Historical Saison Band 101

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KEINE STANDESGEMÄSSE LIAISON? von VIRGINIA HEATH
Keine Experimente mehr! Das hat Lord Eastwood sich nach einer skandalträchtigen Scheidung geschworen. Deshalb ist er jetzt auf der Suche nach einer zurückhaltenden Dame der Gesellschaft, um endlich eine standesgemäße Ehe zu schließen. Doch er gerät ausgerechnet an die temperamentvolle Künstlerin Faith Brookes. Sie passt überhaupt nicht zu ihm! Warum kann er dann nicht aufhören, an sie zu denken?

SCHREIB MIR DEINE TRÄUME! von VIRGINIA HEATH
Nichts liebt die hübsche Hope Brookes mehr, als das aufzuschreiben, was sie sich ausgedacht hat. Deshalb ist sie überglücklich, als ihr neuer Nachbar Lucius, der gut aussehende Marquess of Thundersley, sie nicht nur als Frau, sondern auch als Schriftstellerin ernst nimmt. Doch kaum hat sie eine wunderbare Nacht mit ihm verbracht, ist er wie verwandelt. Verbirgt er etwas vor ihr?


  • Erscheinungstag 29.08.2023
  • Bandnummer 101
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517980
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Virginia Heath

Historical Saison BAND 101

1. KAPITEL

Zahlreiche Gerüchte gehen um, die einen gewissen jungen Dichter von hohem Ansehen und die älteste Tochter eines der führenden Porträtmaler Englands betreffen, nachdem das Paar gestern erneut gemeinsam im Britischen Museum gesichtet wurde. Könnte dies bedeuten, dass es zu guter Letzt doch noch ein Verlöbnis für die unkonventionelle Miss B. aus Bloomsbury geben wird?

Geflüster hinter dem Fächer, Februar 1814

Bist du vollkommen sicher, dass du das nicht allein erledigen kannst?“ Ihre Mutter durchbohrte ihren Vater unverhohlen mit den Blicken – zweifellos in einem allerletzten Versuch, ihn zu ihrer Meinung zu überreden. „Ich brauche dich ja wohl nicht daran zu erinnern, Augustus, dass der älteste Sohn …“ Sie senkte die Stimme zu einem Bühnenflüstern und zeichnete die Buchstaben des Wortes in die Luft, „… G-E-S-C-H-I-E-D-E-N ist.“

Faith verdrehte die Augen und stöhnte laut auf, sowohl aufgebracht über die überfürsorgliche Art ihrer Mutter als auch darüber, dass sie darauf bestand, jedes ihrer Meinung nach unappetitliche Wort selbst in der Gegenwart ihrer drei Töchter nicht auszusprechen, sondern zu buchstabieren, als wären sie alle zu dumm, die Worte zu erkennen. Gemeinhin ignorierten die Mädchen ihre Mutter, so gut es ging.

„Darüber hinaus soll er nach allem, was man hört, ein übler Bursche sein.“ Faiths Mutter erschauderte theatralisch. „Vollkommen S-K-R-U-P-E-L-L-O-S.“

„Ich bin schon seit zwanzig Jahren des Lesens kundig, Mama“, sagte Faith trocken, und ihr Vater unterdrückte ein Lachen. „Und außerdem weiß ich genauso wie der Rest der Gesellschaft alles über den Skandal des Viscount Eastwood.“

Wie wäre es auch anders möglich gewesen? Im vergangenen Frühling und Sommer war von nichts anderem die Rede gewesen. Schließlich geschah es nicht alle Tage, dass ein Angehöriger des Hochadels in aller Hast ein Gesetz durch das Parlament bringen ließ, um sich seiner Frau zu entledigen, bevor sie ihr Kind gebären konnte.

Doch trotz aller Schwierigkeiten und zweifellos aufgrund der Beziehungen seiner Familie, des enormen Vermögens und Lord Eastwoods eigener bedeutender Position in der Regierung gelang es ihm, die arme Frau in weniger als sechs Monaten loszuwerden. Und das mit der erfundenen Beschuldigung, sie sei ihm untreu gewesen – dabei bereute er wahrscheinlich nur, unter seinem Stand geheiratet zu haben. Kein geringer Erfolg, wenn man bedachte, dass eine Scheidung für gewöhnlich Jahre dauerte, wenn sie überhaupt jemals gewilligt wurde.

Er brachte es sogar fertig, die Scheidung noch rechtzeitig vor dem Tag zu bekommen, da die bedauernswerte Frau ihr Kind zur Welt brachte. Es war ein unglaublich schockierender Skandal gewesen, unerhört und sehr geschmacklos, denn das unschuldige Baby wurde durch die Scheidung zu einem illegitimen Kind. Aber die gute Gesellschaft verfolgte die ganze Angelegenheit mit angehaltenem Atem. Selbst Faith war fasziniert gewesen und hatte einen tiefen Zorn empfunden, den sie nur mit großer Mühe hatte verbergen können, weil ihr ganzes Mitgefühl der zu Unrecht angeklagten Frau gehörte. Denn auch Faith war einmal als unwürdig erachtet worden – von einem anderen Viscount, der eines Tages den Titel eines Earls erben würde. Nur dass Faiths persönliche Schande und tiefe Demütigung glücklicherweise nicht an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt worden war. Nicht einmal ihre Familie hatte davon erfahren.

Ihr hasenfüßiger, heuchlerischer, gefühlloser Galan hatte stets auf Diskretion bestanden, und als die naive, dumme junge Närrin, die sie nun einmal gewesen war, hatte Faith unbekümmert in allem seinen Wünschen nachgegeben. Und was sie jetzt allerdings besonders ärgerte, war die Tatsache, dass sie Spaß an der Intrige gehabt hatte. Durch die heimlichen Momente, die verbotenen Küsse, sogar unter dem Dach ihrer Eltern, hatte ihre unglückselige Romanze Faith köstliche Wonneschauer geschenkt. Als erfahrener Mann musste er gewusst haben, wie verführerisch die ganze Situation für ein grünes, aber abenteuerlustiges Mädchen wie sie gewesen sein musste. Die einzige positive Seite des ganzen traurigen Debakels war, dass ihre geliebte Familie noch immer nichts von ihrem fürchterlichen Fehler ahnte.

Wofür Faith dem Himmel dankte!

Sonst würde sie sich genau in derselben Lage befinden wie die ehemalige Viscountess of Eastwood – ruiniert und verlassen von einem ehrenlosen Mann, für den sie alle Bedenken in den Wind geschlagen hatte, und darüber hinaus dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit ertragen zu müssen, dass über sie gelästert wurde.

Die Gemeinsamkeiten zwischen ihr und jener unbekannten, rechtlosen Frau waren verblüffend. Der einzige Unterschied war, dass Faith es nicht geschafft hatte, ihren moralisch unzulänglichen Viscount dazu zu bringen, sie zu heiraten. Wenn sie es jetzt recht bedachte, war das eigentlich nur gut so, aber zu jener Zeit hatte es sich nicht wie ein Vorteil angefühlt. Aber das zeigte, wie vollkommen verabscheuenswürdig Lord Eastwoods skrupelloses Verhalten gewesen war. Wie man sich bettete, so sollte man auch den Anstand haben zu liegen, ganz besonders wenn man das heilige Ehegelübde abgelegt hatte, für immer zusammenzubleiben.

Doch so sehr sie das unfeine Benehmen des herzlosen Viscounts auch missbilligte, sie musste gestehen, dass sie neugierig darauf war, ihm endlich persönlich zu begegnen. Dank des eher unkonventionellen Lebensstils ihrer Eltern hatte sie in ihrer vielschichtigen kleinen Ecke von Bloomsbury bereits viele skandalumwitterte Persönlichkeiten kennengelernt, und nicht wenige von ihnen kamen aus den Rängen des Adels. Doch Lord Eastwood würde die erste wirklich verruchte Person unter ihnen sein. Würde seine Herzlosigkeit von Anfang an unverhohlen ins Auge springen oder war er geschickt genug, sie verbergen zu können? Die Künstlerin in Faith wollte es genau wissen.

„Mir gefällt der Gedanke einfach nicht, Augustus! Meine armen Nerven sind sowieso schon völlig in Fetzen gerissen vor Sorge, und du hast noch nicht einmal angefangen, für den Unhold zu arbeiten!“ Eindeutig außer sich vor Aufregung, packte ihre Mutter ihren Vater beim Ärmel. „Ich finde, es wäre viel klüger, wenn du ihn allein malen würdest, statt unsere Tochter seiner Verdorbenheit auszusetzen. Faith kann mich heute zu meiner Anprobe begleiten, und sobald du in einigen Wochen genügend Entwürfe von ihm angefertigt hast …“ Sie verzog widerwillig die Lippen. „… kann Faith in aller Ruhe zu Hause für dich am Hintergrund arbeiten. In sicherer Entfernung vor den bestialischen Klauen des Unholds.“

„Roberta, du lässt wieder mal deine allzu lebhafte Fantasie mit dir durchgehen.“ Ihr Vater wusste sehr gut, wie sehr Faith es hasste, den Tag damit zuzubringen, im Theater von Covent Garden Däumchen zu drehen, während ihrer Mutter, der gefeierten Sopranistin, für eins ihrer prächtigen Bühnenkostüme die Maße genommen wurden. Sosehr sie ihre Mutter auch liebte, waren sie doch aus sehr unterschiedlichem Holz geschnitzt.

„Es ist ein gewaltiger Auftrag, meine Liebste.“ Faiths Vater drückte ihrer Mutter beruhigend die Hand. „Und noch einmal – zum zigsten Mal – möchte ich klarstellen, dass ich nicht für den Unhold selbst arbeite, sondern für seinen hochgeschätzten Vater, der ein sehr viel angenehmerer Mensch ist. Wir werden nur einen winzigen Teil unserer Zeit in den kommenden Monaten ausschließlich mit dem Viscount verbringen.“

Er hielt Daumen und Zeigefinger hoch, um einen Zentimeter anzuzeigen und seine Worte zu unterstreichen. „Den winzigsten Teil unserer Zeit, wenn ich nach dem offensichtlichen Mangel an Enthusiasmus urteilen kann, den der Viscount dem ganzen Projekt entgegenbringt. Als ich mich in der vergangenen Woche mit der Familie traf, machte Lord Eastwood keinen Hehl daraus, dass er nur widerwillig dabei war, und machte mir klar, dass er selbstgefällige Familienporträts für eine vollkommene Verschwendung seiner kostbaren Zeit und Energie ansieht.“

„Wohl auf ähnliche Weise wie seine arme, unglückliche Frau.“

Faiths bissige Bemerkung brachte ihr von ihrem Vater einen strengen Blick ein, und er wechselte schnell die Richtung des Gesprächs.

„Ein so großes Porträt wird einige Monate länger dauern, wenn Faith mir nicht assistiert“, wandte er sich an seine besorgte Frau, „und trotz des jüngsten bedauerlichen Skandals ist es für uns ein sehr prestigereicher und lukrativer Auftrag. Ich müsste ein Narr sein, dabei nicht mein Bestes zu geben. Ganz besonders da wir schon über ein Jahr dafür geplant haben und die gute Gesellschaft es schon wegen der schieren Größe des Projekts voller Aufregung erwartet. Der Earl of Writtle ist ein Favorit des Königs und sowohl ein guter Freund des Premierministers als auch des Außenministers. Die Familie gehört zum Feinsten der guten Gesellschaft, und statt Sir Thomas Lawrence für ihr Porträt zu wählen wie die meisten Mitglieder des ton, haben sie mich gewollt. Dieser Auftrag ist ein unglaublicher Erfolg für mich, Roberta, und ich habe mich auf unmissverständliche Weise verpflichtet. Ohne Faiths Hilfe würde ich jeden Tag länger arbeiten müssen, um das Werk rechtzeitig fertigzustellen. Schließlich muss ich auch an meine anderen Verpflichtungen denken. Ich müsste sehr viel länger arbeiten und wäre kaum zu Hause, Roberta.“

Er ließ seine Worte kurz nachwirken, da er wusste, dass seine Abwesenheit sie sehr viel mehr stören würde als die Verbindung mit einem flüchtigen Skandal. Schließlich waren die Brookes im Grunde genommen selbst schon eine skandalträchtige Familie, obwohl Faiths enormer Fauxpas glücklicherweise nicht einmal bekannt geworden war. Faiths Vater, Sohn eines Steinmetzes, hatte sich zum Künstler erzogen und seine Frau, Tochter eines Tuchhändlers, zur Opernsängerin. Sie wurden nur von der guten Gesellschaft toleriert, weil sie zufällig zu den besten Künstlern in ganz England gehörten. Vor allem das Ansehen ihres Vaters hatte in kurzer Zeit das seiner Rivalen überschattet, sogar das von Sir Thomas Lawrence, des Hofmalers Seiner Majestät. Und kürzlich war er sogar in die Königliche Akademie der Künste aufgenommen worden, beste Voraussetzung für eine großartige künstlerische Zukunft.

„Abgesehen vom ältesten Lord Eastwood …“

„Bitte nenne ihn in meiner Gegenwart nur den Unhold, Augustus!“ Faiths Mutter ließ sich nicht so leicht besänftigen. „Ich weiß jetzt, mit was für einem Menschen ich es bei ihm zu tun habe, und werde mich nicht von meiner Meinung abbringen lassen!“

„Schön. Aber abgesehen vom Unhold selbst sind die Nachkommen des Earl of Writtle sehr angenehme Menschen. Das weiß du genau, da du ihnen bereits oft begegnet bist. Und du warst es doch auch, die mich den Writtles vorgestellt hast, sonst wäre ich nie an diese enorme Kommission gekommen. Und du sagtest, es seien gute Menschen und vor allem auch einflussreich. Die Countess habe gesagt, es sei ihr größter Wunsch, dass ihre Liebsten in Öl verewigt werden – und zwar von mir.“

Was niemanden wirklich überraschte, da seine Arbeit in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden war, und ganz besonders seine ungezwungenen Gruppenporträts. Die Warteliste für eins seiner Werke war schon seit einer Weile recht lang gewesen, aber seit dem Auftrag der Writtles und seiner Aufnahme in die Akademie der Künste hatte diese Liste enorme Ausmaße angenommen. Allerdings hatte Faiths Vater sein Glück ausnutzen wollen und so der Countess versprochen, das Gemälde vor dem Ende der Saison zu vollenden, an dem die Familie wie jedes Jahr im Mai einen großen Ball abhalten würde. Ohne einen tüchtigen Assistenten, der seinen Stil glaubwürdig imitieren und ihm damit einen Teil der Bürde abnehmen konnte, würde er allerdings sein Wort brechen müssen. Und Faith war seine vielversprechendste Schülerin und die Einzige, der er eine so wichtige Aufgabe anvertrauen wollte.

„Das war jedoch vor einem Jahr, mein Liebster, und sehr viel hat sich seitdem getan. Sag ihnen, dass du plötzlich nicht mehr abkömmlich bist.“

„Roberta.“ Faiths Vater schüttelte enttäuscht den Kopf. „Das wäre nicht nur schlechtes Benehmen, sondern zweifellos auch katastrophal für meinen guten Ruf. Ich bin stolz darauf, mein Wort noch niemals gebrochen zu haben, und werde auch jetzt nicht damit anfangen. Zwar verstehe ich deine Sorge um Faith, aber es wäre sehr ungerecht von uns, die ganze Familie über einen Kamm zu scheren, nicht wahr? Die Writtles sind anständige Leute, die nicht für die Handlungen eines ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden können. Hinzu kommt, dass der Earl und die Countess wahre Kunstmäzene sind, und die sind wahrlich dünn gesät, wie du zugeben wirst. Sie haben es nicht verdient, schäbig behandelt zu werden. Ich jedenfalls werde mich niemals für so etwas hergeben.“

„Du hast recht“, lenkte Roberta Brookes ein. Trotz ihrer Einwände gegen Lord Unhold und seine skandalöse Scheidung war sie ein großzügiger Mensch und besaß ein Herz aus Gold. „Der Earl und die Countess sind gute Menschen.“

„Aber natürlich!“ Er zwinkerte Faith zu. „Außerdem wird Faith doch bei mir sein, meine Liebste. Was kann ihr denn unter den wachsamen Augen ihres Vaters geschehen?“

„Aber er ist ein sehr gut aussehender T-E-U-F-E-L, und sie ist ein so hübsches Ding. Wenn sie sich nun von ihm den Kopf verdrehen lässt? Ich mache mir Sorgen um ihre T-U-G-E-N-D.“

Faith war entsetzt über die lächerliche Vorstellung, sie könnte sich in den Viscount verlieben, aber sie brachte es natürlich nicht übers Herz, die Illusionen ihrer Mutter zu zerstören und ihr zu verraten, dass sie ihre kostbare Tugend schon vor Jahren an einen verlogenen Schurken verloren hatte. Doch das Gelächter ihres Vaters war spontan und unbesorgt. „Hast du denn völlig den Verstand verloren, Frau? Du kennst unsere Älteste doch besser als irgendjemand sonst. Es braucht schon mehr als ein attraktives Gesicht, um ihr den klugen Kopf zu verdrehen. Edward Tate ist wahrscheinlich der schönste Mann in ganz London, wenn nicht sogar im gesamten Königreich, und sie hat sich dennoch nicht in ihn verliebt.“

„Leider nicht!“ Faiths Mutter war davon überzeugt, dass der junge Dichter und Faith das vollkommene Paar abgeben würden. Doch obwohl Faith ihn gern mochte – schließlich waren sie seit vielen Jahren miteinander befreundet gewesen, bevor er sich eingeredet hatte, dass er mehr als Freundschaft von ihr wollte –, konnte sie trotz aller Versuche einfach keine romantischen Gefühle für ihn aufbringen.

„In jedem Fall beweist es meine Worte. Wenn irgendjemand den schändlichen Lord Eastwood links liegen lassen kann, dann unsere Faith. Wann hat sie je ihre Meinung für sich behalten können?“

Ein Charakterfehler, den ihre Mutter immer wieder beklagte. „Wir alle wissen, dass ich zu unverblümt bin, Mama, aber ich kann Dummköpfe nun einmal nicht ertragen. Wenn ich mir auch Mühe gebe, mich zurückzuhalten“, fügte sie dann noch hinzu, was allerdings eine glatte Lüge war.

Zwar biss sie sich oft genug auf die Zunge, wenn es um die Arbeit ihres Vaters ging, aber wenn eine aufrichtige Meinung verlangt wurde, war Faith mehr als bereit, sie zu äußern – ganz besonders einem Menschen gegenüber, der vielleicht etwas zu stolz auf seinen vornehmen Titel war. Sie verabscheute das Überlegenheitsgefühl vieler Adliger und hasste sogar noch mehr, dass sie wie selbstverständlich davon ausgingen, jede Frau von niedriger Geburt sei Freiwild für sie. Nachdem der künftige Earl all ihre kindlichen Illusionen zerstört und sich in den fünf Jahren seitdem zu neuen Ufern aufgemacht hatte, ohne auch nur einen Gedanken an Faith zu verschwenden, hatte sie nicht wenige Angebote zweifelhafter Natur von Männern seiner Sorte und seines illustren Rangs erhalten. Und das obwohl sie keinen Einzigen von ihnen ermutigt hatte. Also war es gewiss nicht verwunderlich, dass sie sich keine sehr gute Meinung über gewisse Exemplare des Adels gebildet hatte.

„Ich versichere euch, erst müsste die Hölle zufrieren, bevor es einem Schurken gelingt, mich zu verführen. Und mag er auch noch so attraktiv sein.“

„Sage ich dir doch, Roberta. Und abgesehen von unserem geckenhaften Dichter, wie viele anständige Bewunderer haben sich im Lauf der Jahre nicht vergeblich um unsere Faith bemüht? Eigentlich ist sie wirklich übertrieben wählerisch.“

Worauf Faith sogar stolz war. Gebranntes Kind scheut das Feuer, wie es so schön hieß. Lieber würde sie auf ihre Kunst verzichten, als ihren größten Fehler zu wiederholen.

„Ja, das stimmt natürlich.“ Ihre Mutter sah sie an und seufzte. „Ich habe Angst, deine zynische Einstellung zu den Männern wird sich nie legen, mein Kind.“ Wenn Roberta Brookes auch alles tat, das zu ändern. Sie glaubte an die Liebe in der Ehe. In Faiths Alter war sie drei Jahre verheiratet gewesen und hatte bereits zwei ihrer drei Töchter zur Welt gebracht. Sie konnte den Widerwillen ihrer Ältesten nicht begreifen, eine Werbung auch nur in Betracht zu ziehen, und Faith konnte ihr natürlich nicht erklären, dass es sehr gute Gründe für ihre abweisende Haltung gab.

Ihre Mutter seufzte noch einmal. „Aber in diesem Fall bin ich wohl geneigt, ihren ungesunden Zynismus zu begrüßen, ebenso wie ihren Mangel an Taktgefühl und ihre entschlossene Offenherzigkeit, solange es um den Unhold geht.“

„Genauso ist es, meine Liebe.“ Ihr Vater legte den Arm um seine Frau und küsste sie aufs Haar. „Du siehst, du machst dir unnötige Sorgen, und das solltest du wirklich nicht, wenn du doch so viel mit deinen Proben beschäftigt bist.“

Faith nickte. „Così fan tutte war schon jeher dein Traum, Mama. Bitte verdirb es dir nicht mit deinen Sorgen um mich.“ Im Haushalt der Brookes wurde sehr viel Wert auf Träume und ehrgeizige Ziele gesetzt, denn wenn Faiths Eltern nicht nach den Sternen gegriffen hätten, wären sie noch immer Steinmetze und Tuchhändler und müssten sich mühsam durchs Leben kämpfen – genau wie ihre eigenen Eltern und Großeltern vor ihnen. „Du musst deine ganze Energie darauf konzentrieren, die virtuose Vorstellung zu geben, auf die ganz London mit angehaltenem Atem wartet. Und du hast mein feierliches Versprechen, dass ich dem Unhold aus dem Weg gehen werde, wann immer das möglich ist. Ich werde weiterhin unmissverständlich zynisch, taktlos und unverblümt bleiben, damit er von Anfang an begreift, dass ich ihn von ganzem Herzen missbillige. Sollte mir der Kopf überhaupt verdreht werden, dann nach oben, damit ich umso besser verächtlich auf ihn herabsehen kann.“ Sie demonstrierte es auch gleich.

Ihr Vater lächelte amüsiert. „Ein sehr einschüchternder Hochmut, mein Liebling. Sehr gut! Dem Unhold wird Hören und Sehen vergehen. Ist sie nicht ein furchterregender Anblick, Roberta?“

Nach einem weiteren tiefen Seufzer gab Faiths Mutter schließlich nach. „Nun gut, dann kapituliere ich, aber nur widerwillig. Und nur solange ich dein Wort habe, Augustus, dass du zu jedem Zeitpunkt ein Auge auf Faith haben wirst.“ Sie wandte sich streng an Faith. „Und wenn du mir versprichst, dass du deine Eigenwilligkeit vergessen und es ihm erlauben wirst! Das müsst ihr mir beide hier und jetzt versprechen, sonst bekomme ich keine Ruhe.“

Vater und Tochter tauschten einen betretenen Blick. Sie wussten beide, dass es fast unmöglich sein würde, ein solches Versprechen zu halten. In den zwei Jahren, in denen Faith ihrem Vater gelegentlich assistierte, hatten sie einen Weg gefunden, harmonisch miteinander zu arbeiten – nur dass es allerdings selten am selben Ort stattfand. Ansonsten würden sie keine Arbeit zustande bringen. Faith liebte es, beim Malen mit sich selbst zu sprechen oder zu singen, und ihr Vater zog absolute Stille vor. Während Faith also die empfindsamen Hintergründe erschuf, die ein begehrtes Brookes-Gemälde zu einem so unverwechselbaren Kunstwerk machten, konzentrierte ihr Vater sich als der fast schon übertrieben perfektionistische Porträtmaler, der er war, darauf, die Pose und den Ausdruck seiner Modelle in mehreren Skizzen zu verfeinern, um sie erst später in aller Ruhe in Öl zu verewigen.

Ihre vereinten Bemühungen ergänzten sich stets aufs Wunderbarste, und sie gaben ein vollkommenes künstlerisches Gespann ab, aber sie arbeiteten nur sehr selten im selben Raum. Sollte man sie je dazu zwingen, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich an die Gurgel gehen würden.

„Du hast mein Wort, dass ich sie immer in meiner Nähe haben werde.“ Faiths Vater verzog über den Kopf seiner Frau hinweg unglücklich das Gesicht. Es behagte ihm ganz und gar nicht, die Wahrheit zu verfälschen.

Faith bemerkte den Blick ihrer Mutter und zwang sich zu einem Lächeln. „Und ich verspreche dir, dass ich nie mehr als einige wenige Meter von Papa entfernt sein werde, solange der Unhold anwesend sein wird.“ Wenn man bei zwanzig oder Metern, getrennt von einer festen Mauer, noch von wenigen Metern reden konnte.

Sobald ihre Kutsche vor dem eindrucksvollen Stadthaus des Earl of Writtle am Grosvenor Square hielt, öffnete ein Diener die Tür, und Faith purzelte in ihrem Eifer fast schon aus der Kutsche, als könnte ihre Mutter ihre Einwilligung doch noch zurücknehmen. Genauso hastig folgte ihr Vater, und gemeinsam schickten sie den Kutscher fort und atmeten erleichtert auf, als er losfuhr.

„Ich hasse es, wenn ich sie anlügen muss.“

„Eigentlich hast du ja gar nicht gelogen, Papa. Ich werde ja wirklich immer in deiner Nähe sein.“

„Ich habe sie etwas glauben lassen, das nicht der Wahrheit entspricht, mein Kind, und das ist ebenfalls eine Lüge, ganz besonders in einer Ehe. Aber jetzt zu unserem Aufenthalt hier, Faith.“ Er warf ihr einen warnenden Blick zu. „Ich kann mich doch wohl hoffentlich darauf verlassen, dass du hier keinen Streit vom Zaun brechen wirst. Von Lord Unhold abgesehen sind die übrigen Familienmitglieder sehr nette Menschen, und ich wäre ausgesprochen beschämt, solltest du sie auf irgendeine Weise kränken. Denke bitte daran, dass wir in einer rein professionellen Funktion hier sind. Ich erwarte also von dir, dass du dich jederzeit professionell verhältst – welcher Art deine Gefühle auch sein mögen. Selbst wenn du glaubst, provoziert worden zu sein.“

Faith runzelte etwas beleidigt die Stirn. Sie war immer professionell, wenn es um ihre Arbeit ging. Ein einziges Mal hatte sie diese Regel verletzt, und das nur weil ein allzu vorwitziges Porträtmodell unangebrachte Avancen gemacht hatte, während sie mit dem Mischen ihrer Farben beschäftigt gewesen war. „Verzeih bitte, Papa, aber ich finde deine Ermahnung völlig unnötig und ungerechtfertigt. Selbstverständlich werde ich die Verkörperung guter Manieren und professionellen Verhaltens sein. Wie es immer der Fall ist. Und das wird sich auch in Gegenwart des Unholds nicht ändern.“

Es folgte kurzes Schweigen, und dann wurde der Gesichtsausdruck ihres Vaters weicher. „Es war eine unnötige Ermahnung, und ich muss mich wirklich bei dir entschuldigen. Ich fürchte, nach einem Vierteljahrhundert Ehe mit deiner Mutter hat sie ein wenig auf mich abgefärbt.“ Er seufzte. „Und es hat in den Zeitungen so viele haarsträubende Geschichten über Lord Eastwood gegeben, dass man dir nicht verübeln kann, wenn du eine sehr ausgeprägte Meinung über ihn hast. Ganz besonders da ich wegen ihm auch meine Befürchtungen habe, die er bei unserer kurzen Begegnung nicht zerstreut hat. Ich stelle mir vor, dass wir beide uns in den nächsten drei Monaten auf die Zunge werden beißen müssen, wann immer wir mit ihm in Berührung kommen.“

Als die Diener ihnen das Gepäck abnahmen, hakte Faith sich bei ihrem Vater ein, um ihm zu zeigen, dass sie ihm vergeben hatte, und während sie den Männern die Marmorstufen hinauf folgten, flüsterte sie ihm zu: „Da wir von dem Unhold sprechen, Papa, glaubst du, er wird uns schon heute mit seiner Gegenwart beehren?“ Nach allem, was sie von ihm gehört hatte, konnte sie nicht anders als interessiert sein. „Ich gestehe, ich kann es nicht erwarten zu sehen, ob dieser ganz besondere Teufel wirklich Hörner hat.“

„Ich habe jedenfalls keine gesehen, aber vielleicht feilt er sie ja ab.“

„Dann werden wir wohl nachsehen müssen, ob er einen Pferdefuß hat, um ganz sicherzugehen.“

Ihre völlig unangebrachte Unterhaltung kam zu einem Ende, als ein sehr eleganter Butler ihnen in der Eingangshalle entgegenkam und ihnen die Mäntel abnahm, bevor er sie zum Salon begleitete. Dort wurden sie von einem lächelnden Earl of Writtle, seiner strahlenden Countess, deren zwei freundlichen erwachsenen Töchtern und leutseligen Schwiegersöhnen begrüßt. Die zwei entzückenden Enkelkinder, umgeben von einer wahren Flut von Spielzeug, saßen auf dem persischen Teppich und sahen fröhlich kichernd zu ihnen auf. Alles in allem wurde ihnen die aufrichtigste, warmherzigste Freundlichkeit entgegengebracht.

Eine einzige weitere Person hielt sich im Salon auf – ein hochgewachsener Mann, der ein wenig abseits von der übrigen Familie neben dem Kamin stand. Er hatte rabenschwarzes Haar und Augen von dem intensivsten Grün, das Faith je gesehen hatte. Allerdings hatte er eine Miene aufgesetzt, von der selbst die frischeste Milch sauer werden würde. Abgesehen davon jedoch musste Faith dem Urteil ihrer Mutter zustimmen.

Der Unhold war ein ausgesprochen attraktiver Teufel – wenn einem der Sinn nach einem Teufel lag.

Glücklicherweise war das bei ihr nicht mehr der Fall. Nur ergriff jetzt ein kleiner Teufel in ihr selbst die Gewalt über sie, als Lord Eastwood ihr höflich die Hand schüttelte, und ließ sie vergessen, dass sie beschlossen hatte, stets höflich und professionell zu bleiben. Kaum, dass sie seine große, kräftige Hand spürte, deren Wärme sie durch die Handschuhe hindurch zu verbrennen schien, entfuhr ihr ganz gegen ihren Willen was sie wirklich dachte.

„Lord Eastwood. Ich habe so viel über Sie gelesen, aber ich hoffe um Ihretwillen, dass wenigstens einiges davon nicht der Wahrheit entspricht.“

2. KAPITEL

Da er sich immer wieder dabei ertappte, dass er den Blick zu ihr schweifen ließ, konzentrierte Piers sich auf die Teetasse vor sich, während das Gespräch ohne ihn fortgeführt wurde. Er hatte schon vor Monaten gewusst, dass er nicht in diesen Zirkus hätte einwilligen dürfen. Nichts brauchte er weniger als ein riesiges Porträt von sich ganz allein, während der Rest seiner Familie wenigstens als Paar abgebildet sein würde.

Doch seine Mutter hatte darauf bestanden, und als pflichtbewusster Sohn, der er nun einmal war, hatte er nachgegeben und sich gesagt, dass seine derzeitige Lage durch nichts noch verschlimmert werden könnte – wie sehr er sich doch getäuscht hatte! Dank der irritierenden Miss Faith Brookes wünschte er sich nichts mehr, als sich in seinem Arbeitszimmer zu verstecken und dort zu bleiben, bis das Meisterwerk, das seine Mutter so ersehnte, fertiggestellt war.

Wann immer Miss Brookes zu ihm herübersah, und das geschah beunruhigend oft, veränderte sich der Ausdruck auf ihrem entzückenden Gesicht. Für alle anderen hatte sie ein Lächeln übrig, und obwohl sie auch ihn anlächelte, so wirkte es bei ihm aufgesetzt, und der Ausdruck in ihren Augen erinnerte ihn an die Art, wie Menschen aussahen, die einen besonders unangenehmen Geruch wahrnahmen, sich aber alle Mühe gaben, sich nichts anmerken zu lassen, für den Fall, dass der Geruch von ihrem Gastgeber ausging.

„Und was stellen Sie sich unter einem vollkommen Tag vor, Lord Writtle?“ Um einen besseren Begriff von dem passendsten Hintergrund für die Gemälde zu bekommen, hatte die Ursache seiner gegenwärtigen üblen Stimmung sich daran gemacht, die gesamte Familie auszufragen – um ihre Seelen zu erforschen sozusagen und sicherzustellen, dass das Porträt die Familie richtig wiedergab.

Ein völlig absurder Unsinn, wenn man ihn fragte, angefüllt mit Melodramatik und gekünsteltem Getue, zu dem künstlerisch veranlagte Menschen ja für gewöhnlich auch neigten. Nachdem sie seine Mutter über alles ausgefragt hatte – von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihren Lieblingsbeschäftigungen und der Begeisterung, mit der sie im Sommer, ungeachtet des Wetters, Picknicks veranstaltete –, plauderte Miss Brookes, deren ungewöhnliches Haar heute auf charmante Weise zerzaust war, jetzt gemütlich mit seinem Vater. Sie wirkte dabei völlig unbefangen und als würde sie sich vollkommen wohlfühlen in ihrer Haut – etwas worum er sie zutiefst beneidete.

Früher einmal war er genauso gewesen. Aber das war sehr lange her. Wenn er ehrlich sein wollte, würde er seine alte Haut liebend gern gegen eine neue eintauschen, in der er sich vollkommen verstecken könnte. Dann würde man sich vielleicht nicht mehr nach ihm umsehen und hinter vorgehaltenen Fächern über ihn tuscheln – natürlich immer hinter seinem Rücken. Er wollte nicht mehr auffallen wie die lebhafte Miss Brookes. In einer vollkommeneren Welt würde er eins werden mit der Tapete, vor der er jeweils stand.

Wenn er es allerdings recht bedachte, so war er nie ganz so auffällig gewesen wie sie. Gewiss, er war hochgewachsen und dunkelhaarig und hatte wohl zu seiner Zeit als überaus begehrter Junggeselle gegolten. Aber Miss Brookes hatte etwas so Einzigartiges an sich, dass alle Augen sich auf sie richteten und jede andere junge Dame im Vergleich eher reizlos und fade erschien.

Es liegt wahrscheinlich nur an ihrem Haar, dachte er.

Der ungewöhnliche Farbton, der zwischen Gold und Kupfer schwankte, und die Locken, die sie zwanglos aufgesteckt hatte, formten sich offensichtlich auf natürliche Weise. Sie kringelten sich zu willkürlich, zu wild und zu einladend, um ihren Reiz einer Brennschere zu verdanken. Künstlich geformte Locken gehorchten, die von Miss Brookes waren sündhaft eigensinnig.

„Natürlich genieße ich auch schöne Musik, Miss Brookes.“ Sein Vater lächelte ihr zu, offensichtlich entzückt von ihr, während sie sich Notizen in einem Buch machte. „Ganz besonders, wenn sie von Ihrer talentierten Mama gesungen wird.“

„Sie sind zu freundlich, Mylord. Ich werde später gern Ihr Kompliment an sie weitergeben.“

Seine Mutter hatte erwähnt, dass Mrs. Brookes eine Art Sängerin war, was wahrscheinlich die allzu theatralische Ader der Tochter erklärte. Die Kunst lag ihr im Blut, während er selbst wohl nichts anderes in seinem Blut hatte als … Blut. „Spielen Sie ein Instrument, Lord Writtle?“

„Bedauerlicherweise nicht. Ich wünschte, es wäre so, denn es war immer mein Traum gewesen. Aber meine Frau und Töchter spielen wunderbar Klavier, woran ich große Freude habe.“

„Was hat Sie davon abgehalten, es selbst zu erlernen?“

Sie ließ von ihren Notizen ab und beugte sich vorwärts, sodass Piers ungehindert ihr Profil und die Sommersprossen auf ihrer kleinen Stupsnase betrachten konnte. Im Gegensatz zu den meisten Damen schien sie keinen Versuch unternehmen zu wollen, sie zu verbergen. Zweifellos gehörte sie zu den Frauen, die der Welt deutlich zeigen wollten, dass sie nur ihren eigenen Regeln folgte – genau die Sorte von Frauen, die ihn leider schon immer angezogen hatte.

Der Himmel mochte ihm beistehen!

So viel zu der Behauptung, dass man aus Erfahrung klug würde! Es schien nicht das Geringste auszumachen, dass er bereits einmal so sehr enttäuscht worden war. Seine verflixte Hand prickelte noch immer von der Berührung vorhin, als er Miss Brookes die Hand geschüttelt hatte, und was er auch tat, der Gedanke daran ließ ihn nicht los.

„Ich war der Erbe meines Vaters. Er war der Meinung, es gäbe wichtigere Dinge für die Zukunft, die ein Earl lernen musste – Buchführung, Aktien und Obligationen, die Führung eines Gutes …“

„Also langweilige Dinge.“ Sie lächelte ihn strahlend an, und Piers stellte plötzlich fest, dass er doch tatsächlich eifersüchtig auf seinen eigenen Vater war. Er selbst hatte dieses strahlende Lächeln jedenfalls nicht zu sehen bekommen, sogar als sie sich vorgestellt wurden und man mit einem wenigstens geheuchelten Lächeln hätte rechnen können.

Eine Sache musste er ihr allerdings zugutehalten. Sie hatte keine Angst vor ihm gezeigt wie so viele andere Damen seit seiner Scheidung, sondern war seinem Blick mutig begegnet, als sie sich die Hand gegeben hatten. Und während er noch versuchte, seine seltsam heftige Reaktion auf diese Berührung zu begreifen, hatte sie ihn unverhohlen betrachtet und ihn mit ihren ersten unverblümten Worten völlig aus der Fassung gebracht.

Ich habe so viel über Sie gelesen, aber ich hoffe um Ihretwillen, dass wenigstens einiges davon nicht der Wahrheit entspricht.

Eine Bemerkung, die zwar wenigstens aufrichtig gewesen war, ihm aber völlig den Wind aus den Segeln genommen hatte. Jedenfalls redete er sich ein, dass das der Grund für das Stottern gewesen war, mit dem er ihr zu antworten versucht hatte. Und dann war seine Mutter eingeschritten, um ihn zu retten, und hatte der unverblümten Miss Brookes entschieden versichert, dass die Zeitungen nichts als entsetzliche Lügen verbreitet hätten.

Wenn er nicht so sehr die Fassung verloren hätte, hätte er seiner Mutter allerdings in aller Aufrichtigkeit widersprechen müssen, denn eine seiner vielen bedauerlichen Charaktereigenschaften war seine fast absolute Ehrlichkeit.

Die Presse hatte nicht nur Lügengeschichten veröffentlich.

Sie hatte einige unangenehme Wahrheiten verdreht, viele wichtige Tatsachen unterschlagen und es nicht geschafft, auch nur ansatzweise zu akzeptieren, dass eine Medaille immer zwei Seiten hatte. In seinem Fall befand sich die andere Seite der Medaille mit ihrem Geliebten in Lissabon und erwartete ungeduldig die Geburt ihres ersten Kindes. Und sie ahnte nicht einmal etwas davon, dass ihre Scheidung Piers’ Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte, während er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um ihr die Freiheit zu ermöglichen. Andererseits hatte er nicht damit gerechnet, dass seine ehemalige Frau auch nur einen Gedanken an ihn verschwenden würde. Warum sollte sie auch, da sie es nicht einmal getan hatte, solange sie noch unter einem Dach gelebt hatten?

„Ja, Miss Brookes, wirklich sehr langweilige Dinge, aber in hohem Maße nützlich, wie sich herausstellte, sonst müssten wir jetzt alle darben. Was mein verschwenderischer Vater uns hinterließ, hätte nicht ausgereicht, das können Sie mir glauben. Mein Talent beim Spekulieren hat das Vermögen der Familie wiederaufgebaut.“

„Was für eine große Errungenschaft, Mylord!“ Piers’ Vater spreizte sich wie ein Pfau vor Stolz, und wieder ging ihr Blick kurz zu Piers, bevor sie ihn hastig wieder abwandte. „Ich gratuliere Ihnen. Sie besaßen die innere Stärke und Klugheit, das Familienvermögen zu retten. Unter uns, Mylord, ich habe noch nie viel für verwöhnte Aristokraten übriggehabt, die sich auf den Lorbeeren ihrer Ahnen ausruhen und nur jammern, wenn das Schicksal ihnen Schwierigkeiten in den Weg legt. Ich ziehe tatkräftige Männer bei Weitem vor.“ Sein Vater schien bei diesem Lob um einige Zentimeter zu wachsen. „Spekulieren Sie auch jetzt noch?“

„Selbstverständlich!“ Denn er war schließlich ein tatkräftiger Mann und albern genug, eine freche kleine Hexe beeindrucken zu wollen, die ihn verzaubert zu haben schien. „Das Spekulieren ist sehr viel aufregender als die langweiligen alltäglichen Aufgaben, die die Leitung eines Gutes mit sich bringt und die einen so großen Teil meiner Zeit in Anspruch nehmen.“

„Sobald Sie also alles Langweilige erledigt haben, was macht Ihnen da Freude?“ Sie nahm ihren Bleistift wieder auf, und Piers bemerkte ihre Hände und die langen, eleganten Finger, die keinen Moment still blieben. Sie trug keinen Ehering, doch warum ihn das so sehr erleichterte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Die finsteren Blicke, die Miss Brookes ihm gelegentlich zuwarf, bewiesen, dass sie bereits eine tiefe Abneigung gegen ihn gefasst hatte. Nichts würde ihre Meinung über ihn ändern, das war offensichtlich, selbst wenn Piers die richtigen Worte finden könnte, sich zu verteidigen.

Wenn er in den vergangenen sechs Monaten etwas gelernt hatte, so die Tatsache, dass Klatsch und Tratsch immer über die Wahrheit den Sieg davontrugen und die Menschen es stets vorzogen, das Schlimmste zu glauben. Und er konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Eine Lügengeschichte war immer aufregend, und die Wahrheit, zumindest was ihn persönlich anging, ausgesprochen bedrückend. Der einzige Trost war, dass die andere Partei in dieser Angelegenheit in der Lage gewesen war, ihr Leben neu zu beginnen.

Und das war ein weiterer seiner Charakterzüge, auf den er gern verzichtet hätte!

Piers war stets ein großzügiger Verlierer gewesen, so sehr, dass es schon ärgerlich wurde, und so großmütig, dass es sich für ihn fast immer zum Nachteil auswirkte, selbst wenn er völlig im Recht gewesen wäre, nicht so selbstlos zu sein. Manchmal zog selbst er die fiktive Version von sich, die er in den Zeitungen las, vor. Jener herzlose Schuft war wenigstens interessant und hätte mit Leichtigkeit eine entschiedene, bissige Antwort auf Miss Brookes’ kühne Frage parat gehabt, mit der er ihr klargemacht hätte, dass sie sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte.

Wahre Bösewichte stotterten nicht und sie verhaspelten sich, und ganz gewiss verloren sie nicht die Fassung, wenn sie einer Frau die Hand gaben. Fast eine Stunde war vergangen, und er konnte noch immer nicht begreifen, warum er so heftig auf diese Frau reagiert hatte. Es hatte sich zu seinem Entsetzen wie Verlangen angefühlt, Verlangen und noch etwas – etwas sehr viel Stärkeres, Tiefergehendes.

Was immer es auch war, es war bereits bemerkenswert, dass er nach so langer Zeit wieder Verlangen nach einer Frau empfand – ganz besonders da er sich geschworen hatte, den Frauen zu entsagen, die dieses Verlangen in ihm weckten. Meist waren es Geschöpfe voller überschäumender Lebensfreude und von großer Intelligenz wie die Sirene, die in diesem Moment seinen Vater verzauberte. Sonst ein so vernünftiger, besonnener Mann, hing der alte Narr regelrecht an ihren Lippen.

„Ich reite sehr gern, vor allem das Querfeldein-Jagdrennen auf unserem Gut in Surrey und nicht das geruhsame, brave Ausreiten hier im Hyde Park.“ Noch mehr Aufschneiderei, dieses Mal über seine kraftstrotzende Vitalität. Sein armer Vater war der geschickten Verführerin völlig verfallen. „Ich liebe es, den Wind auf dem Gesicht zu spüren und das Donnern der Hufe auf der Erde.“ Jetzt geriet er auch noch ins Schwärmen! Donner und Hufe, Himmel noch mal! Noch nie war der Salon der Writtles Zeuge solch blumiger Sprache geworden.

„Sie besitzen also einen draufgängerischen Wesenszug, Mylord?“ Die kleine Hexe lächelte mit unverhohlener Anerkennung, während sie die Information notierte. „Gegen wen treten Sie diese Rennen an?“

„Im Allgemeinen gegen Piers. Fast jeden Sonntag genießen wir einen Galopp im Richmond Park. Je älter ich jedoch werde, desto mehr hält er sich wohl zurück, um meinen Stolz zu schonen und mir das Gefühl zu geben, ich könnte mich noch mit ihm messen.“

„Ach?“ Der prüfende Blick aus ihren seltsamen mandelförmigen Augen richtete sich plötzlich auf ihn, und Piers spürte, wie sein Mund ganz trocken wurde. Wie alles an ihr besaßen auch ihre Augen eine ungewöhnliche Farbe. Sie waren nicht veilchenblau, nicht grün, aber die Wimpern, die sie umrahmten, waren lang und die Augenbrauen dicht und ausdrucksvoll.

„Und da ich ein eitler, oberflächlicher alter Mann bin, Miss Brookes, rede ich mir gern ein, dass ich ihm noch immer einen guten Wettkampf bieten kann.“

„Daran zweifle ich keinen Augenblick, Mylord.“ Zu Piers’ Erleichterung wandte sie den Blick wieder von ihm ab. „Das Alter ist nur eine Zahl.“

Doch er hatte sich zu früh gefreut. Gleich darauf wandte sie sich direkt an ihn. „Was ist mit Ihnen, Lord Eastwood? Abgesehen von den Wettrennen mit Ihrem Vater, wie verbringen Sie Ihre freie Zeit?“

„Eine bessere Frage wäre, wann er sich jemals freie Zeit erlaubt!“, warf seine Mutter ein, als ihm offensichtlich keine Antwort einfallen wollte. „Mein Sohn arbeitet zu viel, Miss Brookes. Jede wache Stunde scheint er mit seinen Pflichten für Whitehall beschäftigt zu sein. Entweder arbeitet er im Ministerium, oder er bringt das Ministerium mit nach Hause. Ich habe ihm so oft gesagt, dass es nicht gesund ist, so hart zu arbeiten, aber leider fallen meine Bitten auf taube Ohren.“

Miss Brookes musterte ihn, und er spürte, wie ihm der Atem stockte. „Sie arbeiten für die Regierung, Lord Eastwood?“

„Ja.“ Dank seiner unwilligen Zunge kostete ihn diese eine Silbe größere Anstrengung als gerechtfertigt wäre, und das ging wirklich nicht an, wenn er sich die nächsten Monate tatsächlich mit ihrer missbilligenden Gegenwart würde abfinden müssen. Es sei denn, er brachte keine Arbeit mehr mit nach Hause und schlief stattdessen einfach in seinem Büro. Die Idee war gar nicht so schlecht … „Ich arbeite im Kriegsministerium, und leider haben wir im Moment sehr viel zu tun.“

„Einer meiner früheren Schüler arbeitet in Whitehall“, bemerkte Augustus Brookes. „Lord Rayne. Kennen Sie ihn?“

Piers nickte und hoffte nur, dass ihm seine mangelnde Begeisterung für den Mann nicht anzumerken war. „Ja, wir sind uns ein oder zweimal begegnet.“ Für gewöhnlich stieß Piers mit ihm im Korridor zusammen, wenn es ihm nicht gelang, sich schnell genug abzuwenden und einen anderen Weg einzuschlagen. Rayne gehörte zu jenen Adligen, die sich bei den wichtigen Leuten in Whitehall einzuschmeicheln versuchten, ohne je wirklich etwas von Bedeutung zu erledigen. Als Schwiegersohn eines Kabinettsmitglieds allerdings wurde er von einer Abteilung in die nächste versetzt. Zuletzt hatte Piers gehört, dass Rayne etwas im Handelsministerium erledigte – wo er wahrscheinlich lediglich Däumchen drehte, da der Bursche nicht zu sehr viel mehr fähig war.

„Er besaß ein gewisses Talent zum Künstler“, meinte Augustus mit einem wehmütigen Lächeln. „Wenn vielleicht auch nicht die nötige Hingabe. Dennoch schien er mir vielversprechend. Netter Bursche.“ In dem Punkt würden sie wohl unterschiedlicher Meinung bleiben müssen. „Leider gab er seinen Unterricht auf, als er im Sommer 1809 heiratete. Oder war es 1810, Faith? Ich kann mich nie richtig erinnern.“

„Es war 1808.“ Miss Brookes sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, und machte sich sofort daran, Piers weiter auszuhorchen. „Arbeiten Sie gern für das Ministerium, Lord Eastwood?“

„Die Arbeit dort ist sehr wichtig.“

„Das bezweifle ich auch nicht, Sir.“ Sie lächelte, als hätte seine Antwort sie amüsiert. „Ich wollte wissen, ob sie Ihnen Spaß bringt.“

Was war es nur an dieser Frau, das ihn so aus der Fassung brachte? Er benahm sich fast so, als wäre er schüchtern, statt ganz einfach nur uninteressant.

„Ich weiß nicht, ob man je Spaß daran haben kann, einen Krieg zu führen, Miss Brookes. Aber es ist herausfordernd und eine lohnende Aufgabe.“ Jetzt klang er barsch und gesetzt, alt über sein wahres Alter hinaus – genau worüber Constança sich immer beschwert hatte. Er war so berechenbar, so zugeknöpft, so langweilig „englisch“! „Es hält mich auf Trab.“

„Zweifellos.“ Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder seinem Vater zu, ganz offenbar ebenso gelangweilt von seinen jämmerlichen Konversationskünsten wie er selbst. Und wer konnte es ihr auch verdenken? Er war ja auch ein Langweiler – und darüber hinaus jetzt auch noch ein Mann, der von der guten Gesellschaft gemieden wurde. Nicht die beste Kombination für einen Mann in der Blüte seiner Jahre.

Und Miss Faith Brookes, zum Henker mit ihr, war das genaue Gegenteil von langweilig. Die ungezwungene Art, mit der sie mit allen außer ihm umging, bewies, dass sie zu jenen geselligen Menschen gehörte, die einen Raum nur zu betreten brauchten, um sofort Freude aufkommen zu lassen.

Deswegen hatte schon ein Blick auf sie genügt, um in ihm ein Verlangen zu erwecken, das er seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte. Seit jeher hatte er sich zu dem Außergewöhnlichen hingezogen gefühlt – nur leider verursachte er heutzutage nur noch Freude, wenn er einen Raum verließ.

Von ihrem kupferfarbenen Lockenschopf bis zu den Spitzen ihrer bunt gemusterten Schuhe besaß Miss Brookes eine faszinierende Ausstrahlungskraft. Das Kleid allein sprach wahre Bände über ihren Charakter. Es war smaragdgrün und mit kirschrotem Brokat eingefasst, was sich eigentlich beißen sollte, doch an ihr passten diese lebhaften Farben nicht nur zusammen, sie brachten ihre helle Haut auch noch aufs Vollkommenste zur Geltung.

Sie war außergewöhnlich und unkonventionell und erfreulich gut gebildet – und somit für ihn ungefähr so gefährlich wie ein Rudel hungriger Löwen. Seine innere Stimme flehte ihn regelrecht an, auf keinen Fall zu vergessen, dass langweilige, berechenbare Männer wie er und lebhafte Frauen wie sie einfach nicht zusammenpassten und er sich um Himmels willen von ihr fernhalten sollte.

Piers hatte gewiss nicht die Absicht, seinen größten Fehler zu wiederholen. Aber warum ließ er sich von ihr schon jetzt so verzaubern, dass er kaum sprechen konnte?

Ganz offensichtlich gefiel es ihm, sich ins Unglück zu stürzen.

Oder er war ein Schwachkopf.

Oder sehr wahrscheinlich beides.

Vor allem da sie ihn hin und wieder ansah, als wäre er etwas, das eigentlich in den Stall gehörte und nicht in den Salon eines Gentlemans.

„An diesem Punkt wäre es sehr nützlich für Faith, den vorgesehenen Ort für das Gemälde zu sehen“, sagte Augustus Brookes zu niemandem im Besonderen. „Sie sieht sich gern das Licht an und die Atmosphäre und Stimmung eines Raums, bevor sie den ersten Entwurf anfertigt.“

Wieder dieser künstlerische Humbug. Als könnte ein leerer Raum Atmosphäre besitzen oder Ziegel, Putz und Möbel wären in der Lage, eine Stimmung auszudrücken. Piers spottete insgeheim und wünschte, er wäre wieder in seinem Büro. Doch dann fiel ihm auf, dass aller Augen auf ihm ruhten, und ihm wurde bewusst, dass er seinem Hohn mit einem deutlich hörbaren Schnauben Ausdruck verschafft haben musste.

Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an. „Verzeihen Sie meinem Sohn. Sie haben ihn an einem seiner schlechteren Tage erwischt. Normalerweise ist er nicht so griesgrämig. Tatsächlich kann er sogar sehr umgänglich sein, wenn er sich Mühe gibt.“

„Ach?“ Miss Brookes schien eine solche Möglichkeit für vollkommen unwahrscheinlich zu halten.

„Oh, ganz bestimmt, meine Liebe.“ Seine Mutter reichte die Kuchenplatte herum, als könnte die Süßigkeit seinen ungezogenen Fauxpas auslöschen und den künstlerischen Zorn beschwichtigen, den er vielleicht hervorgerufen hatte. „Er kann so charmant sein, wenn er nur will. Aber es gelingt ihm immer bei einem persönlichen Gespräch viel besser, seine leutselige Seite zu zeigen, als in einer Menge, wo er es zu meinem Kummer stets vorzieht, im Hintergrund zu verschwinden. Tun Sie mir den Gefallen und erlauben Sie ihm, es zu beweisen, Miss Brookes.“ Sie blickte mit einem Lächeln zu ihm herüber, das ihn Böses ahnen ließ. „Piers, mein Lieber, geleite Miss Brookes in den Ballsaal und zeige ihr die Wand. Sei bitte so freundlich, ja?“

3. KAPITEL

Der Ballsaal.“

Nachdem sie ihm regelrecht hatte hinterherlaufen müssen, um mit ihm Schritt zu halten, während er die Halle hinuntermarschiert war, warf Lord Unhold die Doppeltüren zum Ballsaal auf und betrat die Tanzfläche. Die Absätze seiner Stiefel klickten ungeduldig auf dem auf Hochglanz polierten Parkettboden.

Faith bemühte sich, eine verblüffte Miene aufzusetzen, und hoffte, er sah ihr nicht an, wie sehr die Tatsache sie beunruhigte, dass sie ganz allein mit ihm war – noch dazu so kurze Zeit nachdem sie ihrer Mutter versprochen hatte, genau das zu vermeiden. Sie presste ihr Notizheft an die Brust und schritt über die Schwelle. Dabei war es nicht einmal der Skandal oder seine Nähe, die sie so aufwühlend fand. Sie versuchte noch immer zu begreifen, warum sie so heftig auf den doch so harmlosen Händedruck mit ihm reagiert hatte. Die schlichte Berührung einer Hand konnte doch unmöglich der Grund für die Schauer sein, die ihr über den Rücken gelaufen waren, oder für das schnelle Klopfen ihres Herzens. Faith wusste, wenn sie sich zu jemandem hingezogen fühlte, aber sie konnte nicht verstehen, dass sie sich ausgerechnet zu diesem Mann hingezogen fühlen sollte!

Er war Londons berüchtigtster geschiedener Mann und noch jemand, der eines Tages den Titel eines Earls erben würde, genau wie Rayne! Dabei hatte sie sich geschworen, sich in Zukunft nur für intelligente Männer von Charakter zu interessieren, die aus eigener Kraft etwas aus sich machten, statt alles schon bei ihrer Geburt auf einem silbernen Tablett serviert zu bekommen. Und doch geriet ihr Puls wieder wegen eines gefühllosen, adligen Schurken in Aufregung! Sie war sehr verärgert darüber, dass sie scheinbar nicht aus ihren Fehlern lernen wollte.

Um ihre Nerven zu beruhigen, drehte sie sich langsam im Kreis und ließ den Saal auf sich wirken. „Was für ein schöner Raum.“

Trotz des grauen Februarhimmels wirkte er hell und luftig, und das dank der Fenstertüren, die eine ganze Wand einnahmen und in den Garten hinausführten, und dank der hohen, gewölbten strahlend weißen Decke. Der größte Kronleuchter, den Faith je gesehen hatte, hing von der Mitte der Decke herunter und bestand aus Tausenden tropfenförmiger Kristallkerzenhalter, deren Licht von den mit gestreifter Seide bezogenen Wänden sicher auf die zauberhafteste Weise reflektiert werden würde. Die scheinbar mühelose Schlichtheit zeugte sowohl von Exklusivität als auch von Überfluss. Ein Beweis dafür, als wäre er nötig gewesen, dass die Writtles sehr vermögend sein mussten.

Als würde es ihn zu sehr ermüden, mit der Hand zu weisen, nickte er nur kurz mit dem dunkelhaarigen Kopf nach rechts. „Diese Wand soll es sein.“

Es war die größte Wand und die einzige, die weder von Fenstern noch Türen oder Kaminen unterbrochen wurde. „Lieber Himmel! Die ist ja gewaltig.“ Viel größer als sie trotz der sorgfältigen Maße ihres Vaters angenommen hatte. Kein Wunder, dass er dringend ihre Unterstützung brauchte.

Er plante eine Leinwand von einem Meter fünfzig mal einem Meter achtzig, was erforderte, dass sie an Ort und Stelle arbeiten mussten, denn keiner von beiden hielt viel davon, später einzelne Teile des Gemäldes zusammenzufügen, da sie niemals wirklich exakt passten. Jetzt wurde Faith allerdings bewusst, dass sie ihre Arbeit sehr unterschätzt hatte. Um diesem Raum und dieser Wand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, würde das Gemälde zu beiden Seiten um mindestens einen halben Meter größer werden müssen. Und damit würde es das größte Bild sein, das sie jemals geschaffen hatten. Plötzlich erschienen auch ihr die geplanten vier Monate als viel zu kurz – aber was für ein Werk es werden würde!

Sie konnte es sich schon vorstellen. Sanfte Hügellandschaft mit Bäumen, Wiesen und einem unendlichen blauen Himmel. Ihre Ladyschaft auf einer Picknickdecke auf der einen Seite des Gemäldes, umgeben von ihren Töchtern, während die Kinder mehr zur Mitte hin mit ihren Vätern Drachen fliegen ließen. Seine Lordschaft würde auf der anderen Seite hoch zu Ross sitzen, den Blick lächelnd auf einen nur geisterhaft sichtbaren Kirchturm in der Ferne gerichtet. Und ein unergründlicher, sündhaft attraktiver dunkelhaariger Mann hielt sich etwas abseits am Rande auf und betrachtete die Vorgänge aus der Ferne – geringschätzig, genau wie jetzt auch.

„Was für eine großartige Wand, Lord Eastwood!“ Nie hatte eine vernünftige Frau lächerlichere Worte ausgesprochen, aber immerhin fielen ihr welche ein, obwohl seine Gegenwart die Macht zu besitzen schien, ihr den Verstand zu verwirren.

Er warf einen flüchtigen Blick darauf. „Ja, für eine Wand wohl nicht schlecht.“

Seine Stimme war tief und männlich – und aufregend, zum Kuckuck mit ihm. Faith erschauerte insgeheim. Das ging wirklich nicht so weiter! Sie durfte nicht vergessen, dass sie diesen Mann verachtete. „Ich habe den Eindruck, dass Sie keine Begeisterung für das Projekt aufbringen, Mylord.“

„Meine Mutter hat bestimmt, dass wir ein Meisterwerk von Brookes haben müssen, also wird es wohl auch so sein.“

„Aber Ihnen ist es völlig gleichgültig?“ Sie lächelte ungerührt, und weil es sie aus der Fassung brachte, ihn zu lange zu betrachten, drehte sie sich wieder zur riesigen Wand um. „Sind Sie kein Kunstliebhaber, Lord Eastwood?“

„Ich liebe es nicht, gestört oder überfallen zu werden, Miss Brookes.“

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Dadurch wirkte er arrogant und sogar ein wenig einschüchternd, weil diese Haltung seine Größe und Kraft betonte. Faith schätzte ihn auf über einen Meter achtzig, und er besaß die Statur eines Handwerkers oder Faustkämpfers und ganz und gar nicht die eines schlanken Adligen. Vielmehr war er muskulös, was bedeutete, dass er sehr viel mehr tat, als nur hinter einem Schreibtisch zu sitzen wie der Mann, dem sie einst ihr Ehegelöbnis gegeben hatte. Es ärgerte sie ungemein, dass ihr all diese Dinge auffielen und ihn in ihren Augen besser dastehen ließen, und dieser Ärger spiegelte sich in ihrem Ton wider.

„Wegen Ihrer ach, so wichtigen Arbeit? Die Sie mit nach Hause bringen, wie ich höre.“ Es war ganz besonders ärgerlich, dass Lord Eastwood kein müßiger Faulpelz war. Faith wollte ihn in keinem vorteilhafteren Licht betrachten. Sie zog es vor, weiterhin den Unhold in ihm zu sehen.

„England befindet sich gleichzeitig mit Napoleon und Amerika im Krieg, Miss Brookes. Es gibt sehr viel zu tun und nicht genügend Stunden im Tag dafür.“ Es war der längste Satz, den er bisher von sich gegeben hatte, und man sah ihm an, dass er nicht besonders erfreut darüber war, sich ihr zuliebe diese Mühe gemacht zu haben. Seine ausdrucksvollen grünen Augen funkelten unverhohlen zornig. Ganz offensichtlich hielt er nicht sehr viel von ihrer Arbeit. Wie typisch für Männer seines Schlages, andere Leute von oben herab zu betrachten. Offenbar waren alle zukünftigen Earls gleich.

„Ich bin neugierig, Mylord.“ Gemächlich öffnete sie ihr Notizheft und schrieb sich die neuen Dimensionen für die Leinwand auf, um ihn wissen zu lassen, dass er gar nicht so fesselnd war, wie er vielleicht annahm, und dass sie sich weder von seiner Gegenwart noch von seiner Kritik einschüchtern ließ. „Wie führt man eigentlich einen Krieg von einem anderen Land und der Bequemlichkeit seines Sessels in Mayfair aus?“

Denn das Beste, was man über ihn sagen konnte, war, dass er ein Bürokrat war und gewiss kein Soldat. Er traf womöglich Entscheidungen über Leben und Tod mit dem unpersönlichen Strich einer Schreibfeder – ebenso unpersönlich wie er sich seiner Frau entledigt hatte. Wenn ihr Herz schneller schlug, sollte sie sich besser an diese nicht unbedeutende Kleinigkeit erinnern. Was immer er in Whitehall tat, geschah sehr wahrscheinlich nur, damit er seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen konnte. Sollte er darüber hinaus noch politische Ambitionen haben, dann war die Arbeit im Ministerium ein wichtiger Schritt auf der Karriereleiter, bevor er seinen nur allzu straffen Allerwertesten in einen Regierungssitz platzieren konnte. Womit er die Position einnehmen würde, die ihm rechtmäßig zustand, wie er und so viele andere Adlige glaubten. So wie sie glaubten, sie hätten das Recht, dieses Land zu regieren. „Sind Sie nicht ein wenig zu weit entfernt vom wahren Kampfgeschehen, um von wirklichem Nutzen zu sein?“ Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und freute sich zu sehen, dass ihre wohl gezielte Spitze ihn verärgert hatte. Er hatte die faszinierenden grünen Augen leicht zusammengekniffen, und der gefährliche Ausdruck in ihnen ließ Faith erschauern.

„Armeen müssen etwas zu essen haben und können nicht ohne Kugeln kämpfen. Es ist eine meiner Pflichten sicherzustellen, dass sie die nötigen Vorräte erhalten. Es mag ja nicht die aufregendste Aufgabe sein, Miss Brookes, aber sie ist wesentlich, damit der Krieg gewonnen werden kann.“

„Das macht Sie wohl zu einem Strategen, Lord Eastwood.“ Sie ließ den Blick auf ihren Notizen, weil seine Augen sie doch zu sehr beunruhigten. „Ich stelle mir vor, eine so wichtige Aufgabe benötigt Strategie und Planung.“ Sehr wahrscheinlich bestand seine Arbeit vielmehr darin, sich mit seinen adligen Freunden selbstherrlich auf die Schulter zu klopfen und in White’s oder Brooks’ über einem Glas Wein zusammenzusitzen. Im ton war es schließlich nicht, was man wusste, was einem die größte Anerkennung einbrachte, sondern wen man kannte. Und wenn man selbst nicht jemand von Rang war, blieb man unbedeutend.

„Ja, das könnte man so sagen“, erwiderte er, noch immer recht gereizt. „Und für beides braucht man Ordnung und Ruhe, Miss Brookes.“

Faith ahnte bereits jetzt, dass es ein wahres Vergnügen sein würde, in Lord Unholds Nähe zu arbeiten. „Befindet sich Ihr Arbeitszimmer in der Nähe des Ballsaals, Mylord?“ Denn keine zehn Pferde würden sie in den Teil des Hauses bringen können.

„Leider befindet es sich schon am Ende der Eingangshalle. Wir werden also Nachbarn sein, Miss Brookes.“ Wieder wies er mit dem Kopf in eine Richtung, diesmal nach links, und Faith musste ein Lächeln unterdrücken. Er war wirklich ziemlich steif für sein Alter und sehr viel aufgeblasener als alle Männer, die sie kannte – und sie kannte nicht wenige. Wären nicht seine blitzenden Augen gewesen, hätte sie ihn für völlig gefühllos und hölzern gehalten. Aber seine Augen waren faszinierender, als ihr lieb sein konnte.

„Sie haben mein feierliches Versprechen, dass ich die Schwelle zu Ihrem Arbeitszimmer niemals überschreiten werde.“ Und sie war entschlossen, dieses Versprechen einzuhalten, denn noch nie in ihrem ganzen Leben war sie sich eines Mannes so bewusst gewesen wie ihm.

„Halten Sie sich bitte auch daran.“

Sie hätte es dabei belassen sollen.

Aber sie tat es nicht. Es war der Anflug von Triumph in seinem Ton, der schuld war. Es war diese scheinheilige Arroganz eines Mannes, der glaubte, alle Rechte stünden allein ihm zu, die Faith schmerzhaft vertraut war und die ihre rebellische Natur und ihren dickköpfigen Stolz verletzte.

„Ist das die leutselige Seite Ihres Charakters, die Sie mir zeigen sollten, Lord Eastwood?“

Er runzelte die Stirn. „Ich besitze nur eine Seite, Miss Brookes.“ Die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, richtete er sich zu seiner ganzen eindrucksvollen Größe auf. „Und die haben Sie von Anfang an zu sehen bekommen.“

„Wie enttäuschend.“ Obwohl sie wusste, dass es nicht sehr klug war, ihn herauszufordern, und trotz ihres Versprechens an ihren Vater, sich professionell zu benehmen, konnte sie sich nicht zurückhalten. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war er mehr als unerträglich und jemand musste ihm einmal einen Dämpfer verpassen. „Und ich hatte gehofft, Sie würden sich mehr bemühen, damit ich wenigstens versuche, etwas Sympathisches an Ihnen zu finden.“

Er neigte leicht den Kopf, und der intelligente, hypnotische Blick aus seinen plötzlich stürmischen Augen heftete sich unverwandt auf sie. „Und welchen Sinn hätte das gehabt, Miss Brookes? Wenn Sie doch wahrscheinlich ebenso wie alle anderen bereits ein Urteil über mich gefällt haben und vor dem erhabenen Gericht der öffentlichen Meinung zu dem Schluss gekommen sind, dass es nichts Sympathisches an mir gibt!“

Die Wahrheit seiner Worte verschlug Faith einen Moment lang die Sprache. Unerklärlicherweise schämte sie sich sogar ein wenig, wenn sie auch nicht sagen könnte, aus welchem Grund. Sie hatte ihr Urteil über ihn gefällt, das konnte sie nicht leugnen – genauso wie ganz London. Nachdem er sich einer hilflosen Frau gegenüber so herzlos benommen hatte, wie könnte sie da auch anders? Allerdings wusste sie, dass es nicht richtig war, über andere Leute zu urteilen, ohne sie wirklich zu kennen. Auch ihr selbst gegenüber hatten sich viele Menschen so benommen und taten es noch immer.

„Wollen Sie damit andeuten, dass alle Berichte über Sie unwahr sind, Lord Eastwood?“ Beide wussten, dass es sehr viele gegeben hatte, und einige davon waren wirklich scheußlich gewesen. Er konnte unmöglich jedermann getäuscht haben, und seine Scheidung war ein weiterer Beweis dafür, dass er seine arme Frau wirklich verstoßen hatte.

„Ich deute nichts an, Miss Brookes. Ich sage nur, wie die Dinge stehen. Sie sind heute mit einer festen Überzeugung hergekommen, zu der Sie ein Anrecht haben und die auf einer Überfülle unanfechtbarer Beweise beruht, die ich mir nicht die Mühe machen werde zu lesen, wie ich gestehe, geschweige denn zu widerlegen.“ Faith erkannte ein wenig erschrocken, dass er die Wahrheit sagte. In all dieser Zeit, in der sie jene unanfechtbaren Zeitungsberichte verschlungen hatte, war ihr nicht aufgefallen, dass Lord Eastwood trotz seiner einflussreichen Beziehungen kein einziges Mal versucht hatte, die Berichte über ihn anzufechten. Warum war er stumm geblieben?

Entweder er hatte gewusst, dass er sich nicht verteidigen konnte, oder er war einfach zu arrogant, um sich um die Meinung der Leute zu scheren. Oder aber er war scharfsinnig genug zu erkennen, dass schon der Versuch einer Verteidigung sinnlos sein würde, wenn niemand sie hören wollte.

Der Skandal war einfach zu köstlich gewesen, die Neuigkeit so schockierend, dass die Zeitungen nicht geruht hatten, und das Interesse ihrer Leser war ihnen sicher gewesen. Allerdings wusste Faith, dass man sich nicht darauf verlassen konnte, in den Zeitungen die Wahrheit zu lesen. Wie oft hatten sie in der Vergangenheit nicht den größten Unsinn über sie und ihre Familie gedruckt? Erst heute Morgen hatten sie weitere Gerüchte über ihre bevorstehende Verlobung mit Edward verbreitet, nur weil sie sich gestern kurz und ganz zufällig im Britischen Museum begegnet waren. Unsinniges Geschwätz, das lediglich auf der Tatsache beruhte, dass die Brookes unter den fortschrittlich denkenden, dekadenten Künstlern in Bloomsbury lebten und somit selbstverständlich ebenfalls völlig dekadent sein mussten. Faith und ihre Eltern hatten nur darüber gelacht, selbst wenn die Anschuldigungen nicht immer harmlos waren. Papa war der festen Überzeugung, dass man nur jene Schlacht schlagen sollte, die man gewinnen konnte, und kein Öl in ein Feuer schütten sollte, das unweigerlich schon bald von selbst herunterbrennen würde.

War Lord Unhold etwa auf ähnliche Weise verleumdet worden? War er ebenso pragmatisch wie ihr Vater?

War alles nur ein Missverständnis?

Nein, ihr plötzlich e...

Autor

Virginia Heath
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