einmal zu. Die Kinder schrien vor Lachen.

Lächelnd kauerte Megan Sutherland hinter dem Fass, das als Bühne diente. Das Püppchen in ihrer rechten Hand verprügelte das in der linken so lange, bis der Strauchdieb um Gnade flehte.

„Und jetzt die Geschichte, wo Lady Fiona zum Schloss läuft, die Ritter zu Hilfe ruft und die Hütte ihrer Pächter rettet!“, verlangte Jannet, die Tochter der Köchin. Ihre braunen Augen funkelten vor Vergnügen.

Megan freute sich über die Begeisterung der Kleinen. Als weiblicher Barde des Sutherland-Clans erfüllte sie die Pflicht, alte Mythen und Legenden am Leben zu erhalten. Mit ihren Puppenspielen konnte sie die Aufmerksamkeit der Kinder mühelos fesseln.

Das Amt des Seanachaidhs, des Barden, wurde nur selten einer Frau übertragen. Dass der Vater sie damit betraut hatte, erwärmte ihr Herz immer noch und entschädigte sie für seine mangelnde Zuneigung in den letzten beiden Jahren. Nein, dachte sie, eigentlich nicht, und ihr Lächeln erlosch. Aber sie konnte sehr gut vorgeben, es wäre so. Geschichten zu erzählen – das war ihr Lebensinhalt.

„Es ist spät geworden.“ Langsam stand sie auf. Wie immer, wenn sie zu lange in einer Stellung verharrt hatte, schmerzten die Muskeln ihres linken Beins, das Erbe jenes Tages, an dem ihr Bruder gestorben war. Geistesabwesend massierte sie ihren Schenkel, mit einer Hand, an deren Fingern immer noch die Puppe steckte.

„Da bist du ja, Meg!“, rief eine helle Stimme. Ihre Cousine Chrissy schloss die Stalltür und rannte herüber. Die langen blonden Zöpfe wippten über ihren runden Brüsten. „Bald ist Essenszeit. Deine Mutter wird dich schon suchen.“ Freundlich, aber energisch scheuchte sie die Kinder aus dem Stall. „Gerade haben wir’s gehört. Sein Schiff ist eingelaufen. Nun müsste er jeden Augenblick in der Burg eintreffen.“

„Ross Carmichael?“ Als die Cousine nickte, presste Megan beide Puppen an die Brust, um ihre rasenden Herzschläge zu besänftigen. „Also ist er gekommen. Das hätte ich nicht gedacht, nach allem, was geschehen ist.“ Armer Lion. Arme Siusan. Ihre Kehle wurde eng, wie immer, wenn sie an das unglückliche Paar dachte – ihre schöne jüngere Schwester, den hübschen Ritter, der sie so leidenschaftlich geliebt hatte. Jetzt war Lion tot – und Siusan verzweifelt.

„Nun, er ist hier. Und ich hoffe nur, diesmal wird alles ein gutes Ende finden.“ Chrissy zupfte einen Strohhalm aus Megans dichtem blondem Zopf. „Komm jetzt, wir müssen uns noch waschen.“

In dem schlichten rostbraunen Kleid, das Megan am Morgen angezogen hatte, um der Mutter im Kräutergarten zu helfen, konnte sie den Besucher nicht empfangen. Das wusste sie, aber sie zögerte trotzdem. „Ich kann es kaum fassen, dass er mich heiraten will.“

„Warum nicht? Du besitzt das Gesicht eines Engels und eine Seele, die genau dazu passt. Und er muss sich glücklich schätzen, wenn er dich erobert.“

„Das meine ich nicht.“ Ich bin kein Engel, dachte Megan. Weder äußerlich noch innerlich. Ihre Lippen waren zu voll, ihre Augen zu groß für das kleine Gesicht, und sie hatte ein viel zu lebhaftes Temperament, was die sittenstrenge Mutter immer wieder bemängelte. Aber das bereitete ihr keine Sorgen. Sie zeigte auf ihr linkes Bein, das von den langen, weiten Röcken verhüllt wurde. „Glaubst du, dass sie ihm davon erzählt haben?“

„Ja – wahrscheinlich“, antwortete Chrissy zögernd. „Gewiss möchte er dich heiraten, sonst würde er die lange Reise nicht auf sich nehmen.“

Sofort verflog die Angst aus Megans großen braunen Augen. „Lion behauptete, ich würde seinem Bruder gefallen. Erinnerst du dich?“

„Mach dir nicht zu große Hoffnungen“, warnte Chrissy.

„Zu spät“, erwiderte Megan lächelnd. „Schon jetzt baue ich auf seine Liebe. Und du musst nicht befürchten, er könnte mir wehtun. Lion erklärte, Ross sei ein wahrer Ritter – hübsch, stark, tapfer, klug und gütig.“

„Kein Mann ist so.“

„Wie schade, dass die Ehe mit dem alten Fergus dich dermaßen gegen die Männer eingenommen hat, Chrissy. Bestimmt ist Ross ganz anders. Lion erzählte, sein Bruder würde niemals die Stimme erheben, nicht einmal, wenn er sich ärgert. Kannst du das glauben? Sogar Vater schreit, wann immer er in Zorn gerät.“ Zumindest hat er das früher getan, dachte Megan. Jetzt nicht mehr. Als er das letzte Mal aus seinem abgeschiedenen Turmgemach heruntergekommen war, hatte er so still und verschlossen gewirkt, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Hastig verdrängte sie die beklemmende Erinnerung. „Ich wette, Ross wird mich genauso lieben wie ich ihn.“

„Oh Meg, bilde dir bloß nichts ein.“

„Keine Bange, obwohl ich unvollkommen bin, wird er mich anbeten.“ Sie musste seine Zuneigung gewinnen, denn er allein konnte ihre Zukunft sichern und Siusans Leben retten. Doch mit dieser Sorge wollte sie sich erst morgen befassen. Heute war alles viel einfacher. „Immerhin habe ich fleißig geübt und kann schon gehen, ohne zu hinken. Schau mal her …“ Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. „Wenn ich mir Zeit nehme – und gut aufpasse …“

Schweren Herzens beobachtete Chrissy ihre Cousine. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Tag, wo man Megan unter dem gestürzten Pferd hervorgezogen und nach Hause getragen hatte. Ihr Bein war an zwei Stellen gebrochen gewesen, die Hüfte an einer. Niemand dachte, sie würde jemals wieder gehen können, auch wenn Lady Mary sie Tag und Nacht pflegte. Aber die mütterliche Fürsorge und Megans tapferer Kampf gegen die Schmerzen und die Verzweiflung führten zum Erfolg. Zunächst lernte die Patientin stehen, dann gehen. Die Muskeln in ihrem Schenkel hatten die ursprüngliche Kraft indes nie mehr zurückgewonnen.

Während Chrissy nun sah, wie das Mädchen über den strohbedeckten Stallboden stelzte, konnte sie nur mühsam ihre Tränen unterdrücken. „Ja, sehr gut“, würgte sie hervor, als Megan ihr über die Schulter einen Blick zuwarf. „Hoffentlich weiß Ross Carmichael die Früchte deines Eifers zu schätzen.“

„Oh ja, ganz gewiss. Er ist nicht der Mann, der mich wegen meines verkrüppelten Beins zurückweisen würde.“ So wie Comyn. Nach dem Unfall hatte ihr erster Verlobter sie verlassen. Aber Ross muss mich lieben, sagte sie sich. Nicht nur, weil sie ihn bewunderte, seit Lion von seinem jüngeren Bruder geschwärmt hatte, sondern weil dieser Mann ihre letzte Hoffnung war. Nur er konnte ihr den Wunsch erfüllen, in einem eigenen Heim zu leben, eine Familie zu gründen.

„Meg? Du hast gestöhnt. Alles in Ordnung?“

„Natürlich“, log Megan und zwang sich zu lächeln. Eigentlich war es keine Lüge, denn es gehörte zu ihrem Wesen, andere Menschen nicht mit ihren Problemen zu belasten.

„Dann gehen wir hinein und kleiden uns fürs Essen um.“ Chrissy zog das schwere Stalltor auf, und sie eilten hinaus – direkt vor die Hufe kraftvoller Streitrösser.

„Achtung!“, rief eine tiefe Stimme. Pferde wieherten schrill, Männer fluchten, zerrten hastig an den Zügeln, um den beiden Mädchen auszuweichen.

Megan versuchte, seitwärts zu springen, aber ihr linkes Bein knickte ein, und sie fiel hin, schlug so hart auf dem gepflasterten Boden auf, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Halb benommen starrte sie das Pferd an, das sich über ihr aufbäumte. Nun glaubte sie, ihren Unfall noch einmal zu erleben. Ihr Mund wurde trocken, reglos lag sie da, wartete auf das erdrückende Gewicht des Tieres, das bald auf sie herabsinken würde. Ein grausiger Aufprall, dann die Ohnmacht, ein schwarzer Abgrund, endlose Schmerzen …

Fluchend riss der Reiter das Pferd zur Seite, sicher setzte es die Vorderhufe auf, ohne Megan Schaden zuzufügen.

Sie holte tief Atem, Staubwolken verschleierten ihr den Blick. In das Dröhnen, das ihre Ohren erfüllte, mischten sich gellende Schreie, lautes Wiehern. Aber sie war unverletzt. Neben ihr stand ein Mann in schimmernder Rüstung. „Ist Euch etwas zugestoßen?“ Besorgt neigte er sich zu ihr hinab.

Angstvoll zuckte sie zurück, denn sie hielt ihn für Comyn.

„Glaubt mir, ich wollte Euch nichts zuleide tun.“ Der Mann klappte das Visier seines Helms hoch, dann nahm er ihn ab und übergab ihn einem Knappen. „Seid Ihr in Ordnung?“ Ungeduldig strich er sein schwarzes Haar aus der gebräunten Stirn.

Lion, war ihr erster Gedanke. Nein, dieser Mann hatte blaue Augen. Ross Carmichael.

Oh Gott, er war so schön, wie ein Erzengel, aus lichten Höhen zur Erde herabgestiegen … Schwarze Locken umrahmten das Gesicht mit den hohen Backenknochen, dem markanten, von dunklen Bartstoppeln bedeckten Kinn. Seine Lippen, sorgenvoll zusammengepresst, bildeten eine schmale Linie. Aber es waren die Augen, die Megan fesselten – von warmem Glanz beseelt, klar und strahlend blau wie der Sommerhimmel.

„Könnt Ihr sprechen?“ Seine Stimme klang so sanft, dass sie sich fragte, ob er vielleicht nur ein Traum war. Sie wollte ihn berühren, dann merkte sie, dass ihre Hände immer noch in den Stofffiguren steckten, und zog sie rasch zurück.

Doch er war schneller und umklammerte ihre Handgelenke. „Was ist das? Besondere Handschuhe? Eine neue Mode im schottischen Hochland?“

„Das ist Lady Fiona.“ Ihre Wangen brannten wie Feuer.

Sein Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. „Puppen? Zum Theaterspielen?“

„Damit vertreibe ich den Kindern die Zeit.“

„Oh, das würde meinen Schwestern gewiss gefallen.“

Vier Schwestern. Das wusste sie von Lion. Sie hatte überlegt, wie sie in einer Burg voller Menschen leben sollte, die ihrer Familie die Schuld an Lions Tod gaben. Nun sah sie eine Möglichkeit, die Zuneigung der Carmichaels zu gewinnen. „Ich würde sehr gern für sie spielen …“

„Oh Megan!“ Aufgeregt drängte sich Chrissy zwischen den neugierigen Zuschauern hindurch. „Bist du verletzt?“

„Ihr seid Megan Sutherland?“, fragte Ross, und sie nickte. Abrupt ließ er ihre Hand los, als hätte er sich verbrannt, und trat zurück. Seine Augen wirkten plötzlich so kalt wie ein Bergsee im Winter und jagten ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. „Sollen sich die Sutherlands um ihresgleichen kümmern!“, stieß er hervor, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Stöhnend schloss Megan die Augen.

„Bist du verletzt?“, wiederholte Chrissy.

„Mein Herz – es ist zerbrochen …“

„Spiel nicht Theater!“

„Ich wünschte, es wäre so.“ Megan richtete sich auf und starrte Ross nach. „Er mag mich nicht. Er wird mich niemals lieben.“

2. KAPITEL

Zum Teufel mit meinem rachsüchtigen Vater, dachte Ross, während er Zeus striegelte, zum Teufel mit dem kupplerischen König und Megan Sutherland. Zur Hölle mit ihren leuchtenden braunen Augen, ihrem scheuen Lächeln – und ihren Puppen …

Wieso spielte eine erwachsene Frau mit Puppen? War sie nicht ganz richtig im Kopf? Ross striegelte das Fell seines Hengstes noch heftiger. Versuchte der tückische Eammon, ihm eine schwachsinnige Braut anzudrehen, um den Carmichaels die wütenden Angriffe heimzuzahlen? „Ich soll wohl dieses zurückgebliebene Mädchen heiraten und meine Familie mit geistesgestörten Kindern besudeln“, murmelte Ross und vergaß, dass er ohnehin schon beschlossen hatte, diese Ehe abzulehnen.

„Warum lasst Ihr Eure Wut an dem armen Zeus aus?“, fragte Owain trocken.

„Tut mir leid, alter Junge“, entschuldigte Ross sich bei dem Hengst und tätschelte das seidige Fell. Das große graue Streitross, in England gezüchtet, verdiente es wirklich nicht, so schmählich behandelt zu werden, nur weil er sich über Megan Sutherland ärgerte.

Eigentlich grollte er sich selbst, wegen des tiefen Kummers in ihren braunen Augen. Warum hatte er sie so schroff zurückgewiesen, wo er doch versucht gewesen war, die Frau zu trösten, die er verachtete? Weil sie so schön war …

Nicht nur schön – verführerisch. Die mandelförmigen, schräg gestellten Augen unter den sanft geschwungenen Brauen verliehen dem zarten Gesicht eine berückende sinnliche Ausstrahlung. Im schattigen Burghof hatten sie fast schwarz geschimmert. Solche Augen konnten einen Mann verleiten, seine Pflicht und seine Ehre zu missachten.

Er hatte sie sofort begehrt – ohne ihren Namen zu kennen. Das erschreckte ihn. Seit Rhiannons Verrat hatte er sich gelobt, jene heiße, gefährliche Leidenschaft zu bezähmen, die seine kühle Vernunft gelegentlich zu übermannen drohte. Aber offenbar konnte er diese angeborene Lust ebenso wenig verleugnen wie seine Haarfarbe.

„Der Fluch der Carmichaels“, flüsterte er.

Diese glühenden Gefühle hatten seine Eltern verbunden und Lion besiegt, als er Siusan bei jener unheilvollen Clanversammlung begegnet war. „Sie macht mich ganz verrückt“, hatte er erklärt, seinem Vater getrotzt und den Rat des Bruders verschmäht, um ins Verderben zu reiten.

Nur wegen eines Mädchens mit braunen Augen und einem Mund, wie geschaffen … Schaudernd riss Ross sich zusammen. Er musste Megan widerstehen, denn sie war genauso wie Rhiannon. Auch wenn sie sich äußerlich nicht glichen, beide besaßen rabenschwarze Seelen und versuchten, die Männer zu umgarnen, um ihre eigenen bösartigen Ziele zu verfolgen.

Aber das würde Megan nicht gelingen. Energisch bekämpfte Ross die unerwünschte Hitze in seinen Lenden.

„Die Sutherlands erwarten Euch sicher schon zum Essen“, bemerkte Owain.

„Sollen sie doch!“ Vor Stunden waren sie angekommen, und Ross hatte die Burg noch immer nicht betreten. Er schüttelte den Kopf, um Megans schönes Bild zu verscheuchen, und kümmerte sich wieder um Zeus.

„Wollt Ihr nicht mit ihnen speisen?“

„Nicht aus freien Stücken. Aber ich fürchte, Lord Nigel wird mich bald in die Halle führen.“ Welch großen Wert der König auf diese Ehe legte, die eine endlose Fehde der Clans verhindern sollte, hatte er mit der Anordnung bekräftigt, sein Onkel Nigel müsse den Bräutigam nach Curthill begleiten. Auf der Schiffsreise nach Norden versuchte der alte Mann, ein Loblied auf die Braut zu singen. Aber Ross hatte seine Ohren verschlossen. Er wollte sie nicht heiraten, also brauchte er nichts über sie zu wissen. Aber wie sollte er einen Ausweg aus der üblen Lage finden, wenn Seine Lordschaft ihm ständig über die Schulter spähte?

„Seltsam – Eammon Sutherland kam nicht in den Hafen, um uns zu begrüßen.“ Owain zupfte einen Strohhalm aus Zeus’ schwingendem Schweif.

„Sein Glück, sonst hätte ich ihn womöglich erwürgt.“

„Ihr verdächtigt ihn? Warum sollte er Lion töten, nachdem er der Eheschließung zugestimmt hatte und bereit gewesen war, seinen armseligen Fischerclan mit den mächtigen Carmichaels zu verbinden?“

Diese Frage stellte sich Ross immer wieder. Was hatte Eammon zu gewinnen erhofft? „Auch er muss wahnsinnig sein. Kein Mann im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte legt sich mutwillig mit Lionel Carmichael an. Vielleicht hat Wat inzwischen irgendwas herausgefunden.“ Seit dem verhängnisvollen Waliser Hinterhalt, der ihn hundert Krieger gekostet hatte, pflegte er jedes Gebiet gründlich zu erkunden, ehe er sich hineinwagte. Und so hatte er den listenreichen kleinen Mann nach Curthill vorausgeschickt, wo er einen fahrenden Händler mimte. „Bevor ich an der Tafel meiner Feinde speise, werde ich mit Wat reden.“

Als hätte dieser Entschluss den flinken Schotten heraufbeschworen, erschien er im Stall. „Hier bin ich, Herr.“ Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen.

„Hat es Ärger gegeben?“

„Gewissermaßen.“ Wat schaute sich vorsichtig um. „Hier können wir nicht reden.“

„Wir sind unter uns.“

„Man kann nie wissen … Einem Gerücht zufolge ist Eammon ziemlich unberechenbar geworden.“

Ein sonderbares Unbehagen erfasste Ross, während er mit Wat und Owain den Hof durchquerte. Die alten, halb verfallenen Wehrtürme und die mit Lehm beworfenen Gebäude ringsum wirkten vernachlässigt und beleidigten seine Ordnungsliebe. Eine Schweinefamilie tummelte sich in einem Abfallhaufen, so hoch wie das Backhaus. Schubkarren, Fässer und andere Gerätschaften bildeten ein wildes Durcheinander. Sogar die Außenmauer zerbröckelte. Hätte sein Vater an Land gehen können, wäre es ihm leichtgefallen, diese schwachen Verteidigungsbastionen niederzureißen.

Zum ersten Mal war Ross so weit in den Norden vorgedrungen. Offenbar entsprachen die Geschichten über die barbarischen Hochländer der Wahrheit. Kein zivilisiertes Volk würde in einem solchen Schmutz leben. Wie hatte Ross jemals glauben können, eine Frau, die hier aufgewachsen war, würde sich zur Herrin von Carmichael Castle eignen? Weil er nicht mit seinem Hirn geurteilt hatte, sondern mit einem ganz anderen Körperteil …

Glücklicherweise werde ich nicht in diese Falle tappen, dachte Ross. So verführerisch Megan Sutherland auch aussehen mochte, er würde ihr widerstehen. Und wenn er in Versuchung geriet, brauchte er sich nur zu entsinnen, was ihm das heiße Verlangen nach Rhiannons weichem Fleisch eingebracht hatte. Diesmal würde er einen klaren Kopf und kaltes Blut bewahren.

An einer schulterhohen Mauer blieben sie stehen, und Ross atmete tief die frische Salzluft ein. Wenigstens hier wurde sie nicht von menschlichem und tierischem Gestank verunreinigt. „Nun, was gibt’s, Wat?“

„Als Lion letztes Jahr hier eintraf, weigerte sich Laird Eammon, seine Tochter Siusan mit ihm zu vermählen.“

„Was? Aber warum …“

„Er besann sich anders. Seit sein einziger Sohn vor zwei Jahren gestorben ist, geschehen angeblich seltsame Dinge. Eammon verlässt kaum noch seinen Turm, wo er mit seiner Hure zusammenlebt, und kümmert sich nicht um das Wohl seines Clans.“

Nur zu gut wusste Ross, wie der Tod eines Sohnes einen Vater verändern konnte, aber er verspürte kein Mitleid mit seinem Feind. „Sicher hat Lion um seine Braut gekämpft – und damit seinen Tod besiegelt.“

„Vielleicht. Ich verteilte ein paar Münzen, und da erfuhr ich, Lion sei gar nicht mehr bei der Jagdgesellschaft gewesen, als er starb.“

„Während einer Jagd kann sich eine Truppe leicht zersplittern“, warf Owain ein, und Wat nickte.

„Soviel ich weiß, erhielt er eine Nachricht, die ihn von den anderen weglockte.“

Aufgeregt packte Ross die knochigen Schultern des kleinen Mannes. „Kannst du das beweisen?“

„Nein. Der Gastwirt hörte von einem Jäger, im selben Augenblick, wo man den Hirsch gesichtet habe, sei ein junger Bursche zu Lion gelaufen, um ihm was zuzuflüstern. Lion grinste und ritt davon, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen. Leider ist dieser Bote verschwunden.“

„Könnte er gestorben sein?“

Wat kratzte sein schütteres Haar unter der Wollmütze, die er im Winter und im Sommer trug. „Keine Ahnung. Jedenfalls verließ der Junge das Dorf, zwei Wochen nach Lions Tod.“

Verwundert runzelte Ross die Stirn. „Wer ist dieser geheimnisvolle Bursche?“

„Er heißt Lucais. Sein Vater ist der Dorfschmied. Aber als ich in die Werkstatt ging und Fragen stellte, wollte der alte Mann den Mund nicht aufmachen.“

„Wies irgendetwas darauf hin, dass Eammon hinter Lions Tod und Lucais’ Verschwinden stecken könnte?“

„Nein.“ Wat spuckte über die Mauer. „Mag Eammon auch so unberechenbar sein wie ein Sommergewitter, er ist nun mal der Laird von Curthill. Aber alle Leute loben Mistress Megan über den grünen Klee.“ Mit einem Seitenblick auf Ross fügte er hinzu: „Offensichtlich werdet Ihr einen Engel heiraten.“

Eher eine Hexe, dachte Ross. Eine wunderschöne, verlockende Hexe. „Nein, ich werde sie nicht heiraten“, erwiderte er, ohne Wats Überraschung zu beachten. „Glaubst du, Eammon hat diesen Lucais getötet, um ihn zum Schweigen zu bringen?“

„Nichts deutet darauf hin, aber ich wette, in Curthill spielen sich merkwürdige Dinge ab. Ich bin noch nicht lange genug hier, um das alles zu durchschauen. Jedenfalls spüre ich, dass da irgendwas nicht stimmt.“

„Heute Abend reiten wir ins Dorf“, entschied Ross. „Seht zu, Owain …“

„Ah, Ross, da seid Ihr ja!“ Lord Nigel näherte sich keuchend. Der rundliche ältere Mann hatte nur ungern die Annehmlichkeiten des schottischen Königshofs verlassen, wo er von der Großzügigkeit seines Neffen lebte. „Die Sutherlands erwarten Euch bei Tisch. Ich weiß, diese Heirat missfällt Euch, aber immerhin ist die junge Frau so hübsch, wie Eammon es behauptet. Außerdem habt Ihr keine Wahl.“

Das werden wir noch sehen, dachte Ross. Er brauchte nur Lucais aufzuspüren und diesen fetten alten Narren zu überzeugen, dass Lion ermordet worden war, dann würde er der Ehe mit Eammons wahnwitziger Tochter entrinnen. „Vorher muss ich sehen, wie meine Männer untergebracht sind.“ Der Gedanke, mit dem Laird von Curthill zu speisen, verdarb ihm den Appetit, obwohl er sich vier Tage lang von kargen Schiffsrationen ernährt hatte.

„Sicher kann sich Euer Hauptmann darum kümmern.“ Lord Nigel musterte den Müll, der den Hof übersäte. „Allzu lange möchte ich hier nicht herumtrödeln. Nach der Mahlzeit werdet Ihr den Ehevertrag unterschreiben, und in drei Tagen wird Hochzeit gefeiert.“

„In drei Tagen!“ Ross hatte das Gefühl, eine eiserne Faust würde seine Kehle umschließen. „Schon so bald?“

„Mein lieber Junge, Ihr führt Euch ja auf wie eine jungfräuliche Braut!“

Eine jungfräuliche Braut? Wahrscheinlich war Megan Sutherland gar keine Jungfrau mehr. Mit einer Frau, die mit achtzehn Jahren noch immer nicht geheiratet hatte, konnte irgendetwas nicht stimmen. Sollte er das herausfinden, würde er sie abweisen. „Und was sagt meine Braut zu dieser überstürzten Trauung?“

„Warum sollte ich sie nach ihrer Meinung fragen?“ Lord Nigel blinzelte erstaunt. „Jedenfalls möchte Lord Eammon das alles möglichst schnell erledigen, und nur das zählt.“

So leicht will ich’s dem Laird nicht machen, beschloss Ross. Ich habe ein kleines Heer im Rücken, und im Gegensatz zu meinem Bruder, der damals in sein Unglück rannte, wird mein Verstand nicht von heißer Leidenschaft benebelt. „Ich will nicht mit diesem Mann an einem Tisch sitzen.“

„Ganz, wie es Euch beliebt … Aber Eammon wird sich ohnehin nicht zu uns gesellen. Es geht ihm nicht gut. Seine Felis scheint ihn viel Kraft zu kosten. Was muss das für eine Frau sein, die ihn nach zwei Jahren immer noch reizt …“ Lord Nigel rückte seinen engen goldenen Gürtel zurecht und wandte sich ab. „Wenn Ihr schon nicht mit uns essen wollt – kommt wenigstens in die Halle und unterzeichnet den Vertrag. Pater Simon hat Eammons Unterschrift schon bestätigt.“

Ross folgte ihm widerstrebend, mit schleppenden Schritten, wie ein Mann, der zum Galgenbaum geführt wurde. Drei Tage … Die Zeit war knapp, aber er würde diesen Lucais finden und dieser unseligen Heirat entrinnen.

„Glaubst du, er wird nicht kommen?“, fragte Megan angstvoll.

Ihre Mutter beugte sich über den leeren Stuhl hinweg, der für Ross bestimmt war, und tätschelte Megans zusammengepresste Hände. „Wahrscheinlich möchte er sich nach der langen Reise nur waschen und umkleiden.“ Sie saßen allein an der langen Tafel auf dem Podest und erwarteten die Männer.

„Das Bad, das ich für ihn vorbereiten ließ, wollte er nicht annehmen“, berichtete Megan ärgerlich. Eine Stunde lang hatte sie in der Gästekammer auf ihren Verlobten gewartet und immer wieder das Kaminfeuer geschürt, aber er war nicht erschienen. Während das Wasser in den Holzeimern erkaltete, wuchs ihr Unmut. So viel gab es zu tun, und da saß sie sinnlos herum, den Launen dieses Mannes ausgeliefert. Schließlich beauftragte sie eine Dienerin nach seinem Verbleib zu fragen, und erfuhr, er wünsche nicht zu baden. Mit keinem Wort hatte er sich entschuldigt.

„Dieser unhöfliche Rüpel …“

„Wer, meine Liebe?“, erkundigte sich ihre Mutter.

Darauf gab Megan keine Antwort. Sie wollte ihre Mutter, die eine unglückliche Ehe führte und der Männerwelt grollte, nicht gegen Ross einnehmen. „Waschen sich die Leute aus dem Tiefland nicht?“

„Die meisten baden sogar hin und wieder.“

„Erzähl mir doch noch einmal, wie du im Tiefland aufgewachsen bist.“

Ein sanftes Lächeln erhellte Lady Marys müdes Gesicht und erinnerte an die Schönheit, die sie gewesen war, bevor Eammon ihr Herz gebrochen hatte. „Das Leben in Peebles ist – anders. Die meisten Menschen besitzen ein ruhiges, ausgeglichenes Gemüt, sanft gerundete Hügel reihen sich aneinander, keine schroffen, zerklüfteten Felsen wie im Hochland. Aber auch dort regieren die Männer, genau wie hier“, fügte sie bitter hinzu.

Wehmütig entsann sich Megan früherer Zeiten, wo der Vater ein fröhlicher Mann gewesen war, nicht dieser launische Einsiedler, dessen Befehle in krassem Widerspruch zu allem standen, worauf er zuvor Wert gelegt hatte. Seit dem Unfall, der Megan verstümmelt und ihren einzigen Bruder Ewan getötet hatte, war der Laird völlig verändert. Würde sein Sohn noch leben, wäre Lion vielleicht nicht gestorben. Und Siusan müsste sich nicht im Hochland verstecken und um ihr Leben bangen.

Und ich bin schuld an Ewans Tod, dachte Megan fröstelnd.

„Gräm dich nicht, mein Liebes“, redete ihr die Mutter zu. „Du weiß doch, was der arme Lion sagte. Sein Bruder ist ein gütiger, kluger Mann.“

Mit Augen wie Eissplitter … Wieder erschauerte Megan. „Heute im Hof hat er sich geweigert, mir beizustehen.“

Lady Mary seufzte. „Du hättest den Schleier nehmen sollen. Besser hinter Klostermauern gefangen – als einem Manne ausgeliefert …“

„Oh, ich heirate Ross Carmichael sehr gern“, beteuerte Megan mit einem erzwungenen Lächeln und ergriff die Hand der Frau, die so viel für ihre Kinder geopfert hatte. „Und ich will ihm eine gute Frau sein. Wenn er es gestattet.“

„Er muss dich heiraten, weil ihm gar nichts anderes übrigbleibt.“

„Ich sähe es lieber, es wäre sein Wunsch. Noch bevor ich Ross kannte, verliebte ich mich in ihn, weil Lion so viele wunderbare Geschichten über ihn erzählte. Und als er in Fleisch und Blut vor mir stand …“

„Oh Meggie!“

„Er ist genauso, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Der größte, stärkste, schönste Ritter der Welt, mit strahlend blauen Augen …“

„Er wird dein Herz brechen und all deine Hoffnungen enttäuschen.“

„Es tut mir leid, dass Papa dir so wehgetan hat, Mama. Vor Ewans Tod war er ein guter Mann.“

„Auch ich trauere um Ewan, aber nicht einmal der Tod eines Sohnes kann entschuldigen, was dein Vater mir zugemutet hat. In meinem eigenen Haus lebt er mit seiner Buhle zusammen! Und der Clan Sutherland bedeutet ihm überhaupt nichts mehr.“

„Nun, er mischt sich nicht unter seine Leute, aber seine Geschäfte haben unserem Clan ein größeres Einkommen verschafft als zuvor die Fischerei.“

„Aye, und bekommen unsere fleißigen Leute irgendetwas von diesem Gewinn? Oder wird die Burg instand gesetzt? Nein!“

Liebevoll streichelte Megan die Hand ihrer Mutter. Die Gute verstand die Welt jenseits ihrer Küche und ihres Gemüsegartens nicht. Doch die Tochter fühlte sich verpflichtet, die Lücke zu füllen, die Ewans Tod und die folgenschwere Veränderung ihres Vaters hinterlassen hatten. Oft ging sie ins Dorf hinab, erkundigte sich nach den Sorgen der Handwerker und Fischer, bot ihnen Rat und Hilfe an. „Vater hat erklärt, vorerst müsse das Geld verwendet werden, um weitere Handelsgüter zu kaufen.“

„Das hat Archie erklärt. Eammon kann sie doch nicht lange genug allein lassen, um unseren Leuten zu erzählen, warum sie immer noch so arm sind. Und sieh dir die Halle an.“ Mit einer weit ausholenden Geste zeigte sie in den trostlosen Raum, auf die grölenden Männer an den unteren Tischen. „Jahrelang habe ich mich bemüht, Curthill so schön zu gestalten wie das Heim meiner Kindheit. Aber da der Laird nicht für Ordnung sorgt, hausen seine Männer in dieser Burg wie wilde Barbaren und lassen alles verkommen.“

„Ich beklage den Tag, wo Comyn MacDonell diese Felis hierherbrachte.“

„Comyn trifft keine Schuld. Nach deinem Unfall bat ich ihn, eine heilkundige Frau aus Edinburgh hierherzuholen. Niemand konnte ahnen, dass Felis sich in Eammons Bett einnisten würde.“

Während die Mutter Nacht für Nacht am Lager der kranken Tochter gesessen hatte … Megans Herz krampfte sich zusammen. Trotzdem – wenn sie sich besser mit Felis verstünde, könnte sie sich in der Kunst unterweisen lassen, wie man einen Mann verführte. Eine fachkundigere Lehrerin als die kleine rothaarige Frau würde sie nicht finden.

„Megan, was hast du vor?“, fragte Lady Mary mit scharfer Stimme.

„Nichts, Mama.“

„Oh, ich kenne diesen Blick. So schaust du immer drein, wenn du irgendeinen Unsinn ausdenkst.“

Megan seufzte. Wenn sie auch gelernt hatte, ihre Gedanken zu verbergen – die Mutter konnte sie manchmal immer noch lesen. Wahrheitsgemäß erwiderte sie: „Ich habe mir überlegt, wie ich Ross Carmichael verführen soll.“

„Um Himmels willen! Bedenk doch, was der armen Siusan zugestoßen ist!“

Tag und Nacht dachte Megan an ihre Schwester, die gezwungen worden war, aus ihrem Heim zu fliehen, ihr unseliges Geheimnis zu hüten. Und um Siusan zu helfen, brauchte Megan eine Soldatentruppe und einen Ritter, der sie anführte. Einen Mann, dem sie rückhaltlos vertrauen konnte. „So weit will ich es nicht kommen lassen.“

„Sobald in einem Mann die Lust erwacht, kann man ihn nicht mehr leiten“, entgegnete Lady Mary bissig.

„Allem Anschein nach will Ross mich eher zurückweisen als vergewaltigen.“

Erleichtert atmete die Mutter auf, aber nur, weil sie nicht ahnte, wie fest die Tochter entschlossen war, ihr Ziel zu erreichen. In ihrer Verzweiflung wollte Megan alles tun, was von ihr verlangt wurde, wusste indes nicht, wie sie vorgehen sollte. Bedrückt zupfte sie am Rock ihres roten Kleids. Es schmiegte sich an ihren Körper, im Gegensatz zu der Garderobe, die sie normalerweise trug. Hoffentlich sah sie reizvoll genug aus, um Ross Carmichaels Aufmerksamkeit zu erregen. Als sie überlegte, wie sie seinen eisigen Hass besiegen könnte, fröstelte sie wieder, trotz der Wärme, die den großen Raum erfüllte.

„Hab keine Angst, Kindchen“, bat ihre Mutter. „Mit Gottes Hilfe wird sich alles zum Guten wenden.“

Megan nickte, obwohl sie daran zweifelte. Beklommen schaute sie sich in der Halle um. Fast der ganze Clan Sutherland hatte sich versammelt, in festlichem Staat. Zwei Dutzend Fackeln beleuchteten die fröhliche Schar, doppelt so viele Lichter wie an gewöhnlichen Tagen.

Sogar die verrußten Mauern wirkten etwas heller. Wahrscheinlich waren sie geschrubbt worden, bevor Lady Mary der Dienerschaft befohlen hatte, die besten Wandteppiche aufzuhängen.

„Ah, da kommt Lord Nigel, endlich!“, rief die Gastgeberin.

Megan sah den grauhaarigen Mann zwischen den Tischen herankommen. Sein runder, von Seide umhüllter Bauch drohte den kostbaren goldenen Kettengürtel zu sprengen. „Lady Mary, wie schön, Euch wiederzusehen!“ Keuchend stieg er auf das Podium und ließ sich auf den Stuhl zu ihrer Rechten fallen. Dann griff er nach dem Weinkrug, füllte einen Becher bis zum Rand und hielt ihn unter die rote Knollennase.

„Wo bleibt unser Gast?“, fragte Lady Mary.

„Er kommt nicht“, erwiderte Lord Nigel und nahm einen großen Schluck.

„Was?“, rief Megan entgeistert.

Er ließ den Becher eben lange genug sinken, um seine Antwort zu wiederholen, dann hob er ihn wieder an die Lippen.

„Wo ist er?“, fragte Megan.

Seelenruhig wischte er sich mit seinem Handrücken die Lippen ab. „Er isst mit seinen Männern.“

Megans Finger krallten sich in den Rock des roten Kleids, das sie so hoffnungsvoll angezogen hatte. „Obwohl er weiß, dass wir ihn hier erwarten? Wie rücksichtslos …“

„Wahrscheinlich ist er müde von der Reise“, warf ihre Mutter ein.

Lord Nigel nahm kein Blatt vor den Mund. „Offensichtlich teilt er die Meinung seines Vaters, denn er möchte nicht mit den Sutherlands an einem Tisch sitzen.“

Mühsam rang Megan nach Atem, als ein Raunen durch die Halle ging. Vermutlich tuschelte man bereits über die Abwesenheit ihres Verlobten. Schon einmal hatte sie einen Bräutigam verloren. Nun, diesmal würde man sie nicht weinen sehen. Entschlossen straffte sie die Schultern.

„Das wusste ich ja!“ Archie Sutherland stapfte die Stufen zu der Mauer hinauf, die das Dorf vor der Brandung schützte. „Erst seit drei Stunden ist Ross Carmichael in Curthill, und ausgerechnet jetzt segelt die Hawk in den Hafen.“ Eine Gestalt trat langsam aus den Schatten, und er tippte sich respektvoll an die Schläfe. „Mylord, Euch habe ich heute Nacht nicht erwartet.“

„Ich komme früher als geplant, weil ich von der Ankunft der Hawk gehört habe.“

„Aye, welch ein Pech!“

„Sicher, sie trifft zum falschen Zeitpunkt ein, aber das ist nur ein kleines Problem.“ Die Augen Seiner Lordschaft glitzerten im bleichen Mondlicht. „Die Männer sollen die Fracht des Schiffs heute Nacht löschen.“

„Aber Douglas hat reiche Beute gemacht. Der Laderaum ist voll. Wir brauchen mindestens zwei Nächte, um ihn zu leeren.“

„Setzt alle Männer ein, die Ihr erübrigen könnt. Die Hawk muss heute Nacht ausgeladen und morgen früh in der Bucht versteckt werden.“

„Und die Fracht, die wir verkaufen wollen?“

„Morgen Nacht soll Douglas wieder in den Hafen segeln, so viel laden wie nur möglich und während der nächsten Nächte zurückkommen, bis alles an Bord ist.“

„Und wenn Ross neugierig wird, im Dorf herumschnüffelt und das Lagerhaus findet?“

„Dann sollen Douglas’ Männer ihn in die Burg zurückscheuchen. Sie müssen ihm eine Lektion erteilen, dürfen ihn aber nicht töten.“ Noch nicht. Erst musste Seine Lordschaft Mittel und Wege finden, um das zu erledigen, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.

„Und wenn Lord Nigel von irgendwelchen Schwierigkeiten erfährt?“

„Ein Angriff auf Ross würde niemanden überraschen, nachdem sein Vater vor knapp drei Wochen versucht hat, das Dorf niederzubrennen.“

„Aye, Ihr habt recht. Insbesondere, weil der junge Herr ein hochmütiger Bursche ist, der über uns barbarische Hochländer die Nase rümpft.“

„Gewiss, und dafür soll er bestraft werden. Passt nur auf, dass keiner Eurer Männer erkannt oder gefangen genommen und befragt wird.“

„Wie Ihr wünscht, Mylord.“

Das Lächeln des Lords erlosch, als er sich an jenen Teil seines Plans erinnerte, den man durchkreuzt hatte. Siusan war entkommen. Irgendwann würde er sie finden, aber nach zehn Monaten verlor er allmählich die Geduld. Natürlich wusste Megan, wo ihre Schwester steckte, wenn sie es auch entschieden bestreiten würde. Sie war ein kluges Mädchen, glücklicherweise jedoch auch gefühlvoll. Ehe sie zur Burg der Carmichaels reiste, würde sie Siusan ein letztes Mal besuchen, und dann wollte er ihr folgen.

3. KAPITEL

Diesen verfluchten Ort sollte man Fegefeuer nennen!“, schimpfte Ross, als er Wat durch eine schmale Gasse folgte. Es war kurz vor Mitternacht. Ein Unwetter zog herauf, und in der drückenden, schwülen Luft, die nach Fischen stank, konnte man kaum atmen. Angewidert hielt er sich die Nase zu und stolperte weiter.

Nirgends brannte eine Fackel, die den Weg zwischen den kleinen, eng an die Felswand gedrängten Häusern beleuchtet hätte. Trotzdem waren sie nicht die Einzigen, die sich in dieser dunklen Gewitternacht umhertrieben. Immer wieder erklangen gedämpfte Stimmen, hastige Schritte, der dumpfe Aufprall schwerer Lasten, die aus Seitengassen geschleppt wurden.

„Was geht hier vor?“, flüsterte Owain beunruhigt.

„Schmuggelei – oder noch etwas Schlimmeres.“ Vor dem Verlassen von Curthill Castle hatte Ross einen kurzen Blick in einen Raum geworfen, der – im Gegensatz zu dem heruntergekommenen Zustand der Burg – erstaunlich prächtig eingerichtet war. Zahllose kostbare Wandteppiche hingen an den Wänden. Er ahnte, wie der Laird zu diesem Reichtum gelangt war, doch um dieses Problem konnte sich Ross in dieser Nacht nicht kümmern. Erst einmal musste er Lucais finden.

„Da sind wir“, wisperte Wat.

Ross betrachtete das Haus, in dem Lucais’ Vater wohnte. Schwaches Licht schimmerte hinter der gegerbten Tierhaut hervor, die ein Fenster verdeckte. „Ihr begleitet mich mit Euren Männern, Owain, wenn wir …“

„Nein, nehmt Andrew mit. Ich passe hinter dem Haus auf, damit der Junge nicht entwischt.“

Ross nickte. „Gut. Ihr Waliser habt ja scharfe Augen.“ Von allen seinen Gefolgsleuten stand Owain ihm am nächsten. Beim Feldzug in Wales hatte er ihn angeheuert, um sich durch die dichten Wälder führen zu lassen. Lionel hielt seinen Bruder für verrückt, weil dieser einem Feind traute. Aber Owain kämpfte selbst gegen Rhys ap Dolgollen und half Ross nur zu gern – für gutes Geld. Später war er seinem neuen Herrn in dessen Heimat gefolgt.

Ross stürmte mit einigen Männern in die Kate, aber sie trafen keine Verschwörer an, nur eine verängstigte Greisin, die am Herd saß, und einen alten Mann, der die nächtlichen Besucher verdutzt anstarrte.

„Durchsucht das Haus, Davey!“, befahl Ross, dann drehte er sich um und sah, wie Andrew den Alten gegen die Wand drückte und ihm seinen Dolch an die Kehle hielt.

„Wir suchen Lion Carmichaels Mörder!“, stieß Andrew hervor, ehe Ross eingreifen konnte.

Beinahe quollen die Augen des weißhaarigen Schmieds aus den Höhlen. „Ich war’s nicht.“

„Lasst ihn los!“, herrschte Ross den Gefolgsmann an, der widerstrebend die Waffe senkte und zurücktrat. „Soviel ich weiß, war Euer Sohn Lucais dabei, als es geschah, guter Mann.“

„Aye, aber – er hat’s nicht getan, Herr.“

„Das glaube ich Euch, doch ich möchte ihm ein paar Fragen stellen. Wo finde ich ihn?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte der Alte mit zitternder Stimme.

„Am besten bringe ich ihn hinaus und erteile ihm eine Lektion.“ Andrew packte den Arm des Schmieds, da sprang die alte Frau auf und warf sich Ross zu Füßen.

„Wartet! Wir können Euch wirklich nicht sagen, wo Lucais steckt. Schon vor Monaten hat er Curthill verlassen. Und wir wissen nicht, wohin er gegangen ist.“ Der verzweifelte Blick, den sie mit ihrem Mann wechselte, verriet nur zu deutlich, dass sie log.

„Ich möchte dem Burschen nichts zuleide tun und nur mit ihm reden“, versicherte Ross. „Erklärt mir, wo er ist, und Laird Eammon wird nichts davon erfahren. Das schwöre ich Euch.“

„Laird Eammon? Wieso sollte er sich drum kümmern? Seit vor zwei Jahren die schlechten Zeiten begonnen haben, setzt er nie mehr einen Fuß in unser Dorf. Wir sind ihm gleichgültig, und er schickt nur seine Männer her, um die Pacht eintreiben zu lassen …“

„Janet!“, mahnte der Alte. „Hört nicht auf sie, Herr!“, bat er, während sie den Kopf senkte und gelbe Zähne in ihre bebende Unterlippe grub.

„Ist Lucais allein weggegangen?“, fragte Ross.

„Aye“, antworteten sie wie aus einem Mund, und auch diesmal durchschaute er die Lüge.

„Sagt mir die Wahrheit!“

„Mehr können wir Euch nicht erzählen“, jammerte Janet. „Mitten in der Nacht weckte er uns, um sich zu verabschieden. Und seither sahen wir ihn nicht wieder.“ Schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht.

„Erlaubt mir endlich, den Alten auf meine Art zu befragen!“, verlangte Andrew und fluchte, als Ross den Kopf schüttelte. „Ihr braucht ja nicht zuzuschauen, wenn’s Euch das Herz bricht.“

„So sprecht Ihr, nachdem Ihr mich gelehrt habt, einen Mann nicht nach der Größe seines Schwertes zu beurteilen, sondern nach dem Gewissen, das ihn in die Schlacht schickt?“ Das Blut stieg in die gebräunten Wangen des Ritters, und Ross fügte auf Französisch hinzu: „Vielleicht wissen sie, warum Lucais geflohen ist, aber wahrscheinlich kennen sie seinen jetzigen Aufenthaltsort nicht. Wir lassen das Haus bewachen.“

„Aye.“

Ross wollte sich zur Tür wenden, doch dann zögerte er und überlegte, was Eammons Männer einem Schmied abnehmen konnten. Er schaute sich um, und ihm fiel die überraschend wertvolle Einrichtung der Kate auf.

Etwas stimmte hier nicht, das spürte er. Und dieses Gefühl verstärkte sich, als er die Truhe neben dem Tisch entdeckte. Ihr Eichendeckel glänzte feucht, als wäre sie eben erst aus dem Meer geholt worden. Nun konnte er sich einiges zusammenreimen.

Owain trat durch die Hintertür ein. „Niemand hat sich aus dem Haus geschlichen“, berichtete er auf walisisch. „Und niemand lungert draußen herum. Allerdings war jemand hier, erst vor kurzer Zeit. Ich habe nasse Stiefelspuren gefunden.“

„Ein Mann soll hierbleiben und beobachten, wer kommt und geht“, ordnete Ross in derselben Sprache an. Sie gingen hinaus, und er befahl Andrew und der Hälfte seiner Leute, unauffällig das Dorf zu durchsuchen. Die anderen begleiteten ihn mit Wat und Owain zum Strand, wo Fackeln im Sand steckten. Zwei bewaffnete Wächter standen bei den vertäuten Booten.

„Eine große Streitmacht, die da ein paar armselige Fischerboote bewacht“, meinte Ross. Noch viel mehr interessierten ihn die leeren Liegeplätze, die anzeigten, dass mehrere Boote ausgelaufen waren. Bei diesem Wetter? Nachdenklich blickte er auf das Meer. Sogar in dieser geschützten Bucht schäumten die windgepeitschten Wellen. Ein zweites Schiff ankerte neben jenem, das ihn von Edinburg hierhergebracht hatte, und in der Nähe entdeckte er die Umrisse einiger kleiner Boote. Was zum Teufel ging hier vor? Eine Ahnung von Betrug und Gefahr lag in der Luft, so deutlich zu spüren wie der Regen, der bald herabströmen würde. Zuckende Blitze zerrissen den Nachthimmel.

Einer der Wachtposten trat vor. „Verschwindet! Der Laird erlaubt niemandem, sich nachts hier aufzuhalten.“

„Das gilt wohl kaum für seinen künftigen Schwiegersohn“, entgegnete Ross.

„Ihr seid ein Carmichael?“ Der Name klang wie ein Fluch, und nun kam auch der zweite Mann auf Ross zu. Im rötlichen Fackelschein spiegelten beide Gesichter unverhohlenen Hass wider.

Verdammt, dachte Ross, wie konnte ich den letzten Überfall meines lieben Vaters vergessen? Über dem Auge eines Mannes sah er die Narbe einer Schnittwunde, unter dem Kettenhemd des anderen einen Verband. Sand knirschte unter Stiefelsohlen, ein Schwert klirrte in der Scheide, während sich seine acht Carmichaels gegen einen Kampf wappneten. Beinahe bereute er, dass er dreißig seiner Männer mit Giles in der Burg zurückgelassen hatte. Aber ein kluger Kommandant sorgte stets für eine ausreichende Reserve. Und seine kleine Truppe konnte es mühelos mit jedem Feind aufnehmen. Außerdem hatte er schon schlimmere Situationen gemeistert.

„Aye, ich bin Ross Carmichael und werde Megan Sutherland heiraten“, verkündete er in ruhigem Ton. „Der König wünscht Frieden zwischen den beiden Clans zu stiften. Beide Seiten mussten schwere Verluste erleiden. Jetzt ist es an der Zeit, die Vergangenheit zu begraben.“ Als ob wir das könnten, solange der Verdacht besteht, dass Lion ermordet wurde, fügte er in Gedanken hinzu. „Wollt Ihr Euch nicht lieber mit drallen Mägden vergnügen, statt die Schwerter zu schwingen?“

Die Männer nickten, die schwieligen Hände glitten von den Schwertgriffen, und der eine entgegnete: „Wir haben die Fehde nicht angefangen.“

„Dann sollten wir sie beenden.“

Wieder nickten sie, wenn auch zögernd.

„Großartig! Nun habe ich genug frische Luft geschnappt und werde schlafen gehen.“ Gähnend streckte er sich und wanderte den Strand hinauf, gefolgt von Owain und Davey, während seine anderen Männer die Sutherlands im Auge behielten.

„Da sind wir in einem Schmugglernest gelandet“, bemerkte der Waliser, während sie die bemoosten Stufen zum Dorf hinaufstiegen.

„Sieht ganz so aus. Aber was schmuggeln sie aus dem Hochland heraus? Sie züchten nicht genug Schafe, um Wollhandel zu betreiben. Und was könnten sie sonst erzeugen?“

„Verlogene Barbaren.“

„Wahrscheinlich sind sie Strandräuber“, meinte Davey.

„Aye.“ Ross wandte sich wieder zum Meer. Grelle Blitze beleuchteten drei kleine Boote, die vom Schiff zum Hafen ruderten. „Das muss Lion herausgefunden haben, und deshalb wurde er getötet.“

„Soll auch hier einer unserer Männer Wache halten?“, fragte Owain, und Ross nickte.

„Ein zweiter muss feststellen, welche Fracht hier ausgeladen wird. Wir treffen uns mit Andrew und den anderen am Fuß des Felsens hinter dem Dorf.“ Unbehaglich spähte er in die dunkle Gasse, der sie folgen mussten. Die anderen Carmichaels hatten sie inzwischen eingeholt. „Legt die Hände an die Griffe der Schwerter, aber zieht sie nicht“, flüsterte er.

Ein heftiger Wind wehte ihnen Staub in die Gesichter und dämpfte ihre Schritte, aber auch die Geräusche etwaiger Feinde, die ihnen vielleicht auflauerten.

„Haltet Augen und Ohren offen!“, ermahnte Ross die sechs Männer, die ihm folgten. Donnerschläge dröhnten, Blitze zuckten und tauchten die Häuser immer wieder in unheimliches weißes Licht. Von allen Seiten schienen Schatten heranzuspringen.

„Bleibt dicht beisammen!“, hörte er Owain flüstern.

Plötzlich ertönten polternde Schritte, und der Waliser schrie: „Achtung! Ein Hinterhalt!“

Ross drehte sich um und sah aus den Augenwinkel Stahl funkeln, als ein Mann aus einem dunklen Tor auf ihn zustürmte. Nur seine Geistesgegenwart rettete ihn. Er trat beiseite, zog seine Waffe, wehrte die Klinge ab, die auf ihn herabsauste. Mit drei schnellen Schwertstreichen schlug er den Gegner zurück, streckte ihn mit seinem vierten Angriff nieder. Doch sein Triumph währte nur kurz. Zwei weitere Feinde attackierten ihn, und während er sich wehrte, rief er Owain zu: „Wie viele sind es?“

„Zu viele …“ Ein Schmerzensschrei hallte durch die Nacht. „Jetzt ist’s einer weniger“, verkündete Owain. „Aber es dürften immer noch an die vierzig sein.“

Geschickt schwang Ross sein Schwert. Seiner Fechtkunst waren die beiden Gegner nicht gewachsen, jedoch allein durch ihre Überzahl würden die Feinde seinen kleinen Trupp besiegen. Er konnte nur hoffen, Andrew würde das Klingen der Waffen hören und ihm rechtzeitig zu Hilfe eilen.

Ein ohrenbetäubender Donnerkrach begrüßte Megan, als sie aus der Hütte trat, wo sie einer Frau bei der Niederkunft beigestanden hatte. „Geh voraus, Chrissy. Wenn du auf mich wartest, wirst du klatschnass.“

„Das bringt mich sicher nicht um“, erwiderte ihre Cousine.

Seufzend streckte Megan ihren schmerzenden Rücken. Ein paar Stunden lang hatte sie neben dem Lager der armen Frau gekauert. „Ein Glück, dass wir die Mutter und das Neugeborene retten konnten.“

„Das war kein Glück. Von der Heilkunst verstehst du ebenso viel wie deine Mutter.“ Chrissy nahm Megans Arm. „Komm jetzt, es fängt schon zu regnen an.“

„Es ist albern von mir, nicht zu reiten. Nun liegt der Unfall schon so lange zurück, und es war meine Schuld, weil ich über die Klippen galoppiert bin.“

„Du hast allen Grund, Pferde zu fürchten.“

„Aber ich hasse meine Angst“, erwiderte Megan, während sie aus einer dunklen Gasse in eine andere bogen. „Wie viel könnte ich unternehmen, wenn ich zu reiten wagte …“

„Möchtest du wieder dahinrasen, schnell wie der Wind?“

„Oh ja.“ Lächelnd entsann sich Megan, wie oft sie mit Siusan und Ewan um die Wette geritten war. Doch bei der Erinnerung an den letzten Ritt erlosch ihr Lächeln. Das angstvolle Gewieher ihres Pferdes, das plötzlich durchgegangen war – der Schreckensschrei des Bruders, der ihr nachjagte … Immer näher kam der Klippenrand, und beide flogen über die Felsen hinweg, ins Nichts. Gellende Schreie und Blut …

„Meg!“

Schaudernd kehrte sie in die Gegenwart zurück und merkte, dass sie mitten in der schlammigen Gasse stand, die zitternden Arme vor der Brust verschränkt. Tränen strömten über ihr Gesicht.

„Ich wollte dich nicht daran erinnern“, wisperte Chrissy und wischte ihr mit einem Zipfel ihres Umhangs die Wangen ab.

„Schon gut … Eines Tages werde ich diesen Albtraum überwinden und wieder reiten. Und weißt du, wohin mein erster Weg führen wird? Zu meiner Schwester.“ Nun war Siusans und Lions Kind drei Monate alt. Noch nie hatte Megan ihre Nichte oder ihren Neffen gesehen. Welch ein grauenhaftes Schicksal … Siusan müsste mit Lion zusammenleben, statt sich in den Bergen zu verstecken und um ihre verlorene Liebe zu trauern.

„Ich dachte, du weiß nicht, wo sie ist?“

Erschrocken zuckte Megan zusammen. „Das weiß ich wirklich nicht. Aber wenn ich in Curthill herumsitze, werde ich sie auch nicht finden.“ Es bedrückte sie, ihre Cousine zu belügen, indes wagte sie es nicht, Siusans Geheimnis zu verraten. Bei der Seele der Großmutter hatte sie ihrer Schwester schwören müssen, Stillschweigen zu bewahren.

„Im Augenblick ist ein anderes Problem viel wichtiger. Was glaubst du, warum Ross Carmichael nicht mit uns gegessen hat?“

„Wahrscheinlich ist er nicht gerade versessen darauf, mich zu heiraten.“

„Weil er vermutet, dein Vater hätte Lion getötet?“

„So etwas würde er nicht tun.“

Chrissy lächelte traurig. „Wie du zugeben musst, ist der Laird nicht mehr er selbst, seit die schlimmen Zeiten begonnen haben. Wochenlang lässt er sich nicht in der Halle blicken, und wenn er herunterkommt, hat er nur Augen für Felis.“

Das konnte Megan nicht leugnen. „Aber er hatte keinen Grund, Lions Tod zu wünschen.“

„Nun, immerhin tobte Lion vor Wut, als er erfuhr, der Laird habe sich anders besonnen und weigere sich, ihn mit Siusan zu vermählen.“

„Dennoch hoffte meine Schwester, Vater würde letzten Endes nachgeben, wenn sie sich nur ein bisschen geduldeten.“

„Ewans Tod hat den Verstand des Lairds verwirrt. Das ist die einzige Erklärung für sein Verhalten. Ich weiß, du vergötterst deinen Vater, und deshalb willst du nicht sehen, wie er sich verändert hat.“

Armer Papa, dachte Megan bekümmert. War sie die Einzige, die immer noch an ihn glaubte? „Ich weiß, aber …“ Ein Mord? Der Gedanke, ihr einst so fröhlicher, gutmütiger Vater könnte jemanden getötet haben, tat ihr in der Seele weh. Den Kopf gesenkt, die Augen zusammengekniffen, um sie vor dem heftigen Wind zu schützen, folgte sie ihrer Cousine. Ein heftiger Donnerschlag erschütterte die Häuser ringsum, gefolgt von einem gellenden Schrei. Bestürzt blieb sie stehen. „Was war das?“

„Das weiß nur Gott.“ Chrissy legte einen Arm um Megans Schultern, und sie eilten weiter. „Ich habe gehört, heute Nacht sei die Hawk eingelaufen.“

Megan erschauerte. „Da klirren Schwerter …“

„Umso schneller sollten wir in die Burg zurückkehren.“

„Nein!“ Entschlossen schüttelte Megan den Arm der Cousine ab. „Wir müssen nachsehen, wer da gegen wen kämpft.“

„Was immer auch geschehen mag, wir können niemandem helfen.“

„Aber ich muss es wissen.“

Unwillig folgte Chrissy ihrer Cousine in die Richtung, aus der die unheilvollen Geräusche herüberdrangen. Als sie um eine Ecke gebogen waren, hielten sie entsetzt inne.

Ein Blitz tauchte mehrere Männer, die gegeneinander fochten, in weißes Licht, aber Megan hatte nur Augen für einen hochgewachsenen Ritter mit schwarzem Haar. „Ross Carmichael!“, wisperte sie und presste eine Hand auf ihr heftig pochendes Herz. „Oh Chrissy …“ Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor.

„Meggie! Du darfst dich nicht in einen Schwertkampf einmischen.“

„Irgendetwas müssen wir tun. Lauf in die Burg und hole Ross Carmichaels Männer. Unseren würde er nicht trauen.“ Atemlos beobachtete sie ihren Bräutigam wider Willen, der zwei Feinde abwehrte.

„Ich kann dich nicht allein lassen!“, rief Chrissy.

„Keine Bange, ich bleibe nicht hier.“ Megan betrachtete die Häuser, die den Hintergrund des blutigen Dramas bildeten. „Am besten schleiche ich zur anderen Seite hinüber und warte in Gordys Werkstatt.“

„Aber sie kämpfen direkt vor seiner Hintertür.“

„Ich gehe vorn hinein“, erklärte Megan und zwang sich zu einem Lächeln. „Falls jemand verletzt wird, kann ich mich gleich um ihn kümmern.“

„Oh nein, du wirst nichts dergleichen tun. Du kommst mit mir …“

Entschieden schüttelte Megan den Kopf. „Ich würde dich nur behindern. Beeil dich!“, befahl sie und gab ihrer Cousine einen Stoß. „Ross’ Feinde sind in der Überzahl, und wenn er sich heute Abend auch wie ein Rüpel benommen hat – er soll mich nicht zur Witwe machen, noch bevor ich ihn geheiratet habe.“

4. KAPITEL

Ross stöhnte, als sich eine gegnerische Klinge zwischen den Kettengliedern der Rüstung in seine linke Schulter bohrte, aber er nahm den Schmerz kaum wahr – voll und ganz auf seinen Kampf mit dem letzten Feind konzentriert. Im Lauf des Gefechts war er von seinen Streitkräften getrennt worden. Nun wollte er zu ihnen zurückkehren, um sie in der Schlacht gegen die Übermacht zu unterstützen.

Der erste Mann, den er verwundet hatte, war aufgestanden und davongerannt, aber diesen zweiten starken Fechter konnte er nicht in die Flucht schlagen. Sein Arm schmerzte, die Lungen brannten. Trotzdem verdoppelte er seine Anstrengungen, und endlich vernachlässigte der Gegner seine Deckung. Ross stach zu, der Mann krümmte sich zusammen.

Sein Schmerzensschrei wurde von einem Dröhnen übertönt, das Ross zunächst für Donner hielt. Doch dann sah er einen Wagen aus einer Gasse holpern, der dicht vor ihm hielt.

„Sie wollen Euch den Weg versperren, Ross!“, rief Owain.

„Das sehe ich!“ Mit erhobenem Schwert stürmte Ross zu dem Fahrzeug, das in Flammen aufging, sobald er es erreichte. Die gewaltige Explosion schleuderte ihn zu Boden. Halb benommen stand er auf. Owains Geschrei gellte ihm in den Ohren, und er versuchte, über das Feuer hinwegzuspringen, aber Hitze und Rauch trieben ihn zurück. Einen Arm vor dem Gesicht, starrte er in das Inferno. In der flimmernden Luft sah er den Waliser, der ihm zu Hilfe eilen wollte, und befahl: „Bleibt zurück! Ich finde einen Ausweg, und wenn ich eine Tür einschlagen muss!“

Zu seiner Linken knirschten Angeln, und er drehte sich um, hoffte auf Rettung. Stahl funkelte im Flammenschein, und er warf sich zu Boden, kroch zu einer Tür auf der anderen Seite der Sackgasse, in der ihn die Feuersbrunst gefangen hielt. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seine linke Schulter, aber er biss die Zähne zusammen, erreichte die Tür und stieß sie auf. Als er sie hinter sich schließen wollte, hörte er eine Flüsterstimme. „Lasst mich das machen!“

Die Tür fiel ins Schloss, sperrte das orangerote Licht aus. Schwarzes Dunkel umgab Ross. Ein Riegel wurde vorgeschoben. War er von der einen Falle in eine andere getappt? Sich duckend hob er sein Schwert, schwang es langsam und tastend umher. Plötzlich nahm er den Geruch von Rosmarin und Lavendel wahr. Wieso kam ihm dieser Duft bekannt vor?

„Kommt hierher.“

Er streckte eine Hand in die Richtung, aus der die Stimme zu ihm drang, packte Kleiderstoff und zerrte daran. Eine Gestalt prallte gegen seine Brust, und er unterdrückte einen Schmerzensschrei. „Wer zum Teufel seid Ihr?“

„Megan Sutherland …“

„Und was macht Ihr hier?“

„Ich – rette Euch. Wir sollten von der Tür weggehen.“

Ein heiserer Ruf erklang in der Gasse. „Er muss da drin sein!“ Mit Fäusten, Stiefeln und Schwertgriffen wurde gegen das Holz gehämmert. Wenn sie einen Rammbock holten, war er verloren, ebenso wie Megan. „Gibt es einen zweiten Ausgang?“, fragte er leise.

„Aye. Das ist Gordys Lager, neben der Werkstatt. Gebt acht, sonst stolpert Ihr über seine Geräte.“ Sie umklammerte seine Hand und zog ihn mit sich.

„Ich gehe voraus. Das könnte gefährlich werden.“

Ungeduldig stieß sie einen Ellbogen in seine Rippen. „Seid nicht albern! Ich kenne den Weg.“

Dieser Logik musste er sich fügen. Widerstrebend folgte er Megan, das Schwert gezückt. Sie schob einen Riegel zurück, Türangeln knirschten, schwaches Licht erhellte die Möbel im angrenzenden Raum. Offenbar betraten sie die Werkstatt eines Tischlers. „Ihr wisst hier gut Bescheid“, bemerkte Ross.

„Gordy leidet an der Gicht. Deshalb komme ich oft hierher und behandle seinen Fuß mit Umschlägen.“

„Wo ist er?“

„Im Bett. Meistens schläft er wie ein Toter. Er trinkt eine ganze Menge.“ Megan schloss die Tür des Lagers hinter sich und schob den Riegel vor. Gelassen wischte sie sich die staubigen Hände an ihrem Rock ab.

Er weigerte sich, ihre Tapferkeit zu bewundern. Stattdessen vermutete er eine böse Absicht dahinter. „Ihr seid sehr mutig, Mistress“, murmelte er misstrauisch.

„Wäre es Euch lieber, ich würde kreischen und in Ohnmacht fallen?“

„Nein.“ Unwillkürlich lächelte er. „Besten Dank für Eure Hilfe.“

„Obwohl es Euren Stolz verletzt, Euch von einer Frau retten zu lassen …“

Verdammt, sie redete genau wie seine Mutter. „Das habe ich nicht gesagt.“

„War auch nicht nötig.“ Ihre Augen funkelten mutwillig.

Dass sie seine Gedanken las, ärgerte ihn ebenso wie seine Notlage, die ihn zwang, ihre Hilfe anzunehmen. „Ich habe mich doch bedankt, oder?“

„Schon gut. Jetzt brauchen wir nur noch zu warten.“

„Aber meine Leute werden dort hinten in der Gasse umzingelt.“

„Ihr dürft nicht zurückkehren. Überall lauern Euch bewaffnete Feinde auf. Geduldet Euch, bis Chrissy zurückkommt …“

„Ah, Ihr wollt mich hier festhalten, während sie noch mehr Sutherlands holt.“

„Keineswegs. Sie ist in die Burg gelaufen, um Eure Männer zu alarmieren.“

„Das glaube ich Euch nicht.“ Er wollte zur Tür eilen, die ins Lager führte, aber Megan trat ihm in den Weg.

„Glaubt mir, wir versuchen, Euch zu retten.“

„Um meinetwillen würdet Ihr Euch sogar gegen Euren Vater wenden?“

„Ihr denkt doch nicht, er würde hinter diesem Überfall stecken?“ Genau das nahm er an, wie seine finstere Miene verriet, und sie musste lachen. „So dumm ist er nicht. Einen Mann zu attackieren, der uns allen Frieden bringt …“

„Aber er hat meinen Bruder getötet!“, stieß Ross wütend hervor.

Erschrocken zuckte sie zusammen. „Nein, das schwöre ich. Damit hatte Vater nichts zu tun.“

„Ihr lügt!“

„Keineswegs! Er begrüßte die Verbindung mit Eurer mächtigen Familie.“

„Vielleicht – am Anfang. Doch als Lion hierherkam und herausfand, was Euer verfluchter Vater treibt, verbot er ihm, Eure Schwester zu heiraten, und ließ in ermorden.“

„Was soll mein Vater denn treiben? Ich verstehe nicht, was Ihr meint.“

Verächtlich zeigte Ross auf die schönen Möbel in der Tischlerwerkstatt. „Ich weiß nicht, was in Curthill vorgeht. Aber dieser Glanz, der die Rittersäle eines reichen Adelsherrn schmücken könnte, ist sicher nicht auf ehrliche Weise in Gordys elende kleine Hütte gelangt.“

„Oh doch. Vater kauft beschädigte Ware, lässt sie per Schiff hierherbringen, die Leute setzen sie instand, und dann verkauft er sie wieder. Gordy leistet gute Arbeit. Sogar die feinen Lords in London haben solche Sachen gekauft“, fügte sie stolz hinzu.

„Alles Lüge! Aber mehr habe ich auch gar nicht von einer Sutherland erwartet.“

„Das ist die reine Wahrheit.“ Herausfordernd hob sie ihr Kinn. „Aber Ihr habt Euch vorgenommen, schlecht von uns zu denken, nur weil der arme Lion ums Leben kam, als er …“

„Pah!“, unterbrach er sie. „Warum stehe ich hier herum und streite mit Euch, während Owain und die anderen in Gefahr schweben?“ Er griff nach Megans Arm, wollte sie von der Tür wegzerren, und um ihn zurückzuhalten, packte sie seine Schulter. Gequält stöhnte er auf.

Sie starrte das Blut an, das über ihre Finger rann. „Oh, Ihr seid verletzt! Setzt Euch, lasst mich sehen. Vielleicht muss ich die Wunde verbinden …“

„Nein, dafür habe ich keine Zeit. Außerdem würde ich mich einer Sutherland niemals anvertrauen. Nicht einmal, wenn ich im Sterben läge.“

„Ihr werdet nicht sterben.“ Mit erstaunlicher Kraft stemmte sie ihre Hände gegen seine Brust und drückte ihn auf einen Lehnstuhl. Suchend glitten ihre kleinen Hände über seinen Hals, seine andere Schulter. „Habt Ihr noch weitere Wunden davongetragen?“

„Lasst den Unsinn! Rührt mich nicht an!“

„Ohne Euch anzufassen, kann ich Euch nicht untersuchen. Offenbar wurdet Ihr nur an der Schulter von einem Schwert getroffen. Das bringe ich bald in Ordnung.“ Sie lächelte und tätschelte besänftigend seine Hand.

„Das reicht!“, brüllte er.

Erschrocken blinzelte sie, und er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Plötzlich kam er sich wie ein Unmensch vor. Immerhin hatte sie ihm zur Flucht verholfen. „Ich wollte Euch nicht anschreien …“

„Ha! Alle Männer schreien, aber von Euch hätte ich das nicht gedacht. Lion sagte, Ihr würdet Euren Zorn stets bezähmen. Nun, Euer Geschrei stört mich nicht. Ich weiß meinen Willen durchzusetzen, und ich werde Eure Verletzung behandeln.“

Viel zu nahe stand sie vor ihm. Ihr Atem streifte seine Wange, wieder roch er Rosmarin und Lavendel. So süß und verführerisch … Sein Blick blieb an ihren vollen, leicht geöffneten Lippen hängen. „Megan, ich …“

Der Krach splitternden Holzes ließ beide zusammenzucken, und sie wandten sich in die Richtung der Hintertür.

Ross zögerte nicht. „Schnell, wir müssen von hier verschwinden!“ Er sprang auf, umschlang ihre Taille und zog Megan zur Vordertür; sein Schwert hielt er kampfbereit in der anderen Hand.

Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltbreit, spähte hinaus und sah, dass die Gasse menschenleer war. „Kommt!“

Er wollte sich nach links wenden, zur Burg, aber Megan schüttelte den Kopf. „Hier entlang, da können wir besser in Deckung gehen.“ Sie zeigte zur rechten Seite, und sie eilten zwischen zwei Häuser.

Nach wenigen Schritten merkte er, dass sie hinkte. „Habt Ihr Euch am Bein verletzt?“

Ihre Hand zitterte in seiner. „Es ist nicht so schlimm“, versicherte sie und führte ihn durch eine schmale Gasse. Nur hin und wieder erhellte ein Blitz die Finsternis. Der beißende Geruch frisch abgezogener Tierhäute wies auf eine Gerberei hin, die neben der Werkstatt eines Schusters lag. Plötzlich blieb Ross stehen und lauschte. Schritte und heisere Stimmen näherten sich. „Das könnten meine Männer sein.“

„Nein, sie kommen aus der falschen Richtung. Wir müssen auf Umwegen zu Gordys Werkstatt zurückkehren. Dorthin wird Chrissy Eure Leute führen.“ Als er zögerte, sagte sie: „Keine Bange, Ross Carmichael. Ich habe beschlossen, Euch zu heiraten, und ich möchte mit einem gesunden, unversehrten Bräutigam vor den Altar treten.“

Belustigt lächelte er. „Ihr nehmt wohl nie ein Blatt vor den Mund?“

„Nur selten.“ Sie führte ihn um eine Ecke, strauchelte und wäre gestürzt, hätte er sie nicht festgehalten.

„Offenbar macht Euch das verletzte Bein zu schaffen. Streitet nicht mit mir! Ich werde Euch tragen, und Ihr weist mir den Weg.“ Wieder umfasste er ihre Taille, hob Megan hoch und drückte sie an sich.

Wie stark er ist, dachte sie, während er durch das Dunkel eilte und immer wieder kurz innehielt, um ihren geflüsterten Anordnungen zu lauschen. In seinem Arm empfand sie keine Angst, obwohl sie das Geschrei der Verfolger hörte.

Atemlos blieben sie in einer Seitengasse gegenüber von Gordys Haus stehen. Ross’ Arm umschlang immer noch Megans Taille. Im grellen Licht eines Blitzes schaute sie zu ihm auf, begegnete seinen blauen Augen, die ihren Blick festhielten. „Meg“, flüsterte er. Sonst nichts. Aber dieses eine Wort genügte, um das heiße Verlangen auszudrücken, das ihn plötzlich erfüllte und ein ähnliches Gefühl in ihrer Brust weckte.

„Aye“, wisperte sie sehnsüchtig. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht, dann presste sich sein Mund auf ihren.

Ihr erster Kuss war viel schöner als die Träume in einsamen Nächten. Sinnverwirrende, nie gekannte Empfindungen strömten durch ihren Körper. Leise stöhnte sie, mit beiden Händen umfasste sie Ross’ Gesicht. Verlockend öffneten sich ihre Lippen, seine Zunge spielte mit ihrer, und Megan spürte entzückt, wie er zu zittern begann. Ringsum schien alles zu versinken, verdrängt von wilder, machtvoller Leidenschaft.

Viel zu früh hob er den Kopf. „Oh Gott, wie ist das geschehen?“, flüsterte er heiser.

„Ich wusste, dass es so sein würde zwischen uns.“

„Nein, unmöglich!“ Er wollte sie wegstoßen, aber sie klammerte sich an seinen Waffenrock.

„Warum bestreitest du, was wir empfinden?“

„Das fragst du – nachdem mein Bruder durch die Schuld der Sutherlands gestorben ist?“

„Megan!“, rief eine weibliche Stimme. „Alles in Ordnung? Ich habe Carmichaels Männer mitgebracht. Wo steckst du?“

Ruckartig hob Ross den Kopf. „Ist das deine Cousine?“

Immer noch leicht benommen von der Wirkung, die sein Kuss ausgeübt hatte, hauchte sie: „Aye.“

„Und keinen Augenblick zu früh!“ Entschlossen riss er sich von ihr los. „Andrew, Owain?“

„Hier ist Andrew!“ Die tiefe raue Stimme passte zu dem großen Krieger, der jetzt an Ross’ Seite eilte, gefolgt von einem jungen Mann mit einer lodernden Fackel. „Wie oft habe ich Euch erklärt, Ihr sollt nicht auf feindlichem Terrain herumlaufen, wenn Euch nur wenige Männer begleiten?“, schimpfte der Ritter, als wäre Ross ein unartiger kleiner Junge.

Halb und halb erwartete Megan, ihr Bräutigam würde den unverschämten Mann niederschlagen. Aber stattdessen winkte er verächtlich ab. „Wir müssen Owain und die anderen finden.“

„Hier bin ich.“ Der hochgewachsene Waliser trat vor, und Ross fragte, wie der Kampf verlaufen sei. „Ein paar unserer Männer haben geringfügige Verletzungen erlitten“, berichtete Owain, „und wir konnten niemanden gefangen nehmen.“

Andrew fluchte lauthals, aber Ross seufzte nur und erteilte seine Befehle. Ein paar seiner Männer eilten davon, um die Feinde zu suchen, die Ross und Megan durch das Dorf gehetzt hatten. Andere sammelten die Waffen ein, die am Boden gelandet waren, und kümmerten sich um die verletzten Gefährten.

Megan beobachtete, wie umsichtig sie sich verhielten. Die Sutherlands waren eine ungezügelte, wilde Bande, stritten oft untereinander, und die meisten taten, was ihnen beliebte, ohne auf die anderen zu achten. Aber Ross’ Männer wirkten vernünftig, besonnen und rücksichtsvoll, auch größer und kräftiger und besser gerüstet. Nur ein starker Führer konnte den Respekt solcher Krieger gewinnen und sie befehligen, ohne ihnen Gewalt anzudrohen. Ein Mann wie Ross Carmichael, dachte Megan, der Mann meiner Träume, der einzige Mann in meinem Leben. Das wusste sie nicht erst seit jenem aufwühlendem Kuss. „Ist er nicht wundervoll?“, flüsterte sie Chrissy zu.

Gleichmütig zuckte ihre Cousine die Achseln. „Ein Mann wie jeder andere.“

Nein, er ist etwas ganz Besonderes, sagte sich Megan, und er begehrt mich. Daran zweifelte sie nicht, nachdem er sie so leidenschaftlich geküsst hatte. Aber sie wünschte sich noch mehr. Sie wollte nicht nur sein Verlangen wecken, sondern auch seine Liebe gewinnen. Auf dem Rückweg zum Schloss schmiedete sie Pläne und überlegte, wie sie ihren widerstrebenden Bräutigam zur Vernunft bringen konnte.

Ross trat ans Fenster und blickte zum Meer hinab. Das Gewitter war davongezogen und hatte die Luft gereinigt. Aber er hätte das verrauchte Dorfgasthaus oder sogar die Hölle diesem verfluchten Schlafgemach in Curthill Castle vorgezogen. Die roten Samtvorhänge am Bett erinnerten ihn an das vergossene Blut seines Bruders, die schönen Truhen, die kostbaren Silberkrüge und – becher an den Verdacht, Eammon wäre ein elender Strandräuber. Aber wie sollte er das beweisen?

In dieser Nacht wollte er sich nicht noch einmal hinauswagen, um Antworten auf seine Fragen zu suchen. Nur mit knapper Not war er der Gefahr entronnen, fast unverletzt.

Vor dem Kamin saß Owain, die Beine ausgestreckt, einen Becher Ale in der Hand. „Ich wünschte, nicht nur Davey würde Eure Wunde behandeln, sondern jemand, der etwas mehr von der Heilkunde versteht.“

„Seit Jahren kümmere ich mich um seine Blessuren“, verteidigte sich Davey, der neben der Tür auf einer Matte lag. „Zum Glück ist die Verletzung nicht schlimm. Die Klinge hinterließ nur einen nicht allzu tiefen Schnitt.“

Seufzend runzelte Ross die Stirn. Der beiläufige Tonfall des Jungen erweckte unerwünschte Erinnerungen an Megans Fürsorge. Wider Willen hatte ihn ihre Angst um sein Wohlergehen bewegt. Rasch verdrängte er den Gedanken an ihre erregende Nähe, an ihre zarten Hände, die seinen Körper abgetastet hatten, um nach anderen Verwundungen zu suchen. „Warum glaubt Ihr, die Angreifer seien nicht aus Curthill gekommen, Owain?“

„Giles und die anderen, die in der Burg geblieben sind, haben gut aufgepasst. Keiner verließ die Mauern des Kastells, nachdem wir aufgebrochen waren.“

„Sie hätten früher ins Dorf hinuntergehen können.“

„Das wäre möglich, aber unsere Gegner waren nicht wie Soldaten gekleidet eher wie Seeleute.“

„Von diesem Schiff im Hafen …“

Es klopfte an der Tür, und alle drei Männer griffen nach ihren Schwertern. Davey ließ Andrew und den Waliser herein, der die Boote beobachtet hatte. Den Dialekt, in dem er Owain Bericht erstattete, verstand Ross nicht. Um sich die Zeit zu vertreiben, füllte er einen Becher mit gewässerten Wein.

Sofort kam Davey angelaufen, um zuerst davon zu kosten.

„Das ist unnötig“, erklärte Ross und nahm einen großen Schluck. „Sicher ist Eammon nicht so dumm, mich zu vergiften, während der Onkel des Königs in diesen Mauern weilt.“

„Aber er muss ein Strandräuber sein!“, stieß Owain hervor und berichtete, was die Wachtposten der Carmichaels an der Küste beobachtet hatten. Während er das Frachtgut beschrieb, das man aus dem Schiff geladen hatte, zeichnete Ross mit seiner Fußspitze einen Kreis auf den Teppich – ähnlich der Schlinge, die sich mit jeder Stunde, die er in Curthill verbrachte, enger um seinen Hals zu schließen schien.

In drei Tagen würde man ihn zwingen, Megan zu heiraten. Ein Schicksal, schlimmer als der Tod, hatte er auf der Reise gedacht. Und seit dieser Nacht kannte er das ganze Ausmaß der Hölle, die ihn erwartete. Er begehrte sie, heißer als jede andere Frau in seinem Leben. Nicht einmal Rhiannon hatte eine solche Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Aber er wollte nichts für Megan empfinden, nichts außer kaltem Hass. Denn wenn sie wüsste, welches Gefühl sie in ihm erregte, würde sie es benutzen, um ihn zu versklaven …

„Die Beute wurde nicht in die Burg gebracht?“, fragte Andrew und lenkte Ross’ Gedanken zu einer unmittelbareren Gefahr.

Owain schüttelte den Kopf. „Man hat sie im Dorf verteilt. Ein paar Truhen mit Kleiderstoffen brachte man zum Schneider, die Möbel zum Tischler. Übrigens, in Curthill ist jedes Handwerk vertreten.“

„Seltsam – in dieser kleinen Ortschaft …“, meinte Andrew.

„Gewiss, aber …“ Ross wiederholte, was Megan über die Geschäfte ihres Vaters erzählt hatte. „Vielleicht brachte man beschädigte Sachen ins Dorf, um sie instand setzen zu lassen.“

Verächtlich schnaufte Andrew. „Mitten in der Nacht?“

„Oder der Laird weiß nichts von den Machenschaften der Dorfbewohner“, warf Davey ein.

Andrew tastete nach dem Griff seines Schwerts. „Nehmen wir einen Mann gefangen und verhören wir ihn. Gebt mir nur eine Stunde Zeit …“

„Andrew, Ihr redet wie ein Narr!“, rief Ross. „Mistress Megan hat bereitwillig über diese Geschäfte gesprochen, sogar voller Stolz.“

Der walisische Spion ging zu Ross hinüber. „Am Rand der Ortschaft steht eine geheimnisvolle Hütte, fensterlos, mit einer einzigen Tür, von zwei Männern bewacht. Und dort wurden mehr Sachen hineingeschleppt, als sie ihrer Größe nach fassen konnte.“

„Tatsächlich?“ Wütend presste Ross die Lippen zusammen. Also hatte Megan nicht alles verraten – nur genug, um sein Misstrauen zu zerstreuen. Zum Teufel mit dieser verlogenen kleinen Hexe … Und dann verfluchte er sich selbst, weil er auf ihre tückischen Verführungskünste hereingefallen war.

5. KAPITEL

Unglaublich!“, flüsterte Davey seinem Herrn zu. Hinter ihnen reckten die Carmichael-Ritter ihre Hälse. Tagsüber sah die Halle von Curthill noch schlimmer aus als am vergangenen Abend im Fackelschein. Schäbig und verkommen wie eine Hure am Morgen danach, dachte Ross und musterte die schnarchenden Zecher, deren Köpfe auf den Tischen lagen. Schweißgestank mischte sich mit dem Rauchgeruch des flackernden Kaminfeuers. Gnadenlos beleuchtete das Morgenlicht, das durch die offenen Fenster hereinströmte, die Zeichen des Verfalls. Unter der dünnen weißen Tünche waren die Mauern grau und verrußt, die Wandteppiche fleckig – von Salzwasser? Die Binsenmatten rochen nach verschüttetem Ale.

„Diese infernalischen barbarischen Hochländer“, knurrte Andrew und wechselte einen Blick mit Giles Kennedy, der angewidert die Nase rümpfte.

„Diese Leute erinnern mich an Lumpensammler“, bemerkte der penible Sir Giles. „Kein Kleidungsstück passt zum anderen.“

Ross nickte. Die meisten Männer trugen die typischen safrangelben, gefältelten Tuniken der Hochländer und bunte Beinkleider, wie man sie in England und an König Davids Hof schätzte.

„So als wäre ein Haufen höfischer Kleidung in die Halle geworfen worden und jeder hätte sich was genommen“, fügte Giles hinzu.

„Genau“, bestätigte Ross. Natürlich stammten auch die Gewänder von den Schiffen, die der verdammte Sutherland-Clan an seine Felsenküste lockte, um sie auszurauben. Diese Erkenntnis bestärkte ihn in seinem Entschluss, alles zu tun, um der Ehe mit Megan zu entrinnen.

„Wollen wir den ganzen Tag hier herumstehen?“, murrte Lord Nigel, der ihn zum Frühmahl geholt hatte. „Lady Mary bedeutet der Dienerschaft soeben, das Essen aufzutischen.“ Mit schnellen Schritten, die seine Leibesfülle Lügen straften, begab er sich zur Tafel der Gastgeberin.

„Irgendwie ist mir der Appetit vergangen“, murmelte Davey.

„Mir auch“, erwiderte Ross. Sein Kopf und die verletzte Schulter schmerzten, seine Augen brannten vor Müdigkeit. Wäre die Zeit nicht so knapp gewesen, hätte er sich zu Bett gelegt.

„Wollt Ihr in Euer Schlafgemach zurückkehren?“, fragte Davey. „Ich könnte Euch was aus der Küche bringen.“

„Nein, ich bleibe hier.“ Ross war in die Halle gekommen, um Antworten auf seine quälenden Fragen zu finden.

Während er sich dem Podium näherte, eilte ihm eine zierliche, blasse Frau entgegen. „So früh haben wir Euch nicht erwartet. Das Brot wurde schon aus dem Backofen geholt, aber das übrige Essen ist noch nicht fertig.“

Das musste die Herrin von Curthill sein. Ross reichte Lady Mary die Hand. „Schon gut, Madam, wir brauchen nicht viel“, entgegnete er so sanft, als würde er zu seiner Mutter sprechen, obwohl dieses armselige, verschüchterte Geschöpf nichts mit Lady Carina Carmichael gemein hatte. Verständnislos starrte Lady Mary ihn an, und da merkte er, dass er französisch gesprochen hatte. „Verzeiht mir“, fuhr er auf gälisch fort, „ich …“

„Oh, Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich bin im Tiefland geboren und habe als Kind die höfische Sprache gelernt. Aber ich fürchte, meine Französischkenntnisse sind etwas verkümmert, denn ich kann mich nur mit Megan und Chrissy darin üben.“

„Mistress Megan spricht französisch?“

„Ja, und sie liest auch französische Bücher. Dafür findet sie seit dem Unfall viel Zeit.“

Megan hatte einen Unfall erlitten? Nein, davon wollte er nichts wissen, kein Mitleid empfinden. „Bücher sind teuer und hier im Hochland sicher schwer zu beschaffen.“

„Nein, durch den Handel, den Lord Eammon betreibt, gelangen sehr viele zu uns.“

„Von diesen Geschäften hat Megan mir erzählt. Werden in Eurem Dorf auch beschädigte Bücher instand gesetzt?“

„Oh nein, das wäre eine Arbeit für Mönche, und hier gibt es kein Kloster. Und so lesen wir die Bücher, so wie sie sind – voller Wasserflecken und ein bisschen zerfleddert.“

Aus einem Schiffswrack an Land gespült …

„Über diese Geschäfte weiß Megan viel besser Bescheid als ich“, fügte Lady Mary hinzu.

Darauf möchte ich wetten, dachte Ross.

„Ich kümmere mich um meinen Kräutergarten und versuche, die Halle in Ordnung zu halten, obwohl niemand meine Autorität unterstützt“, erklärte sie bitter. „Aber nun reden wir nicht mehr von meinen Problemen. Bitte, setzt Euch. Bald wird das warme Essen aufgetragen.“

Warum unterstützt Eammon ihre Autorität nicht, überlegte Ross. Dann erinnerte er sich an Felis, die den Laird von seinen Pflichten ablenkte. Beinahe bedauerte Ross die arme Burgherrin. Er folgte ihr zum Podium. Halb hoffte, halb fürchtete er, Megan würde ihn am Tisch erwarten. Aber dort saß sie nicht. Wahrscheinlich lag sie noch im Bett, um sich von der ereignisreichen Nacht zu erholen. Er setzte sich auf den Stuhl, den Lady Mary ihm anbot, und dachte, Nigel würde zu seiner Linken Platz nehmen. Stattdessen ließ sich Seine Lordschaft am anderen Ende der Tafel nieder und tauchte seine Nase tief in einen Weinbecher.

Davey schenkte gewässerten Wein ein und bat: „Einen Augenblick!“ Schnell hob er den Becher an die eigenen Lippen.

„Davey!“ Ärgerlich versuchte Ross, ihm den Becher aus der Hand zu schlagen. Aber der Bursche sprang behände zur Seite und trank, dann wischte er sich die Lippen mit einer Leinenserviette ab.

„Eigentlich bezweifeln Owain und ich, dass man Euch in Lord Nigels Anwesenheit vergiften könnte, aber zur Sicherheit …“

Ross sah den Waliser mit den Carmichaels an einem Tisch nahe dem Podium sitzen und starrte ihn erbost an.

„Auf Eure Gesundheit!“, rief Owain in seiner Muttersprache.

„Die will ich nicht auf Kosten anderer genießen“, erwiderte Ross, ebenfalls auf walisisch. „Erklärt das meinen Leuten!“ Unter den wollenen Tuniken trugen die kampferprobten Ritter ihre Kettenhemden, Dolche steckten in den Stiefelschäften, Schwerter hingen an den Gürteln. Obwohl er die Notwendigkeit dieser Vorsichtsmaßnahmen erkannte, betonte er: „Ich wünsche keine überflüssigen Heldentaten.“

„Die werden wir nicht vollbringen“, versicherte Owain. „Aber ich muss Euch den Rücken decken. Dafür werde ich bezahlt. Außerdem drohte Lord Lionel, er würde mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen und zum Trocknen in die Sonne legen, falls Euch etwas zustößt.“

Verächtlich runzelte Ross die Stirn, doch die Sorge des Vaters erwärmte sein Herz, und er hoffte, sie würden sich versöhnen, wenn Lions Mörder gefunden war. Er nahm den Becher entgegen, den Davey nachgefüllt hatte, setzte ihn an die Lippen und zuckte leicht zusammen, als ein stechender Schmerz durch seine Schulter fuhr.

„Soll ich nach Eurer Wunde sehen?“, erbot sich Davey.

„Nein.“

„Wieso wurdet Ihr verletzt?“, erkundigte sich Lord Nigel.

Widerstrebend schilderte Ross den nächtlichen Kampf im Dorf, ohne Megans Hilfe und seinen Verdacht zu erwähnen, die Angreifer wären von Bord des Schiffs gekommen, das die Diebesbeute in die Bucht befördert hatte.

„Oh, wie schrecklich!“, rief Lady Mary.

„Nachdem Euer Vater Curthill schon zweimal überfallen hat, war es sehr leichtsinnig von Euch, durch das nächtliche Dorf zu wandern“, meinte Lord Nigel. „Wahrscheinlich wollten sich die Familien seiner Opfer rächen.“

Ross widersprach ihm nicht und wandte sich wieder zu seiner Gastgeberin, die ihm seufzend gestand. „Als ich vor Jahren hier ankam, fand ich Curthill trostlos und primitiv. Aber bald lernte ich die Menschen schätzen, die hier leben. Sie sind tapfer und ehrenwert.“

Ehrenwert? Beinahe verschluckte er sich an seinem Wein.

Im Hintergrund der Halle entbrannte ein Kampf zwischen zwei langhaarigen Riesen. Der dünnere streckte seinen Gegner mit einem Fausthieb nieder, dann warf er sich auf ihn. Einer umklammerte die Kehle des anderen, während sie sich über die Binsenmatten wälzten, von ihren Clansleuten angefeuert, die schreiend miteinander wetteten, wie die Keilerei ausgehen würde. Nicht einmal ihresgleichen behandeln diese Sutherlands „ehrenhaft“, dachte Ross spöttisch.

„Da seht Ihr, wie es um die Disziplin unserer Leute steht, seit Eammon kaum noch in der Halle erscheint“, seufzte Lady Mary.

„Ich konnte den Laird noch nicht begrüßen. Wo versteckt er sich?“

Erst wurde sie rot, dann blass. „Nun, er – fühlt sich nicht gut. Vor zwei Jahren starb unser Sohn. Seither ist Eammon nicht mehr er selbst. Meistens bleibt er in seinen Gemächern.“

„Befehligt er seinen Clan nicht mehr?“

„Doch. Archie übermittelt uns die Anordnungen des Lairds. Und dessen Geschäfte haben dem Dorf zu einem gewissen Wohlstand verholfen. Er glaubt, bald können die Leute einen Teil des Gewinns behalten, statt das Geld zu verwenden, um neue Ware zu kaufen. Das hat Archie uns erzählt.“

„Archie?“

„Der Hauptmann unserer Garnison. Aber abgesehen von den Handelsgeschäften hat Eammon uns vergessen.“

„Auch seine Familie?“

„Oft sehen wir ihn monatelang nicht“, erwiderte Lady Mary bedrückt. „Er verlässt seinen Turm nicht, und wir sind dort oben unwillkommen.“

„Ich verstehe.“

„Das bezweifle ich. Seit einiger Zeit kümmert sich Felis um ihn. Er braucht mich nicht mehr.“ Offensichtlich war sie so tapfer und freimütig wie ihre Tochter, und Ross bedauerte alle beide. Seine Mutter würde ihrem Mann die Augen auskratzen, wenn er versuchte, eine Geliebte unter seinem Dach zu beherbergen.

„Das tut mir leid“, murmelte er.

„Auch für Megan ist das alles sehr schwierig. Sie vergötterte ihren Vater, und er liebte sie so sehr, dass er sie nach dem Tod des alten Seanachaidhs zum Barden des Clans Sutherland ernannte. Aber nun scheint er, abgesehen von Felis, nur noch Siusan zu lieben. Jede Woche schickt er Männer in die Berge, um sie suchen zu lassen.“

Aus Liebe, oder weil Siusan zu viel wusste? Während der letzten Nacht hatte Ross versucht, die bisher erhaltenen Informationen in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Lion hatte die Jagd geliebt und hätte die Verfolgung eines Wilds nicht grundlos aufgegeben. Aber hätte Siusan Lucais zu ihm gesandt, mit der Bitte, sie auf einer entlegenen Waldlichtung zu treffen, wäre Lion sofort hingeritten. Dort hatten Eammons Männer ihn getötet – um zu verhindern, dass er dem König von ihren Geschäften berichtete? War auch Siusan an der Verschwörung beteiligt gewesen? „Wo ist Eure jüngere Tochter?“

„Einfach verschwunden …“ Unglücklich senkte Lady Mary den Kopf. „Ohne ein Wort.“

„Sie rannte mit einem Pagen davon“, fügte eine tiefe Stimme hinzu. Ein großer, breitschultriger Fremder stieg auf das Podium – schlicht, aber kostbar gekleidet.

Ein Edelmann, der nicht mit seinem Reichtum prahlt, dachte Ross.

„Comyn!“, rief Lady Mary.

„Liebe Cousine …“ Höflich beugte er sich über ihre Hand. „Darf ich mich an deinen Tisch setzen?“ Als sie nickte, nahm er neben Ross Platz und wandte sich zu ihm. „Wir sind uns noch nicht begegnet. Ihr müsst Ross Carmichael sein. Mein Name lautet Comyn MacDonell.“

„Comyn zog vor neun Jahren zu uns, nachdem sein Vater seine Ländereien verloren hatte“, erklärte die Burgherrin. „Eammon betrachtet ihn als seinen Sohn, insbesondere seit Ewans Tod. Und auch mir ist mein Vetter ein Trost.“ Sie lächelte. „Obwohl ich ihn nur selten sehe … Es kostet ihn viel Zeit, den Wehrturm instand zu setzen, den mein Mann ihm geschenkt hat.“

„Soeben bin ich von Shurr More herübergeritten“, berichtete Comyn, dann sagte er zu Ross: „Lions Tod ging mir sehr nahe.“ In seinen braunen Augen lag echter Kummer. „Wir kannten uns nicht lange, schlossen aber Freundschaft während der Clansversammlung, bei der er mit Siusan zusammentraf. Damals besiegte ich ihn in einem Wettlauf, und er schlug mich im Schwertkampf.“

„Typisch für meinen Bruder …“ Als Comyn die Ereignisse jenes Tages schilderte, entschied Ross, dass er an dieser Küste endlich einen Mann gefunden hatte, in dessen Gesellschaft er sich wohlfühlte. Sicher konnte er Lady Marys Vetter befragen und ehrliche Antworten erwarten. „Wo wart Ihr, als Lion starb?“

„Bedauerlicherweise in Shurr More. Ah …“ Comyn grinste spöttisch. „Da ist ja unsere kleine Braut.“

Obwohl Ross sich gelobt hatte, gelassen zu bleiben, fuhr er herum, und sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Verschwunden war das mutwillige, kühne Mädchen mit den blonden Zöpfen, das sein nächtliches Abenteuer geteilt hatte. Eine atemberaubende Schönheit stand vor ihm. Er hatte sich gefragt, wie sie mit offenem Haar aussehen würde. Nun wusste er es. Goldene Wellen fielen auf ihren Rücken hinab. Nur an den Schläfen waren zwei dünne Strähnen geflochten, am Hinterkopf von einer Spange zusammengefasst, die das Haar aus dem Gesicht hielten. So wurden die hohen Wangenknochen betont, das zierliche Kinn, der schlanke Hals. Das schlichte rote Kleid schmiegte sich eng an ihre Brüste, und als Ross beobachtete, wie sie sich hoben und senkten, von schnellen Atemzügen bewegt, wurde sein Mund trocken. Aber er würde dieser verführerischen Herausforderung widerstehen.

Sie stieg auf das Podium, stellte eine Silberplatte auf den Tisch, die mit einem Tuch bedeckt war, und da sah Ross, dass sie ihren linken Fuß ein wenig nachzog. Offenbar hatte sie sich verletzt, als sie ihm in der vergangenen Nacht zu Hilfe gekommen war.

Unwillig runzelte sie die Stirn. „Was machst du hier, Comyn?“

„Ich möchte an deiner Hochzeitsfeier teilnehmen“, entgegnete er lächelnd und erhob sich, um sie zu begrüßen.

„In dieser Burg bist du nicht erwünscht.“ Sonnenlicht glänzte in ihrem Haar und passte zum Feuer, das aus ihren Augen sprühte.

„Meg!“, tadelte ihre Mutter. „Entschuldige dich sofort!“

„Schon gut, Cousine Mary.“ Beschwichtigend hob Comyn seine Hand. „Im Lauf der Jahre habe ich mich an Megans scharfe Zunge gewöhnt.“

Erstaunt blickte Ross von Megans geröteten Wangen zu Comyns verkrampften Lippen. Warum hatte sie sich mit so einem liebenswürdigen Mann verfeindet?

„Aber ich werde mich nie mit deiner Tücke abfinden!“, fauchte sie.

Neugierig starrten die anderen Männer das zornige Mädchen an. Nur Lord Nigel interessierte sich nicht für die Szene, sondern attackierte sein Brathuhn, als hätte er Angst, es könnte davonfliegen.

„Vorsicht!“, mahnte Comyn. „In so nachsichtiger Stimmung wirst du mich nicht immer antreffen.“

Megan würdigte ihn keiner Antwort und wandte sich schließlich zu Ross. „Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, als Ihr in die Halle kamt. Aber das habe ich eigens für Euch zubereitet.“ Sie zog das Tuch von der Silberplatte und schob sie zu ihm hinüber.

Der Geruch von Meerwasser stieg ihm in die Nase, und er würgte beinahe. „Fisch“, sagte er mit schwacher Stimme.

„Gebackener Stör, erst gestern gefangen. Meine Lieblingsspeise. Ich dachte …“

Mühsam schluckte Ross und griff nach seinem Weinbecher.

„Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“, fragte sie.

„Wenn man nicht am Meer aufgewachsen ist, hat man vermutlich so früh am Morgen keinen Appetit auf Fisch“, bemerkte Comyn und schob die Silberplatte zu Lord Nigel hinüber, der sich begierig auf den Stör stürzte.

Erleichtert seufzte Ross auf. „Danke, Comyn.“

Megan starrte ihn gekränkt an. „Ich bin eigens so zeitig aufgestanden, um diesen Fisch für Euch zuzubereiten.“

„Zum Frühmahl esse ich nur Käse und Brot“, entgegnete er kühl.

„Wie Ihr wollt.“ Erbost warf sie ein Stück Brot vor ihn auf den Tisch, und ihr Arm stieß den Becher um. Wein ergoss sich auf Ross’ Knie.

Aufgeregt befahl Lady Mary ihren Dienerinnen, Tücher zu bringen, und Davey erbot sich, frische Kleidung zu holen.

Wortlos schüttelte Ross den Kopf und musterte Megan, die betreten den Blick senkte.

„Entschuldige dich, Kind!“, befahl ihre Mutter.

„Tut mir leid“, flüsterte sie.

„Schon gut“, erwiderte er.

Als sie neben ihm Platz nahm, sah er ihren Mundwinkel zucken. Offenbar konnte sie ihren Lachreiz nur mühsam bezähmen. Diese kleine Hexe … „Habt Ihr das absichtlich getan?“, zischte er.

„Nein, es war ein Versehen“, erwiderte sie leise. „Aber Ihr hättet Euch sehen sollen – pompös wie ein Bischof während eines Hochamts, und plötzlich floss der Wein auf Eure Knie …“

Wütend ballte er die Hände. Wie konnte sie sich nur über ihn lustig machen?

„Megan, lach deinen Verlobten nicht aus!“, mahnte Lady Mary.

Sobald Megan den Zorn in Ross’ Augen sah, verflog ihre Belustigung – ebenso die Hoffnung, die letzte Nacht erwacht war. Würde sie jemals seine Liebe gewinnen?

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, denn nun betrat Archie die Halle, in kostbare pfauenblaue Seide gewandet, den Kopf hochmütig erhoben. Voller Abscheu beobachtete sie den Hauptmann, den sie glühend beneidete, weil er ihrem Vater so nahe stand. Vor dem Podest angekommen, verkündete er: „Der Laird wird nicht herunterkommen, um mit Euch zu frühstücken. Er fühlt sich nicht wohl.“

Mitfühlend beobachtete Ross, wie Lady Mary den Kopf senkte.

Megan stieß erbost hervor: „Wird er sich wohl genug fühlen, um an meiner Hochzeit teilzunehmen?“

Ein gönnerhaftes Grinsen entblößte Archies gelbe Zähne. „Ich werde sehen, ob ich das in Erfahrung bringen kann.“

„Wenn ich gegessen habe, besuche ich Eammon und erkundige mich nach seinem Befinden.“ Comyn setzte sich nicht auf den Platz, den er zuvor eingenommen hatte, sondern er rückte einen Stuhl mit hoher Lehne an Ross’ linker Seite zurecht.

Sofort sprang Megan auf. „Nein! Das ist Vaters Stuhl!“

Archie lächelte spöttisch. „Sicher hat der Laird nichts dagegen, wenn Comyn seinen Platz einnimmt.“

„Aber ich!“, fauchte Megan.

Comyns helle Augen verengten sich. „Die halbe Nacht bin ich geritten, und jetzt habe ich einen prächtigen Appetit.“

„Gut, dann iss, aber du kannst nicht auf Vaters Stuhl sitzen. Es würde bedeuten, dass du an seine Stelle treten willst.“

„Abergläubischer Unsinn!“, höhnte Comyn.

„Alte Traditionen“, entgegnete Megan. „Und als Seanachaidh des Clans Sutherland muss ich die Sitten und Gebräuche hüten.“

Verächtlich schnaufte Comyn, aber Ross spürte die Spannung, die in der Luft lag, sah die neugierigen Blicke ringsum und gab Megan recht. Wenn er auch, ebenso wie Comyn, wenig Wert auf alte Überlieferungen legte, diese Leute schienen daran zu glauben. Sogar Archie schaute unbehaglich drein. Wenn Comyn auf dem Stuhl des Lairds Platz nahm, würde er unmissverständlich seine Absichten bekunden.

Den Kopf hocherhoben, stand Megan da. Wie tapfer sie die Rechte ihres Vaters verteidigte … Ross bewunderte ihre Haltung, obwohl er den Laird verachtete.

Trotz der weichen Binsenmatten hätte man eine Nadel fallen hören, während die Sutherlands den Ausgang des Disputs abwarteten. Schließlich schlug Archie vor: „Kommt, Mylord, ziehen wir uns in Lord Eammons Räume zurück. Sicher empfängt er Euch sehr gern. Erst heute Morgen hat er nach Euch gefragt. Er sagte, sobald ihr von Shurr More herüberreiten würdet, müsste er was mit Euch besprechen.“

Comyns Augen hielten Megans Blick noch für eine kleine Weile fest, an seinem Kinn zuckte ein Muskel. Dann wandte er sich ab und verließ mit Archie die Halle. Alle Anwesenden schienen aufzuatmen, neue Gespräche wurden angeknüpft.

„Ein weiblicher Barde!“, höhnte Lord Nigel. Fett triefte von seinem Doppelkinn. „Eigensinn und Aufsässigkeit – das hat man davon, wenn man Frauen das Gefühl gibt, sie könnten mehr zustande bringen, als zu kochen und Kinder zu gebären. Hoffentlich werdet Ihr Eurer Braut zeigen, wer der Herr im Hause ist.“

„Glücklicherweise wurde ich dazu erzogen, meinen eigenen Wert zu erkennen“, bemerkte Megan und wandte sich zu Ross. „Tut mir leid wegen des Fisches – und des Weines. Soll ich Haferbrei oder kalten Braten bringen lassen?“

Abrupt stand er auf. „Danke, mir reicht’s.“ Offensichtlich hatte er nicht vom Frühmahl genug, sondern von ihrer Gesellschaft.

„Wollen wir uns dort drüben in die Fensternische setzen?“, schlug sie hastig vor. „Dort wären wir ungestört.“

„Nein.“

„Aber ich muss Euch etwas sagen.“

„Ich interessiere mich nur für den Mord an meinem Bruder und das Versteck deiner Schwester.“ Kühl und unnachgiebig starrte er sie an, und sie holte tief Luft.

„Also gut, ich werde alle deine Fragen beantworten.“ Sofern ich kein Menschenleben gefährde, ergänzte sie in Gedanken.

Die Burg Curthill erhob sich auf einem Felsen hoch über der rastlos schäumenden See. Die Schutzwälle hätten dringend einer Erneuerung bedurft und zeigten die Spuren zahlreicher Schlachten, darunter auch die Kerben, die Lionels Attacken geschlagen hatten. Trotzdem war Curthill fast uneinnehmbar. Vom Land her konnte man die Burg nur auf einem schmalen Weg erreichen, der an der Zugbrücke endete.

Am Fuß der Klippe, an einer windgeschützten Stelle, gab es einen schmalen Grasstreifen. Verkümmerte Bäume krallten ihre Wurzeln in den sandigen Boden. Hier saß Megan auf einem Plaid und erwartete Ross. Warm schien ihr die Sonne ins Gesicht. In die frische Salzluft, vom Gewitter der letzten Nacht gereinigt, mischten sich die angenehmen Düfte der Fleischpasteten, die ihr die Köchin in einen Korb gepackt hatte.

Unbehaglich blickte Megan der Begegnung mit ihrem Bräutigam entgegen. „Treffen wir uns am Strand“, hatte er auf ihr Angebot erwidert, seine Fragen über Lion zu beantworten.

„Warum am Strand?“

„Dort kann uns niemand belauschen.“

„Aber der Sand ist voller …“

„Am Strand!“, beharrte er.

Und so hatte sie zugestimmt, trotz ihrer wohlbegründeten Bedenken. Das war nicht besonders nett von dir, mahnte ihr Gewissen. Doch die Männer wurden offenbar nur durch Schaden klug, und der hochnäsige Lord Ross verdiente eine Lektion. Wenn er merkte, was er sich einhandelte, wenn er ihren Rat nicht befolgte, würde er das nächste Mal vielleicht auf sie hören.

„Wie pünktlich Ihr seid!“, rief er, als er über den Strandstreifen auf sie zukam. „Einer Frau hätte ich das gar nicht zugetraut.“

„Habt Ihr von allen Frauen eine so schlechte Meinung? Oder nur von mir?“ Statt einer Antwort runzelte er die Stirn. „Bald werdet Ihr feststellen, wie deutlich ich mich von anderen Frauen unterscheide.“

„Das weiß ich schon jetzt. Ich kenne keine, die Wein auf meinen Schoß schütten würde, nur um sich an mir zu rächen.“

„Oder die Euer Leben retten würde“, entgegnete sie. Immerhin besaß er so viel Anstand, ein wenig zu erröten. Ungehalten beobachtete Megan, wie sechs Männer in dunkler Kleidung, mit Armbrüsten bewaffnet, zwischen den Felsen Stellung bezogen. „Ich dachte, wir wollten ungestört miteinander reden.“

Er zuckte die Achseln und biss die Zähne zusammen.

Also tut ihm die Schulter immer noch weh, dachte sie. Nur gut, dass ich eine Salbe und Verbandszeug mitgebracht habe …

„Meine Leibwächter nehmen es sehr genau mit ihrer Pflicht“, erklärte er.

„Teilen sie auch Euer Schlafgemach?“

„Nein.“ Unbehaglich wich er ihrem Blick aus. „Warum starrt Ihr mich so an?“

„Ich kann nicht anders“, entgegnete sie lächelnd. „Ihr erinnert mich an den keltischen Gott Luga Lamfada. Er ist groß und schön, und sein Gesicht strahlt wie die Sonne.“

„Seid Ihr denn immer so kühn, wenn Ihr mit einem Mann sprecht?“

„Ist es denn kühn, die Wahrheit zu sagen?“

„Die Wahrheit?“ Spöttisch hob er die Brauen.

Megan gab nicht vor, die Anspielung misszuverstehen. „Mutter und Vater haben uns gelehrt, stets die Wahrheit zu sagen. Würdet Ihr Euch wohl setzen? Allmählich bekomme ich Nackenstarre, wenn ich ständig aufblicken muss.“

Er ließ sich auf dem Plaid nieder, möglichst weit von Megan entfernt. Während er die glitzernden Wellen beobachtete, nahm Megan eine Flasche, zwei Becher und mehrere in Leinen gewickelte Päckchen aus dem Korb.

„Wo ist Eure Schwester jetzt?“

„Das weiß ich nicht – nicht genau.“ Siusan war bei Tante Brita, aber in welcher Kammer jener alten Burg …

„Weicht mir nicht aus!“

Um zu bekunden, dass sie sich nicht einschüchtern ließ, lächelte sie und füllte einen Becher mit Wein. „Warum wollt Ihr sie unbedingt finden?“

„Weil ich sie fragen möchte, wie Lion ermordet wurde.“

„Papa hat es jedenfalls nicht getan.“

„Warum nennst du ihn so zärtlich Papa? Der Mann kümmert sich nicht um seinen Clan und macht deine Mutter unglücklich.“

„Wie immer er sich jetzt verhalten mag – früher war er gut zu mir. Als der alte Tam erklärte, ich könne die Geschichten des Clans gut nacherzählen, durfte ich bei ihm in die Lehre gehen. Und später ernannte mich Papa zum Nachfolger unseres alten Barden. Erst nach Ewans Tod änderte er sich. Und wenn er mir keine Beachtung schenkt, ich habe nichts Besseres verdient.“ Mit zitternden Fingern faltete sie das Linnentuch auseinander, in der die Fleischpasteten lagen. „An jenem Tag forderte ich Ewan zu einem Wettritt heraus. Wir erlitten einen Unfall, und mein Bruder starb.“

„Das hat deine Mutter erwähnt. Aber ich ahnte nicht, dass Ihr Euch die Schuld daran gebt.“ Seufzend fügte er hinzu: „Lion bat mich, ihn hierherzubegleiten, als er Eure Schwester heiraten wollte. Aber ich musste in Wales kämpfen.“

„Macht Euer Vater Euch für Lions Tod verantwortlich?“

„Genauso, wie mich mein eigenes Gewissen plagt.“

„Ihr wart nicht einmal hier, als Lion starb …“

„Wäre ich hier gewesen, würde er vielleicht noch leben.“

„Also sind wir wieder beim alten Thema.“

„Das werde ich weiterverfolgen, bis ich die Wahrheit kenne. Lion wurde von einem Pfeil im Rücken getroffen, nachdem Eure Schwester ihn mit einer geheimnisvollen Nachricht von der Jagdgesellschaft weggelockt hatte.“

„Glaubst du, sie wollte ihm schaden? Niemals. Nach seinem Tod wäre sie selber beinahe gestorben, konnte weder essen noch schlafen. Sie liebte ihn über alles.“

„Wenn sie sich unschuldig fühlt – warum ist sie dann weggelaufen?“

„Das darf ich nicht sagen.“

„Ist Lucais ihr Liebhaber?“

Freudlos lachte sie. „Lucais ist dreizehn, Siusan sechzehn, und seine gewaltige Hakennase übertrifft sogar den Schnabel, der aus dem Gesicht seines Vaters ragt. Letzte Nacht hast du behauptet, Papa habe Lion wegen jener Geschäfte getötet. Und jetzt das! Mit aller Macht sucht Ihr jemanden, der für den Tod Eures Bruders büßen soll. Dieses Bedürfnis verspürte ich auch, als Ewan gestorben war.“ Dessen Tod hatte sie Comyn anlasten wollen, aber er war damals nicht in Curthill gewesen.

„Warum ist Eure Schwester dann überhaupt mit Lucais verschwunden?“

Verdammt! Offensichtlich konnte sie nicht so gut Lügen erzählen wie Legenden. „Kurz nach Lions Tod verließ sie uns.“ Sobald Siusan bemerkt hatte, dass sie guter Hoffnung war, erwachte sie aus ihrer lähmenden Betäubung und verließ die Burg. „Lucais ging mit ihr, weil sie einen Begleiter brauchte.“

„Und wohin sind die beiden geflüchtet?“ Ross warf den Becher zu Boden, den Megan ihm gereicht hatte. Wie Blut glänzte der verschüttete Wein auf der hellgrauen Decke. „Ihr wisst etwas. Sagt es mir!“

Es war verlockend, ihn einzuweihen, die eigene Bürde zu erleichtern … Nein, noch nicht. Erst musste sie sich seiner Loyalität vergewissern und sichergehen, dass er in seinem eifrigen Bestreben, die Wahrheit herauszufinden, ihrer Schwester kein Leid zufügen würde. „Ich weiß nichts.“ Als sie sah, wie er vorsichtig seine linke Schulter bewegte, wechselte sie das Thema. „Die Wunde bereitet Euch Schmerzen. Erlaubt mir doch, sie zu säubern und zu verbinden.“

„Nein. Ich traue Euch nicht.“

„Niemand zweifelt an meiner Heilkunst. Und Ihr solltet Euch auf mich verlassen. Immerhin werden wir übermorgen heiraten.“

„Niemals kann Vertrauen zwischen den Sutherlands und den Carmichaels herrschen.“

„So wollt Ihr mich nicht heiraten“, flüsterte sie bedrückt.

„Allerdings nicht.“

„Warum seid Ihr dann hergekommen?“

„Damit der König meinen Clan nicht mit Acht und Bann belegt …“ Plötzlich schlug er auf sein Bein, und da fiel ihr wieder ein, warum sie ihm erklärt hatte, der Strand sei ein ungeeigneter Treffpunkt. „Verdammt, irgendwas hat mich gebissen!“, rief er, sprang auf und wischte über seine Hose.

„Sandflöhe.“ Krampfhaft verkniff sie sich das Lachen, als sie ihn umhertanzen und auf seinen Schenkel schlagen sah. „Deshalb wollte ich Euch hier nicht treffen.“

„Warum zum Teufel beißen sie Euch nicht?“

„Ich habe mich mit Flohkraut eingerieben.“

„Aha, Ihr wolltet mir also eine Lektion erteilen.“

„Aye.“ Sie versuchte, eine zerknirschte Miene aufzusetzen, aber das misslang ihr, wie sein feindseliger Blick verriet.

„Oh, diese heimtückischen Sutherlands!“, fauchte er, kehrte ihr abrupt den Rücken und stapfte über den Sand davon. Der würdevolle Abgang wurde etwas beeinträchtigt, weil er sich immer wieder bücken musste, um sein Bein zu kratzen. Auch die Männer, die ihm folgten, wurden nicht verschont. Fluchend kamen sie zwischen den Felsen hervor und klatschten sich auf die Schenkel.

Megan seufzte. Der kleine Fortschritt – letzte Nacht erzielt, als sie ihm das Leben gerettet hatte – war nun durch einen albernen Scherz wieder verdorben worden. Wie hatte sie nur vergessen können, welch großen Wert Männer auf ihren Stolz legten? Und was noch schlimmer ist, dachte sie, während sie die Mahlzeit, den Wein und die Becher wieder in den Korb packte, nun werde ich nicht so bald eine Gelegenheit finden, seine verletzte Schulter zu behandeln. Wahrscheinlich hatte die Wunde zu eitern begonnen.

Nun, wenigstens war Siusans Geheimnis immer noch gewahrt.

6. KAPITEL

Das Rauschen der Brandung konnte die dicken Mauern des Turms kaum durchdringen, in dem Eammons Gemächer lagen – zwei große Räume, kostbarer eingerichtet als die übrige Burg. Ein kleines Feuer brannte im Kamin des Gemachs, das Lady Mary in glücklicheren Zeiten als Wohnraum gedient hatte. Vor den Flammen saß der Mann, der Curthill beherrschte, auf einem Stuhl mit hoher Lehne, und murmelte: „Wie ich hörte, gab es letzte Nacht Ärger im Dorf.“

Archie leerte seinen Becher Ale und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab. „Aye. Carmichael und seine Leute haben bei George, dem Schmied, herumgeschnüffelt.“

„Und nichts herausgefunden, nehme ich an …“

„Gar nichts, so viel wir wissen. Später fiel Douglas’ Truppe über sie her. Diese Tiefländer kämpfen wie die Teufel. Douglas verlor immerhin sechs Mann.“

„Und die Fracht?“

„Wir haben reiche Beute gemacht. Das Schiff kam aus Calais und steuerte London an, vollgestopft mit französischen Samtballen und italienischen Möbeln, die irgendein englischer Earl gekauft hatte. Die beschädigten Sachen ließen wir in die Werkstätten bringen, die anderen ins Lager. Douglas segelte die Hawk in die Bucht, wie Ihr’s befohlen hattet. Hier ist die Liste der Waren aus früheren Beständen, die inzwischen verkauft wurden.“

Seine Lordschaft nahm das zusammengerollte Pergament entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und gab es wieder zurück. „Sehr gut. Seht zu, dass die neuen Sachen nach London verfrachtet werden. Douglas soll Euch helfen. Und passt auf! Ross Carmichael darf Euch nicht sehen, wenn ihr Euch im Lager zu schaffen macht.“

„Wahrscheinlich hatte Lion keine Ahnung – bis er Euch auf der Waldlichtung sah und dem Tod ins Auge blickte“, meinte Archie kichernd.

„Nein, er wusste nichts.“ Ein schwaches Lächeln umspielte Comyns Lippen. „Und er fand nicht einmal heraus, warum er sterben musste.“ Beinahe wünschte er, an jenem Tag hätte er Lion offen herausfordern und mit ihm um das Mädchen kämpfen können, das sie beide begehrt hatten: Siusan.

Welch eine Genugtuung wäre es gewesen, den großen, impulsiven Krieger zu besiegen und mit der Beute davonzureiten … Aber Siusan machte keinen Hehl aus ihren Gefühlen, nachdem der Vater ihr – auf Comyns Wunsch – erklärt hatte, sie dürfe Lion nicht heiraten.

„Wenn ich Lion nicht bekomme, will ich keinen anderen“, verkündete sie. „Und dich betrachte ich als meinen Bruder“, fügte sie hinzu, als Comyn um sie warb. „Außerdem warst du mit Megan verlobt. Es würde sie kränken, wenn ich mit dem Mann, der sie zurückgewiesen hat, vor den Altar träte.“

Da dieser Plan vereitelt worden war, hatte sich Comyn wieder auf die Taktiken besonnen, denen er seine bisherigen Erfolge verdankte – Betrug, Lüge und Mord. „Ross Carmichael darf uns nicht ins Handwerk pfuschen“, betonte er nun. „Wenn er seine Nase nicht in die Angelegenheiten der Sutherlands steckt, soll er Megan getrost heiraten. Dann wären wir alle beide los.“ Mit ihren scharfen Augen und ihrer noch schärferen Zunge war ihm die Cousine ein Dorn im Auge, seit er zum ersten Mal einen Fuß in die Burg Curthill gesetzt hatte. Zu schade, dass sie nicht bei jenem „Unfall“, gestorben war, der ihren Bruder das Leben gekostet hatte … „Falls Ross meine Absichten zu durchkreuzen sucht, müssen wir ihn beseitigen.“

„Aber wenn hier noch ein Carmichael den Tod findet, wird der alte Lionel wieder auftauchen und Curthill Stein um Stein auseinandernehmen – ganz egal, was der König sagt!“, jammerte Archie. „Nächstes Mal naht er sicher mit mehr Schiffen, versenkt die Hawk und macht unseren Geschäften ein Ende …“

Mit einem vernichtenden Blick brachte Comyn den Hauptmann zum Schweigen. „Ihr winselt wie ein altes Weib. Wenn wir Ross aus dem Weg räumen müssen, wird Lionel einen geeigneten Sündenbock finden.“

„Mylord!“ Felis erschien in der Tür des Schlafgemachs. Rote Locken umrahmten ein blasses Gesicht mit grünen Augen und einem vollen Schmollmund. Unter dem die Figur betonenden Kleid aus feinem Wollstoff zeichneten sich üppige Rundungen ab. Obwohl Comyn an ihren Anblick gewöhnt war, verspürte er wachsende Erregung. Kein Wunder, dass Lady Mary ihren Mann fast kampflos aufgegeben hatte … Kaum eine Frau würde versuchen, mit Felis’ Reizen zu wetteifern. „Er ist wach.“

„Und bei klarem Verstand?“

Felis zuckte die Achseln, wobei der Ausschnitt ihres Kleids über eine Schulter hinabrutschte und den Busenansatz entblößte. Ohne sich wieder zu bedecken, warf sie Comyn einen verheißungsvollen Blick zu. „Sieh doch selber nach.“

Bedauerlicherweise war ihr Repertoire nach einiger Zeit berechenbar geworden. Seither begehrte er Siusan. Doch sie war ihm leider entwischt, trotz all seiner Mühe. Immer wieder ließ er das ganze Hochland absuchen, alle Burgen und Dörfer. Und früher oder später würde sie mit ihrer Mutter und der Schwester Verbindung aufnehmen. Dann würde die Falle zuschnappen. „Heute fehlt mir die Zeit für alberne Spiele, Felis. Sag mir, was los ist.“

„Nie mehr hast du Zeit für mich“, klagte sie. „Und ich hab’s satt, Tag und Nacht bei Laird Eammon zu hocken. Wie ein Stein liegt er da, zu nichts ist er nütze, und er redet nicht einmal mit mir.“

„Wenn du dich langweilst, wird Archie dich sicher gern unterhalten.“

Archie trat so schnell vor, dass er beinahe stolperte. „Gewiss, Felis.“

„Oh, du widerst mich an!“ Ungeduldig winkte sie ab. „Du solltest dir den Laird wirklich anschauen, Comyn. Er schwitzt, und sein Gesicht ist aschgrau.“

Erschrocken sprang Comyn auf. „Hast du ihm zu viel von dem Pulver gegeben?“

„Nein, genau die richtige Menge“, erwiderte sie und trat rasch beiseite, als er ins Nebenzimmer stürmte.

„Ein paar Monate muss er noch am Leben bleiben.“ Bis er Siusan gefunden und Shurr More instand gesetzt hatte. Aber als er das Bett mit dem Baldachin erreichte und die ausgezehrte Gestalt unter den Decken sah, fragte er sich, ob es womöglich schon in vierzehn Tagen zu Ende gehen würde.

„Megan Sutherland, was hast du vor?“, fragte Chrissy.

Bestürzt zuckte Megan zusammen und versuchte, ein schäbiges Leinentuch hinter ihrem Rücken zu verstecken. Dass sie das raue rostbraune Wollkleid einer Dienerin trug, ließ sich nicht verbergen. „Ich … ich wollte in den Kräutergarten gehen …“

„Lüg nicht!“ Ihre Cousine betrat die Kammer, die sie teilten, seit sie vor zwei Jahren Witwe geworden und nach Curthill zurückgekehrt war. „Raus mit der Sprache!“

Megan seufzte. „Nun ja, Ross hat ein Bad bestellt, und ich …“

„Du willst in seine Kammer schleichen, als Dienerin getarnt? Deine Mutter wird außer sich sein.“

„Übermorgen heiraten wir sowieso. Dann wird er erwarten, dass ich sein Bad bereite.“

Empört verschränkte Chrissy die Arme vor der Brust. „Und du möchtest schon heute unter seine Kleider spähen?“

Das Blut stieg in Megans Wangen, denn genau das beabsichtigte sie. „Unsinn!“

„Oh Megan, tut mir leid. Ich hätte dir keine Angst vor der Hochzeitsnacht einjagen dürfen. So schlimm ist der Schmerz gar nicht.“

„Der Schmerz und ich sind alte Freunde. Und nachdem sich ein Pferd auf mir herumgewälzt hat, werde ich’s auch ertragen, unter meinem Gemahl zu liegen.“

„Das war ein sehr unschicklicher Scherz, Meg.“

„Ich habe nicht gescherzt“, erwiderte Megan. Die Geschichten ihrer Cousine von Misshandlungen im Ehebett und das Leid der Mutter hatten eine gewisse Furcht vor den Männern geweckt. Aber Ross war anders, daran zweifelte sie nicht. Bei der ersten Begegnung hatte sie Mitgefühl und Güte in seinen Augen gelesen. Und seit der letzten Nacht wusste sie, wie tapfer er sich für seine Leute einsetzte. Niemals würde er sie verletzen oder ihr die Treue brechen. „Oh Chrissy, ich liebe ihn und kann es kaum erwarten, seine Frau zu werden. Leider mag er mich nicht besonders. Vorerst noch nicht.“

„Und was willst du jetzt machen?“

Megan schnitt eine Grimasse, dann schilderte sie zögernd die Zusammenkunft am Strand. „Ich möchte Heilkräuter in sein Bad streuen und seine Wunde versorgen. Und da er Megan Sutherland nicht in seine Nähe lässt, habe ich mich verkleidet.“

„Dann wollen wir keine Zeit mehr vergeuden und das Bad vorbereiten.“

Erstaunt blinzelte Megan, nahm aber gern die unerwartete Hilfe an, die ihr angeboten wurde. Von Chrissy unterstützt, versteckte sie ihr langes blondes Haar unter dem Leinentuch und band eine Schürze über ihr Kleid. Dann ergriff sie den Korb, der ihre Arzneien und Salben enthielt, und sie machten sich auf den Weg. Kichernd wie unartige kleine Mädchen, eilten sie die Treppe zu Ross’ Turmzimmer hinauf. Gerade schloss sich die Tür hinter dem letzten der Diener, die dampfende Wassereimer hineingeschleppt hatten.

Trotz ihres Gelächters zögerte Megan. Brachte sie wirklich genug Mut auf, in Ross’ Gemach einzudringen, wenn er badete? Vielleicht würde er ihre Hilfe ablehnen, und das wäre zu demütigend. Aber es kam vor allem auf seine Gesundheit an. Tapfer öffnete sie die Tür.

„Warte, Megan, womöglich ist er unbekleidet …“ Erschrocken verstummte Chrissy, als die Tür aufschwang.

Er war nackt – zumindest fast. Und er sah großartig aus. Megans Atem stockte. Den Rücken zu ihr gewandt, sprach er mit Owain. Golden schimmerten seine muskulösen Schultern im Licht, das durch das offene Fenster hereinströmte.

Dampf stieg aus der großen Holzwanne und verlieh der Szene eine überirdische Aura. Ross glich einem heidnischen Krieger, der gleich an irgendeinem uralten Ritual teilnehmen würde. Plötzlich wünschte Megan, sie könnte zu ihm gehen, die kraftvolle Brust berühren, in seine starken Arme sinken. Schmelzende Hitze erfüllte ihren Körper, ihre Brüste prickelten, ihre Knie wurden weich.

„Schau weg!“ Chrissy packte sie von hinten und drehte sie herum. „Mach dich nicht zum Narren! Es schickt sich nicht, dass du ihn so anstarrst.“

„Ich habe ja gar nichts gesehen“, verteidigte sich Megan, aber ihre Wangen brannten, weil sie sich danach sehnte, alles an ihrem Bräutigam zu bewundern, seine ganze Gestalt.

„Was habt ihr hier zu suchen?“, fragte Owain und kam auf die beiden Frauen zu.

Megan wollte antworten, aber Chrissy trat vor. „Wir wollen dem edlen Herrn beim Bad helfen.“

„Er braucht eure Dienste nicht“, entgegnete er. „Und auch keine Zuschauer“, fuhr er fort, zu den anderen Männern gewandt, die im Gemach umherwanderten.

Sofort gingen die Ritter hinaus, und Megan flüsterte ihrer Cousine verzweifelt zu: „Ich muss hierbleiben!“

Chrissy nickte, packte Owains Arm und zog ihn beiseite, sodass er ihrer Begleiterin den Rücken kehrte. Was immer sie ihm erzählte, wusste Megan nicht, aber es lenkte ihn jedenfalls von ihr ab. Auch Ross beachtete sie nicht. Er war in die Wanne gestiegen, legte den Kopf an den Holzrand und schloss zufrieden die Augen.

Blitzschnell versteckte sich Megan hinter den Bettvorhängen. Reglos stand sie da und sah Chrissy zur Tür hinauseilen. Dann beobachtete sie, wie sich Owain der Wanne näherte.

„Jemand müsste sich Eure Schulter anschauen“, meinte er.

Oh ja, dachte Megan, das wird sehr bald geschehen.

„In diesem Haus traue ich niemandem über den Weg.“ Megans Verzweiflung wuchs, als sie Ross’ harte Stimme hörte.

„Soeben erklärte mir Mistress Chrissy, Mistress Megan würde sehr viel von der Heilkunde verstehen.“

„Mag sein, aber sie braucht sich nicht um mich zu bemühen. Ich habe schon schlimmere Wunden überlebt.“

Ärgerlich seufzte Owain, was Megan nur zu gut nachempfinden konnte. Dieser arrogante Narr! Hielt er sich für unbesiegbar? Es würde ihm nur recht geschehen, wenn die Wunde zu eitern begänne. Aber ihr Herz sträubte sich gegen diesen Gedanken. Sie würde weder ruhen noch rasten, ehe sie seine Schulter behandelt hatte.

„Natürlich weiß ich Eure Fürsorge zu schätzen“, fügte Ross in ruhigem, kühlem Ton hinzu. „Aber was ich viel dringender benötige als ärztliche Pflege – ich muss Mittel und Wege finden, um meine Hochzeit mit dieser verdammten Frau zu verhindern.“

Mit dieser verdammten Frau … Megan holte tief Luft und schluckte eine Staubwolke, die den Vorhängen entstieg. Tränen brannten in ihren Augen, nicht nur von einem heftigen Husten- und Niesreiz heraufbeschworen.

„Nun, die Dame ist hübsch und gewiss nicht dumm“, erwiderte Owain, „obwohl Ihr bei der ersten Begegnung das Gegenteil befürchten musstet, als sie mit diesen Puppen spielte.“

„Wegen dieser Puppen kann ich mich nicht gegen die Heirat sträuben“, murmelte Ross. „Aber irgendeine Ausrede muss es doch geben.“ Wasser plätscherte, während er in dem Zuber umherrutschte. „Irgendein Makel, der mir stichhaltige Gründe liefern würde.“

Er weiß nichts von meinem Bein, dachte Megan bedrückt und erinnerte sich an die traurige Miene ihres Vaters, der ihr damals erklärt hatte, Comyn wolle die Verlobung lösen. „Man kann keinen Mann zwingen, eine verkrüppelte Frau zu heiraten.“

Aber ich bin kein Krüppel, hätte sie am liebsten geschrien. Sie lag nicht untätig im Bett, machte sich überall nützlich. Doch das sahen die Männer nicht. Sogar der Vater hatte sich geweigert, ihr verletztes Bein zu betrachten. Früher war sie sein Lieblingskind gewesen, doch seit dem Unfall wollte er nichts mehr von ihr wissen, ebenso wenig wie von der übrigen Familie. Auch das war ihr Schuld. Ihr Leichtsinn hatte dem Bruder das Leben gekostet, ihren Clan den Laird. Und ihre Gewissensbisse bereiteten ihr noch schlimmere Qualen als das Pochen in ihrem Bein.

Aber sie hatte beides überlebt, so wie die leidenden Heldinnen alter Legenden, und zur Belohnung wiesen ihr die Götter einen neuen Weg zum Glück. Sie hatten Ross hierhergeschickt. Vorsichtig spähte sie hinter dem Vorhang hervor, und beim Anblick ihres Bräutigams verflog ihre Bitterkeit. Sie würde ihm eine gute Frau sein, und dass sie ihm das erst noch klarmachen musste, kümmerte sie wenig. Es würde ihr gelingen.

„Lasst Ihr die Hütte bewachen?“, fragte er Owain.

„Aye. Auch das Haus des Schmieds, falls der junge Lucais zurückkehrt.“

Erschrocken hielt Megan den Atem an. Angesichts dieser neuen Bedrohung vergaß sie ihre persönlichen Probleme. Wenn Lucais nach Hause kam und in Ross’ Hände fiel, verriet er womöglich Siusans Versteck.

Owain ging zur Tür. „Soll ich Davey zu Euch schicken?“

„In einer Viertelstunde. Ich möchte mich ein bisschen ausruhen.“

„Vor der Tür stehen Wachtposten. Falls Ihr etwas braucht, müsst Ihr nur rufen.“

„Glaubt Ihr, irgendein verrückter Sutherland wird an der Mauer des Turms emporklettern und durchs Fenster hereinspringen?“, fauchte Ross.

„Ich möchte kein Wagnis eingehen.“

„Tut mir leid, Owain“, seufzte Ross. „Ich bin es nun mal nicht gewöhnt, wie ein hilfloses Kind verhätschelt zu werden.“

„Nicht hilflos – aber verletzlich. Hier sind wir von Feinden umgeben, das müssen wir stets bedenken.“ Mit diesen unheilvollen Worten verließ der Waliser das Zimmer.

Wie soll ich mich nun Ross nähern, überlegte Megan, aber das Niesen, das sich nicht länger unterdrücken ließ, nahm ihr die Entscheidung ab. „Hatschi!“

„Wer ist da?“, stieß Ross hervor. Wasser schwappte über den Wannenrand. „Kommt aus Eurem Versteck, oder ich hole Euch!“

Oh, verdammt … Langsam kam Megan hinter dem Bettvorhang hervor und hoffte, er würde ihre Verkleidung nicht durchschauen, ehe sie seine Wunde versorgt hatte und geflohen war.

„Ihr!“, rief er, sobald sie auftauchte. „Lasst den Korb stehen und kommt her.“

Ihr Herz schlug wie rasend. Langsam ging sie zur Wanne, verbarg ihr Gebrechen und ihre Angst und hielt den Blick gesenkt, wie es einer Dienerin geziemte.

„Was macht Ihr hier, Megan?“

Sein unfreundlicher Ton erzürnte sie dermaßen, dass sie ihre Furcht vergaß. „Das ist doch offensichtlich. Nachdem ich mich hier hereingeschlichen habe, muss ich doch wohl die Absicht hegen, Euch zu ermorden.“

Verblüfft blinzelte er, dann runzelte er die Stirn. „Seid nicht so keck!“

„Da Ihr mir nicht traut, wie könnt Ihr wissen, dass ich Euch nicht umbringen will?“

„Ihr seid keine Mörderin.“

„Nur eine verdammte Frau – eine Närrin, die man verachten und zurückweisen muss!“

Das Blut stieg ihm in die Wangen. Voller Genugtuung beobachtete sie seine Verlegenheit. „Das war ein vertrauliches Gespräch“, erklärte er.

„Ja, und dabei ging es um mich. Und ich dachte, wir beide würden uns an die Wahrheit halten. Es entspricht nämlich der Wahrheit, dass wir auf Geheiß des Königs zur Hochzeit verpflichtet sind und einander begehren. Ich mag zwar naiv sein, aber ich bin nicht dumm. Und es war gewiss kein Hass, der letzte Nacht die Glut unseres Kusses entzündet hat.“

„Zu einer Ehe gehört mehr als nur Lust“, entgegnete er erbost.

Wie wäre es mit Liebe, rief ihr Herz, aber der Stolz verbot ihr, diese Worte auszusprechen. „Vielleicht Friede? Ist der Friede für unsere beiden Clans ein zu hoher Preis?“

„Keineswegs, sonst wäre ich nicht hier.“

„Ihr seid vor allem nach Curthill gekommen, um Vater den Mord an Lion nachzuweisen.“ Ohne seine finstere Miene zu beachten, kniete sie neben der Wanne nieder. „Auch ich möchte die Wahrheit herausfinden, und ich bitte Euch nur, Papa nicht vorschnell zu verurteilen.“

„Wenn er die Tat auch nicht selbst begangen hat – er ist hier der Laird, und er weiß, wer es war. Und dann das Verschwinden Eurer Schwester …“

Bedrückt biss sie sich auf die Lippe. Sie durfte das Geheimnis nicht verraten, noch nicht. „Ich kann Euch nicht mehr sagen, als ich Euch schon mitgeteilt habe. Nur eins versichere ich Euch – Siusan wollte Lion nichts Böses. Vielleicht erzähle ich Euch alles, wenn wir verheiratet sind.“

„Wenn Ihr unbedingt einen Mann haben wollt, warum habt Ihr bis jetzt nicht geheiratet?“

„Weil ich auf Euch gewartet habe.“

„Ihr kanntet mich doch gar nicht.“

„Lion sprach oft von Euch, voller Stolz und Zuneigung.“

„Tatsächlich?“, fragte er, sichtlich erstaunt.

Nun wirkte sein Blick etwas sanfter, und sie fasste neuen Mut. „Er erzählte mir so viele Geschichten über eure gemeinsame Kindheit und Jugend. Zum Beispiel hattet Ihr eine kleine Narbe am Kinn, die von einem Lanzenwettkampf herrührt. Und Lion sagte, Ihr seid tapfer und ehrenhaft und klug – ein vollkommener Ritter.“

Seine Augen verdunkelten sich. „Wäre ich vollkommen, hätte ich meinen Bruder nicht im Stich gelassen. Wenn Ihr nun gehen würdet …“

„Nein.“ Megan berührte seinen rechten Arm, den er auf den Wannenrand stützte. „Zuerst muss ich Eure Wunde behandeln.“ Unter ihren Fingern spannten sich seine harten Muskeln an, und ein Schauer durchströmte ihren Körper. Sie sah, wie sich seine Atemzüge beschleunigten. Wenn er ihr auch nicht traute, er begehrte sie noch immer.

Aber ein weiblicher Instinkt warnte sie. Die Leidenschaft würde ihn an sie binden – für eine Weile, doch Begierde allein genügte nicht, wenn sie einen Mann von so eigenwilligem Charakter für immer gewinnen wollte. Um das zu erreichen, musste sie seinen Geist und sein Herz erobern, nicht nur seinen Körper. Nun, zunächst würde sie die Macht der Leidenschaft nutzen. Das Rauschen der Brandung drang durchs offene Fenster herein, spiegelte das rastlose Drängen wider, das Megans Blut erfüllte. Beinahe überwältigt von ihren Gefühlen, neigte sie sich vor.

„Meg“, flüsterte Ross. Benebelte der Dunst, der vom warmen Wasser aufstieg, sein Gehirn? Oder lag es am verführerischen Duft von Rosmarin und Lavendel? Ihr Gesicht war so nahe, dass er glaubte, in ihre Seele blicken zu können. Der feuchte Glanz ihrer leicht geöffneten Lippen war verführerisch. „Wir dürfen hier nicht allein sein.“

„Aber ich sehne mich nach dir.“ Die geflüsterten Worte glichen einer Liebkosung.

„Oh Meg …“ Er zog ihr das Linnentuch vom Kopf, und ihr langes blondes Haar fiel herab. Ein paar Strähnen landeten auf seiner Brust und kitzelten ihn. „So sehr dürfte ich dich nicht begehren.“

„Es soll so sein.“ Ihre kleine Hand glitt über seine Wange. „Küss mich wieder!“ Es war eine Bitte und zugleich ein Befehl. „Das wollen wir doch beide.“

„Gott helfe mir, ich brauche dich so dringend wie ein Ertrinkender die Luft zum Atmen.“ Verzweifelt versuchte er, das Feuer, das in im brannte, zu ersticken.

Megan beugte sich noch näher zu ihm. „Noch nie habe ich so etwas empfunden“, flüsterte sie an seinen Lippen.

Ich auch nicht, dachte er, und gerade das erschreckte ihn. „Unmöglich …“, begann er heiser.

„Was kann ein Kuss schon schaden?“ Ehe er wusste, wie ihm geschah, presste sie ihren Mund auf seinen – warm und weich und unglaublich erregend. Die Lippen geschlossen, gab sie ihm einen eher kindlichen Kuss, der ihn gar nicht so erregen durfte. Stöhnend gab er den süßen Wünschen nach, die sich seiner Kontrolle entzogen, umfasste Megans Nacken, küsste sie fordernd und begierig.

Bereitwillig öffnete sie den Mund, um seine forschende Zunge aufzunehmen, und ihr leises Seufzen reizte ihn viel mehr, als es die Liebeskünste einer erfahrenen Kurtisane vermocht hätten. Wie süß sie war … Man musste sie besitzen, diese Frau, die ihn schon seit der ersten Begegnung betörte. Er richtete sich auf, wollte sie an sich ziehen, und seine linke Schulter stieß gegen die Wanne.

„Oh, verdammt“, flüsterte er an ihrem Mund.

Sofort riss sie sich los. „Was für eine Närrin ich bin! Da küsse ich dich und vergesse ganz, warum ich hergekommen bin.“

„Um mich zu verführen?“

„Ein verlockender Gedanke – aber nun muss ich nach deiner Wunde sehen. Halt doch still!“, befahl sie, zog einen kleinen Dolch aus ihrem Gürtel und durchschnitt geschickt den inzwischen feuchten Verband, den Davey ihm angelegt hatte. Vorsichtig entfernte sie die Leinenstreifen. „Wie ich befürchtet habe – ein Eiterherd! Wenn ich dich nicht sofort behandle, könntest du den Arm verlieren.“

Trotz des heißen Wassers gefror sein Blut. „Nein!“

„Lass mich dir helfen. Ich kann deinen Arm retten.“

„Anscheinend habe ich keine Wahl.“

„Traust du mir immer noch nicht? Tat ich dir jemals etwas zuleide?“

Ross hob die dunklen Brauen. „Und die Sandflöhe?“

„Das war doch nicht so schlimm, nur ein dummer kleiner Streich.“

Wie der Kuss, der seine Begierde entfacht hatte … Nur mühsam widerstand er der Versuchung, ihr noch einmal den lächelnden Mund zu verschließen. Verdammt, viel zu schnell verlor er den Kampf gegen Megans verführerische Reize.

Als sie zum Bett eilte und den Korb holte, bemerkte er, dass sie hinkte. „Schmerzt dein Bein immer noch?“

Langsam drehte sie sich um, den Blick gesenkt. „Aye.“

„Tut mir leid. Wärst du mir letzte Nacht nicht zur Hilfe gekommen, müsstest du dich jetzt nicht damit herumplagen. Hat jemand nach deinem Fuß gesehen?“

„Machst du dir etwa Sorgen um mich?“

Natürlich nicht. Warum sollte er sich um seine Feindin sorgen? Statt zu antworten, erinnerte er sie: „Ich dachte, du wolltest meine Schulter verbinden.“

„Natürlich.“ Sie ergriff den Korb und kehrte zu Ross zurück. Jetzt hinkte sie nur ein klein wenig. Ihre Augen strahlten vor Eifer, ihr Lächeln erschien ihm wie berauschender Mohnsaft und genauso gefährlich.

Während Megan die Wunde säuberte, bemerkte sie: „Wir beide haben viel gemeinsam, findest du nicht? Wir schätzen unsere Familien und die Ehre, und jeder von uns hat einen geliebten Menschen verloren …“

„Wir sind grundverschieden“, unterbrach er sie in kühlem Ton, um das erregende Gefühl in seiner Brust zu verdrängen. Zum Teufel mit seiner Schwäche! Megan Sutherland jagte ihm Angst ein wie nichts zuvor in seinem Leben, denn die Sehnsucht nach ihr hing plötzlich nicht mehr mit reiner Fleischeslust zusammen.

„Gewiss, ich bin nicht so tapfer wie du …“

„Ha!“, rief er, obwohl er sich gelobt hatte, Gleichmut zu zeigen. „Nach der letzten Nacht würde ich sagen, dein Mut grenzt an Tollkühnheit.“

Oh nein, ich bin nicht mutig, dachte sie traurig. Sonst hätte ich keine Angst vor Pferden, wäre mit Siusan geritten oder zumindest davongeschlichen, um sie zu besuchen. „Meine Kühnheit kann sich nicht mit deiner messen. Du bist so wacker und stark wie die Helden in den Legenden.“

Als er sie kichern hörte, umspielte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel und milderte seine strengen Züge. „Ah, du hänselst mich schon wieder.“ So musste er als Junge ausgesehen haben, glücklich und unbeschwert. Könnte sie ihm doch helfen, die Stimmung jener Zeiten zurückzugewinnen … „Nun, ich mache gern Spaß. Einer meiner Fehler …“

„Du hast ganz andere Fehler – dein hitziges Temperament und deinen Eigensinn. Diese Hänselei finde ich ganz unterhaltsam – manchmal“, fügte er hastig hinzu.

„Ich bin eigensinnig? Ich halte mich eher für entschlossen.“ Entschlossen, ihn zu heiraten, seine Liebe zu erringen … „Vor allem bin ich fest entschlossen, dich von der Ehrbarkeit unseres Clans zu überzeugen. Wollen wir in den Ort gehen und sehen, was in diesem Lager verwahrt wird?“

„Das wäre viel zu leichtsinnig …“

„Meine Leute würden mir den Zugang nicht verweigern.“

„Und wenn uns die Männer auflauern, die uns gestern angegriffen haben? Wenn sie das Lager bewachen?“

Megans Atem stockte. „Natürlich! Die Seeleute von der Hawk sind an allem schuld. Wir müssen sie dingfest machen!“ Sie sprang auf und eilte zur Tür.

„Warte! Und meine Schulter?“

Zerknirscht kehrte sie zurück. Ihre Impulsivität erinnerte ihn an seinen Vater – und an Lion. Wie schmerzlich er um seinen Bruder trauerte … Plötzlich wünschte er, es wäre nicht der Laird von Sutherland, der ihn getötet hatte. Um Megans willen hoffte er, schurkische Fremde der Tat zu überführen, zum Beispiel die Seemänner der Hawk.

Welch ein seltsamer Wunsch – ein weiterer Beweis, dass er den Reizen dieses Mädchens zusehends verfiel …

7. KAPITEL

Schau nicht so drein, als würdest du erwarten, jeden Augenblick könnte dich ein Feind mit gezücktem Schwert anspringen“, zischte Megan, während sie Ross eine Stunde später auf einem scheinbar ziellosen Spaziergang durch das Dorf führte.

„Genau das ist gestern Nacht geschehen“, erinnerte er sie.

„Aber du machst dich verdächtig.“ Ihre kleine Hand lag auf seinem Unterarm, nach höfischer Sitte. Aber im Gegensatz zu den Damen bei Hofe waren ihre Hände nicht zart und lilienweiß. Ihre Finger waren gebräunt, sogar ein bisschen rau, und ihr grünes Wollkleid wirkte viel schlichter als die Roben der Ladies, die Ross in Edinburgh gesehen hatte. Beinahe glaubte er an das Bild der Unschuld, das sie bot – die Augen groß und neugierig, das Gesicht glatt wie Seide, das Haar glänzend wie eine frischgeprägte Münze.

Nur beinahe. Was ihre schauspielerische Begabung betraf, stand sie den raffinierten Hofdamen in nichts nach. Er zwang sich, den Blick von ihrer verlockenden Schönheit abzuwenden und in die Gassen zu spähen, die von dichtem grauem Nebel überschattet wurden.

Verbargen sich in diesem Dunkel jene Männer, die letzte Nacht ihre Klingen mit ihm gekreuzt hatten? „Ich hätte mehr Leute mitnehmen sollen“, murmelte er.

„Zehn genügen vollauf. Normalerweise wandere ich ganz allein durch Curthill – oder mit Chrissy. Sollen die Sutherlands glauben, mein Verlobter wäre feige?“ Sie musterte ihn mit sanftem Spott, dann neigte sie sich näher zu ihm und wisperte: „Wenn du so finster die Stirn runzelst, wird man befürchten, du wärst nicht in mich verliebt.“

Sein verräterisches Herz schlug schneller. „Bin ich das etwa?“ Nein, niemals …

„Natürlich. Warum sonst sollten ein Carmichael und eine Sutherland Arm in Arm durch Curthill schlendern und einander anschmachten wie Tristan und Isolde?“

Ja, warum? Die Antwort war so kompliziert wie die Gefühle, die er für Megan zu empfinden begann – Begierde, ganz sicher, widerwilligen Respekt. Aber Liebe? Nein, die Liebe, zu der er fähig gewesen war, hatte er an die niederträchtige Rhiannon vergeudet. Jetzt verspürte er nur noch Lust, und die konnte er im Zaum halten. „Welch ein romantischer Unsinn!“, entgegnete er.

„Legenden sind nicht unsinnig, sondern ein wichtiger Teil unserer Vergangenheit. Wir Hochländer sind ein leidenschaftliches Volk, zu oft entzweit durch Habgier, Zorn und Eifersucht. Aber die Traditionen vereinen uns immer wieder.“

„So habe ich das nie gesehen“, gestand er nachdenklich. „Du hast die Rolle des Barden übernommen und versuchst, mit deinen Geschichten den Clan zusammenzuhalten.“

„Darin habe ich stets meine Lebensaufgabe gesehen.“ Bis jetzt, fügte Megan in Gedanken hinzu.

„Und was soll geschehen, wenn du von hier fortgehst?“

„Ein Junge aus dem Dorf kann die Legenden erstaunlich gut wiedergeben.“ Seinen Namen – Lucais – verriet sie nicht. „Wenn ich Curthill verlasse, wird er an meine Stelle treten. Ich habe schon viele Geschichten für ihn aufgeschrieben.“ Weil Lucais nicht mehr bei ihr in die Lehre gehen konnte …

„Hm – kein Wunder, dass dir das Schauspielern so leichtfällt.“

„Du meinst, ich vermag nicht zwischen Fabel und Wirklichkeit zu unterscheiden?“ Nur zu gut konnte sie das, und die beiden Lügen, die sie ihrem Verlobten notgedrungen erzählt hatte, lasteten schwer auf ihrer Seele. „Nun, du sollst eine wahre Geschichte von mir hören. Schon bei der ersten Begegnung verliebten wir uns, und jetzt sehnen wir die Hochzeit herbei. Heute führe ich dich im Dorf herum, und du freust dich, meine Clansleute kennenzulernen.“

Sehr überzeugend, dachte Ross zynisch. Nichts in ihrem schönen Gesicht wies auf Lug und Trug hin. Ja, in der Tat, eine meisterhafte Schauspielerin …

Offenkundig glaubten die Dorfbewohner, was sie sahen, denn alle eilten herbei, um die Tochter ihres Lairds und deren Bräutigam zu begrüßen. Ross lächelte gezwungen, machte errötenden Mädchen Komplimente, nahm von einem Mann einen Becher Ale entgegen und küsste sogar ein oder zwei Kinder. Schließlich wandten sie sich mit ihrem Gefolge zum anderen Ende des Dorfs.

„Da ist die Hütte, die Sim beobachtet hat“, erklärte Owain und deutete in die Richtung des Häuschens. „Und er sah, wie mehrere Sachen hineingebracht wurden.“

Ross kniff die Augen zusammen und starrte durch den Nebel. Ein perfektes Versteck für Diebesbeute. Die ebenerdige, fensterlose steinerne Kate stand einsam am Dorfrand, die Rückseite stieß an die Felswand, nur eine einzige Tür führte hinein.

Gespannt beobachtete Ross, wie seine Begleiter auf die Hütte zugingen. Die Tür flog auf, und zwei große, kräftige Männer traten heraus. Unter ihren dunklen Überwürfen trugen sie Kettenhemden, an den Hüften sah er Schwerter schimmern.

„Guten Tag!“, flötete Megan mit einem arglosen Lächeln und trat vor, die Röcke anmutig gerafft, damit sie vom Schlamm der Straße nicht beschmutzt wurden. „Ich bin Megan Sutherland, Laird Eammons Tochter, und ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“

Die beiden wechselten einen unbehaglichen Blick. Offensichtlich hatte ihnen niemand mitgeteilt, wie sie der jungen Dame begegnen sollten. Schließlich erwiderte der ältere den Gruß, wenn auch widerstrebend. „Ich dachte, Ihr kommt nur ins Dorf herunter, um Kranke zu behandeln. Aber heute wird Eure Hilfe nicht gebraucht.“

Autor

Suzanne Barclay
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