Historical Platin Band 14

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DER DUKE UND DIE DIRNE von MCPHEE, MARGARET
"Ich soll deine Mätresse werden?" Arabella zögert, als der attraktive Duke of Arlesford ihr diesen Vorschlag macht. Das Freudenhaus, in das die Not sie getrieben hat, verlassen? Sofort! Doch der Duke ist der Mann, der ihr einst den Glauben an die Liebe nahm …

VIEL LÄRM UM MISS SWEETLY von MCPHEE, MARGARET
Alice zerreißt es schier das Herz als der Marquis ihre prickelnde Liaison beendet, weil er sich eine standesgemäße Braut suchen muss. Nur wenn sie ihm ihr Geheimnis verraten würde, hätte ihr Glück noch eine Chance - aber sein Ruf wäre dann für immer zerstört!

WIE VERFÜHRT MAN EINEN VISCOUNT? von MCPHEE, MARGARET
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EMMAS PIKANTES GEHEIMNIS von MCPHEE, MARGARET
Diese himmelblauen Augen! Emma erschauert, als Ned Stratham ihr feurige Blicke zuwirft. Denn sie kennen sich aus einem anderen Leben, in einem verruchten Teil von London …


  • Erscheinungstag 22.02.2019
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737689
  • Seitenanzahl 752
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Margaret McPhee

HISTORICAL PLATIN BAND 14

1. KAPITEL

London, April 1809

Arabella Marlbrook wanderte durch den großen, geschmackvoll eingerichteten Salon in Mrs. Silvers „Haus der bunten Freuden“, das im Londoner St. James’s District lag. Verzweifelt versuchte sie ihre Angst zu überwinden.

Ihr hauchzartes schwarzes Seidenkleid war eigentlich für eine schlankere Frau geschneidert und schmiegte sich deshalb geradezu unanständig an ihre Brüste und Hüften. Dass sie weder ein Korselett noch Unterröcke trug, bereitete ihr zusätzliches Unbehagen. Obwohl sie fröstelte, fühlten sich ihre Handflächen feucht an. Außerdem fürchtete sie, dass die schwarze Federmaske, die sie trug, ihre Identität nicht gut genug zu verbergen mochte.

Fünf andere Frauen warteten verführerisch postiert im Salon, jede in eine andere Farbe gehüllt und alle in Gewändern, die sie selbst viel zu vornehm erscheinen ließen.

„Setz dich, Arabella“, forderte Alice – Miss Rouge – sie seufzend auf. Entspannt streckte sie sich auf einer der Chaiselongues aus und präsentierte ihre scharlachroten Dessous mit den passenden Strümpfen. „Wenn du dauernd herumläufst, machst du mich ganz schwindlig. Spar dir deine Kräfte lieber für heute Nacht. Dann werden viele unternehmungslustige Gentlemen zu uns kommen. Und einige von ihnen sind ziemlich anspruchsvoll, um es milde auszudrücken.“ Sie lächelte anzüglich, und ihre Augen hinter der roten Federmaske schimmerten fast schwarz.

„Lass sie in Ruhe, Alice, und denk dran, wie du dich in deiner ersten Nacht gefühlt hast“, mahnte Miss Rose. „Natürlich flattern ihre Nerven.“ In zarte rosafarbene Seide gehüllt, lehnte sie am Kaminsims, flackernde Flammen beleuchteten ihre Beine durch den dünnen Stoff und erweckten den Eindruck, sie würde gar keinen Rock tragen. Sie schaute zu Arabella hinüber. „Mach dir keine Sorgen, Mädchen, das wirst du schon schaffen.“

Arabella warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie Miss Rouge ersuchte: „Bitte, sprechen Sie mich nicht mit meinem richtigen Namen an. Ich dachte, wir benutzen die Namen, die Mrs. Silver uns gegeben hat.“ Keinesfalls sollte der Mann, mit dem sie die Nacht verbringen würde – allein schon bei dem Gedanken daran drehte sich ihr der Magen um – ihre wahre Identität erfahren. Nicht einmal der Hauch einer Schande durfte auf die Menschen zurückfallen, die sie liebte.

„Das ist nur ein Name, Miss Noir“, zischte Miss Rouge. „Stell dich nicht so an!“

„Morgen früh wird sie ganz genau wissen, wie sie sich hier anstellen muss“, kicherte eine blau gekleidete kleine Blondine, die in einem Sessel saß.

Um ihre Schamröte zu verbergen, schritt Arabella zum Bücherregal, gab vor, die Titel der Romane zu lesen, und rang nach Fassung. Als ihre Miene die erlittene Demütigung nicht mehr bekundete, wandte sie sich wieder den Frauen zu.

Alice, Miss Rouge, polierte ihre Fingernägel. Gähnend schloss Ellen, Miss Vert, die Augen und machte es sich auf ihrer Chaiselongue gemütlich. Lizzie, Miss Bleu, und Louisa, Miss Jaune, unterhielten sich leise. Und Tilly, Miss Rose, las einen Liebesroman.

Arabella versuchte sich von der Tortur abzulenken, die ihr bevorstand, und betrachtete das Dekor des Salons – ein schöner Raum, vielleicht einer der schönsten, die sie je gesehen hatte. Auf dem Parkett aus blankem Eichenholz lag ein golden, blau und elfenbeinfarben gemusterter türkischer Teppich. Die hellblauen Wände verliehen dem Raum eine friedliche Atmosphäre. Von der Mitte der Stuckdecke hing ein großer Kristalllüster und funkelte ebenso wie die passenden Wandleuchter im Kerzenlicht.

Die meisten der Möbel bestanden aus Eichenholz, die Sessel und Sofas waren mit hellblau und elfenbeinfarben gestreiften oder goldgelben Stoffen bezogen. Auf einem kleinen Ecktisch befanden sich duftende gelbe und weiße Frühlingsblumen in einer edlen Vase.

Einen solchen Salon erwartete man eher in dem Wohnhaus einer respektablen, vornehmen Londoner Familie. Arabella staunte über den Kontrast zwischen der gediegenen Einrichtung und den vulgären Aktivitäten, die in diesen Mauern stattfanden.

Um Himmels willen, worauf habe ich mich eingelassen?

Ihr graute vor dem Moment, wo ein Gentleman eintreffen und ihre „Dienste“ kaufen würde. Immer wieder musste sie den Impuls bekämpfen, einfach davonzulaufen und nach Hause zu flüchten. Doch das durfte sie nicht tun. Nur zu gut wusste sie, warum sie hier war – warum sie die Demütigung ertragen musste.

Die Augen geschlossen, versuchte sie die Übelkeit und die Angst zu bezwingen, die kalte Schweißperlen auf ihre Stirn treten ließen. Hundert Guineas pro Woche hatte Mrs. Silver ihr versprochen. Ein Vermögen.

Für hundert Guineas würde sie sich verkaufen – und ihre Familie retten.

Dominic Furneaux, Seine Gnaden, der Duke of Arlesford, ließ den Brandy in seinem Schwenker kreisen und studierte die vier Karten in seiner Hand. Nachdem er einen Entschluss gefasst hatte, leerte er das Glas in einem Zug und bedeutete dem Bankhalter, ihm noch eine Karte zu geben.

Um den Spieltisch des Dukes im White’s Gentlemen’s Club hatten sich elegant gekleidete Männer versammelt. Nun hielten alle den Atem an. In der Tischmitte häuften sich Guineas. Den höchsten Betrag hatte Dominic Furneaux gesetzt.

Direkt vor ihm landete eine Karte auf dem grünen Filz, mit dem Motiv nach oben.

Marcus Henshall, Viscount Stanley, reckte den Hals und schaute über die Köpfe der Gentlemen hinweg, die vor ihm standen.

Das Herzass.

„Ein Omen der Liebe“, flüsterte jemand.

Dominic ignorierte den Kommentar. „Fünf-Karten-Stich.“ Gelassen lächelte er und legte seine Karten offen auf den Tisch.

„Verdammt will ich sein!“, rief ein anderer Gentleman. „Arlesford hat wahrlich das Glück des Teufels!“

Gelächter und Gemurmel mischten sich in das Geräusch scharrender Stuhlbeine, als seine Freunde ihre Karten beiseite warfen und aufsprangen.

„Wollen wir uns den restlichen Abend ein anderes Vergnügen gönnen?“, schlug Lord Bullford vor.

Stürmischer Applaus erklang.

„Da kenne ich genau das richtige Etablissement“, verkündete Lord Devlin. „Dort wird interessante Ware feilgeboten, reizvoll genug, um höchste Ansprüche zu befriedigen.“

Neues Gelächter und frivole Scherze folgten.

Dominic beobachtete, wie Stanley sich entschuldigte und den Spielsalon verließ. Zweifellos würde der Viscount nach Hause eilen, zu seiner Gemahlin und dem Neugeborenen. Bitterkeit und Neid erfüllten seine Brust. Auf ihn warteten weder Ehefrau noch Kind. Im Arlesford House gab es nichts, was ihn erfreuen könnte, abgesehen von einem Keller voller erlesener Weine. Andererseits wollte er es so, denn Frauen waren schließlich treulose Geschöpfe.

„Komm schon, Arlesford“, drängte Sebastian Hunter, der Erbe eines riesigen Vermögens. „Natürlich lassen wir dich nicht allein feiern.“

„Wann habe ich jemals allein gefeiert?“ Nonchalant zuckte Dominic die Achseln.

„Noch nie, alter Junge“, bestätigte Bullford. „Aber die Freuden in dem Paradies, in das Devlin uns führen will, dürften dich überraschen. Sicher werden sie übertreffen, was immer das Püppchen dir zu bieten hat, das in deinem Bett wartet.“

Dominic lächelte müde und schüttelte den Kopf. Gewiss, er hatte reichliche Erfahrungen mit Frauen gesammelt und verdiente den Titel eines Lebemanns, den er in der Londoner Gesellschaft innehatte.

Aber in seinem Bett hatte noch nie ein „Püppchen“ gewartet. Er brachte keine Frauen in sein Haus. Stattdessen sank er in die Betten von Liebhaberinnen, die keine Forderungen stellten. Sie erhielten Geld und teure Geschenke, jedoch nichts von ihm selbst. Er gab nichts von sich preis, sodass er nicht verletzt werden konnte. Und er war stets diskret. Deshalb beabsichtigte er auch nicht, das Etablissement zu besuchen, das Devlin empfohlen hatte.

Seufzend musterte er die übermütige Tischrunde. Der junge Northcote war bereits ziemlich angeheitert. Nun trank er direkt aus der Flasche, die Fallingham ihm gereicht hatte. Von seinem Kinn rann rubinrote Flüssigkeit auf sein Krawattentuch und das Hemd.

„Wie großartig Arlesford sich benimmt!“, schrie er. „Sicher will er Misbourne und seine Tochter beeindrucken. Nette kleine Erbin – und eine noch nettere Mitgift!“

Die Tischgesellschaft lachte.

„Da du ihre Vorzüge offenbar zu schätzen weißt, solltest du um sie werben, Northcote“, riet Dominic dem jungen Mann. „Denn ich werde ganz sicher nicht in die Ehefalle tappen.“

„Oh, das sieht der alte Misbourne anders“, spöttelte Fallingham. „Neulich wurden hundert Guineas drauf gewettet, dass der Duke of A. sich noch vor dem Ende der Saison mit einer gewissen Lady M. verloben wird.“

„Dann wird der Narr hundert Guineas verlieren!“, stieß Dominic hervor.

„Au contraire“, erwiderte Bullford. „Hier im Club wurde Misbourne belauscht, als er verkündete, er sei fest entschlossen, seine Tochter mit dir zu verheiraten. Das hält er für eine Frage der Ehre.“

„Offenbar hat der Earl nicht nur mich, sondern auch das Wesen der Ehre missverstanden“, meinte Dominic verächtlich. Der bedeutsame Blick, den Viscount Hunter ihm bei Bullfords Worten zugeworfen hatte, war ihm nicht entgangen.

Nur Sebastian Hunter kannte die Wahrheit. Er wusste, was Dominic bei seiner Heimkehr vor fast sechs Jahren in Amersham, einem Dorf in Buckinghamshire, vorgefunden hatte. Und deshalb verstand er, warum sein Freund nicht heiraten wollte.

Devlins Blick schweifte zur Tür. „Wenn man vom Teufel spricht … Soeben ist Misbourne mit seinen Kumpanen hereingekommen. Zweifellos will er seinen künftigen Schwiegersohn zu einer Partie Karten überreden“, fügte er grinsend hinzu.

„Höchste Zeit, in Devlins Freudenhaus zu verschwinden“, murmelte Hunter.

Devlin lachte schallend. „Dort wird der junge Northcote den Unterricht erhalten, den er verdient.“

„Nachdem er so tief ins Glas geschaut hat, wird er wohl kaum ein gelehriger Schüler sein“, bemerkte Dominic.

„Wie unfair du bist, Arlesford! Natürlich wird er seinen Mann stehen. Da seht ihr’s – er beweist es schon.“

Taumelnd erhob sich Northcote, rülpste und fiel auf seinen Stuhl zurück.

„Mach dich nicht völlig zum Idioten, Junge!“, schimpfte Dominic.

„Offensichtlich musst du mitkommen, Arlesford“, warf Hunter ein. „Wer sonst könnte Northcote vor einer Riesenblamage retten?“

Dominic gab sich geschlagen. Dann würde er Northcote zuliebe eben einen Abend in einem erstklassigen Bordell ertragen – und vielleicht sogar ein bisschen flirten, wenn es sein musste. Er folgte seinen Freunden zur Tür, wobei er Misbourne nur kurz zunickte, um keine falschen Hoffnungen zu schüren. Niemals würde er heiraten.

Mrs. Silver führte die vier Gentlemen in ihren Salon, und Arabellas Angst steigerte sich zur Panik. Was sie mit einem dieser Männer für Geld tun sollte – unvorstellbar … Sekundenlang wurde sie fast überwältigt von dem Drang, sofort zu flüchten. Doch dann entsann sie sich, warum sie die Qual erdulden musste, und dieser Gedanke gab ihr die nötige Kraft.

Nach einem tiefen Atemzug wandte sie sich den Besuchern zu. Alle waren noch ziemlich jung, nicht viel älter als sie selbst mit ihren vierundzwanzig Jahren. Und alle trugen höchst elegante Kleidung. Die Wangen gerötet, die Augen funkelnd, wirkten sie angeheitert, insbesondere der Jüngste. Bis zum anderen Ende des Raums drang der Geruch von Wein und Brandy. Hier hatte sie sich hinter dem gestreiften Sofa verschanzt, obwohl ihr die Barriere eines Möbelstücks die Erniedrigung wohl kaum ersparen würde.

Welcher Gentleman würde sie wählen? Womöglich keiner, und was sollte sie dann tun? Sosehr sie die Situation auch verabscheute, in der sie sich befand – mit leeren Händen heimzukehren, wäre noch schlimmer.

Begierig schauten sich die Männer um, und Arabella erschauerte. Dann musterte sie die beiden älteren Gentlemen, die soeben eingetreten waren und sich zu ihren Freunden gesellten. Beinahe blieb ihr das Herz stehen …

In ihrer Kehle drohte der Atem zu stocken, und das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie musste Halt suchen, umklammerte die Rückenlehne des Sofas und krallte sich mit den Fingernägeln in den teuren elfenbeinfarbenen Bezug.

„Das kann nicht sein“, wisperte sie entgeistert.

Es ist sicher ein Irrtum …

Nein! Diesen hochgewachsenen dunkelhaarigen Mann würde sie überall erkennen, obschon sie ihm fast sechs Jahre lang nicht begegnet war.

Allzu sehr hatte er sich nicht verändert. Die Schultern waren breiter geworden, die Gestalt wirkte kräftiger. Und das Leben hatte einige Linien in die attraktiven Züge geprägt. Doch es gab keinen Zweifel, dieser Mann war eindeutig Dominic Furneaux oder der Duke of Arlesford, wie er mittlerweile hieß. Während er den Raum und die Anwesenden betrachtete, bekundete seine Miene eine gewisse Langeweile. Offenbar hielt er sich unfreiwillig in Mrs. Silvers Salon auf. Sein Blick glitt über Arabella hinweg – und kehrte sofort zu ihrem Gesicht zurück.

Bitte, lieber Gott, Dominic darf mich nicht erkennen, er am allerwenigsten!

Sie berührte ihre schwarze Federmaske und prüfte, ob sie richtig saß. Aber Dominic starrte sie immer noch an, nicht mehr gelangweilt, sondern sichtlich interessiert.

Als der erste Champagnerkorken knallte, zuckte sie zusammen. Doch sie zitterte nicht wegen des Lärms. Viel schlimmer fand sie den bedeutungsvollen Blick, den ihr die unentwegt lächelnde Mrs. Silver zuwarf. Dabei zeigte die Frau auf die Kristallkelche, und Arabella erinnerte sich plötzlich, dass sie den Gentlemen Champagner anbieten musste.

Den Inhalt der ersten Flasche hatte Miss Rouge bereits verteilt. Nun entkorkte einer der Männer die zweite und begann Gläser zu füllen. Ich darf nicht einfach reglos dastehen und Dominic anstarren, ermahnte sich Arabella. Wenn sie sich beschäftigte, würde er vielleicht aufhören, sie mit diesen dunklen Augen zu fixieren, die alles zu sehen schienen.

Und so ging sie zu Mrs. Silver, ergriff zwei Kelche und versuchte ihre Angst zu bekämpfen. Vielleicht würde eines der anderen Mädchen Dominics Interesse wecken. Aber würde es ihr gefallen, mit anzusehen, wie er mit Miss Rouge oder Miss Vert nach oben ging? Konnte sie kokett lächeln und einem anderen Mann die Treppe hinauf folgen, während er sich hier aufhielt? Unvorstellbar …

Eine Hand berührte ihren Ärmel, und sie wandte sich zu der Besitzerin des Etablissements, die sie warnend und besorgt anschaute.

„Hundert Guineas pro Woche“, wisperte Mrs. Silver. „Denken Sie an das Geld.“

Arabella nickte und bot ihre ganze Willenskraft auf, um ihre Gefühle zu zügeln.

Noch ein tiefer Atemzug, dann drehte sie sich um – und sah Dominic direkt vor sich stehen.

„Miss Noir, nehme ich an.“ Langsam schweifte sein Blick über das dünne, fast durchsichtige Kleid und kehrte zu ihrem Gesicht zurück. „Arlesford, zu Ihren Diensten, Ma’am.“

Also erkannte er sie nicht. Gott sei Dank! Leise atmete sie auf und stählte ihre Nerven, um die Rolle einer Frau zu spielen, die sie nicht war.

„Euer Gnaden.“ Höflich knickste sie, aber sie konnte nicht lächeln. Diese Begegnung – allerdings in einer anderen Situation – hatte Arabella zunächst ersehnt und dann gefürchtet. So fest hatte sie geglaubt, er würde ihr nichts mehr bedeuten, sie wäre über ihre Liebe hinweggekommen. Doch das war eine Illusion gewesen.

Voller Wehmut betrachtete sie den Mann, den sie niemals vergessen würde, mochte sie sich auch noch so sehr darum bemühen. Dann wandte sie den Blick ab – sonst würde er den emotionalen Aufruhr womöglich in ihren Augen lesen – und sah sich im Salon um.

Inzwischen hatten sich alle Paare gefunden, die Frauen lächelten und kokettierten. Mrs. Silver stand in einer Ecke. Sichtlich verärgert beobachtete sie „Miss Noir“ und wies unauffällig auf die beiden Champagnerkelche, die Arabella immer noch krampfhaft umklammerte.

Es gab kein Entrinnen, keine Zuflucht. Mit dem Mut der Verzweiflung hob Arabella den Kopf und zwang sich, Dominic wieder anzuschauen. „Möchten Sie ein Glas Champagner, Euer Gnaden?“

Ohne die Frage zu beachten, musterte er sie immer noch mit seinen dunkelbraunen, so beunruhigend vertrauten Augen. Sekunden schienen Minuten zu dauern, während sie sich schweigend anstarrten.

Schließlich nahm er ihr ein Glas aus der Hand. „Der zweite Kelch ist wohl für Sie bestimmt, Miss Noir. Wollen wir unseren Champagner gemeinsam trinken? In der oberen Etage?“

Arabella blieb der Atem in der Kehle stecken, ihre Welt drohte einzustürzen.

Was das bedeutete, wusste sie.

Dominic hatte sich für sie entschieden.

Nur mühsam unterdrückte sie das Zittern, das ihren ganzen Körper zu erfassen drohte.

War es das Schlimmste, was ihr zustoßen konnte, oder das Beste? Fast sechs Jahre … Trotzdem glaubte sie manchmal immer noch, ihre Lippen würden von seinen Küssen brennen, ihre Haut von seinen Berührungen prickeln. Wenn sie sich diesem Mann nun für Geld hingeben müsste, würde es ihren Stolz zutiefst verletzen.

Wie gern hätte sie ihm den Inhalt ihres Glases ins Gesicht geschüttet und ihn wütend angeschrien, mit grausamen Worten abgewiesen und vor seinen Freunden lächerlich gemacht … Aber diese Genugtuung konnte sie sich nicht leisten. Sie musste ihren Zorn zügeln und an ihre Verantwortung denken, durfte die harten Tatsachen nicht vergessen, die sie in Mrs. Silvers „Haus der bunten Freuden“ geführt hatten.

Und sie war ehrlich genug, um sich einzugestehen, wenn es denn sein musste, würde sie lieber mit Dominic schlafen als mit einem Fremden.

Erneut musterte sie die anderen Gentlemen im Salon, die verschwitzten Gesichter, von Alkohol gerötet, die blitzenden Augen, die ihre Gelüste verrieten. Ja, ohne jeden Zweifel – die Erniedrigung war leichter zu verkraften, wenn sie mit Dominic nach oben gehen würde, nicht mit einem dieser Männer.

Und solange sie ihre Maske trug, würde er nicht erfahren, wen er für die erotischen Dienste bezahlte.

Entschlossen schaute Arabella ihm in die Augen. Dann nickte sie und führte ihn die Treppe hinauf, zu dem Zimmer, das Mrs. Silver ihr gezeigt hatte.

In dem Schlafzimmer, das ganz in Schwarz gehalten war, konnte Dominic seinen Blick nicht von Miss Noir losreißen. Er wusste, auf welch ungehörige Weise er sie anstarrte. Doch er konnte es nicht ändern. Sobald sie ihm in Mrs. Silvers Salon aufgefallen war, hatte er seine Absicht vergessen, den jungen Northcote vor Dummheiten zu bewahren. Nun kam es ihm so vor, als wäre die Vergangenheit lebendig geworden … als würde eine andere Frau vor ihm stehen.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte Arabella besorgt.

Verdammt, auch die Stimme klingt so wie ihre.

Unruhig tastete Miss Noir nach ihrer Maske.

„Verzeihen Sie meine Manieren“, bat er. „Aber Sie erinnern mich an eine Dame, die ich vor einigen Jahren kannte.“ Nur aus diesem Grund hatte er mit ihr das Schlafzimmer dieses Bordells aufgesucht. Und aus demselben Grund müsste er sich jetzt abwenden und davongehen. Der Schmerz kehrte zurück, die Bitterkeit … Und doch begehrte er gleichzeitig diese schwarzgekleidete Frau mit einer Glut, die an Verzweiflung grenzte.

Weil sie wie Arabella Tatton aussah.

Sie lächelte nicht kokett, äußerte keine spielerischen oder betörenden Worte. Eigentlich hätte sie die Verschnürung ihres Kleid lösen oder vor das Kaminfeuer treten müssen, um ihm durch den dünnen Stoff die Umrisse ihrer Beine zu zeigen, oder ihre Strümpfe, indem sie mit hochgerafften Röcken auf die Chaiselongue gesunken wäre. Stattdessen wirkte ihre Miene eher ernst und ihr Verhalten unbehaglich, wenn sie das auch zu verbergen suchte. Sie stand einfach nur da und beobachtete ihn – nur scheinbar ruhig und gelassen, denn ihre Finger, die sie jetzt fest ineinander geschlungen hatte, verrieten ihre innere Anspannung.

Neben ihr, auf einen kleinen Beistelltisch, zwischen zusammengerollten schwarzen Seidenschnüren, Federn und Fächern, funkelten die Bläschen in ihrem unberührten Champagnerglas. Dominic leerte seinen eigenen Kelch und versuchte die machtvollen Gefühle zu unterdrücken, die ihre verwirrende Ähnlichkeit mit einer anderen Frau in ihm entfachten. „Sie erscheinen mir etwas nervös, Miss Noir.“

„Nun, das ist mein erster Abend in diesem Haus, Sir. Verzeihen Sie, wenn ich mit der üblichen Etikette noch nicht vertraut bin. Ich …“ Zögernd verstummte sie und musste sich offenbar zwingen, weiterzusprechen. „Ich möchte natürlich Ihre Wünsche erfüllen, Euer Gnaden.“ Aber ihr hocherhobener Kopf strafte die Unterwürfigkeit, die ihre Worte ausdrückten, eindeutig Lügen. Sogar ihr Kinn reckte sie vor. Alles an ihrer Haltung wirkte aufsässig und angespannt, als würde sie einem kämpferischen Gegner gegenüberstehen statt einem Mann, den sie zu verführen suchte. „Soll ich mich entkleiden?“

Dominic stellte sein leeres Glas neben ihr volles. Geradezu unheimlich, wie sehr sie Arabella glich … Viel zu heiß und zu schnell rauschte sein Blut durch die Adern. Und sosehr er sich auch bemühte, die Erinnerungen zu verdrängen – sie stürmten so lebhaft auf ihn ein, als hätte er die geliebte Frau erst gestern in den Armen gehalten.

Die Intensität seines Verlangens erschreckte ihn, denn er war sich sicher gewesen, sein Zorn hätte es längst gelöscht. Aber nun pulsierte sein Körper vor Begierde – als würde Arabella vor ihm stehen.

Und weil Miss Noir wie Arabella aussah, würde er nicht ablehnen, was sie ihm anbot. Ohne einen weiteren Gedanken an Northcote zu verschwenden, zog er seinen Frackrock aus.

„Gewiss wird es uns beiden ein größeres Vergnügen bereiten, wenn ich Sie entkleide“, meinte er und ließ sie nicht aus den Augen.

Bei seinem Vorschlag senkte sie die Wimpern. Nicht kokett. Vielmehr gewann er den Eindruck, sie wollte etwas vor seinem prüfenden Blick verbergen. Er musste endlich aufhören, sie so unhöflich anzustarren. Doch das gelang ihm nicht.

„Wie Sie wünschen.“ Sie trat vor ihn hin, und er betrachtete ihr Kleid, das ihre reizvollen Rundungen eher betonte als verhüllte. Wenigstens darin unterschied sie sich von Arabella, die so groß gewesen war wie diese Frau, aber schlanker gebaut.

Arabella. Wispernd schien ihr Name in der Stille des Raums zu erklingen. Und die Erinnerungen tauchten in seiner Fantasie auf – Arabella, die unter ihm lag; ihr Lächeln; sein Gesicht, vergraben in der goldblonden Seide ihres Haars, das sich auf dem Kissen ausbreitete; und seine Lippen, die Liebesworte flüsterten, während er ihre zarte Haut streichelte …

Trotz des Zorns in seinem Herzen wuchs seine Begierde. Mit einiger Mühe zügelte er die drängenden Gefühle. Arabella Tatton. Er verachtete sie. Und er sollte dieser Frau den Rücken kehren, die ihr glich – die all die Erinnerungen weckte, die er in die dunkelsten Tiefen seiner Seele verbannt hatte. Das riet ihm sein Verstand. Aber dem gehorchte er nicht.

Stattdessen löste er die Verschnürung an der Rückseite ihres schwarzen Kleides, bis das Oberteil hinabrutschte und ihre herrlichen Brüste entblößte. Als er die rosigen Knospen berührte, richteten sie sich auf.

Dominic neigte den Kopf hinab und küsste Miss Noirs weiche Wange. Durch die Schlitze der Halbmaske sah er, wie sich ihre Pupillen weiteten. Umgeben von einer Iris von der gleichen Farbe wie Arabellas Augen – leuchtend blau wie ein Sommerhimmel.

Arabella – die Qual der Erinnerung verstärkte sich ebenso wie die Leidenschaft.

Während er das Kleid an ihren Armen hinunterstreifte, wanderte sein Mund über ihren schlanken Hals und hauchte dann Küsse auf ihre Schultern. Dann liebkoste er ihren Busen, umkreiste mit seiner Zunge ganz sanft ihre Spitzen und spürte, wie Miss Noir unter den Berührungen erschauerte.

Behutsam saugte er an einer Knospe und hob ihre bezaubernden Brüste mit seinen Händen an. Dabei fühlte er Herzschläge, die sich beschleunigten. Er blickte auf und sah leicht gerötete Wangen. In den blauen Augen hinter der Maske las er sogar Sehnsucht … bis sie wieder die Lider senkte. Sie zog ihre Arme aus dem Kleid und stieg aus der schwarzen Seidenwolke, die nun ihre Füße umgab – nackt bis auf die Maske, die Strümpfe und die zierlichen Abendschuhe.

Miss Noir posierte nicht, um ihn zu bezirzen. Das hatte sie auch nicht nötig. Hoch aufgerichtet, den Kopf erhoben, stand sie da.

Arabella, wollte er flüstern. Die Frau, die ihr ähnelte, hatte alte Wunden aufgerissen. Trotzdem begehrte er sie so heftig, als wäre sie tatsächlich seine frühere Geliebte. Er schlüpfte aus seiner Weste, nahm das Krawattentuch ab und zog das Hemd aus.

Dass Miss Noir seine nackte Brust musterte, entging ihm nicht, ebenso wenig ihr Blick, der zur Wölbung seiner Männlichkeit in den Pantalons schweifte. Als sie wieder aufschaute, bemerkte er einen eigenartigen Ausdruck in ihren Augen, den er nicht ergründen konnte. Nun riss er sie an sich und küsste sie so leidenschaftlich, wie er es sich vom ersten Moment an, als er sie in Mrs. Silvers Salon entdeckte, gewünscht hatte.

Zunächst versteifte sie sich, dann schmiegte sie ihren Körper an seinen, erwiderte den Kuss, und er glaubte die echte Arabella zu umarmen. Nicht einmal die Augen musste er schließen, um sich vorzugaukeln, sie wäre es wirklich.

Er küsste sie wie die Frau, die er geliebt hatte, mit all dem tiefen Schmerz in seiner Seele. Zu seiner Verwirrung erwiderte sie den Kuss auf dieselbe leidenschaftliche Weise, wie Arabella es immer getan hatte. Um wieder in ihre Augen zu schauen, ließ er sie los. Da wandte Miss Noir sich ab und begann, ihre Strumpfbänder zu entfernen.

Aber er hinderte sie daran. „Lassen Sie das, ich möchte Sie ansehen.“

Wortlos trat sie ein paar Schritte zurück, und er bewunderte die langen hellen Beine in den dunklen Strümpfen, die schön geschwungenen Hüften, das kleine blonde Dreieck zwischen den Schenkeln, den weichen Bauch.

Unter seinem forschenden Blick errötete sie, als wäre sie wirklich keine erfahrene Kurtisane, die jede Nacht mit einem anderen Mann schlief, sondern Arabella. Seine Männlichkeit presste sich immer härter gegen den feinen Wollstoff seiner Pantalons.

Noch immer legte Miss Noir die Maske nicht ab. Und er bat sie auch nicht darum, denn er wollte sich an die Illusion klammern, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte.

Dominic befreite sich von seiner restlichen Kleidung. Dann ging er zu Miss Noir und umarmte sie wieder. Arabella, formten seine Lippen lautlos an ihrer Wange.

Während er sie zum Bett trug, schlang sie ihm die Arme um den Nacken. Er legte sie auf die Matratze, und der Kontrast zwischen ihrer hellen Haut und den schwarzen Seidenlaken schien ihre Ähnlichkeit mit seiner früheren Geliebten noch stärker zu betonen. Nun begehrte er sie so heiß, dass er keinen anderen Gedanken mehr kannte, und sank auf sie hinab, presste seine Hüften zwischen ihre Schenkel.

Warm und feucht war sie und so bereit für ihn. Alles an ihr – der Duft, der Geschmack ihres Mundes, die Gefühle – glich Arabella. Und als er in ihre weiche Hitze eindrang, war sie es. Immer schneller bewegte er sich in ihr, bis beide nach Luft rangen, bis er beinahe die Erlösung fand. Doch kurz vor seinem Höhepunkt zog er sich zurück.

Welch eine exquisite Tortur …

Aber sobald er von Miss Noirs Körper hinabglitt, bereute er seinen Entschluss, ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Sie war nicht Arabella, und er hatte nur schlecht verheilte Wunden aus der Vergangenheit aufgerissen. Jetzt fühlte er sich so leer und einsam und unglücklich wie zuvor. Möglichst schnell wollte er diesen Raum verlassen, und so stieg er aus dem Bett.

„Danke“, sagte er unbeholfen und brachte es nicht über sich, die Frau, die reglos dalag, mit ihrem Namen anzureden. Hastig schlüpfte er in sein Hemd und die Pantalons.

Aus der Richtung des Betts drang ein leiser Laut zu ihm, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang.

Als er die Frau anschaute, drehte sie sich zur Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Er sah die goldenen, aus ihrem Haarknoten gelösten Locken, die schmale Taille, die wohlgeformten Hüften, das verlockende Gesäß.

Plötzlich erstarrten seine Finger über den Hosenknöpfen, die er schließen wollte. Sein Blut drohte sich in Eis zu verwandeln, und er konnte kaum atmen. Bestürzt starrte er auf ihre glatte weiße Haut und das dunkle Muttermal auf der rechten Pobacke, an das er sich so gut erinnerte.

Alles andere in der Welt schien zu entschwinden. Ungläubig registrierte er die so offenkundige Wahrheit, dass er sich fragte, warum er sie nicht sofort erkannt hatte.

„Arabella?“ Nur ein Flüstern. Aber es hallte so laut durch den Raum, als hätte er aus voller Kehle geschrien.

Da spannte sich ihr ganzer Körper an und bestätigte den Verdacht, den Dominic viel zu langsam geschöpft hatte. Er beobachtete den Schauer, der sie durchfuhr, ehe sie sich in das Laken wickelte und so ihre Nacktheit verhüllte, bevor sie aus dem Bett stieg. Erst danach erwiderte sie seinen Blick.

Noch immer fiel es seinem Gehirn schwer, die überwältigenden Tatsachen zu akzeptieren, und er erwartete, sie würde ihre Identität abstreiten. Doch sie schwieg.

Entschlossen eilte er zu ihr. Mit einer Hand zog er sie an sich und merkte kaum, dass das Laken hinabsank, mit der anderen Hand entknotete er die Bänder der gefiederten Augenmaske, die zu Boden fiel. Und dann starrte er in ein blasses, angsterfülltes Gesicht, in Augen voll von schimmernden Tränen. Sie war es, Arabella Tatton, ohne jeden Zweifel … Oder Arabella Marlbrook, wie sie jetzt hieß.

2. KAPITEL

Viel zu fest presste Dominic sich gegen ihren nackten Körper. Voller Entsetzen über ihre Enttarnung, konnte Arabella einige Sekunden lang nur in die Augen des Mannes starren, den sie geliebt hatte. Dann kam sie zur Besinnung und versuchte, sich loszureißen.

„Arabella!“, mahnte er in schroffem Ton.

Verzweifelt schlug und trat sie nach ihm. Da packte er ihre Arme, drehte sie ihr auf den Rücken und umklammerte ihre Handgelenke – nicht schmerzhaft, aber unnachgiebig.

„Arabella.“ Diesmal leiser, trotzdem genauso bedrohlich.

„Nein!“, schrie sie.

Unerbittlich hielt er sie fest. „Was machst du hier?“ Wie Kohlen glühten die dunklen Augen in seinem blassen Gesicht. Und sein kaum gezügelter Zorn passte nicht zu dem Mann, an den sie sich erinnerte.

Sie versuchte ihre Nerven zu beruhigen. Aber ihr Atem ging stoßweise. Und jedes Mal, wenn sie Luft holte, spürte sie die geschwollenen Knospen ihrer Brüste, die sich an Dominics Hemd rieben.

„Erlaube mir wenigstens, mich anzuziehen, bevor wir dieses Gespräch führen“, bat sie mit einer ruhigen Stimme, die ihre wahren Gefühle verbarg. „Ein bisschen Respekt solltest du mir zollen.“

Provozierend ließ er seinen Blick über ihren nackten Körper schweifen, und sie fürchtete, er würde ihren Wunsch nicht erfüllen. Doch dann ließ er sie los und wandte sich ab.

Arabella hob das schwarze Kleid vom Boden auf. Hastig schlüpfte sie hinein, den Rücken zu Dominic gewandt. So gut sie es vermochte, verschnürte sie das Oberteil an ihrem Rücken. Alle Bänder erreichte sie nicht. Die restlichen hingen locker herab, und so wurde dennoch zu viel von ihrem Busen entblößt.

Gewiss keine respektable Aufmachung, dachte sie, aber immerhin besser, als würde ich ihm nackt gegenüberstehen. Verlegen zerrte sie den Ausschnitt etwas höher und drehte sich um. Dominic hatte seine Pantalons inzwischen zugeknöpft und beobachtete Arabella mit derselben unverhohlener Bestürzung, die auch sie empfand.

„Nun frage ich dich noch einmal.“ In seiner Stimme schwang helle Wut mit. „Was machst du hier?“

„Was jede Frau in seinem solchen Haus tut.“ Herausfordernd starrte sie ihn an, fest entschlossen, ihre Scham hinter einer stolzen Fassade zu verstecken.

„Also bist du eine Hure, die sich verkauft!“, stieß er hervor.

„Ich versuche nur zu überleben“, erwiderte Arabella so würdevoll wie möglich. Tapfer hielt sie seinem verächtlichen Blick stand.

„Und wo zum Teufel steckt Henry Marlbrook, während du in einem Bordell ‚überlebst‘? Was für ein Ehemann ist das, der dich einer solchen Schande ausliefert?“ Als er Henrys Namen aussprach, nahm seine Stimme einen noch härteren Klang an.

„Wage es bloß nicht, ihn zu erwähnen!“, fauchte sie.

„Warum nicht?“, konterte er. „Hast du Angst, ich würde ihn aufstöbern und niederstechen?“

„Verdammt, Dominic, er ist tot!“

„Dann hat er mir die Mühe erspart“, entgegnete er frostig.

Zutiefst erschrocken über seine Grausamkeit, schnappte sie nach Luft. Und dann, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte, schlug sie ihn mit aller Kraft ins Gesicht. Das klatschende Geräusch hallte von den Wänden wider. Danach war es vollkommen still im Raum. Sogar im schwachen flackernden Kerzenlicht sah Arabella die roten Spuren, die ihre Finger auf Dominics Wange hinterlassen hatten.

Schon vorher hatten sich seine braunen Augen verdüstert. Jetzt waren sie schwarz wie die Nacht.

Aber Arabella gab nicht klein bei. „Das hast du verdient.“ Für alles, was er ihr angetan hatte. „Henry war ein guter Mann, ein viel besserer als du, Dominic Furneaux!“

In der Tat war sie überaus dankbar für Henrys Güte und Freundlichkeit.

Nun sah sie etwas in Dominics Augen aufflammen.

„So wie er es schon damals war“, sagte er tonlos. „Das habe ich nicht vergessen, Arabella. An keinem einzigen Tag.“

Seine Worte riefen die Erinnerung an vergangene Emotionen wach … Auch sie hatte nichts vergessen: Die Freude und das Glück, als sie ihr Herz an Dominic verloren und sich ihm hingegeben hatte, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Alles Lügen und Illusionen. Ihm hatten die Liebesstunden nichts bedeutet, sie war ihm gleichgültig gewesen. Nur eine weitere Kerbe an seinem Bettpfosten … Mit knapp neunzehn Jahren hatte sie das primitive Wesen der Männer und deren Gelüste noch nicht verstanden, jetzt, mit vierundzwanzig, wusste sie es besser.

„Du hast keine Zeit verschwendet, um ihn zu heiraten“, fügte er hinzu, „weniger als vier Monate, nach allem, was ich erfuhr.“

Sie hörte die Anklage aus seiner Stimme heraus, die Eifersucht, und das fachte das Feuer ihres Zorns erneut an. „Was hast du dir denn vorgestellt?“, zischte sie.

„Dass du auf mich gewartet hättest, Arabella!“

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Ich sollte warten? Für was für eine Frau hältst du mich denn?“ Dachte er allen Ernstes, sie hätte ihn mit offenen Armen willkommen heißen müssen? Nachdem er sie so schmählich im Stich gelassen hatte? „Ich konnte nicht warten, Dominic, denn ich war …“ Ihr Blick suchte seinen.

Was warst du?“

Zögernd schwieg sie. An ihrem Hals pochte ein warnender Puls.

„Eine Närrin“, antwortete sie schließlich. Eine Närrin, die seinen Lügen geglaubt, die ihm vertraut hatte. „Was du hier wolltest, hast du bekommen, Dominic. Jetzt geh und lass mich in Ruhe.“

„Damit du in Mrs. Silvers Salon hinunterlaufen und dem nächsten Gentleman ein Glas Champagner anbieten kannst? Zweifellos warten sehr viele Interessenten darauf, mit dir das Schlafgemach aufzusuchen.“ Seine Stimme triefte geradezu vor Verachtung. „Nein, das wirst du nicht tun.“

Wie kann er es wagen? Warum verurteilt er mich, nach allem, was er mir zugemutet hat? In diesem Moment hasste sie ihn mit einer Leidenschaft, die den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung bedrohte. Sie wollte ihn anschreien, noch einmal ohrfeigen, sich rächen für alles, was er ihr gerade antat. Aber sie zwang sich zur Ruhe.

Er fixierte sie mit seinem Blick. Zwischen ihnen schien die Luft vor Anspannung zu knistern. Dann trat er hinter einen der beiden schwarzen Polstersessel beim Kamin.

„Setz dich, Arabella, wir müssen reden.“

„Lieber nicht, Euer Gnaden.“ Sie war stolz auf sich selbst, weil ihre Stimme ebenso kühl und emotionslos klang wie seine – weil sie ihr Zittern so erfolgreich unterdrückte.

„Wenn du dich wegen des Geldes sorgst … Sei versichert, ich habe für die ganze Nacht bezahlt.“

Nun glichen seine Augen schwarzen Steinen. Obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war, schaute Arabella ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, verbarg ihre Scham und den Aufruhr ihrer Gefühle. Keinesfalls durfte er den Verdacht schöpfen, sie würde ihm etwas verheimlichen.

„Komm, Arabella.“ Er wies auf den Sessel, der vor ihm stand. „Setz dich. Nach allem, was soeben zwischen uns geschehen ist, solltest du dich nicht zieren.“ Seine Stimme klang schroff, seine Miene bekundete unbeugsame Entschlossenheit. Zweifellos würde er darauf bestehen, seinen Willen durchzusetzen.

„Zur Hölle mit dir“, flüsterte sie. Die Narben ihrer seelischen Wunden brannten, als wären sie niemals verheilt. Und das Wiedersehen mit Dominic – nachdem sie jahrelang geglaubt hatte, sie würde ihm nie mehr begegnen – weckte Ängste, die ihr erst in diesem Moment richtig bewusst wurden.

Erst nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er in dem Sessel ihr gegenüber Platz.

„Hast du sofort erkannt, dass ich es bin?“, fragte sie.

„Natürlich nicht!“, protestierte Dominic, wütend auf Arabella und sich selbst. Ganz egal, was sie getan hatte – niemals wäre er aus reiner Rachsucht mit ihr ins Bett gesunken.

„Und wie hast du es gemerkt?“

„Warum ich nicht früher dahinterkam?“ Diese Frage stellte er sich selbst. „Ausgerechnet ich, der deinen Körper so gut kannte …“ Eine schäbige Maske mit schwarzen Federn hat genügt, um mich zu täuschen, dachte er bitter. Zudem hätte er niemals erwartet, Arabella in einem Bordell anzutreffen.

Was aus ihr geworden war – und dass er sie wie eine Hure behandelt hatte, erschütterte ihn zutiefst. Er hatte gehofft, sie aufzuspüren, und sich danach gesehnt. Aber nicht auf diese Weise … So etwas hatte er sich nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen vorgestellt. Verstört strich er durch sein Haar und versuchte seine Gefühle zu kontrollieren.

Dann musterte er Arabellas blasses Gesicht, ihre beherrschte Miene.

Die Zeit hatte ihre Schönheit reifen lassen. Jetzt war sie kein hübsches Mädchen mehr, sondern eine voll erblühte, hinreißende Frau. Er merkte ihr eine gewisse Vorsicht an, ein allgemeines Misstrauen, das sie früher nicht gezeigt hatte. Damals war sie unschuldig und sorglos gewesen, von unbändiger Lebensfreude erfüllt – nun sah er eine kühle, entschlossene Fremde, die er nicht wiedererkannte.

Plötzlich erinnerte er sich an das halb erstickte Schluchzen, das er gehört hatte, an den Tränenglanz in ihren Augen, und sein eigener Zorn verebbte ein wenig.

„Du hast erwähnt, Marlbrook sei gestorben.“

Widerstrebend nickte sie. „Vor zwei Jahren.“

„Ließ er dich unversorgt zurück?“ Den anklagenden Unterton in seiner Stimme konnte er nicht unterdrücken.

„Nein!“, rief sie entrüstet.

Warum verteidigte sie den elenden Schurken, den sie geheiratet hatte, so leidenschaftlich?

„Nein“, wiederholte sie etwas ruhiger. „Für eine bescheidene Existenz war genug Geld vorhanden …“ Zaudernd verstummte sie und schien zu überlegen, wie viel sie ihm erzählen sollte.

Drängende Fragen brannten ihm auf der Zunge. Doch er sprach keine einzige aus und zwang sich trotz seiner Ungeduld, auf eine Erklärung zu warten.

Statt zu erläutern, was ihr widerfahren war, presste sie die Lippen zusammen und wich seinem forschenden Blick aus.

Eine gefühlte Ewigkeit verging.

Schließlich hob er die Brauen. „Dann bist du ohne Not in Mrs. Silvers Haus gelandet? Sondern, weil es dir hier gefällt?“

„Ja“, bestätigte sie und schaute ihn provozierend an. „Da siehst du, was für eine Frau aus mir geworden ist. Nachdem das feststeht – willst du noch immer nicht gehen?“

„Nein, ich bleibe bei dir.“

Resigniert senkte sie den Kopf.

„Was hält dein Vater von dem Beruf, den du gewählt hast, Arabella? Und dein Bruder?“

„Papa und Tom sind an der Schwindsucht gestorben, die auch Henry dahingerafft hat.“

„Diesen schmerzlichen Verlust bedaure ich …“ Die Neuigkeit bestürzte Dominic, denn er hatte Arabellas Familie gut gekannt und gemocht. „Und Mrs. Tatton?“

„Die Krankheit hat meine Mutter sehr geschwächt. Aber sie ist am Leben geblieben.“

„Weiß sie, wo du bist?“

Nur für einen kurzen Moment verriet ihr Gesicht gewisse Schuldgefühle. „Nein …“ Dann hob sie wieder einmal herausfordernd ihr Kinn. „Nicht, dass es dich etwas anginge!“

In dem Schweigen, das nun folgte, hörte er ein Bett im Nebenraum knarren, achtete aber nicht weiter darauf.

Dominic musterte Arabella nachdenklich. Noch eine Frage musste er ihr stellen, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte, weil sie sich in Mrs. Silvers „Haus der bunten Freuden“ aufhielt.

„Gab es nach Marlbrooks Tod einen anderen Mann? Einen Gemahl oder Beschützer?“

„Nein“, erwiderte sie mit gepresster Stimme. In ihren Augen las er unmissverständliche Abneigung. „Wäre es anders, würde dich aber auch das nichts angehen.“

Eine Zeit lang starrten sie einander wütend an, bevor Arabella aufstand und zu den langen schwarzen Vorhängen schritt, die das Fenster verdeckten.

Sie konnte einfach nicht still sitzen und sich von Fragen bestürmen lassen, denn sie fürchtete, wohin sie führen mochten. Außerdem hatte Dominic kein Recht, sie zu verhören. Mit seinem Entschluss vor all den Jahren hatte er das Recht verwirkt, irgendetwas über ihr Leben zu erfahren.

Sollte er doch das Schlimmste von ihr denken, wenn es ihn an weiteren Fragen hinderte und aus diesem Zimmer trieb … Ja, sollte er sie für die Hure halten, zu der er sie gemacht hatte. Das fand sie besser als die andere Möglichkeit.

Würde er die Wahrheit über meine Situation kennen – das könnte ich nicht ertragen. Besser seine Verachtung spüren als sein Mitleid …

Durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen sah sie eine schwarze Nacht ohne Sterne.

Nach einer Weile warf Arabella einen Blick über ihre Schulter. Reglos starrte Dominic in den Kamin, auf die kleinen flackernden Flammen über den glühenden Kohlen. Seine Miene wirkte so düster wie die Nacht da draußen.

„Dass ich dich hier angetroffen habe, in einem verdammten Bordell, kann ich einfach nicht glauben!“ Noch immer beschleunigte das quälende Entsetzen seinen Puls.

Fast sechs Jahre lang hatte Dominic sich vorgestellt, wie er sie eines Tages finden würde. Verschiedene Situationen waren ihm durch den Sinn gegangen – und natürlich kam keine einzige auch nur annähernd an die schreckliche Realität heran. Seine geliebte Arabella war nun eine Dirne in einem luxuriösen Freudenhaus! Miss Noir, verfügbar für alle Gäste, die genug bezahlten … Bei diesem Gedanken wurde ihm übel.

„Dann geh doch und rede dir ein, wir hätten uns nie wiedergesehen“, schlug sie leise vor, ohne ihn anzuschauen.

Minutenlang durchbrach nur das schwache Knistern des beinahe heruntergebrannten Feuers die Stille, bis Dominic entgegnete: „Das kann ich nicht, Arabella.“ Trotz seines Zorns – ein solches Leben verdiente sie nicht.

In einem hauchdünnen schwarzen Seidenkleid, das mehr enthüllte, als es verbarg, stand sie da. Der Anblick ihres fast nackten Rückens weckte neue Lust in ihm.

Warum begehrte er sie immer noch, nachdem sie die Treue gebrochen und Marlbrook geheiratet hatte? Nach allem, was er ihr in dieser Nacht unter so würdelosen Umständen schon abverlangt hatte? Es erfüllte ihn keineswegs mit Stolz oder Genugtuung, dass er sie wie eine Hure behandelt hatte – obwohl sie nichts anderes war. Niemals hätte er sie angerührt, wäre ihm ihre Identität schon vorher bewusst geworden.

„Warum kannst du es nicht?“, fragte sie. „Genau das will ich. Geh – und komm nicht wieder!“

„Um früherer Zeiten willen, Arabella …“

„Erspar mir dein Mitleid!“ Erbost fuhr sie zu ihm herum und stemmte die Hände in die Hüften. „Was uns einmal verbunden hat, ist längst entschwunden!“

„Oh, das weiß ich sehr gut.“

In ihren Augen funkelte ein wildes Temperament, das Dominic damals nie gesehen hatte. Ihre Lippen waren von seinen Küssen gerötet und geschwollen, unter heftigen Atemzügen hoben und senkten sich ihre Brüste, und er sah, wie der lockere schwarze Stoff hinunterglitt und rosige Knospen entblößte.

Sobald sie seinen Blick bemerkte, zerrte sie die Seide hastig nach oben und hielt sie fest.

„Dafür ist es jetzt zu spät, Arabella.“

Im Gegensatz zu ihm war ihr bewusst gewesen, mit wem sie vorhin geschlafen hatte. Von ihren Lippen kam ein seltsames Echo, wie aus einer fernen Vergangenheit – und jetzt erkenne ich, warum … Mochte die Liebe auch gestorben sein, das Feuer erotischer Sehnsucht brannte immer noch zwischen ihnen.

Wenn er ihr auch nicht verziehen hatte – er durfte sie nicht in diesem Haus zurücklassen.

Vergeben konnte er ihr nicht, aber er begehrte sie nach wie vor.

In seinem Gehirn nahm eine Idee Gestalt an, die ihm vielleicht endlich helfen würde, seine Dämonen zu verscheuchen.

Kurz entschlossen stand er auf. Als er Arabella erschauern sah, holte er seinen Frackrock und legte ihn um ihre Schultern. In ihren Augen las er Verblüffung, Argwohn und unausgesprochene Fragen.

„In diesem Haus musst du nicht bleiben …“, begann er.

„Was ich tue, geht dich nichts an“, unterbrach sie ihn heftig.

„Ich könnte dir helfen.“

„Vielen Dank, Dominic, ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Mag sein. Trotzdem wirst du mir zuhören.“

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er spürte ihre innere Abwehr deutlich.

„Wenn du mein Angebot annimmst, müsstest du nicht mit einem Mann nach dem anderen schlafen und nicht befürchten, auf der Straße zu landen. An nichts würde es dir mangeln.“

Nun runzelte sie die Stirn, dann schüttelte sie verständnislos den Kopf.

„Ich stelle dir ein Haus und Geld zur Verfügung, deine Existenz wäre gesichert. Und ich würde dich beschützen.“

„Beschützen?“, wiederholte sie und blinzelte verwirrt.

„Dieses Arrangement wäre für uns beide vorteilhaft.“

Entgeistert rang sie nach Luft. „Soll ich deine Mätresse werden?“

„Wenn du es so nennen willst.“

Drückendes Schweigen trat ein, draußen im Flur erklang das Kichern einer Frau, vermischt mit dem Geräusch von den schweren Schritten eines Mannes, der wohl gerade aus einem der Zimmer kam.

In Arabellas Gesicht las Dominic unverkennbares Entsetzen. Was immer sie erwartet haben mochte – das nicht. Und für einen kurzen Moment glaubte er Trauer in ihren Augen zu sehen, einen tiefen Schmerz, ähnlich den Qualen in seinem eigenen Herzen, die ihn jahrelang begleitet hatten. Doch dieser Blick verschwand sofort. Er hatte es sich gewiss nur eingebildet …

„Arabella“, flüsterte er und berührte ihren Arm.

Bevor sie sich losriss, spürte er ihr Zittern.

„Glaubst du, das wäre so einfach?“, fragte sie zynisch.

„Einfach genug“, erklärte er vorsichtig. „Ich würde Mrs. Silver angemessen entschädigen. Sei versichert, sie würde uns keine Steine in den Weg legen.“

Sie schluckte und schlang ihre Finger ineinander. Versuchte sie eine schwierige Entscheidung zu treffen?

„Seit ich den Titel meines Vaters geerbt habe, bin ich steinreich, Arabella. Ich würde ein schönes Stadthaus für dich mieten, es nach deinem Geschmack einrichten lassen und alle deine Wünsche erfüllen.“

„Ja, ich verstehe, was du mir anbietest“, entgegnete sie kühl.

„Und wie lautet deine Antwort?“

„Darüber muss ich nachdenken. Und dafür brauche ich Zeit.“

„Was gibt es da zu überlegen?“, fragte Dominic ironisch. „Worum es geht, weißt du doch. Das habe ich klar und deutlich gesagt.“

„Trotzdem werde ich dir erst eine Antwort geben, wenn ich über deinen Vorschlag nachgedacht habe.“

Ihre unnachgiebige Haltung ärgerte ihn ebenso wie die Verachtung, die sie nicht verhehlte. Jede andere Frau in ihrer Position würde ein solches Angebot ohne Zaudern und überglücklich annehmen.

„Also gut, Arabella, du kannst dein sonderbares Spiel mit mir treiben. Aber wie wir beide wissen, tun alle Dirnen das, was reiche Männer wollen. Und ich bin jetzt ein reicher Mann. Mittlerweile ist ein neuer Tag angebrochen. Bis zu meiner Rückkehr heute Abend musst du dich entscheiden. In der Zwischenzeit werde ich Mrs. Silver bezahlen, damit dich kein anderer Kunde anrührt. Was ich mir aneignen möchte, gehört nur mir allein. Hoffentlich begreifst du das.“

Die Lippen zusammengepresst, als müsste sie eine scharfe Entgegnung unterdrücken, streifte sie seinen Frackrock von ihren Schultern und hielt ihn ihm hin. Er zog ihn an, dann ging er nach einer knappen Verbeugung zur Tür hinaus.

Während der Morgen über London graute, verließ er Mrs. Silvers „Haus der bunten Freuden“. Aber seine Gedanken verharrten immer noch in dem Zimmer mit der schwarzen Bettwäsche und den schwarzen Vorhängen, bei der Frau in dem schwarzen Seidenkleid …

3. KAPITEL

Wenige Stunden später betrat Arabella eine heruntergekommene Pension in der Flower and Dean Street und stieg die Stufen hinauf. Die helle Frühlingsmorgensonne drang schwach durch die Fenster, die der winterliche Regen monatelang beschmutzt hatte.

Auch auf dem erneuerten Schloss der Tür am ersten Treppenabsatz schimmerte das Licht. Als Arabella die Schwelle des gemieteten Zimmers überquerte, wehte ihr feuchte Kälte entgegen.

„Mama!“ Ein dunkelhaariger kleiner Junge saß neben einer älteren Frau auf einer Matratze, die auf dem Boden lag und der einzige Einrichtungsgegenstand war, den der Raum enthielt. Nun schüttelte er eine dünne graue Wolldecke von seinen Schultern, sprang hoch und lief zu Arabella.

„Archie!“, rief sie lächelnd. Bei seinem Anblick schlug ihr Herz höher. „Warst du ein braver Junge und hast gut auf deine Großmutter aufgepasst?“

„Ja, Mama“, beteuerte er pflichtbewusst.

Aber sie sah im Gesichtchen ihres Sohnes den Tribut, den Hunger und Armut forderten, die Schatten unter den Augen, die eingefallenen Wangen, die sie einige Tage zuvor noch nicht bemerkt hatte.

Von schmerzlichen Schuldgefühlen erfasst, drückte sie ihn an sich. „Ich habe ein bisschen Brot und Kuchen mitgebracht“, erklärte sie und schüttelte den Inhalt ihrer Tasche, den sie letzte Nacht von den Tabletts für Mrs. Silvers Salon entwendet hatte, auf die Matratze. „Erst am Wochenende wird der Lohn bezahlt.“

Sie legte eine Hälfte des Essens auf das Fensterbrett für eine spätere Mahlzeit, die andere gab sie ihrer Mutter und ihrem Sohn. Schweren Herzens beobachtete sie, wie Archie sie mit einem flehenden Blick um Erlaubnis bat, bevor er eine Brotscheibe ergriff.

Schweigend verzehrten Archie und seine Großmama ihr karges Frühstück, als wäre es ein Festmahl. Arabella nahm ihren Umhang ab und legte ihn um die gebeugten Schultern ihrer Mutter. Dann setzte sie sich auf den Matratzenrand.

„Du isst ja gar nichts, meine Liebe.“ Ein trockenes Kuchenstück in der Hand, hielt Mrs. Tatton inne.

Lächelnd schüttelte Arabella den Kopf. „Oh, ich habe schon auf dem Heimweg gefrühstückt.“ Das war eine Lüge. Aber sie hatte so wenige Speisen mitgebracht, und sie ertrug es nicht, ihre Mutter und ihren kleinen Sohn hungern zu sehen.

Erst am späteren Tag würde die Sonne durch das Fenster hereinscheinen und ein bisschen Wärme spenden. Für Kohle oder Brennholz fehlte das Geld. Jetzt war das Zimmer kalt und leer bis auf die Matratze – so leer, wie sie es bei ihrer Heimkehr vor vier Tagen vorgefunden hatten. Kurz zuvor war hier eingebrochen worden, und die Diebe hatten die wenigen Habseligkeiten gestohlen, sogar die alten Möbel.

„Wie war es in der Schneiderwerkstatt?“ Sorgsam pickte Mrs. Tatton die Kuchenkrümel von ihrem Schoß und steckte sie in den Mund. „Waren die Leute mit deiner Arbeit zufrieden?“

„Ja, ich glaube schon.“ Arabella konnte den fragenden Blick nicht erwidern, voller Angst, die Mutter würde ihr die tiefe Scham anmerken.

„Du bist viel zu blass. Und deine Augen sind ganz rot. Als hättest du geweint.“

Unbehaglich spürte Arabella, wie aufmerksam sie gemustert wurde. „Ich bin nur müde, und meine Augen tun ein bisschen weh, weil ich im Kerzenlicht nähen musste“, log sie. Was würde Mama sagen, wenn sie wüsste, wie ihre Tochter die Nacht wirklich verbracht hatte? „Nur ein paar Stunden Ruhe – dann geht es mir wieder gut.“ Beschwichtigend lächelte sie ihre Mutter an.

Mrs. Tatton seufzte bedrückt. „Wenn ich dir bloß helfen könnte! Welch eine Belastung ich für dich bin, weiß ich …“

„Rede keinen Unsinn, Mama! Wie um alles in der Welt sollte ich denn zurechtkommen, wenn du dich nicht um Archie kümmern würdest?“

Da nickte ihre Mutter und zwang sich zu einem Lächeln. Aber ihre Augen blieben glanzlos, voller Trauer. Das Zittern in ihren Händen und die geschwollenen Fingerknöchel entgingen Arabella nicht, ebenso wenig der heisere Husten.

Liebevoll strich Mrs. Tatton das Haar aus der Stirn ihres Enkels, der inzwischen sein Brot und ein Stück Kuchen verspeist hatte. Nun stand er auf und ging in eine Ecke. Dort stand ein kleiner Holzeimer, eine Leihgabe von einer Nachbarin. Mit einem hölzernen Becher schöpfte Archie etwas Wasser aus dem Eimer und trank es gierig.

Mrs. Tatton senkte ihre Stimme, damit er ihre Worte nicht hörte. „Gestern Abend hat er sich vor lauter Hunger in den Schlaf geweint, Arabella. Sein leises Schluchzen brach mir das Herz. Ach, der arme Kleine!“

Arabella presste eine Faust auf ihren Mund und wandte sich ab. Dass sie einem Zusammenbruch nahe war, sollte ihre Mutter nicht sehen.

„Aber diese neue Arbeit, die du gefunden hast, ist wirklich ein Segen“, meinte Mrs. Tatton, „die Antwort auf unsere Gebete. Ohne diese Stellung würden wir alle im Armenhaus landen.“

Bei diesem Gedanken schloss Arabella sekundenlang die Augen. Lieber würde ich sterben …

Archie brachte ihr einen mit Wasser gefüllten Becher, und sie nahm einen Schluck. Den Rest überließ sie ihrer Mutter.

Danach streckten sich der kleine Junge und seine Großmutter auf der Matratze aus, in die graue Wolldecke gehüllt.

„Letzte Nacht wurden wir immer wieder von einem schrecklichen Lärm da draußen geweckt“, erklärte Mrs. Tatton, und Arabella nickte verständnisvoll. Zweifellos hatten betrunkene Männer gegrölt und zuchtlose Frauen kreischend gelacht.

Arabella breitete eine zweite Decke auf dem Boden neben der Matratze aus und legte sich darauf. Mit ihrem Umhang und dem Schal ihrer Mutter zugedeckt, spürte sie den kleinen Körper ihres Sohnes an ihrer Seite. Archie kuschelte sich an sie, und sie küsste sein zerzaustes dunkles Haar. „Alles wird gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Bald schlummerte er ein, und sie hörte seine leisen, flachen, rhythmischen Atemzüge, kurz danach die pfeifenden Geräusche, die aus den Lungen ihrer dösenden Mutter drangen.

Obwohl Arabella letzte Nacht kein Auge zugetan hatte, würde sie auch jetzt keinen Schlaf finden, weil sie von wirren Gedanken verfolgt wurde. Und alle drehten sich um Dominic Furneaux.

Als sie an die erotische Szene in dem schwarzen Bett dachte, musste sie beinahe weinen. Vor Scham und Wut und einer bittersüßen, tiefen Wehmut. So schmerzlich war die Erinnerung an frühere Zeiten. Damals hatte sie sich ihm in reiner Liebe hingeben – und an seine Liebe geglaubt. Jetzt zürnte sie nicht nur ihm, sondern auch sich selbst.

Denn sobald sie gestern Abend seinen vertrauten Duft gerochen hatte, nach Bergamotte, Seife und Dominic Furneaux, war sie unfähig gewesen, ihr Verlangen zu zügeln. Und als er sie nahm – nicht aus Liebe, wer sie war, wusste er gar nicht –, hießen ihre verräterischen Lippen und ihr Körper ihn willkommen, erkannten seine Küsse und die Liebkosungen seiner Hände entzückt wieder. Ohne Rücksicht auf ihre verletzten Gefühle hatte sie in der intimen Nähe geschwelgt. Und das beschämte sie noch tiefer als die Tatsache, dass sie sich ihm verkauft hatte.

Nun wollte er sie erneut kaufen, für längere Zeit. Wann immer ihn nach ihr gelüstete, müsste sie ihm zur Verfügung stehen, dem Mann, der ihr Herz gebrochen hatte.

So raffiniert waren seine Lügen damals gewesen, all die geheuchelten Beteuerungen und Liebesschwüre hatte sie geglaubt …

Sollte sie sich einem solch gewissenlosen Schurken auf Gedeih und Verderb ausliefern, ihm Nacht für Nacht zu Willen sein und die schmachvolle Begierde ihres Körpers verbergen? Konnte sie sich einem Mann unterwerfen, der sie nicht liebte und für eine Hure hielt?

Verzweifelt schlug sie ihre Hände vors Gesicht, denn sie kannte die Antwort auf diese Fragen. Und sie wusste auch, was ihr drohte, wenn sie Dominic Furneaux’ Angebot ablehnte.

Nur zu lebhaft entsann sie sich, wie die Gentlemen am Vorabend in Mrs. Silvers Salon getreten waren, dachte an die Panik angesichts der albtraumhaften Nacht, die ihr bevorstehen würde, wenn sie ihren Körper einem Fremden verkaufen musste.

Und dann dachte sie an die bittere Not, in der sie mit ihrer Familie dahinvegetierte. Da wusste sie es – sie konnte nur eine einzige Entscheidung treffen. Allerdings gab es gewisse Aspekte, die sie bei den Verhandlungen mit Dominic penibel beachten musste.

Unwillkürlich überlegte sie, wie sein und ihr Leben verlaufen wäre, wenn er sie geliebt und getreu seinem Versprechen geheiratet hätte …

Schon am frühen Abend traf Dominic in Mrs. Silvers Haus ein, diesmal ohne seine Freunde. Im Salon saßen die Frauen, in die verschiedenen Farben gehüllt, wie es dem Namen des Bordells entsprach.

Nur die Farbe Schwarz fehlte. Also war Arabella nicht hier, und eine böse Ahnung stieg in ihm auf. Würden sich die Dinge vielleicht doch nicht so entwickeln, wie er es geplant hatte?

„Die Vielfalt ist die Würze des Lebens, Euer Gnaden. Darf ich Sie mit einer anderen Farbe verlocken?“ Mrs. Silver wies auf die Mädchen, die ihn hingerissen anstarrten.

„Nein, danke, ich bevorzuge Schwarz. Miss Noir …“ Bestürzt verstummte er. War Arabella geflohen, nachdem er sie entlarvt hatte? Versteckte sie sich in einem anderen Teil Londons, in einem anderen Freudenhaus, an irgendeinem Ort, wo er sie niemals finden würde?

„Jeden Moment wird sie hier sein, Euer Gnaden, da bin ich mir ganz sicher“, behauptete Mrs. Silver. Aber ihre Augen drückten eine gewisse Skepsis aus.

Dominic runzelte die Stirn. Würde Arabella tatsächlich dieses elende Leben dem Luxus vorziehen, den er ihr anbot? Auf den Gedanken, sie könnte davonlaufen, war er gar nicht gekommen. Wütend über seine Naivität presste er die Lippen zusammen.

„Wenn Sie warten möchten, Euer Gnaden …“ Einladend zeigte Mrs. Silver auf ein Sofa.

Er nickte, aber er setzte sich nicht, blieb stehen und ignorierte die Platte mit den Delikatessen auf dem Tischchen an seiner Seite, das gefüllte Champagnerglas.

Fünf Minuten verstrichen. Dann zehn. Die Frauen gaben ihre Bemühungen auf, ihn in verführerische Gespräche zu verwickeln.

Was soll ich tun, wenn sie nicht kommt?

Nach zwanzig Minuten wanderte er rastlos umher. Allmählich erschienen einige Gäste.

Vierzig Minuten. Nur mehr er selbst und Miss Rouge hielten sich im Zimmer auf, es herrschte ein peinliches Schweigen.

Nach fünfzig Minuten verschwand auch Miss Rouge mit einem Gentleman, und Dominic fühlte sich genauso wie vor fast sechs Jahren – zornig, fassungslos, wie ein Narr, dessen Stolz zutiefst verwundet wurde.

Als er um seinen Hut, den Spazierstock und die Handschuhe bitten wollte, betrat Arabella endlich das Zimmer.

„Miss Noir, Euer Gnaden“, verkündete Mrs. Silver lächelnd und geleitete sie in den Salon. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Nur die tickende Uhr auf dem Kaminsims durchbrach die Stille. Daneben stand das Glas mit dem schalen Champagner.

Sie trug dasselbe skandalöse Kleid wie am Vorabend, dieselbe gefiederte Maske. Darunter war ihr Gesicht weiß gepudert.

Als sie vor ihm stand, hielte er den Atem an, wagte die Frage nicht zu stellen. Längst war seine Überzeugung geschwunden, Arabella würde auf seinen Vorschlag eingehen.

Und dann begann sie zu sprechen. „Ich nehme das Angebot an, Euer Gnaden“, sagte sie leise und emotionslos. So bleich wirkte sie, so steif und kalt, dass er den absurden Wunsch empfand, sie zu umarmen und zu wärmen und zu schwören, alles würde sich zum Guten wenden. Aber sie wandte sich ab und stellte sich hinter den cremefarbenen Sessel. „Erörtern wir die Einzelheiten.“

Er nickte, und sie begannen wie zwei Fremde, die ein Geschäft abschließen wollten, zu verhandeln.

Als Arabella am späten Abend in die Flower and Dean Street zurückkehrte, lagen Mrs. Tatton und Archie aneinandergeschmiegt auf der Matratze.

„Nur ich bin’s“, wisperte Arabella ins Dunkel. Aber ihre Mutter stand bereits mühsam auf, den Nachttopf in der Hand, eine behelfsmäßige Waffe.

„Oh Arabella, du hast mich erschreckt!“

„Verzeih mir, Mama.“ Im trüben Licht einer Straßenlampe, das durch das kleine Fenster hereinschien, trat Arabella näher.

„Warum bist du so früh daheim? Ich habe dich erst am Morgen erwartet.“ Über Mrs. Tattons Schulter hing ein langer grauer Zopf, und sie trug dasselbe zerknüllte Kleid wie an den letzten fünf Tagen. „Hat man dir in der Werkstatt gekündigt?“, fragte sie angstvoll.

„Heute Abend hat sich einiges geändert …“ Hastig fügte Arabella hinzu: „Keine Bange, wir werden nicht ins Armenhaus geschickt, sondern ein viel besseres Leben führen, dank eines neuen Arrangements.“

„Was meinst du?“, fragte ihre Mutter verwirrt.

„Nun, wir werden ein beheiztes, schön eingerichtetes Haus in einer respektablen Gegend bewohnen, saubere Kleider tragen und jeden Tag drei Mahlzeiten bekommen. Nie mehr muss Archie hungrig einschlafen. Ich werde genug Geld für deine Medizin haben und …“ Arabella unterbrach sich und lauschte auf Schritte im Treppenhaus. „Wir müssen uns nie mehr vor Einbrechern fürchten.“

Langsam stellte Mrs. Tatton den Nachttopf auf den Boden. „Was für ein Arrangement ist das denn?“

Brennend stieg das Blut in Arabellas Wangen, und sie musste sich zwingen, den Blick ihrer Mutter zu erwidern. Sie wollte das heikle Gespräch hinter sich bringen, bevor Archie womöglich erwachen und zuhören würde. Ihrer Mama musste sie die Wahrheit gestehen, wenn auch nicht die ganze. „Ein Arrangement – mit einem Gentleman.“

„Um Himmels willen!“ Erschrocken griff Mrs. Tatton an ihre Kehle. „So etwas kannst du nicht tun …“

„Dass du schockiert bist, verstehe ich.“ In ruhigem Ton, der den Aufruhr ihrer Gefühle überspielte, sprach Arabella weiter. „Und ich bin wirklich nicht stolz darauf …“ In Grund und Boden schämte sie sich. Aber das ließ sie sich nicht anmerken, sie musste stark sein. „Bitte, glaub mir, es ist die beste Lösung unserer Probleme. Versuch nicht, mich davon abzubringen, Mama, mein Entschluss steht fest.“

„Also hast du gar nicht in einer Schneiderwerkstatt gearbeitet?“, fragte Mrs. Tatton tonlos.

„Nein.“

„Und der Gentleman?“

Arabella senkte den Kopf. „Vorerst muss du seinen Namen nicht kennen.“ Keinesfalls durfte Mama erfahren, dass ihre Tochter sich an Dominic Furneaux verkaufte. Sonst würde sie es zu verhindern suchen.

„Wirklich nicht?“ Mrs. Tattons harte Stimme bekundete ihre Entrüstung deutlich genug. „Hast du ihm von Archie und mir erzählt?“

„Nein.“ Nur mühsam verhehlte Arabella ihre kalte Angst. „Von euch beiden braucht er nichts zu wissen.“

„Aber es ist sein Haus. Glaubst du, er wird es nicht merken, wenn ihm eine ältere Frau und ein Kind den Weg zu seiner Geliebten versperren?“, fragte ihre Mutter verächtlich.

Oh ja, Archie würde ihm sofort auffallen, überlegte Arabella beklommen. „Das Haus ist sehr groß. Und er wird mich nicht allzu oft besuchen.“ Bei ihren Verhandlungen mit Dominic hatte sie vor allem an die Sicherheit ihres Sohnes gedacht und wie eine eiskalte, geschäftstüchtige Kurtisane ihre Bedingungen gestellt. „Wenn er zu mir kommt, müsst ihr euch einfach nur verstecken.“ Leichter gesagt als getan … wie schwierig es sein würde, die Wahrheit zu verbergen, wusste sie. Aber sie wollte ihre Mutter beruhigen, was ihr jedoch misslang.

„Offenbar hältst du dich für sehr schlau und bildest dir ein, du hättest alles unter Kontrolle. Wenn du dich da bloß nicht täuschst, Arabella! Hast du an die Dienstboten gedacht? Der Gentleman bezahlt ihre Gehälter. Deshalb sind sie ihm gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Schon bei der ersten Gelegenheit werden sie hinter deinem Rücken dein Geheimnis ausplaudern. Dann wird er Archie und mich wegschicken.“

„Glaubst du, ich würde ohne euch in seinem Haus bleiben? Gewiss, er bezahlt die Dienstboten. Aber wenn ich meine Vereinbarung mit dem Gentleman für ungültig erkläre – und das muss ich tun, wenn sie ihm von Archie und dir erzählen – sind sie genauso arbeitslos wie ich. Also werde ich ihnen klarmachen, es sei auch in ihrem Interesse, das Geheimnis zu hüten.“

„Für solche Männer gibt es genug willige Frauen, und du solltest dich nicht in Illusionen wiegen“, mahnte Mrs. Tatton. „Vielleicht bist du ihm nicht so wichtig, wie du es vermutest.“

Arabella lächelte bitter. „Ach Mama, ich bin ihm gar nicht wichtig. Aber er bezahlt das Haus und die Dienstboten für mich. Wenn ich ihn verlasse, wirft er sie hinaus. Und das wollen sie sicher vermeiden.“

„Hoffentlich hast du recht“, seufzte ihre Mutter. Bevor sie sich abwandte, sah Arabella Tränen auf ihren von Sorgen zerfurchten Wangen schimmern.

Mrs. Tatton legte sich nicht mehr zu Archie auf die Matratze. Stattdessen trat sie vor den kalten, leeren Kamin. Tröstend legte Arabella ihr einen Arm um die Schultern. Aber ihre Mama riss sich los, als könnte sie die Berührung einer gefallenen Frau nicht ertragen.

Unglücklich ließ Arabella ihre Hand sinken, und die qualvolle Scham kostete sie einen weiteren Teil ihrer Seele. Was würde meine Mutter denken, wenn sie wüsste, dass ich in ein Bordell zurückkehren müsste, wenn ich das Arrangement abgelehnt hätte?

Und dass der Gentleman Dominic Furneaux heißt?

4. KAPITEL

Etwas mühsam zwang Dominic sich zur Aufmerksamkeit, während sein Sekretär die Korrespondenz durchsah, die sich zwischen ihnen auf dem Schreibtisch häufte.

„Die ‚Philanthropic Society‘ hat Sie zu einem Dinner im Juni eingeladen, Euer Gnaden“, erklärte Barclay und blickte vom Terminkalender des Dukes auf. „An diesem Abend hätten Sie Zeit.“

„Dann gehe ich hin.“ Dominic hörte die Feder des Sekretärs über Papier kratzen und sah, wie er den nächsten Brief ergriff. Aber er dachte nur an Arabella und die innere Unrast, die er seit ihrer letzten Begegnung verspürte.

„Hier teilt uns die ‚Royal Humane Society‘ mit, dass sie mehr Boote brauchen. Als einer der Schirmherren dieses Wohlfahrtsverbandes erhalten Sie einen umfassenden Bericht über …“

Barclays Erläuterungen verhallten. Zunächst hatte Dominic geglaubt, es wäre eine perfekte Lösung des Problems, Arabella zu seiner Geliebten zu machen. Aber im kalten Tageslicht, nach einer fast schlaflosen Nacht, zweifelte er daran. In langen finsteren Stunden hatte er sich immer wieder an die letzten Gespräche erinnert, Wort für Wort. Und nun konnte er ein wachsendes Unbehagen nicht verdrängen.

Sie hatte von „Überleben“ gesprochen – dieses Wort passte nicht zu ihrer Behauptung, die Arbeit in Mrs. Silvers Haus habe ihr „gefallen“.

Barclay räusperte sich.

„Interessant“, bemerkte Dominic, obwohl er nicht zugehört hatte, was der Bericht enthielt. „Schicken Sie der Society hundert Pfund.“

„Sehr wohl, Euer Gnaden.“

„Ist das alles für heute?“ Dominic konnte seine Ungeduld kaum verhehlen. Jetzt wolle er endlich allein sein und nachdenken.

„In der Tat, Sir.“ Barclay blickte in den Terminkalender. „Abgesehen von zwei Verpflichtungen, an die ich Sie erinnern muss … Heute Nachmittag um zwei Uhr werden Sie im Somerset House erwartet. Dort findet ein Vortrag der Royal Society statt. Und morgen wird im Oberhaus über die Übernahme von Sir John Craddocks Kommando in Portugal durch Sir Arthur Wellesley debattiert.“

„Danke, Barclay.“

Nachdem der Sekretär die Bibliothek mit einem Stapel Papiere unter dem Arm verlassen hatte, lehnte Dominic sich in seinem Sessel zurück und konzentrierte seine Gedanken ungestört auf Arabella.

Zwei Tage lang flehte Mrs. Tatton ihre Tochter an, sich nicht so schmachvoll zu entwürdigen, und betonte warnend, sobald es geschehen sei, würde es kein Zurück mehr geben. Sie weinte und klagte, brachte alle nur erdenklichen Gegenargumente vor. Aber nachdem das Entsetzen ein wenig verebbt und Arabella nicht von ihrem Entschluss abzubringen war, verstummte ihre Mutter. Anscheinend fügte sie sich in ein unvermeidliches Schicksal.

Erleichtert atmete Arabella auf und beobachtete, wie ihre Mama sich für die schwierige Zukunft wappnete.

Am Freitagmorgen hielt eine stattliche Kutsche vor der Pension in der Flower and Dean Street. Alle Fußgänger auf der Straße gafften sie an. Etwas so Prächtiges hatten sie hier nie zuvor gesehen. Aufgeregt starrte Archie durch das Fenster des Zimmers auf das Gespann hinab und fragte, ob er hinunterlaufen und sich die Pferde genauer anschauen dürfe.

Das versagte Arabella ihm schweren Herzens und zog ihn vom Fenster weg, weil sie fürchtete, Dominic könnte in der Kutsche sitzen.

„Bald, mein Liebling“, wisperte sie, „nicht heute.“

„Oh Mama!“, stöhnte der kleine Junge enttäuscht.

„Er muss wirklich steinreich sein“, meinte Mrs. Tatton trocken und warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu.

Beschämt zuckte Arabella zusammen. Aber sie war froh, weil an dem schwarz lackierten Wagen wenigstens kein verräterisches Arlesford-Wappen prangte. Nun musste sie nur noch befürchten, ihre Mutter würde die eleganten grünen Livreen des Lakaien, des Reitknechts und des Kutschers wiedererkennen. Glücklicherweise ließ Mrs. Tatton sich nichts dergleichen anmerken.

„Ich glaube, er erwartet mich im Haus“, erklärte Arabella, „und ich brauche etwas Zeit, um mit den Dienstboten zu reden. Entweder wird die Kutsche euch abholen, oder ich komme allein zurück.“

Schweigend nickte ihre Mutter, und Arabella unterdrückte ihre Angst.

„So oder so, allzu lange werden wir nicht getrennt sein.“ Liebevoll umarmte sie ihren Sohn. „Nun muss ich für eine Weile wegfahren.“

„In der großen schwarzen Kutsche?“

„Ja.“

„Darf ich mitkommen?“

Energisch ignorierte sie ihre Gewissensbisse und rang sich ein Lächeln ab. „Jetzt nicht … Sei brav und bleib bei deiner Grandma. Bald sehen wir uns wieder.“

Sie küsste den Scheitel des kleinen Jungen, dann unterdrückte sie ein Schluchzen, bevor sie ihre Mutter umarmte. „Pass gut auf ihn auf, Mama.“

Auch Mrs. Tatton kämpfte mit den Tränen. „Natürlich. Sei bitte vorsichtig, Arabella. Und …“ Sie nahm das Gesicht ihrer Tochter in beide Hände und schaute ihr eindringlich in die Augen. „Wenn ich deine Entscheidung auch missbillige – ich weiß, warum du das tust. Dafür danke ich dir. Hoffentlich gelingt dein Plan, und die Kutsche kehrt zurück, um Archie und mich zu holen.“

Diese versöhnlichen Worte bedeuteten Arabella sehr viel und bestärkten sie in ihrem Entschluss, den das bevorstehende Wiedersehen mit Dominic ins Wanken gebracht hatte.

„Danke, Mama.“ Sie küsste die Wange ihrer Mutter. Bevor die Tränen zu fließen drohten, zog sie die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf, eilte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Zum Glück war die Kutsche leer, Dominic würde ihre Mutter und Archie nicht entdecken, die am Rand des schmutzigen Fensters standen und herabspähten. Und er wird mich nicht weinen sehen.

Auch in dem Stadthaus, das er für sie gemietet hatte, wartete er nicht.

In der Eingangshalle des schönen Gebäudes an der achtbaren Curzon Street standen die Dienstboten in einer geordneten Reihe, als würden sie die Gattin des Dukes erwarten statt seiner Geliebten. Einerseits erleichterte ihr das höfliche Verhalten des Personals die Ankunft, andererseits erinnerte sie sich voller Wehmut an die Hoffnungen der naiven jungen Arabella, die so dumm gewesen war, einen künftigen Duke zu lieben.

Ehrerbietig verneigte sich der Butler, ein würdevoller älterer Mann. „Mein Name lautet Gemmell. Willkommen in der Curzon Street, Miss Tatton. Wir freuen uns sehr, Sie bei uns zu begrüßen.“

Mit diesem Namen war sie schon lange nicht mehr angesprochen worden. Jetzt hieß sie Arabella Marlbrook. Es ärgerte sie, dass Dominic ihren verstorbenen Ehemann ignorierte, der sie damals gerettet hatte. Sollte sie den Butler auf ihren richtigen Namen hinweisen? Nein, das wäre albern. Sie würde in Dominics Haus wohnen, von Dienstboten betreut, die er bezahlte. Außerdem wollte sie die Leute nicht verwirren, die sie bitten wollte, das Geheimnis um ihre Verwandten zu hüten.

Und so ging sie lächelnd an ihnen vorbei, prägte sich die Namen ein, die sie angaben, und versicherte ihnen, sie würden bestimmt gut miteinander auskommen.

Gemmell führte sie durch das Haus, und sie bemühte sich, die Barriere seiner Förmlichkeit zu durchbrechen, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Während er ihr im Salon Tee servierte, entlockte sie ihm endlich ein paar Geschichten über seine drei kleinen Enkelinnen und zehn Enkel. Vor drei Jahren war seine Frau Mary gestorben, die „beste Haushälterin von ganz England“. Zusammen mit ihr hatte er zwanzig Jahre lang für den Duke of Hamilton in dessen Jagdschloss in Schottland gearbeitet, bevor sie wegen der Kinder und Enkel nach Süden gezogen waren. Denn die Familie sei sehr wichtig, betonte er.

Dies hielt Arabella für den geeigneten Zeitpunkt, um ihre eigene Familie zu erwähnen. Und so erzählte sie von ihrem Sohn und ihrer Mutter. Nachdem sie die nötigsten Details verraten hatte, war Mr. Gemmell wie erhofft sehr verständnisvoll gewesen. Sie wusste genauso wie er, wie riskant es war, das Personal zum Stillschweigen zu verpflichten. Doch sie benötigte seine Hilfe, weil sie keine andere Wahl hatte, und er versprach, den Leuten die nötigen Anweisungen zu geben. Dann brachte er ihr eine Nachricht, die Dominic für sie hinterlegt hatte, und zog sich zurück.

Die ausdrucksvolle Handschrift der Adresse auf dem Brief war ihr vertraut. Als sie das Siegel brach, pochte ihr Herz schneller.

In knappen Worten teilte er ihr mit, er hoffe, dass das Haus und die Einrichtung ihr zusagten. An diesem Abend würde er sie besuchen.

Natürlich, am Abend, dachte Arabella. Tagsüber tauchten Gentlemen nicht bei ihren Mätressen auf, da der Zweck solcher Besuche allgemein bekannt war. Aber vorerst wollte sie nicht an dieses Wiedersehen denken, sondern an erfreulichere Dinge. Sie läutete nach Gemmell und ließ die Kutsche in die Flower and Dean Street zurückschicken, um ihre Familie zu holen.

Am Nachmittag kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Ein gutes Omen für die Zukunft, versicherte Arabella ihrer Mutter, während sie durch die Räume des Hauses in der Curzon Street wanderten. Immer wieder blieb Mrs. Tatton stehen, um die schönen Möbel, die kostbaren Vorhänge und die funkelnden Kristalllüster zu bewundern.

„Diese Stühle stammen von Mr. Chippendale, Arabella. Und dieser Damast kostet fast dreißig Shilling pro Yard. Ich habe gehört, der Prince of Wales hätte eine ähnliche Tapete im Carlton House.“

Nachdem Archie so lange im winzigen Zimmer in der Pension an der Flower and Dean Street eingeschlossen gewesen war, rannte er jubelnd durch die großen Räume. In vollen Zügen genoss er die ungewohnte Freiheit.

„Wie großartig das alles ist … Dieser Gentleman muss wirklich sehr reich sein.“ Die Stirn gerunzelt, hielt Mrs. Tatton erneut inne. „Ich mache mir Vorwürfe, weil es dazu kommen musste“, fügte sie leise hinzu, damit ihr Enkel die Worte nicht hörte, und betupfte ihre Lider mit einem kleinen weißen Taschentuch.

„Beruhige dich, Mama, sonst regst du Archie auf“, flüsterte Arabella und schaute zu ihrem Sohn hinüber, der jedoch beschäftigt war und auf einem imaginären Pferd ritt.

„Tut mir so leid, dass du die Geliebte eines reichen Mannes wurdest, Arabella.“

„So schlimm ist es nicht, Mama. Davon profitieren wir alle.“

„Hast du mit den Dienstboten gesprochen?“

„Mit dem Butler.“

„Werden die Bediensteten Archies und meine Anwesenheit geheim halten?“

„Ja, ganz sicher.“

„Gott sei Dank …“, seufzte Mrs. Tatton. „Was für ein Mann ist dein Beschützer? Alt und gebieterisch? Verheiratet? Ich sorge mich um dich, denn manche Männer sind …“ Verlegen unterbrach sie sich.

„Keine Bange.“ Besänftigend streichelte Arabella den Arm der alten Frau. „Er ist …“ Was sollte sie über Dominic erzählen? So viele Wörter kamen ihr in den Sinn, und kein einziges würde ihrer Mutter die Angst nehmen. „Großzügig. Nicht unfreundlich.“ Aber wie er sich vor fast sechs Jahren benommen hatte – das war sehr unfreundlich gewesen. „So etwas ist bei einem finanziellen Arrangement wichtig.“

Unbehaglich senkte Mrs. Tatton den Kopf.

„Mit dem Geld, das er mir gibt, werden wir sparsam haushalten“, entschied Arabella. „Jeden Penny drehen wir um. Dann können wir schon bald mit Archie fortgehen. Am besten ziehen wir aufs Land zurück, mieten ein kleines Cottage mit einem Garten und führen ein respektables Leben.“ Als dürfte sie sich jemals wieder respektabel nennen … Nichts würde sie von der Schande befreien. Aber sie hängte sich lächelnd bei ihrer Mutter ein. „Alles wird gut, du wirst es schon sehen.“

„Ein Cottage auf dem Land – das würde mir gefallen.“ Mrs. Tattons Miene erhellte sich ein wenig. „Dein Papa, du und ich waren sehr glücklich in Amersham.“

Lächelnd schlenderten sie weiter und gaukelten einander vor, die Situation wäre gar nicht so schlimm, wie sie aussah. Doch daran glaubten sie beide nicht. Ohne die Spannung zu spüren, die in der Luft lag, rannte Archie fröhlich um die beiden Frauen herum.

Dominic redete sich ein, es sei ein Tag wie jeder andere. Aber das stimmte nicht, denn an diesem Freitagabend würde Arabella ihn in der Curzon Street erwarten.

Einen Großteil des Tages verbrachte er mit seinem Gutsverwalter, der aus Amersham nach London gekommen war, in der Bibliothek. Dort diskutierten sie über landwirtschaftliche Angelegenheiten, insbesondere über technische Neuerungen wie die von Andrew Meikle erfundene Dreschmaschine.

Danach ging Dominic mit Hunter, Northcote und Bullford auf einen Drink in den White’s Club. Aber er war zerstreut und nicht allzu gut gelaunt – so wie immer seit der Begegnung mit Arabella nach so vielen Jahren. Mit jedem Tag wuchs sein Unbehagen – statt eines heißen Verlangens nach ihrem schönen, warmen nackten Körper, das er empfinden müsste.

Überleben. Dieses Wort ging ihm nicht aus dem Sinn. Er stellte sein Weinglas so heftig auf dem Tisch ab, dass es einen Knall gab.

„He, Arlesford, was ist los?“, fragte Bullford.

Dominic wandte sich zu seinen Freunden, die ihn erwartungsvoll anstarrten. „Tut mir leid, ich habe nicht gehört, was du gesagt hast.“ Betont lässig spielte er mit dem Stiel seines Glases und versuchte eine Gelöstheit vorzutäuschen, die er beileibe nicht empfand.

„Soeben habe ich erwähnt, der junge Northcote würde gern eine neue Spielhölle im East End ausprobieren“, erklärte Bullford. „Offenbar geht’s da abenteuerlich zu, nichts für schwache Nerven. Wenn dort jemand die Kartentische abräumen kann, dann nur du mit Hunters Hilfe. Der ist dazu bereit. Kommst du mit?“

„Heute Abend nicht“, erwiderte Dominic nach kurzem Zögern. „Ich habe andere Pläne.“ In seiner Fantasie hörte er eine leise Stimme. Das ist mein erster Abend in diesem Haus. Verzeihen Sie, wenn ich mit der üblichen Etikette noch nicht vertraut bin. Hastig verdrängte er die Erinnerung.

Bullford grinste anzüglich. „Ah, die schöne Miss Noir! Wie ich höre, hast du sie Mrs. Silver abgekauft. Versteckst du ihre erotischen Reize an einem sicheren Ort, damit sie keine anderen lüsternen Gentlemen verlockt?“

Erbost über diese geringschätzigen Äußerungen über Arabella, biss Dominic die Zähne zusammen. Aber er beherrschte sich, denn Bullford wusste natürlich nicht, wer Miss Noir war. Außerdem ist sie tatsächlich eine Hure … Trotzdem musste er sich zwingen, seine Atemzüge zu verlangsamen und die geballten Hände zu öffnen.

Aber sein Freund schien nicht zu merken, auf welch schmalem Grat er sich bewegte. „An jenem Abend in Mrs. Silvers Etablissement hat sie auch meine Sinne erregt. Unglücklicherweise hast du dich zu schnell an sie rangemacht. Sonst würde sie heute Nacht mein Bett wärmen.“

„Sei versichert – für dich haben sich die Ereignisse sehr glücklich entwickelt“, entgegnete Dominic frostig. Warum er so wütend war, verstand er nicht. Nur eins wusste er – wäre Bullford mit Arabella die Treppe des Freudenhauses hinaufgestiegen, hätte er ihn … Mühsam schluckte er und fühlte, dass seine Selbstkontrolle nur mehr an einem seidenen Faden hing.

„Bullford …“ Hunter lenkte die Aufmerksamkeit des Viscounts auf sich und schüttelte warnend den Kopf.

„Ah, ich verstehe.“ Bullford zwinkerte Dominic zu. „Sag nichts mehr, alter Junge. Gewisse Affären müssen streng geheim bleiben. Begleite uns eben ein anderes Mal in die Spielhölle und amüsier dich heute Nacht mit Miss Noir.“

Am liebsten hätte Dominic ihn am Kragen gepackt und seine Fäuste sprechen lassen. Obwohl Bullford nur ausgesprochen hatte, was geplant war … Bin ich verrückt geworden?

Geschickt wechselte Hunter das Thema.

Aber Dominic war bereits wortlos aufgestanden. Die drei Männer starrten ihm nach, als er schnell davonschritt.

Archie schlief tief und fest in einem gemütlichen Zimmer im obersten Stockwerk des Hauses an der Curzon Street, liebevoll von seiner Großmutter betreut. Als Arabella eine Kutsche vorfahren hörte, hob sie beklommen den Kopf.

Rastlos war sie im Salon umhergewandert, voller Angst vor Dominics Ankunft. Hufschläge und Räderrollen kündigten ihn an, in der Halle erklangen Schritte und leise Stimmen. Zitternd schlang sie die Finger ineinander und hoffte inbrünstig, sie könnte sich auf die Diskretion der Dienstboten verlassen, die Gemmell ihr versprochen hatte.

Sie ergriff eine Handarbeit und sank in einen Sessel vor dem Kamin, um den Eindruck zu erwecken, der Besuch würde sie nicht im Mindesten verwirren. Wenig später wurde die Tür des Salons geöffnet und geschlossen. Obwohl sie wusste, dass Dominic eingetreten war, richtete sie ihren Blick noch eine Weile auf die Stickerei und sprach sich Mut zu.

Wenn er die Nacht in ihrem Bett verbrachte, bedeutete es nichts. Sie würde ihm ihren Körper schenken und sich wappnen, damit er nicht in ihr Herz schaute, ihre Gefühle nicht erneut verletzte.

Am besten würde sie sich einreden, er sei gar nicht Dominic, sondern einfach nur irgendein Mann. Sie war nicht so naiv, um zu glauben, eine Frau könne sich einem Mann nur hingeben, den sie liebte. Immerhin hatte sie auch mit Henry geschlafen, obwohl sie ihm in nichts als Dankbarkeit und Zuneigung verbunden gewesen war, nicht in Liebe.

Noch länger durfte sie ihren Gönner nicht ignorieren. Sie legte ihre Handarbeit auf das Nähtischchen an ihrer Seite, stand auf und glättete ihren Rock. Erst danach schaute sie Dominic an.

Wie üblich trug er überaus elegante Kleidung. Der mitternachtsblaue Frack saß wie angegossen und betonte die breiten Schultern. In den engen dunklen Pantalons zeichneten sich seine muskulösen Schenkel ab. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos, noch blasser als bei ihrer letzten Begegnung, aber atemberaubend wie eh und je – wie die Züge des Mannes in ihren Albträumen.

So liebevoll hatte der Mann mit diesem Gesicht sie damals geküsst. Und sobald er jetzt ihren Blick erwiderte, wusste sie es: Sie konnte ihn unmöglich betrachten und ungerührt bleiben. Erst blieb ihr Herz beinahe stehen, dann begann es zu rasen.

„Dominic“, hörte sie sich flüstern, und all die alten Gefühle kehrten zurück – die Liebe, die Enttäuschung und der Hass. In ihren Augen brannten Tränen. Wütend über ihre Schwäche senkte sie rasch die Lider.

Und dann gab ihr der Gedanke an Archie die Kraft, die sie brauchte. Ohne diese Verantwortung könnte sie die Bedingungen des Arrangements nicht erfüllen. Für ihren Sohn würde sie es schaffen.

„Arlesford“, verbesserte sie sich, musterte den Besucher wieder und war stolz, weil ihre Stimme kühl klang, sogar etwas verächtlich.

„Arabella.“ Er verneigte sich. Danach stand er reglos da, und sie spürte seine innere Anspannung. Die zeigte sich in seinen verkniffenen Lippen, in seinem eindringlichen Blick, der ihre Gefühle zu ergründen schien.

In wachsender Sorge überlegte sie, ob er ihr anmerken würde, dass sie etwas zu verbergen hatte.

„Gefällt dir das Haus?“, fragte er.

„Ja, es ist sehr schön und geschmackvoll eingerichtet, Euer Gnaden.“

Drückendes Schweigen zog sich in die Länge. Verwirrt wartete sie und nahm an, nun würde er ihr vorschlagen, ihm nach oben in ihr Schlafgemach zu folgen.

Stattdessen sagte er: „Ich möchte mit dir reden, Arabella.“

„Reden?“ Ihr stockte der Atem, über ihren Rücken rann ein kalter Schauer. Sie wollte nicht reden. Unwillkürlich schaute sie nach oben, als könnte sie durch die Stockwerke das Schlafzimmer ihres Sohnes im Dachgeschoss des Hauses sehen.

Wenn sie nun mit Dominic sprach – welche Geständnisse mochte er ihr entlocken?

5. KAPITEL

Wenn Dominic die Wahrheit herausfand, was würde mit Archie geschehen? Wäre ihr Sohn als Bastard gebrandmarkt, sein Leben, das noch kaum begonnen hatte, ruiniert? Ganz egal, ob der leibliche Vater ihn anerkennen wollte oder nicht …

Falls der Duke erfuhr, was für einen wundervollen Sohn er hatte – vielleicht würde er ihn selbst großziehen wollen oder in die Obhut vertrauenswürdiger Menschen geben. Einer Frau, die er in einem Bordell aufgespürt hatte, würde er ihn sicher nicht überlassen und ihre Erklärungen wohl kaum berücksichtigen. Zweifellos würde er ihr das Kind wegnehmen. Und Archie müsste bei Fremden aufwachsen, die ihn nicht liebten und die Bedürfnisse eines kleinen Jungen nicht verstanden.

Um ihre Angst zu verbergen, zwang sie sich zu einem leisen Lachen, das falsch und hohl klang. „Was gibt es denn zu besprechen, Euer Gnaden? Die wesentlichen Einzelheiten haben wir doch bereits geregelt.“

In seinen dunklen Augen blitzte heller Zorn auf. „Es wäre mir angenehmer, du würdest mich mit meinem Vornamen anreden, Arabella. Und was es zu erörtern gibt … Was ist in den letzten Jahren passiert?“

„Was sich in dieser Zeit ereignet hat, weißt du bereits.“ Angriff ist die beste Verteidigung, dachte sie. „Ich habe Henry Marlbrook geheiratet. Nach seinem Tod zog ich nach London, und Mrs. Silver stellte mich ein. Das ist alles, was du wissen musst, Dominic.“

„Ganz im Gegenteil, Arabella, ich muss viel mehr wissen.“

„Was soll ich dir erzählen?“, fragte sie bitter. „Was für ein guter, ehrenwerter Mann Henry war?“

„Besser als ich!“, stieß Dominic hervor. „Das gabst du mir deutlich genug zu verstehen.“

„Tausendmal besser.“

„Du vergisst die Position, in der du dich befindest.“

„Keineswegs, die kenne ich ganz genau.“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Willst du mich direkt in diesem Zimmer nehmen? Vielleicht auf dem Sofa? Oder auf dem Teppich vor dem Kamin? Soll ich mich ausziehen?“

„Arabella!“, herrschte er sie wütend an.

Doch sie las einen Schmerz in seinen Augen, der ihre Seelenqualen widerspiegelte. Offenbar verhielt sie sich völlig falsch und riskierte zu viel.

Sie schloss kurz die Augen und sammelte sich. „Verzeih mir“, bat sie dann leise. Als sie die Lider hob, schaute sie ihn nicht an.

„Arabella“, sagte er noch einmal, in sanftem Ton.

Aber sie fand seine Freundlichkeit noch schlimmer als seine Verachtung, denn jetzt erinnerte er sie an den Mann, den sie geliebt hatte. Und genau das wollte sie vergessen …

„Was hast du in diesen letzten Jahren erlebt?“, fragte er erneut.

„Das habe ich dir bereits mitgeteilt.“

„Nicht alles. Und ich wünschte, du würdest mich lückenlos aufklären.“

Ihr Herz hämmerte so heftig gegen die Rippen, dass sie fürchtete, er würde es hören. Achselzuckend schüttelte sie den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. Damit hoffte sie ihm zu bedeuten, die Ereignisse jener Jahre wären unwichtig.

Aber er ließ nicht locker. „Als maskierte Miss Noir hast du erwähnt, du würdest deinen ersten Abend in Mrs. Silvers Haus verbringen.“

„Ach, die Lüge einer Hure … Wollen die Männer so etwas nicht hören?“ Sie wandte sich ab, presste einen Finger auf ihre Lippen, hasste die Worte, die sie sagen musste … und trotzdem aussprechen würde. Weil sie Dominics Mitleid nicht ertragen könnte und seinen Fragen ausweichen musste …

Er stand einfach nur da.

„Gehen wir nach oben?“, schlug sie vor. Sie wusste, welche Rolle sie zu spielen hatte, warum er sie besuchte. Wenn er bekam, was er wollte, würde er gehen, und die Tortur wäre überstanden – wenigstens vorerst.

Immer noch schweigend, begleitete er Arabella die Treppe nach oben in das große, cremefarben ausgestattete Schlafzimmer.

Hier war sittsame Scheu ebenso überflüssig wie die letzten Reste ihres Stolzes. Was der Duke bezahlte, würde sie ihm bieten. Sie schlüpfte aus allen Kleidern, setzte sich nackt an den Toilettentisch und zog die Nadeln aus der Frisur. Während die Locken auf ihre Schultern fielen, beobachtete sie Dominic im Spiegel. Er legte seinen Gehrock und hängte ihn über einen Stuhl, dann zog er seine Weste aus.

Reglos saß sie da und nahm ihren ganzen Mut zusammen, um das Unvermeidliche zu erdulden. Aber Dominic rührte sich nicht.

Krampfhaft schluckte sie. Pflegte eine Mätresse zu warten, bis sich ihr Beschützer näherte? Oder fand er, sie sollte zu ihm kommen? Nun, je eher es vorbei war, desto besser …

Also stand sie auf und ging zu Dominic, musste ihre ganze innere Kraft aufbieten, um ihre Nacktheit nicht mit beiden Armen zu bedecken, um vor ihm stehen zu bleiben und sich betrachten zu lassen.

Seine Berührung war sanft, fast ehrfürchtig, und Arabella erschauerte, plötzlich von unerwünschten Erinnerungen an frühere Zeiten gepeinigt – Erinnerungen an Leidenschaft und Liebe.

Behutsam strich er über ihr Haar und ihren Nacken. Seine Berührungen wirkten so leicht wie die von Schmetterlingsflügeln und erzeugten ein Ziehen in ihrem ganzen Körper. Jetzt glitt seine Hand um ihren Hals herum. Sie bemühte sich, keine Miene zu verziehen, ließ sich einfach nur betasten und neigte den Kopf zur Seite, um Dominic entgegenzukommen. Denn er war ihr Beschützer, er bezahlte sie. Sonst hatte es nichts zu bedeuten … Doch sie fühlte bereits, wie ihr Herz schneller schlug, wie ihre Haut prickelte, wo sie seine Liebkosungen spürte. Beinahe musste sie mit den Tränen kämpfen.

Seine Hand wanderte ein wenig hinab, dann zurück nach oben, und Arabella versuchte ihre unregelmäßigen Atemzüge zu kontrollieren, konnte ein Schluchzen kaum unterdrücken.

Noch immer sagte er kein Wort, schaute ihr nicht die Augen, richtete seinen Blick nur auf die Magie, die seine Zärtlichkeiten bewirkten.

Dann hielt er inne, und sie rang nach Luft.

Langsam – ganz langsam – zog er mit den Fingern eine warme Spur nach unten, in die Vertiefung zwischen ihren Brüsten, und hielt inne.

Wollte er sie martern? Oder sich selbst? Wenn er diese süßen Qualen noch lange fortsetzte, würde sie es wohl kaum ertragen. Jetzt legte er seine Handfläche auf ihre linke Brust. Darunter begann ihr Herz zu rasen.

Nein – sie durfte keine Reaktion zeigen. Er liebte sie nicht … Entschlossen erinnerte sie sich an seine Grausamkeit – an alles, was er ihr vor beinahe sechs Jahren angetan hatte. Aber als er seine Handfläche von ihrer Brust entfernte und die Knospe mit seinen Fingern reizte, konnte Arabella ein Anschwellen der empfindsamen Spitze nicht verhindern und erschrak über ihre Wollust.

Sie kniff die Lider zusammen, um ihre Tränen zurückzuhalten. Was jetzt geschehen würde, wusste sie.

Aber nun spürte sie keine Berührung mehr. Verwirrt öffnete sie die Augen und sah Dominics Hand hinabsinken.

Sein sichtlich angespannter Körper und die deutlich erkennbare Wölbung in seinen engen Pantalons verrieten ihr, dass er ebenso erregt war wie sie selbst. Zögernd erwiderte er ihren Blick, und was sie in seinem Gesicht las, überraschte sie. Nicht die Begierde, die sie erwartet hatte. Kein Triumph, keine Arroganz. Vielleicht eine Erkenntnis. Und etwas anderes, das sie sich nicht zu erklären vermochte – etwas, das fast einer tiefen Verzweiflung glich.

„Dominic?“, wisperte sie.

Doch er schien es nicht zu hören. Wie gelähmt stand er da und starrte sie an, als würde er alle Geheimnisse ihrer Seele enthüllen.

Und dann wich er zurück. Mit bebenden Fingern fuhr er sich durchs Haar, sein Gesicht war aschfahl. „Ich kann nicht …“, flüsterte er. Abrupt kehrte er ihr den Rücken zu, ergriff Frackrock und Weste und ging zur Tür.

„Dominic!“, rief Arabella.

Eine Hand auf der Klinke, blieb er stehen. Aber er drehte sich nicht um. Nur wenige Sekunden verstrichen, bevor er das Zimmer verließ und lautlos die Tür hinter sich schloss.

Seine Schritte auf der Treppe, Stimmengemurmel in der Halle, kurz danach die Geräusche der Kutsche, der Pferde … Arabella schlang einen Schal um ihre nackten Schultern, eilte ans Fenster und sah den Wagen in der Nacht verschwinden.

Fröstelnd zog sie die Stola enger um ihren Körper. Was soeben geschehen war, verstand sie nicht.

In dieser Nacht fand Dominic keinen Schlaf. Er stand am Fenster seiner Bibliothek, betrachtete die stille Stadt und beobachtete, wie die Dämmerung den Himmel erhellte.

Welch ein Narr war er gewesen, als er sich eingebildet hatte, er könnte Arabella zu seiner Geliebten machen und wie eine Hure benutzen, obwohl sie genau das geworden war … Zu machtvoll stand die Vergangenheit zwischen ihnen. Mochte sie das Band, welches sie damals vereint hatte, auch mit Füßen getreten haben – es würde niemals vollends zerreißen. Sie war seine erste und einzige Liebe. Das konnte er nicht vergessen, ganz egal, was sie getan oder wie sehr sie sich erniedrigt hatte. Wann immer er sie jetzt anschaute, sah er in seiner Fantasie, was früher gewesen war. Jedes Mal, wenn er sie berührte, spürte er die alte Verbundenheit in seinem Herzen.

Er hatte sich eingebildet, es würde ihm gelingen, sie genauso zu behandeln wie all die anderen Frauen in seinem Leben … die er nach jener bitteren Enttäuschung, die sie verschuldete, emotional auf Abstand gehalten hatte. Welch ein Irrtum … Arabella war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, ein Teil seines Körpers, seiner Seele.

Nur von ihr hatte er all die Jahre geträumt, nur an sie gedacht und sich nur nach ihr gesehnt, sogar in den Armen anderer Frauen. Er schmeckte sie auf seiner Zunge, roch ihren Duft, süß und frisch wie Rosen und Sommerregen. Noch immer glaubte er ihre glatte, weiche, helle Haut zu spüren, die wohlgerundeten nackten Brüste. Ihren ganzen Körper wollte er mit seinem Mund besitzen, sich ganz in ihrer seidigen Wärme versenken und sie auf jede erdenkliche Weise lieben, bis die Tortur ein Ende finden würde.

Doch er konnte es nicht.

Hier in seinem Haus hatte sie ein graues Kleid getragen. Alt und schäbig, aber respektabel. Ihr eigenes Kleid, ein krasser Kontrast zu Miss Noirs dünner schwarzer Seide, vermutlich einer Leihgabe von Mrs. Silver. Und als Arabella sich ausgezogen und nackt vor ihm gestanden hatte, war er fest entschlossen gewesen, in vollen Zügen zu genießen, was ihm zustand – was er bezahlte. Er berührte sie, versuchte sich in Stimmung zu bringen, und sein Körper brannte vor Verlangen. Aber unter seiner Hand hatte er das angstvolle Flattern ihres Herzens gespürt und erkannt, dass er außerstande gewesen war, mit ihr zu schlafen.

In seinen Ohren gellten Arabellas Worte. Henry sei tausendmal besser als er gewesen, hatte sie behauptet. Und dann … Die Lüge einer Hure … Wollen die Männer so etwas nicht hören?

Plötzlich wurde ihm bewusst, was er erhofft hatte – dass sie ihn willkommen heißen und erklären würde, die Trennung vor fast 6 Jahren sei auf ein Missverständnis zurückzuführen und sie habe ihn die ganze Zeit geliebt.

Was für ein absurder Gedanke! Wütend auf sich selbst, schüttelte er den Kopf. Nichts hatte sich verändert. Noch immer besaß sie die Macht, ihn zu verletzen, und die übte sie mit voller Absicht aus.

Trotzdem würde das Abkommen, das er mit ihr getroffen hatte, weiterhin bestehen. Er wollte sie nicht in die Gosse zurückschicken. Aber er würde das Haus an der Curzon Street nicht mehr besuchen.

Am nächsten Morgen saß Arabella mit ihrer Familie im Speisezimmer und beobachtete, wie Archie frühstückte. Nachdem er in der Flower and Dean Street fast verhungert war, hatte sie befürchtet, er würde an bleibenden Schäden leiden. Aber als er nun mit bestem Appetit Rühreier und Würstchen verschlang, dankte sie dem Himmel für die Widerstandskraft des Kindes. Liebevoll streichelte sie sein Haar und hörte ihm zu, als er erklärte, wenn er einmal groß sei, würde er einen ganzen Reitstall voller Pferde besitzen.

Auch Mrs. Tatton musterte ihren Enkel erleichtert. Doch sie konnte ihre Sorge nicht ganz verbergen, und Arabella ahnte, dass die Mutter ihr schon bald angstvolle Fragen stellen würde. Sie lächelte und versuchte den Eindruck zu erwecken, seit dem Vortag hätte sich nichts geändert. Obwohl alles anders geworden ist …

Was letzte Nacht geschehen war, verstand sie nicht, und sie fühlte sich gedemütigt, verwirrt, verlegen, beschämt – und in einem gewissen Zwiespalt. Musste sie Dominic danken, weil er unverrichteter Dinge fortgegangen war – oder ihm zürnen? Was mochte falschgelaufen sein?

Ihr Sohn aß noch zwei Würstchen. Dann sprang er auf und rannte davon, um sein Pferdespiel zu beginnen.

„Komm zurück, Archie!“, rief sie ihm nach. „Wir stehen erst vom Tisch auf, wenn alle gegessen haben!“

„Lass ihn nur, Arabella“, mahnte ihre Mutter. „Er war so brav in der letzten Zeit, trotz unserer Schwierigkeiten.“

„Natürlich hast du recht, es ist nicht leicht für ihn gewesen.“ Bleischwer lasteten die Gewissensqualen auf ihrer Seele. Würde sie jemals den schrecklichen Hunger ihres Kindes vergessen?

„Für uns alle nicht.“ Nach einer kurzen Pause murmelte Mrs. Tatton: „Ich weiß, solche Fragen stehen mir nicht zu. Was zwischen einem Mann und einer Frau im Bett geschieht, sollte geheim bleiben … Aber ich glaube, du hattest Probleme …“

„Nein, alles war in Ordnung.“

„Lüg mich nicht an, mein Mädchen. Ich habe Augen und Ohren. Wie blass du heute Morgen bist, sehe ich. Deine geröteten Augen bezeugen deine Tränen. Und ich hörte den Gentleman schon vor Mitternacht wegfahren.“

„Oh, meine Augen sind nur ein bisschen gereizt. Und D…“ Hastig unterbrach sich Arabella. Beinahe hätte sie Dominics Namen ausgesprochen. „Der Gentleman musste mich so früh verlassen, weil er noch etwas vorhatte.“

„Nach so kurzer Zeit?“

„Für uns alle ist es angenehmer, wenn seine Besuche nicht lange dauern.“

„Nun, manche Männer sind rücksichtslos in ihrem Drang, sich …“, Mrs. Tatton wurde feuerrot, „… sich zu befriedigen.“

„So war es nicht“, erwiderte Arabella leise. Sein Anblick, sein Duft, seine zärtlichen Finger auf meiner erhitzten Haut …

„Sag mir dir Wahrheit.“ Mrs. Tatton griff über den Tisch hinweg und berührte die Hand ihrer Tochter. „Hat er dich misshandelt? Wenn es so ist, sollten wir nicht länger hier wohnen – und lieber auf der Straße betteln.“

Beruhigend streichelte Arabella die faltige Hand ihrer Mutter. „Nein, Mama, er hat nichts dergleichen getan. Er war sehr sanft und stellte keine ungeziemenden Forderungen. Geweint habe ich nur … weil mir zu schmerzlich bewusst war, was aus mir geworden ist.“

„Ach, Arabella, gehen wir doch weg von hier!“

„Zurück in die Flower and Dean Street?“

„Ich könnte mir eine Arbeit suchen. Gemeinsam werden wir einen Ausweg finden.“

Und die Arbeit würde sie umbringen … Entschlossen schüttelte Arabella den Kopf. „Wir bleiben hier, Mama. Gestern Abend war ich einfach nur dumm, und heute wird alles anders. Mach dir keine Sorgen, zähl nur das Geld, und wenn wir genug beisammenhaben, kehren wir aufs Land zurück.“

„Bist du sicher?“

„Völlig sicher.“

Obwohl Mrs. Tatton keineswegs glücklich aussah, nickte sie und widmete sich wieder ihrem Frühstück.

Eine knappe Stunde später wurde ein Brief abgegeben, und Arabella erkannte Dominics charakteristische Handschrift. Klopfenden Herzens brach sie das Wachssiegel und las die wenigen Zeilen.

„Nun?“ Fragend blickte Mrs. Tatton auf, die in einem komfortablen Lehnstuhl saß. Heller Sonnenschein tauchte das Wohnzimmer in goldenes Licht.

„Er hat eine Schneiderin bestellt, die morgen Nachmittag hierherkommen wird“, antwortete Arabella und steckte den Brief rasch in die Tasche ihres Rocks, damit ihre Mutter das geprägte Wappen auf dem Papier nicht sah.

„Sicher war das zu erwarten.“ Mrs. Tatton nahm die Teekanne und füllte zwei Tassen.

„Da hast du wohl recht.“ Vor Arabellas geistigem Auge erschien eine Vision des unzüchtigen schwarzen Seidenkleids. Dann blickte sie auf ihr abgenutztes graues Wollkleid hinab, das sie jederzeit viel lieber tragen würde als alles, was Dominic ihr kaufen wollte.

„Also werde ich morgen Nachmittag mit Archie verschwinden. Das Frühlingswetter ist schön. Wir könnten in den Park gehen.“

Arabella nickte unbehaglich. Nachts war es einfach, die beiden zu verstecken, weil sie zeitig schlafen gingen. Aber tagsüber? Wie sollte der kleine Junge zum Schweigen gebracht werden, während Dominic im Salon saß und provozierende Kleider für sie aussuchte? Ärgerlich presste sie die Lippen zusammen.

Offenbar merkte die Mutter ihr den Unmut an, denn sie erklärte: „Nur für ein paar Stunden, das wird uns nicht schaden. Und die Kleider – die sind das geringste Übel.“

Am nächsten Nachmittag traf die Schneiderin um zwei Uhr ein. Dominic hatte sich bisher nicht blicken lassen. Sobald Arabella den Türklopfer an der Haustür pochen hörte, strich sie zum hundertsten Mal ihren Rock glatt und gab zumindest vor, sie würde sticken – obwohl sie plötzlich überlegte, dass Mätressen wohl kaum ihre Zeit mit Nadel und Faden verbrachten.

Zum ersten Mal würde jemand die Geliebte des Dukes in ihr sehen. Um das Gefühl ihrer Erniedrigung zu verhehlen, bemühte sie sich um eine ausdruckslose Miene.

Als Gemmell die Frau ins Wohnzimmer führte, hielt Arabella erschrocken den Atem an. Ausgerechnet diese Schneiderin …

Bedrückt erinnerte sie sich an jene dunklen Tage, die sie schließlich in Mrs. Silvers Haus getrieben hatten. Eigentlich musste sie die Begegnung mit Madame Boisseron nicht fürchten. Denn Arabella hatte im Lauf ihrer Arbeitssuche bei allen Damen- und Herrenschneiderinnen, Kostümbildnerinnen und Putzmacherinnen in ganz London vorgesprochen, auch bei sämtlichen Herstellern von Miederwaren. Ohne Erfolg. Ganz egal, welche Schneiderin an diesem Nachmittag ins Haus an der Curzon Street gekommen wäre – sie hätte sie wiedererkannt.

Und da sie in Madame Boisserons Salon Mrs. Silver kennengelernt hatte, empfand Arabella ihre Demütigung noch schmerzlicher.

Falls Madame sie erkannte, war sie klug genug, es nicht zu zeigen. Und da Arabella keine Wahl hatte, bezwang sie ihre Verlegenheit und meisterte die Situation, so gut sie es vermochte.

Als die kleine Frau mit den dunklen Augen und dem französischen Akzent ein Musterbuch hervorholte, war Dominic noch immer nicht angekommen. Arabella schaute zur Uhr hinüber. Eigentlich musste sie auf ihn warten. Doch der Gedanke, er würde ihr die Garderobe vorschreiben, die sie für ihn tragen sollte – womöglich auch die Unterwäsche, erzürnte sie. Und so begann sie in dem Buch zu blättern.

Manche Entwürfe waren eindeutig obszön, bedeckten kaum die Brüste oder entblößen sogar die Brustwarzen und betonten aufs Intimste die weibliche Figur. Fast nirgends entdeckte Arabella einen Unterschied zu dem schwarzen Seidenkleid, das sie gezwungenermaßen im Bordell getragen hatte.

„Das da.“ Sie zeigte auf eine Skizze. „Mit kleinerem Ausschnitt und aus dickerem Stoff.“

Erstaunt hob Madame Boisseron den Kopf. „Sind Sie sicher, Madame? Normalerweise bevorzugen die Gentlemen …“, sie unterbrach sich kurz, „… ihre Damen in etwas gewagterer Kleidung.“

„Davon konnte ich mich zur Genüge überzeugen. Wenn Sie also so freundlich wären …“

„Gewiss, Madame. Immerhin betonte Seine Gnaden, die Entscheidung würde bei Ihnen liegen.“

„Tatsächlich …“ Gerade noch rechtzeitig verhinderte Arabella, dass dieses Wort wie eine Frage klang, damit der Anschein entstand, das hätte sie ohnehin gewusst.

„Nur wenige Gentlemen erlauben ihren Damen, eine ganze Garderobe allein auszuwählen. Ich war wirklich verblüfft, als Seine Gnaden mich beauftragte, Sie aufzusuchen, und erwähnte, er würde nicht anwesend sein. Nur wenn Sie zufrieden sind, wird er mich bezahlen, Madam … Ein ungewöhnlicher Mann, non?“

„Sehr ungewöhnlich“, bestätigte Arabella. Also würde Dominic an diesem Nachmittag nicht zu ihr kommen. Verstohlen atmete sie auf und schaute nicht mehr zur Uhr hinüber.

Um drei Uhr hatte die Schneiderin Maß bei ihr genommen. Zweimal studierten sie das Musterbuch mit den Stoffen, und Arabella bestellte eine kleine, konservative Garderobe. Zweifellos war Madame Boisseron enttäuscht, weil sie wusste, dass der Duke seiner Mätresse eine unbeschränkte Vollmacht erteilt hatte und ihr gestattete, sich alle Wünsche zu erfüllen. Aber die Schneiderin lächelte nur leicht verkniffen und versprach, sie würde jedes Kleid liefern, sobald es fertig sei.

Sobald sich die Tür hinter der Französin geschlossen hatte, eilte Arabella die Stufen zu Archie und ihrer Mutter, die wohl inzwischen von ihrem Spaziergang zurück waren, und verbannte Dominic Furneaux vorerst aus ihren Gedanken.

Allzu lange konnte sie ihn nicht vergessen. Während der Abend dämmerte, saß sie allein im Salon und wartete auf Dominic. Natürlich musste sie ihm danken, weil er ihr so großzügig die Auswahl der neuen Garderobe überlassen hatte.

Die Uhr tickte etwas zu laut. Langsam krochen die Zeiger voran, die Stickerei in ihrem Schoß blieb unberührt. Was würde er sagen – was sollte sie zu ihm sagen? Vor allem fürchtete sie den Moment, wo sie mit ihm ins Bett gehen musste.

Aber er kam in dieser Nacht nicht zu ihr, auch nicht in der nächsten und übernächsten.

Dominic versuchte die Buchführung für sein ausgedehntes Landgut zu prüfen, eine langweilige Pflicht, die jedoch äußerste Konzentration erforderte. Deshalb saß er an diesem Nachmittag in seiner Bibliothek, über Rechnungsbücher gebeugt, und hoffte seine Gedanken von Arabella Tatton ablenken zu können.

Doch diese Taktik war erfolglos, und so betrachtete er Hunters Ankunft als eine gewisse Erleichterung.

Der Freund inspizierte einige aufgeschlagene Buchseiten und nickte wissend. „Genug durchgestrichen und überschrieben, sodass es für einen ganzen Roman reichen würde – im Gegensatz zu deinem gewohnten peniblen Stil, Arlesford. Offensichtlich denkst du an etwas anderes – oder an jemand anderen“, fügte er hinzu und hob lächelnd die Brauen.

Ohne die Herausforderung zu beachten, starrte Dominic wieder eine Zahlenreihe an. Natürlich hat Hunter recht, gestand er sich melancholisch ein. Vor dem Beginn seiner „Prüfung“ waren die Seiten mühelos zu entziffern gewesen.

„Übrigens, ich bin hier, um dich zu warnen“, verkündete Hunter. „Und es wird dir nicht gefallen.“

Sofort dachte Dominic wieder an Arabella.

„Es geht um Misbourne“, erklärte Hunter, ergriff die Brandykaraffe und füllte zwei Gläser. „Soeben unternimmt der Earl einen neuen Annäherungsversuch.“

Beruhigt seufzte Dominic, nahm ein Glas entgegen und nippte daran, während sein Freund in den Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches sank.

„Er behauptet“, fuhr Hunter fort, „vor einigen Jahren habe dein Vater ein Abkommen mit ihm getroffen. Demzufolge sollen die beiden Familien verbunden werden, indem du Misbournes Tochter heiratest. Angeblich haben sie das einander sogar geschworen.“

Solche Neuigkeiten wollte Dominic nicht hören. Aber wenigstens betrafen sie nicht Arabella. „Damals waren die beiden noch jung, unverheiratet und betrunken. Mein Vater hätte mich nie gezwungen, einen Eid zu halten, der im Suff geleistet wurde. Und ich will verdammt sein, wenn ich mich von einem Ekel wie Misbourne einschüchtern lasse.“

„Mit dieser Strategie riskiert er eine ganze Menge. Anscheinend ist er wild entschlossen, diese Heirat zu erzwingen. Nimm dich in acht vor ihm, er wäre ein gefährlicher Feind.“

„Das weiß ich. Danke für die Warnung, mein Freund.“

„Um ein erfreuliches Thema anzuschneiden …“ Hunter prostete Dominic zu. „Mit deiner Miss Noir hast du gewaltiges Aufsehen erregt.“

Ohne einen Schluck zu nehmen, stellte Dominic sein Brandyglas auf den Tisch. „Was heißt das?“ Nachdem er sich so sehr bemüht hatte, um Arabellas Beförderung von Mrs. Silvers Hure zu seiner Geliebten geheim zu halten … „Hast du etwas ausgeplaudert?“

Gekränkt runzelte Hunter die Stirn. „Da solltest du mich besser kennen!“

Dominic nickte. „Verzeih mir.“

„Keine Ahnung, wie es dazu kam. Jedenfalls tuschelt ganz London über dich und die mysteriöse Miss Noir. Diese Geschichte fasziniert die Leute. Verständlicherweise stellen sie Fragen.“

„Dann hoffen wir, sie werden keine Antworten finden“, murmelte Dominic. Eigentlich müsste es ihm gleichgültig sein, wenn die Londoner Hautevolee erfuhr, wer sich hinter dem Pseudonym „Miss Noir“ verbarg. Nach allem, was Arabella ihm angetan hatte, würde sie es verdienen. Aber er wusste, was die Klatschgeschichten für sie bedeuten würden – sie wäre endgültig ruiniert, und er brachte es nicht übers Herz, das tatenlos mit anzusehen.

„Wenn du sie so sorgsam versteckst, muss sie etwas Besonderes sein. Wer ist sie, Arlesford?“

„Das geht dich verdammt noch mal nichts an.“ Dominic hob sein Glas an die Lippen. Was würde sein Freund sagen, wenn er die Wahrheit erführe?

Hunter lachte. „Jetzt machst du mich neugierig – weil du das Geheimnis sogar vor mir hütest.“

Gerade vor dir“, konterte Dominic in scherzhaftem Ton, obwohl er es sehr ernst meinte.

„So ein Schurke bin ich nun auch wieder nicht, dass ich meinem besten Freund eine Frau ausspannen würde“, protestierte Hunter und leerte sein Glas.

Dominic grinste ironisch. „Da ich deinen Ruf kenne, möchte ich nichts riskieren.“ Gewiss war es besser, diesen Beweggrund vorzutäuschen, als Hunter über Arabellas Identität zu informieren.

„In der Tat, sie muss etwas ganz Besonderes sein.“

Jetzt erlosch Dominics Lächeln. Versonnen klopfte er mit seinem Brandyglas auf die Tischplatte und dachte an Arabella. „Ja, da ist sie“, stimmte er leise zu.

„Arlesford?“ Verwundert beugte Hunter sich vor.

Aber Dominic wollte das Thema nicht weiter erörtern. „Lass es dabei bewenden, mein Freund.“

Hunter nickte resigniert, füllte die Gläser erneut und hielt seines hoch. „Möge die Londoner Gesellschaft deine Miss Noir niemals demaskieren.“

Dominic stieß mit ihm an, erwiderte Hunters aufmunterndes Lächeln aber nicht. Was mochte es für Arabella und ihn selbst bedeuten, wenn sie entlarvt wurde?

Auch das war ein Grund, warum er nicht in die Curzon Street zurückkehren durfte. Trotz der heißen Sehnsucht, die ihn Tag und Nacht quälte …

6. KAPITEL

Gestern Abend ist er wieder nicht hierhergekommen?“, fragte Mrs. Tatton am Frühstückstisch. „Schon die vierte Nacht hintereinander …“

Inzwischen empfand Arabella nicht mehr, wie zu Anfang, Erleichterung über Dominics Abwesenheit, sondern Sorge. Doch sie verzog keine Miene, nickte schweigend und träufelte Honig auf eine weitere Toastscheibe für ihren Sohn.

„Wer war nicht hier?“, wollte Archie wissen, und die beiden Frauen wechselten einen kurzen Blick.

„Ein Freund deiner Mama“, antwortete seine Großmutter. „Und jetzt iss deinen Toast, Geburtstagsjunge, bevor er kalt wird.“

Den Mund randvoll, ließ er zwei Löffel wie Pferde über das Tischtuch galoppieren.

„Vielleicht hat ihn sein erster Besuch enttäuscht“, meinte Mrs. Tatton leise, „und er will das Arrangement beenden.“

„Das wollen wir nicht hoffen, Mama.“ Wenn er dazu entschlossen ist, möge der Himmel uns helfen, dachte Arabella unglücklich. Die letzte Begegnung beeinträchtigte ihre Zuversicht erheblich. Und sie konnte keinesfalls zu Mrs. Silver zurückkehren.

Es klopfte an der Tür des Speisezimmers, und Gemmell trat mit einem Brief von Dominic auf einem Silbertablett ein.

„Soeben wurde diese Nachricht abgegeben, Ma’am“, erklärte der Butler und zog sich wieder zurück.

Ein Abschiedsbrief? Nur mühsam konnte Arabella ihre Sorge verbergen.

In angstvollem Schweigen beobachtete Mrs. Tatton, wie ihre Tochter den Brief öffnete und den Inhalt überflog.

„Oh, er erkundigt sich nur, ob ich mit der Schneiderin zufrieden bin“, berichtete Arabella erleichtert.

„Dann ist alles in Ordnung?“

„So sieht es aus, Mama. Außerdem hat er mir geschrieben, er würde mir eine Kutsche und genug Geld zur Verfügung stellen, damit ich nicht auf Kredit einkaufen und seinen Namen angeben muss. Weil niemand von unserer … ‚Situation‘ erfahren soll.“

„Entweder ist er ein sehr rücksichtsvoller Gentleman …“ Mrs. Tatton hob die Brauen. „Oder er hätte viel zu verlieren, wenn jemand herausfindet, welches Arrangement zwischen euch besteht.“

Arabella fand, dass Dominic gar nichts zu verlieren hatte. Vielmehr hätte sie erwartet, er würde überall mit seiner Eroberung von „Miss Noir“ prahlen. Ein sehr rücksichtsvoller Gentleman. Gewiss keine Beschreibung, die auf Dominic Furneaux passte. Zumindest hatte sie das bisher geglaubt.

„So unangenehm es mir auch ist, sein Geld auszugeben …“ Sie musterte das schäbige Kleid ihrer Mutter. „Du und Archie, ihr braucht dringend ein paar neue Sachen zum Anziehen.“

„Sparen wir das Geld lieber, damit wir dieses Haus möglichst schnell verlassen können. Der Junge und ich kommen schon zurecht.“

„Aber ihr beide besitzt nur die Sachen, die ihr anhabt, Mama. Sonst nichts. Deine Schuhe sind voller Löcher, dein Kleid ist abgenutzt. Ich werde Gemmell ersuchen, neue Kleidung für euch zu beschaffen. Und da deine Hände schmerzen, werde ich in eine Apotheke gehen und eine Salbe für deine Gelenke kaufen.“

Unsicher biss Mrs. Tatton sich auf die Lippen. „Wird es der Gentleman nicht merken, wenn du sein Geld für Archie und mich verwendest?“

„In seinem Brief hat er erwähnt, ich müsse keine Rechenschaft über meine Ausgaben ablegen“, betonte Arabella.

„Nun, in diesem Fall …“ Ihre Mutter nickte, doch die Sorgenfalten auf ihrer Stirn glätteten sich nur ein wenig.

Energisch verdrängte Arabella alle Gedanken an Dominic und das Arrangement. An diesem Tag gab es etwas viel Wichtigeres. „Und jetzt reden wir über erfreuliche Dinge. Heute hat ein gewisser Junge Geburtstag!“ Damit Archie ihr zuhörte, erhob sie ihre Stimme. „Deshalb habe ich mir ein besonderes Geschenk ausgedacht – einen Ausflug in den Park. Der Reitknecht Robert hat eine kleine Stute namens Elsie. Möchtest du auf ihrem Rücken sitzen, während er sie durch den Park führt?“

„Oh ja, bitte!“, rief Archie begeistert, sprang vom Tisch auf und galoppierte blitzschnell umher. „Gehen wir sofort los?“

Arabella schaute ihm lachend zu. „Erst müssen wir uns fertig machen.“

„Sollen wir das wirklich wagen?“, gab Mrs. Tatton zu bedenken.

„So früh am Morgen werden wir nur wenige Leute im Park antreffen, Mama. Und selbst wenn man uns sieht – niemand wird uns mit diesem Haus oder seinem Mieter in Verbindung bringen.“

Als Archie zum Kamin hüpfte, blieb er stehen und berührte die bunten Bänder, die Arabella an das Sims gehängt hatte. Lächelnd sah sie die Freude in den Augen ihres Sohnes, der seine Geburtstagsdekoration bewunderte. Die musste natürlich rechtzeitig entfernt werden, falls Dominic zu Besuch kam.

„Und denk an deine Geburtstagsparty, Archie.“ Mrs. Tatton stand auf und ging zu ihrem Enkel. „Dafür wird die Köchin einen Kirschkuchen und Kekse backen. Dazu gibt es Limonade.“

„Hurra!“, schrie Archie. „Ich liebe Geburtstage!“

Gemmell trat ein, von einem Dienstmädchen gefolgt, das er anwies, den Frühstückstisch abzuräumen. „Wie alt bist du denn heute geworden, junger Master Archie?“

„Schon fünf Jahre“, verkündete Archie stolz. „Jetzt bin ich ein erwachsener Junge.“

„Sehr erwachsen“, bestätigte der Butler lächelnd und überreichte ihm ein winziges hölzernes Pferd, das er geschnitzt hatte.

Alice, das Dienstmädchen, kitzelte Archie unter dem Kinn und schenkte ihm eine kleine Schachtel mit einer seiner Lieblingsspeisen – Gerstenzuckerbonbons, die sie selbst hergestellt hatte.

Gerührt bedankte Arabella sich bei Gemmell und Alice. „Sie sind so freundlich zu uns. Das hätte ich nie erwartet.“

An diesem Tag schienen alle Schatten der Vergangenheit und Gegenwart in weiter Ferne zu entschwinden. Arabella fühlte sich wie das Mitglied einer richtigen Familie – zusammen mit ihrem Sohn, ihrer Mutter und den Dienstboten.

Dominic las die Karte in seiner Hand. Natürlich konnte er die Einladung des Prinzregenten unmöglich ablehnen, ohne ihn schwerstens zu beleidigen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ihn die Aussicht auf ein nächtliches Zechgelage und Feuerwerk im Vergnügungspark Vauxhall Gardens gereizt. Jetzt überlegte er, wie lange er dort ausharren musste, bis er das Fest unbemerkt verlassen könnte.

Seufzend dachte er an Arabella, die allein in dem Haus an der Curzon Street saß und stickte. Obwohl er sich so inbrünstig nach seiner Geliebten sehnte, durfte er sie nicht wiedersehen – eine absurde Situation, die er selbst verursacht hatte.

Er starrte wieder auf die Karte hinab: „Einladung zum Maskenball in den Vauxhall Gardens.“ Und plötzlich kam er auf eine tollkühne Idee. An Arabellas Seite wäre das Fest viel leichter zu ertragen – selbst wenn er nirgendwo ein Bett finden würde, in das er mit ihr sinken könnte. Er steckte die Karte in die Tasche seiner Weste. Um seinen riskanten Plan zu verwirklichen, musste er das Haus an der Curzon Street aufsuchen.

Nur um Arabella von dem Maskenball zu erzählen.

Aus keinem anderen Grund.

Heute Abend.

Teils ungeduldig, teils von bangen Gefühlen erfasst, fieberte er dem Besuch entgegen.

Es war einfach fabelhaft, den vier Wänden für einige Zeit zu entrinnen. Frohen Herzens beobachtete Arabella, wie ihr Sohn und ihre Mutter die frische Frühlingsluft im Park genossen. Der Ausflug brachte sie alle in heitere Stimmung, ebenso wie die kleine Party, die am frühen Nachmittag stattfand.

Normalerweise servierte Gemmell das Dinner schon um vier Uhr, damit Arabella und ihre Familie Zeit fanden, gemeinsam zu essen, bevor sie sich auf den Abend vorbereiteten. Alle Räume mussten durchsucht werden, damit nirgendwo irgendwelche Spuren auf Archies oder Mrs. Tattons Anwesenheit hinwiesen. Dann wurde das Kind gebadet und ins Bett gesteckt, denn es sollte schon schlafen, falls der Hausherr sich zu einem abendlichen Besuch entschied.

Aber an diesem Tag dauerte alles wegen des Ausflugs in den Park und der Party etwas länger. Um vier Uhr waren sie immer noch vom Geburtstagskuchen und der Limonade gesättigt. Und es widerstrebte Arabella, den schönen Tag zu beenden.

Sie hatte weder an Dominic noch an die verhängnisvolle Situation gedacht, sondern nur an Archie, der seinen Ehrentag genießen sollte. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sie sich wunschlos glücklich.

„Waren das nicht wundervolle Stunden?“, fragte sie, als sie bei einem leichten Dinner gegen sechs Uhr im Speisezimmer saßen.

„Oh, großartig war’s, Mama!“ Archies Augen leuchteten, die frische Luft hatte seine Wangen rosig gefärbt. „Das findet Charlie auch“, fügte er hinzu und streichelte das kleine Holzpferd, das der Butler ihm geschenkt hatte.

Amüsiert lachten seine Mutter und seine Großmutter.

Während sie noch aßen, glaubte Arabella das vertraute Geräusch einer gewissen Kutsche zu hören. Das kann nicht sein, dachte sie, es ist erst Viertel nach sechs …

Aber da erschien ein sichtlich besorgter Gemmell in der Tür. „Madam – der Master.“

„Um Gottes willen!“, flüsterte Arabella.

„Heiliger Himmel!“, stöhnte Mrs. Tatton.

„Führen Sie ihn in den Salon, Mr. Gemmell“, bat Arabella. „Ich gehe durch die Verbindungstür hinein und lenke ihn ab, bis Mama und Archie geflohen sind.“

Der Butler nickte und eilte davon.

„Was ist denn los?“, fragte Archie verwirrt.

„Alles in Ordnung, mein Lämmchen“, beteuerte Arabella. „Grandma will dir eine aufregende neue Geschichte erzählen. Nun musst du schnell und leise die Treppe hinaufschleichen, in dein Schlafzimmer laufen und ins Bett steigen. Für diese Geschichte ist das wichtig.“

„Kein Bad?“ Der kleine Junge strahlte über das ganze Gesicht, als hätte er soeben etwas gehört, das zu gut war, um wahr zu sein.

„Heute nicht.“

„Hurra …“, begann er zu jubeln.

Hastig legte Mrs. Tatton einen Finger an die Lippen. „Still, Archie. Mach den kleinen Knopf an deinem Mund zu. Erinnerst du dich daran? Still wie eine Maus.“

Archie nickte. Flink schloss er den imaginären Knopf an seinen Lippen.

In diesem Moment hörte Arabella, wie die Haustür geöffnet wurde, Dominics Stimme, Schritte in der Halle. Archie kicherte, und beide Frauen brachten ihn mit hektischen Gesten zum Schweigen.

Reglos starrte Arabella die Tür an, in panischer Angst, Dominic würde sie öffnen und wissen wollen, was sich hier abspielte.

Doch die Schritte bewegten sich am Speisezimmer vorbei, den Korridor entlang, zum Salon.

Eine Minute später trat Gemmell lautlos ein. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.

Dankbar nickte Arabella ihm zu. „Bitte, helfen Sie Mama und Archie. Warten Sie, bis ich im Salon bin und mit dem Gentleman spreche, bevor Sie mit meiner Familie nach oben flüchten.“ Liebevoll küsste sie die Wange ihres Sohnes. „Sei brav und mach Grandma keinen Ärger. Am besten ziehst du ihm die Schuhe aus, Mama, die würden auf dem Holzboden poltern.“

„Ich werde ihn tragen, Ma’am“, erbot sich Gemmell.

Da Archie ziemlich schwer war, fürchtete sie, der alte Butler würde die Last nicht bewältigen. Aber sie wollte ihn nicht mit diesem Einwand kränken, und so lächelte sie nur nervös und hauchte: „Danke.“

Und dann eilte sie in den Salon.

Die Wangen gerötet, schloss Arabella die Verbindungstür hinter sich.

„Verzeih mir“, entschuldigte sich Dominic. „Habe ich dich irgendwie überrumpelt?“

„Keineswegs …“ Ihre Stimme klang ein wenig atemlos. „Als ich deine Ankunft hörte, hatte ich mein Dinner fast beendet.“

„Dabei hätte ich dich nicht stören dürfen. Es geht um nichts Wichtiges, wir können uns auch im Speisezimmer unterhalten, und du isst weiter.“

„Nicht nötig.“ Beklommen dachte sie an die bunten Bänder am Kaminsims, die drei Gedecke, die halb verspeiste Mahlzeit – an ihre Mutter und ihren Sohn, die wohl immer noch am Tisch saßen. „Jetzt habe ich keinen Appetit mehr.“

Bei diesen Worten versteifte er sich. Doch er las keinen Unmut in Arabellas Gesicht.

Sobald sie seinen prüfenden Blick bemerkte, schien ihr bewusst zu werden, was sie gesagt hatte. „Oh – ich wollte nicht andeuten …“

Autor

Margaret Mc Phee
<p>Margaret McPhee lebt mit ihrem Ehemann an der Westküste Schottlands. Ganz besonders stolz ist sie auf ihre Kaninchendame Gwinnie, die mit ihren acht Jahren eine alte Lady unter ihren Artgenossen ist. Als Wissenschaftlerin ausgebildet, hatte sie trotzdem immer eine romantische Ader. Ihrem Mann begegnete sie zum ersten Mal auf der...
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