Historical Saison Band 109

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DIE WIDERSPENSTIGE BRAUT DES EARLS von LOUISE ALLEN

Um einen Skandal zu vermeiden, lässt Viola die Hochzeit mit dem Earl of Easton platzen und flieht unter falschem Namen aufs Land. Doch fünf Jahre später steht sie dem Earl unvermittelt gegenüber! Zu ihrer Erleichterung erkennt er sie als „Cressida Williams“ nicht. Doch ihre täglichen Begegnungen machen ihre Lügen immer unmöglicher …

ICH KÄMPFE FÜR IHREN RUF, MYLORD! von LUCY ASHFORD

Sein Ruf ist durch ein Missverständnis ruiniert, und nun hat James, der siebte Viscount Grayford, auch noch eine junge Haushälterin, die nichts taugt! Doch ausgerechnet Emma scheint entschlossen, seinen Ruf wiederherzustellen – und weckt in seinem stolzen Herzen und seiner Seele etwas, womit er nicht gerechnet hat …


  • Erscheinungstag 13.07.2024
  • Bandnummer 109
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526494
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Allen, Lucy Ashford

HISTORICAL SAISON BAND 109

1. KAPITEL

Kirche St. Margaret, Stowe Easton, Hampshire – Juli 1809

Die Braut kam zu spät.

Ungerührt studierte Hauptmann Guy Thurlow, Earl of Easton, die Gedenktafel des 1673 verblichenen Ratsherrn Thaddeus Wilmslow, welcher der Stadt Stowe Easton Ehre gemacht hatte und ein Ausbund an Tugendhaftigkeit gewesen war.

Bräute kamen anscheinend stets zu spät. Es war ihre letzte Gelegenheit, sich unabhängig zu zeigen, bevor sie zur Ehefrau wurden, und er war durchaus gewillt, diese traditionsbehaftete Geste zu tolerieren. Er hatte vor, ein wohlwollender Ehemann zu sein. Wie schwer konnte das schon sein?

Die Ehrenwerte Miss Viola FitzWalden war dazu erzogen worden, die Gattin eines Aristokraten zu werden. Soweit er das nach drei förmlichen und recht steifen Zusammenkünften beurteilen konnte, war sie pflichtbewusst und wies keine leidigen Allüren auf. Dass sie keine Laster hatte, verstand sich von selbst. Sie war sogar einigermaßen hübsch, wenngleich sie sich mit ihren gerade einmal siebzehn Jahren noch entfalten und ihre jugendliche Rundlichkeit verlieren musste. Eine kostspielige Zofe würde mit dem bedauernswerten Zustand der Augenbrauen sowie der unvorteilhaften Ringellockenmähne kurzen Prozess machen.

Bis er erbte, würde sie eine absolut annehmbare Marchioness of Thornborough abgeben. Ihr verstorbener Vater, der Viscount FitzWalden, mochte eine unbedeutende Figur im öffentlichen Leben gewesen sein, doch einer seiner Cousins war ein Duke, und zudem hatte er Beziehungen zu einem Großteil der Regierungsmitglieder unterhalten. Noch besser war, dass die Mitgift seiner Tochter das Landgut Bishop’s Fulling umfasste, Ländereien, auf welche die Vorfahren des Marquess of Thornborough schon seit Generationen ein Auge geworfen hatten.

Natürlich wartete die Familie mit einem schwarzen Schaf auf, aber darum hatte Guy sich gekümmert. Er hatte seiner Verlobten eingeschärft, dass ihr Onkel, der unehrenhafte Mr. Charles FitzWalden, nie auch nur einen Fuß über seine Schwelle setzen werde. Dem hatte sie zugestimmt, ohne zu zögern.

Neben ihm regte sich Hauptmann Arthur Graham, sein Trauzeuge. Die vergoldeten Knöpfe und Goldlitzen seiner Paradeuniform glänzten im Sonnenlicht, das durch das Ostfenster hereinfiel. „Sie ist da.“

Natürlich war sie da. Trotz der Größe der Kirche vernahm Guy deutlich, wie im hinteren Bereich Unruhe aufkam. Eigentlich hätte die Hochzeit in der Kapelle von Easton Court stattfinden sollen, doch die war zu baufällig, ebenso wie das restliche Familienanwesen. Der Marquess bevorzugte die modernen Annehmlichkeiten von Thornborough Chase, dem Stammsitz, erbaut von seinem Vater. Aber als Traditionalist wünschte er, dass sein Sohn und Erbe fünfzig Meilen entfernt auf dem Land heiratete, das einst Alberic de Turloe, ein Gefolgsmann des Eroberers, zugesprochen worden war. Auf diesem Land hatte der Aufstieg der Familie begonnen.

Easton Court war so weit hergerichtet worden, dass das Hochzeitsmahl in der großen Halle stattfinden konnte. Das Dach der Kapelle war indes eindeutig zu einsturzgefährdet. Die Gemeindekirche fasste mehr Gäste, auch wenn das hieß, dass alle den Blicken der Einheimischen preisgegeben waren. Diese hatten nichts annähernd so Prachtvolles gesehen, seit die Kutsche von George II. auf der Hauptstraße einen Deichselbruch erlitten hatte.

Der Orgelspieler stimmte ein Stück an, das sowohl feierlich als auch fröhlich klang, und Guy lauschte, bis das Getuschel der Versammelten ihm sagte, dass seine Braut den Mittelgang halb bewältigt hatte. Er drehte sich um, und es fiel ihm nicht schwer zu lächeln.

Das Kleid aus zartgelber Seide war elegant, geschmackvoll und kaschierte etwaige Makel an der Figur der Braut. Der fließende Schleier aus elfenbeinfarbener Gaze war züchtig, ließ jedoch dunkelbraunes Haar, das blasse Oval ihres Gesichts sowie schimmernde Perlen erahnen. Blaue oder graue Augen? Er versuchte, sich zu erinnern.

Viola ging am Arm ihres älteren Bruders Cedric, des Viscounts: fade und harmlos, fand Guy. Er geleitete seine Schwester bis zum Altargeländer und trat beiseite, damit Viola ihren Strauß aus gelben Rosen und Myrte einer ihrer Begleiterinnen reichen konnte.

Ihre Hände zitterten leicht, bemerkte Guy. Vermutlich die Nervosität einer Braut. Das überraschte bei einer wohlerzogenen Jungfrau nicht. Die Hochzeitsnacht würde gewiss ein wenig verkrampft verlaufen, doch er war guten Mutes, dass Viola sich mit der Zeit als so willig erweisen würde, wie ein Ehemann es sich nur wünschen konnte. Mit ein wenig Glück – und einigem Fleiß von seiner Seite – mochte sie gar schwanger sein, bis sein einmonatiger Urlaub endete und er auf die Iberische Halbinsel zurückkehrte.

Es würde seinem Vater gefallen, den Titel gesichert zu sehen, wenngleich Guy keineswegs die Absicht hegte, sich töten zu lassen. Er habe das Glück der Thurlows, behauptete sein Oberst: Kugeln pfiffen ihm an den Ohren vorbei, Schüsse gruben sich genau dort in den Erdboden, wo wenige Augenblicke zuvor sein Pferd gestanden hatte, und Reiterlanzen rissen ihm lediglich Löcher in den Ärmel. Er, Arthur und ihre Schar enger Freunde nannten sich selbst „die Unverwüstlichen“, und sie genossen den Krieg.

Ein Hauch Parfüm stieg ihm in die Nase. Der Duft der Rosen mischte sich mit dem wärmeren Aroma, das von der Haut seiner Braut ausging und eher nach Kräutern roch. Kurz blickte er hinab auf ihre blassen Hände und spürte, wie wohlige Erregung in ihm aufflammte.

Der Pfarrer räusperte sich. „Liebe Gemeinde, wir haben uns heute hier versammelt …“

„… einen triftigen Grund vorbringen kann, weshalb diese beiden Menschen nicht rechtmäßig vereint werden sollten, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“

Was für ein schrecklicher alter Wichtigtuer, dachte Guy, während der Pfarrer den Blick über die Kirchenbänke schweifen ließ und dem Augenblick möglichst viel Dramatik abrang. Die Versammelten taten ihm den Gefallen, hier und da ein leises Keuchen oder ein nervöses Lachen vernehmen zu lassen. Guy lächelte verhalten. Alle wären entsetzt gewesen, wenn tatsächlich irgendwer aufgesprungen wäre und gerufen hätte: „Ich bin seine wahre Ehefrau!“ oder „Diese Frau da ist nicht die, die sie zu sein scheint!“

Es wurde still. Der Pfarrer atmete tief durch, bereit, den Gottesdienst zu Ende zu führen.

„Nein“, sagte eine zaghafte Stimme neben Guy. Und noch einmal lauter: „Nein! Ich kann ihn nicht heiraten.“

Die Braut schlug ihren Schleier zurück, warf Guy einen so verzweifelten wie flehentlichen Blick zu und floh.

Sie rannte den Mittelgang entlang, wobei ihre zierlichen Glacélederschuhe kaum einen Laut auf den Steinen verursachten. Die Versammelten kamen unsicher auf die Füße, und der Bruder fuhr herum und rief ihren Namen, aber Viola FitzWalden hielt nicht inne. Kurz wurde sie vom Westportal umrahmt und hob sich gegen den blauen Himmel und die dunklen Eiben des Friedhofs ab, und dann war sie verschwunden.

Hauptmann Guy Thurlow, Earl of Easton, stand vor den Stufen des Altars, ein verschmähter Bräutigam.

2. KAPITEL

Stowe Easton, Hampshire – 6. Juli 1814

„Sieht aus, als hätten Sie ein funkelnagelneues Schild, Oberst. Wussten wohl, dass Sie kommen, was?“

Auf dem schmucken Ortsschild der Stadt prangte das Thornborough-Wappen, ein Rabe, der einen Blitz hielt. Guy hatte die Braunen genau davor gezügelt und hinderte das unruhige Zweiergespann am Weiterlaufen. „Mylord, Griggs“, erinnerte er seinen ehemaligen Offiziersburschen, der nun sein Kammerdiener war. „Wir sind nicht mehr in der Armee. Und nein, sie hatten keine Ahnung, dass ich hier durchfahren würde.“

Ebenso wenig wie er selbst, bis sein Vater vor einem Monat verkündet hatte, es sei an der Zeit, dass sein Erbe einen eigenen Landsitz beziehe und aufhöre, Thornborough Chase zu belagern.

Guy, nach achtundzwanzig Jahren unerquicklicher Erfahrungen sattsam mit dem Wesen seines Vaters vertraut, hatte nicht den Fehler begangen herauszustellen, dass das Bewohnen einer Sechs-Zimmer-Suite in einem Herrenhaus mit dreißig Schlafzimmern kaum als „Belagerung“ bezeichnet werden könne. Er erwiderte schlicht: „Sir?“

„Du solltest bald heiraten und eine Kinderstube einrichten, ehe du dreißig bist. Ich möchte meine Enkelsöhne sehen, bevor ich sterbe.“

Da sein Vater ein kerngesunder Achtundfünfzigjähriger war, fand Guy, dass ihm genügend Zeit blieb, diesen Wunsch zu erfüllen. „John hat zwei Söhne“, wandte er ruhig ein.

„Wären dein Bruder und dessen Nachwuchs nicht, hätte ich dich längst aus der Armee herausgeholt“, knurrte der Marquess. „Hätte dich gar nicht erst eintreten lassen sollen. Himmelfahrtskommandos anführen, in den Pyrenäen halb erfrieren und obendrein darauf bestehen, bis zur Abdankung dieses verfluchten Korsen auszuharren! Es ist ein Wunder, dass du überlebt hast, und das auch noch an einem Stück.“ Er rückte sich in seinem wuchtigen Sessel zurecht. „Die Unverwüstlichen? Pah. Allesamt tot oder verstümmelt, selbst du.“

Guy legte die rechte Hand über die linke, um den verkürzten kleinen Finger und die lange Narbe zu verbergen, die sich an seinem Unterarm hinaufzog, ein Vermächtnis von Badajoz. Er schluckte eine scharfe Erwiderung. Fünf Freunde tot, und Arthur hatte seinen linken Arm verloren – daran würde er jetzt nicht denken. Stattdessen sagte er: „Im Augenblick reizt mich der Gedanke ans Heiraten nicht.“

„Dir macht immer noch diese Sache mit dem FitzWalden-Mädchen zu schaffen, richtig? Das war schlimm, aber es besteht kein Grund, sich deswegen zu grämen. An dir haftet keine Schuld.“

„Das ist mir durchaus bewusst, Sir.“

„Ja, ja.“ Der Marquess winkte ungeduldig ab. „Steig von deinem hohen Ross. Ich meinte, dass die Öffentlichkeit dir weder Schuld noch Schande zuweist. Das dumme Ding hat sich selbst ruiniert, und jedermann hat zu Recht behauptet, du könnest dich glücklich schätzen, ihr entronnen zu sein. Was, wenn sie erst nach der Trauung davongelaufen wäre, hm?“

„Wohl wahr. Ich bin in der Tat froh darüber, entkommen zu sein. Ich habe vor, mich ab dem nächsten Jahr nach einer Braut umzuschauen.“ Das stimmte. Er sollte eine Familie gründen, bevor seine Neffen alt genug wären, um Mutmaßungen darüber aufzuschnappen, dass ihr Vater eventuell erben könnte.

„Wenn das so ist, solltest du nichts gegen meinen Vorschlag einzuwenden haben. Du wirst mir den Gefallen erweisen, Easton Court wiederherzurichten.“

Guy hatte nachdenklich die vielen Pläne unter der rechten Hand seines Vaters betrachtet; offenbar hatte dieser sich ernsthaft Gedanken gemacht. „Und die Kosten, Sir?“

„Die spielen keine Rolle. Das Anwesen sollte nicht verfallen, und mein Erbe braucht einen angemessenen Landsitz. Kümmere dich um Ackerland und Pachten, und die Investition wird sich bezahlt machen. Ist gutes Land.“

Guy hätte einwerfen können, dass ein fähiger Verwalter die Aufgabe ebenso gut bewältigen könnte, aber nach fast sieben Jahren in der Armee fühlte er sich rastlos. Was genau er wollte, war ihm nicht klar, jedenfalls nicht das träge Leben eines Müßiggängers.

Easton Court herzurichten, würde eine interessante Herausforderung sein. Doch dass die nächste größere Stadt Stowe Easton war, hatte er nicht bedacht, als er sich damit einverstanden erklärt hatte. Es war der Ort, an dem er zuletzt gesehen worden war, als er ohne seine Braut aus der Pfarrkirche geeilt war, derweil die Hochzeitsgäste und die halbe Stadt keuchend Spekulationen ausgetauscht hatten. Vermutlich zerrissen sie sich noch heute das Maul darüber.

Guy schnalzte den Pferden zu, und das Karriol rollte am Schild vorbei. Man diente nicht unter Wellington, um sich von einer Horde tratschender Krämer oder den Taten eines schwachen Mädchens in die Knie zwingen zu lassen.

Neben ihm regte sich Arthur Graham. „Fast auf den Tag genau fünf Jahre“, bemerkte er. „Der Ort hat sich kaum verändert, soweit ich das beurteilen kann. Hübsches Städtchen, fand ich damals schon.“

Arthur hatte viele gute Eigenschaften. Taktgefühl gehörte nicht dazu, aber Guy sagte sich, dass sein alter Freund und Kamerad einen ausgezeichneten Verwalter abgeben werde, und allein das zählte.

Die Hauptstraße wand sich eine leichte Anhöhe hinauf und um einen Hügel herum, auf dem sich der Friedhof befand. Das erweckte den Eindruck, als sei er schon immer dort gewesen und die Stadt sei um ihn herum entstanden. Vielleicht stimmte das: Guy erinnerte sich an einen seiner Lehrer, der sich begeistert über die römischen Ziegel und Steine ausgelassen hatte, die für den Bau des Kirchturms verwendet worden waren.

„Nettes Bauwerk, Mylord“, kommentierte Griggs.

Guy knurrte, auf die Pferde und die scharfe Kurve konzentriert, in der die Straße in den Marktplatz überging. Voraus lag das „Raven’s Nest“, das größte Wirtshaus der Stadt. Ihm war bewusst, dass er den Blick starr darauf gerichtet hielt und es sorgsam vermied, das überdachte Tor zum Friedhof anzusehen.

Feigling, schalt er sich. Du kannst dem nicht ewig aus dem Weg gehen. Oder der Stadt.

Einem Impuls folgend, bog er in den Hof des Wirtshauses ein. „Sie sollen einen Blick auf die Pferde werfen, ja, Arthur? Wir haben noch fünf Meilen vor uns, und ich meine, Firefly am Hügel stolpern gesehen zu haben. Gönn dir ein Bier und ein bisschen Bewegung. Ich gehe zur Kirche.“

Er sprang hinab, warf Griggs die Leinen zu und verließ mit langen Schritten den Hof.

Er betrat die Kirche durchs Südtor, weil das große Westportal verschlossen war. Das Gebäude war größer als in seiner Erinnerung und wirkte dank der Klarglasfenster und der frisch geweißten Wände umso geräumiger. An seinem Hochzeitstag war das alte Eichenholz des Kastengestühls mit Girlanden aus Grün und Rosen geschmückt gewesen – nun standen dort Reihen glänzender moderner Kirchenbänke. Der Bienenwachsduft ihrer Politur lag in der Luft und überdeckte den Kirchengeruch von feuchten, staubigen Gebetbüchern.

Die Absätze seiner Stiefel klapperten laut auf den Steinplatten, anders als die leisen trippelnden Schritte seiner fliehenden Braut damals. Trotz der Veränderungen waren vorn vor dem Altar zwei große Segmente des Kastengestühls geblieben. Das rechte gehörte Thurlow Court, das linke einer alteingesessenen Familie, an deren Namen er sich nicht erinnerte.

Guy blieb vor den Stufen des Altars stehen, wo zwei große Vasen mit Bindegrün, aber nicht mit Blumen gefüllt waren. Vielleicht stand eine Beerdigung an. Sein Blick fiel auf ein ausgebreitetes Stück Sackleinen mit einem Eimer, einer Schere und einem Häufchen Grünschnitt darauf. Also waren die Vorbereitungen noch im Gange. Es sah jetzt schon sehr ansprechend aus. Statt der üblichen erdrückenden Lorbeerflut gab es verschiedene Arten von Blattwerk, die mit einem guten Auge für Kombinationen und Formen arrangiert worden waren. Offenbar war die Gemeinde mit einer Blumenkünstlerin gesegnet.

Aber er war nicht hier, um Blumenarrangements zu bewundern, sondern um sich unangenehmen Erinnerungen zu stellen. Einer Regung folgend, wandte er sich nach rechts und betrat einen Raum, der durch kunstvolles Maßwerk abgetrennt und vermutlich einst die Marienkapelle gewesen war. Er würde ein paar Minuten hier verweilen, um die alten Geister ein für alle Mal zur Ruhe zu betten.

Es war kühl. Das Licht fiel in gefälligen Mustern auf altes Mauerwerk und ließ blank poliertes Messing gleißen. Guy schloss die Augen und spürte, wie Müdigkeit ihn übermannte. Es war eine lange Fahrt gewesen, gefolgt von einer unruhigen Nacht in einem Gasthaus.

Eine schwere Tür wurde geschlossen, ehe leise Schritte erklangen. Zunächst war ihm, als seien die Laute Teil eines Traums, doch er schlief nicht richtig. Jemand kam den Mittelgang herauf, und Guy stand nicht der Sinn nach höflicher Konversation. Wie typisch es wäre, wenn es sich um eine alte Jungfer aus dem Ort handelte, voller Enthusiasmus für Kirchenarchitektur und bereit, sich eine geschlagene halbe Stunde lang darüber auszulassen. Guy öffnete die Augen und setzte sich aufrechter hin.

Es war eindeutig eine Frau, mit einem Blumenbündel in den Armen. Sie schritt geradewegs zu den Altarstufen, legte die Blumen ab, kniete nieder und verschwand dadurch aus Guys Blickfeld, bis auf den Scheitel ihrer eleganten Schute. Die Blumenbinderin war zurück. Wie lange würde sie brauchen, ihre Arbeit zu beenden?

Nicht lange, wie es schien. Nach vielleicht fünf Minuten stand sie auf, trat zurück und begutachtete ihr Werk. Dabei schaute sie von einer Vase zur anderen, sodass Guy einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht erhaschte.

Jung, aber kein Mädchen mehr. Attraktiv, wenn auch keine Schönheit, schätzte er nach dem, was er unter der Schute erkennen konnte. Ein ovales Gesicht mit entspannter Miene; leicht schräg stehende Augen, blau oder grau; ein kurzes Aufblitzen von dunkelbraunem Haar; ein üppiger, sinnlicher Mund, der ihrem Antlitz Farbe verlieh. Leise Erregung durchrieselte ihn. Nein, keine Schönheit, aber sie hatte ein gewisses Etwas. Klasse.

Die Frau nickte knapp und entschieden, als sei sie mit ihren Arrangements zufrieden, und bückte sich erneut, um ihre Gerätschaften einzusammeln. Sie richtete sich auf und drehte sich in Guys Richtung. Ihre Bewegungen waren voller Anmut. Er labte sich am Anblick ihrer hochgewachsenen, schlanken Gestalt. Ihre Blicke trafen sich, und abrupt hielt sie inne, riss die Augen auf und öffnete die sinnlichen rosa Lippen zu einem überraschten Keuchen.

„Bitte verzeihen Sie, Ma’am. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Er erhob sich und deutete eine Verbeugung an.

„Nein, ich bin es, die sich entschuldigen sollte. Ich habe Sie in Ihrer Versenkung gestört.“ Eine klare Stimme, gemeinhin vermutlich selbstsicher, nun jedoch eine Spur belegt vor Nervosität. Es mochte eine vornehme Dame durchaus beunruhigen, an einem solch abgeschiedenen Ort auf einen Fremden zu treffen.

„Ich habe mich nur ausgeruht“, erwiderte er. „Und Ihre herrliche Kirche bewundert. Sie muss uralt sein“, fügte er in der Absicht hinzu, sie zu beschwichtigen.

Sie lächelte und wirkte schon weniger verunsichert, nun da sie beide sich entschuldigt hatten. „Sehr alt, ja. Tja, ich bin mit den Blumen fertig. Ich muss gehen. Der Küster wird für mich aufräumen …“ Sie brach ab, womöglich weil sie merkte, dass sie vor Anspannung zu viel redete.

Guy blieb, wo er war, um sie nicht zu ängstigen, doch als sie die Stufen zum Kirchenschiff hinabging, schritt er den Seitengang entlang zum Portal. Damit hielt er genügend Abstand zu ihr, wäre jedoch zur Stelle, sollte sich das Portal als störrisch erweisen.

Das schwere, alte Eichenholz gab unter ihren Händen nach, aber er holte sie im Kirchenvorraum an der Gittertür ein, die Vögel und streunende Hunde fernhielt. Der Metallriegel war offenbar lose und schwierig zu handhaben.

„Darf ich?“

„Nein, schon gut. Man braucht bloß Fingerspitzengefühl.“ Die Dame hielt das Gesicht abgewandt, derweil sie mit dem Riegel kämpfte, und als Guy eine Hand ausstreckte, um ihr zu helfen, erstarrte sie. „Ich komme zurecht, Sir“, beteuerte sie erstickt, während draußen Schritte auf Kies knirschten. „Oh, Herr Pfarrer! Sie kommen gerade rechtzeitig, um uns mit diesem verflixten Riegel zu helfen.“

„Ts, ts.“ Der Mann lüftete seinen Hut, wobei er ein rosiges, freundliches Gesicht und buschige Koteletten enthüllte. „Guten Tag, meine Liebe. Und … äh … Sir. Ich muss Abel Dickens daran erinnern, das zu reparieren. Zwar habe ich ihn schon letzte Woche darum gebeten, aber leider hat ein Kirchendiener viele Pflichten. Also, wenn Sie erlauben, ich glaube, ich weiß, wie es geht.“

„Vielen Dank.“ Sie schlüpfte durch die Tür, kaum dass diese weit genug geöffnet worden war. „Dieser Herr interessiert sich für die Geschichte unserer Kirche, Mr. Truscott, und ich bin sicher, Sie können seine Neugier weit besser stillen als ich. Bitte entschuldigen Sie mich.“

Und schon war sie fort, während Guy im Kirchenvorraum gefangen war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf ein höfliches Gespräch einzulassen. Kein Umstand hätte gerechtfertigt, einen Pfarrer beiseitezuschieben, um einem weiblichen Mitglied seiner Gemeinde quer über den Friedhof nachzusetzen. Wobei Guy natürlich gar kein Interesse daran hatte, ihr nachzusetzen …

„Cressida?“ Marjorie erschien in der Salontür, in einer Hand eine Schreibfeder, von der Tinte auf das Fell der weißen Katze tropfte, die wie eine Stola auf ihren Schultern ruhte. „Meine Güte, hast du mich erschreckt. Ich bin gerade dabei, Cousine Harriet zu schreiben. Die Arme ist völlig außer sich – Frazer ist zurück auf sein Schiff beordert worden, und das Kind kann jeden Moment kommen.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Cressida atemlos bei ihrer Cousine und dem Hausmädchen Jane, das auf das Knallen der Haustür hin herbeigeeilt kam. „Marjorie, du tropfst Percy voll.“ Irgendwie war in ihrem Kopf momentan kein Platz für Marjories jüngere Cousine mütterlicherseits.

„Verflixt.“ Marjorie sah sich um, als erwarte sie, dass aus dem Nichts ein Tintenwischer auftauchte, ehe sie mit den Schultern zuckte und die Katze dem Hausmädchen reichte. „Könntest du dich um Percy kümmern, Jane? Ich fürchte, es wäre nicht gesund für ihn, wenn er die Tinte ableckte.“

„Ja, Ma’am.“

Marjorie kehrte in den Salon zurück. „Was ist denn bloß los, Liebes? Man könnte meinen, du seist gerannt.“

Cressida ließ ihre Schute auf einen und ihr Retikül auf einen anderen Stuhl fallen und sank wenig elegant aufs Sofa. „Das bin ich. Den ganzen Weg von der Kirche hierher. Guy Thurlow war dort.“

Ihre Cousine, gemeinhin nicht leicht zu verblüffen, starrte sie an, die großen braunen Augen weit aufgerissen. „Doch nicht etwa der Earl of Easton?“

„Ebender. Er hat mich gesehen, aber zum Glück nicht erkannt. Es sei denn, er ist ein herausragender Schauspieler“, ergänzte sie stirnrunzelnd, bevor sie sich einen Ruck gab. „Nein. Es ist mir gelungen, Mr. Truscott auf ihn anzusetzen und zu entkommen.“

„Grundgütiger“, sagte Marjorie schwach. „Was tut er hier? Wir haben niemanden aus der Familie in Stowe Easton gesehen seit …“

„Seit der Hochzeit, die nie stattgefunden hat. Vermutlich ist er nur auf der Durchreise, wenngleich es mir ein Rätsel ist, weshalb er in der Kirche war.“ Sie zitterte. „Kann es wirklich sein, dass er mich nicht erkannt hat?“

Die Ältere musterte sie kritisch. „Du hast dich stark verändert, weißt du. Immerhin ist es fünf Jahre her, seit er dich zuletzt gesehen hat.“

„Fast auf den Tag genau.“

„Stimmt. Du hast deine liebenswerte Rundlichkeit verloren, wodurch sich dein Gesicht und dein Körper verändert haben, und ich könnte schwören, dass du um zwei Zoll gewachsen bist. Deine schlichte Frisur wirkt viel eleganter. Und erst deine vornehmen Augenbrauen“, fügte Marjorie neckend an.

„Für die ich mit äußerst schmerzhaftem Zupfen bezahle“, gestand Cressida bekümmert. „Und ich nehme an, dass er damals kaum Notiz von mir genommen hat. Alles ist von unseren Familien arrangiert worden. Wir haben uns nur wenige Male getroffen, und vermutlich habe ich auf seine Füße gestarrt und vor Schüchternheit kaum den Mund aufgemacht.“

„Der Earl hat nie herausgefunden, wohin du danach verschwunden bist, oder?“

„Nein. Der Umstand, dass wir einen exzentrischen Großonkel in der Wildnis von Devon hatten, ist ihm offenbar entgangen. Vielleicht war er auch einfach nicht versessen darauf, mich aufzuspüren. Schließlich dürfte er mir kaum eine Träne nachgeweint haben.“ Sie lächelte ironisch.

Marjorie stand auf. „Draußen ist keine Spur von einem großen, attraktiven, rachsüchtigen Aristokraten zu sehen“, sagte sie, nachdem sie den Vorhang beiseitegeschoben hatte, um hinauszuspähen. „Er hat dich wohl tatsächlich nicht erkannt.“

„Du fandest ihn attraktiv? Ich nehme an, er sieht recht gut aus. Besser als damals, als wir verlobt waren – da war er kaum dreiundzwanzig. Das Leben hat ihn offenbar gestählt.“ Cressida erschauerte unwillkürlich, als sie daran dachte, wie er im Schatten des Kirchenvorraums breitschultrig vor ihr aufgeragt hatte. Er hatte sich Mühe gegeben, nicht zudringlich und erst recht nicht bedrohlich zu wirken, aber dennoch war er sehr … männlich. Es war, als hätte er den Gutteil von Raum und Luft vereinnahmt.

„Vermutlich das Soldatendasein – das stählt jeden, könnte ich mir vorstellen. Jedenfalls bist du in Sicherheit. Immerhin leben wir jetzt seit einem Jahr zusammen, ohne dass jemand herausgefunden hat, wer du bist.“

Marjorie war unter den Verwandten gewesen, die Großonkel Rufus’ Beerdigung in Devon beigewohnt hatten. Als sie entdeckt hatte, dass ihre jüngere Cousine kein Heim mehr hatte, abgesehen vom Haus ihres Bruders und dessen Familie, hatte sie ihr angeboten, zu ihr nach Stowe Easton zu ziehen.

„Trotz des Skandals?“, hatte Cressida gefragt.

„Du meine Güte, ja. Mein Ansehen in der Stadt ist, so bilde ich mir ein, so tadellos, dass jeder Skandal daran abprallt.“

Miss Viola FitzWalden hatte jedoch kein Risiko eingehen wollen. Ihr vollständiger Name lautete Viola Louise Cressida, und ihre Großmutter war Lady Amelia Williams gewesen. Und so war sie bei ihrer Ankunft in Stowe Easton zu Cressida Williams geworden.

Ihr Bruder dürfte erleichtert darüber gewesen sein, seine in Ungnade gefallene Schwester nicht aufnehmen zu müssen. Er hatte ihr darin beigepflichtet, dass es das Vernünftigste sei, und adressierte seine Briefe nunmehr an ihren neuen Namen. Sie hatte ihn mit ihrer Weigerung, den Earl zu heiraten, schier zur Verzweiflung getrieben, doch dank der Distanz gelang es ihnen, zumindest eine höfliche Korrespondenz aufrechtzuerhalten.

„Du musst gute Gründe dafür gehabt haben, vor dieser Ehe zu fliehen“, hatte Marjorie angemerkt, als sie ihr neues Arrangement besprochen hatten. „Keine Bange, ich werde dich nicht drängen, mir den Grund zu verraten. Und du brauchst dich auch nicht zu sorgen, dass ich von dir erwarten könnte, als alte Jungfer zu enden wie ich. Für mich ist dieses Dasein genau das Richtige, aber nicht für dich, möchte ich meinen.“

Sofern Marjorie, die in den Vierzigern war, das typische Leben einer alten Jungfer führte, sah Cressida den Reiz, der darin lag. Ihre Cousine schien der Mittelpunkt jedweder Aktivität in der Stadt zu sein. Gemeinnützige Arbeit, Damentreffen, Kirchenveranstaltungen, Konzerte und Feste, Nähzirkel und Ausflüge: An allem war Marjorie auf die eine oder andere Weise beteiligt, und Cressida war stets mit von der Partie. Bald kannte sie jeden in Stowe Easton, und manchmal kam es ihr so vor, als kenne jedermann sie.

Dadurch hatte Cressida zahlreiche Bekannte und einige gute Freundinnen, und sie alle wären entsetzt gewesen, hätten sie herausgefunden, dass Miss Cressida Williams in Wahrheit Miss Viola FitzWalden war, die junge Dame aus Northamptonshire, die für so viel Wirbel gesorgt hatte, als sie Lord Easton vor dem Altar im Stich gelassen hatte. Doch sie war zuversichtlich, dass die Gefahr, erkannt zu werden, minimal war. Ihre Familie war in dieser Gegend unbekannt. Und von ihr selbst hatten die Leute nicht mehr gesehen als ein verschleiertes blasses Mädchen, das seinen Schleppenrock gerafft hatte, in eine Kutsche gesprungen war und dem Kutscher zugerufen hatte: „Fahren Sie los. Sofort!“

Marjorie hatte gefallen, was sie von dem kleinen Marktflecken gesehen hatte, als sie zu Cressidas Hochzeit angereist war. Nach dem Tod ihrer Mutter, Cressidas Tante, wenige Monate später war sie hergezogen. Ihr Nachname lautete Pomfret, und somit stellte auch er keinerlei Verbindung zu Viola FitzWalden her.

„Ich nehme an, der Earl wüsste zu gern, weshalb du einen Rückzieher gemacht hast und ob es etwas mit ihm zu tun hatte. Vermutlich fragt er sich, ob es wieder passieren könnte, denn früher oder später möchte er gewiss heiraten“, sinnierte Marjorie. „Herrje. Ich habe versprochen, dich nicht zu bedrängen, und nun ergehe ich mich doch in Spekulationen.“

„Nun, es lag ganz sicher nicht an Lord Easton. Ich war durchaus bereit, ihn zu heiraten.“ Bereit, wenn auch nicht erpicht darauf. Die siebzehnjährige Viola hatte es nicht eilig damit gehabt zu heiraten, erst recht nicht jemanden, den sie kaum kannte. Einen Mann, der nur aus Selbstbewusstsein, glänzenden Stiefeln und scharfen Sporen zu bestehen schien. „Es lag an etwas, das ich erst spät herausgefunden hatte. Fast zu spät. Und es steht mir nicht zu, dieses Geheimnis zu verraten“, fügte sie entschieden an.

„Dann sollten wir uns den Mann aus dem Kopf schlagen. Allerdings halte ich es nicht für ratsam, sich heute in die Stadt zu wagen. Falls er beim ‚Raven’s Nest‘ angehalten hat, um die Pferde zu wechseln, entschließt er sich womöglich, dort zu Mittag zu essen.“ Marjorie setzte sich an den Tisch und nahm ihre Schreibfeder auf, nur um sie wieder abzulegen, eine Falte zwischen den kräftigen dunklen Brauen. „Er wird doch nicht etwa nach Easton Court unterwegs sein, oder?“

„Bestimmt nicht. Die Thurlows haben das Anwesen schon vor Jahren in die Obhut eines Hauswarts gegeben. Weshalb sollte einer von ihnen jetzt dorthin wollen?“

„Du hast selbst gesagt, dass es noch immer seinen Zauber hat“, meinte Marjorie geistesabwesend, während sie sich durchlas, was sie bislang geschrieben hatte. „Du willst es haben.“

„Ich liebe den Park“, gab Cressida zu. „Er ist der schönste Ort, den ich je gesehen habe.“

Ihre Cousine lachte leise. „Aber du bist keine gewöhnliche Gärtnerin. Du magst Unkraut und Chaos.“

„Das stimmt nicht! Mir gefällt gepflegte Unordnung mit Wildblumen und Gräsern, das ist alles. Ich habe eine Vorliebe für die Romantik. Und apropos Unkraut, nach dem Mittagessen werde ich ein ernstes Wort mit dem Unkraut in den Rosenbeeten hinter dem Haus reden. Egal, auf welchem Weg Lord Easton die Stadt verlässt, dort kann er mich nicht sehen.“

Es wäre eine sinnvolle Beschäftigung für einen erzwungenen Tag zu Hause, und im Garten zu arbeiten half ihr für gewöhnlich, sich von beunruhigenden oder unangenehmen Dingen abzulenken. Doch während Cressida ein Brot mit Butter bestrich, um es zu dem kalten Schinken und Marjories eingelegten Tomaten zu essen, beschlich sie die ungute Ahnung, dass diese Magie heute wirkungslos sein würde.

Wenn sie sich früher ausgemalt hatte, was sie empfinden würde, sollte sie Guy Thurlow je wieder begegnen, waren ihr Schreck, Angst vor seinem Zorn und Grauen angesichts des Skandals in den Sinn gekommen. Und all diese Regungen hatten sie tatsächlich befallen, aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Verstörendes und Unerwartetes. Das Verlangen, mit ihm die Klingen zu kreuzen. Seiner arroganten männlichen Überzeugung, dass er stets bekam, was er sich wünschte, einen Dämpfer zu verpassen.

Er hatte kein Recht mehr, irgendetwas von ihr zu verlangen. Sie hatte sich von ihm befreit und war froh darüber. Zumindest hätte sie das sein sollen. Cressida mochte nach wie vor eine ehrbare junge Dame sein, auf dem besten Weg, eine alte Jungfer zu werden. Aber sie erkannte das leichte Prickeln der Erregung, das unter der Furcht und dem Drang lauerte, Guy Thurlow die Stirn zu bieten. Es war körperliche Anziehung. Begehren.

3. KAPITEL

Der See bei Easton Court war einst eine schlammige Senke gewesen, von drei Quellen in einen Sumpf verwandelt. Dann hatte vor über fünfzig Jahren Lancelot „Capability“ Brown eines seiner landschaftsgestalterischen Wunder im Park gewirkt und einen Staudamm gebaut. Nun sprudelten zwei der Quellen in den See, während die dritte an der westlichen Hügelseite austrat und einen Bach nährte, der sich durch den Park schlängelte. Dieser wurde schließlich zu einem flachen Flüsschen, das über ein Kiesbett dahinfloss, bevor er unter einer effektvoll platzierten glatten Steinplatte in den See mündete.

Der Park lag fast fünf Meilen von Stowe Easton entfernt, wenn man sich auf die Straße beschränkte. Über schmale Pfade und quer durch den verlassenen Park hindurch erreichte man den See jedoch schon nach einer Meile.

Am Tag nach der Begegnung in der Kirche machte sich Cressida auf den Weg dorthin. Es war heiß, und das ungeschnittene Gras wucherte in hohen Büscheln, sodass die niedrige Steinplatte ein angenehmer Ort zum Verweilen war. Das plätschernde Wasser darunter war kühl, und der See und die Wälder, die sich vor ihr erstreckten, gaben ein friedvolles Bild ab.

Cressida zog sich Schuhe und Strümpfe aus, raffte ihre Röcke, setzte sich und ließ die Füße baumeln. Das Wasser reichte ihr bis zu den Knöcheln, erfrischend kalt. Sie plantschte ein wenig in dem Wissen, dass sie allein war, bis auf eine Herde fahlbrauner Rehe, die links von ihr im Schatten eines Eichenhains ästen.

Das anstrengende Jäten der Rosenbeete, gefolgt von einem Abendspaziergang mit Marjorie und einem Abendessen bei Nachbarn hatten ihr einen tiefen Schlummer beschert. Allerdings war sie nicht von Träumen verschont geblieben, in denen der eindringliche Blick grauer Augen sie verfolgt hatte. Sie war mit einer unguten Ahnung erwacht, und die Nebelschwaden ihrer Träume waren zu einem vagen Unbehagen verblasst, ehe sie sie hatte fassen können.

„Du hast Schatten unter den Augen“, hatte Marjorie beim Frühstück bemerkt. „Willst du nicht deine Wasserfarben und einen Mittagsimbiss einpacken und in den Park entfliehen? Ich verbringe den Tag mit den Damen vom Quilt-Zirkel – wir haben die Tagesdecke fast fertiggestellt, mit der wir Dr. Symonds für seine Verdienste um die Stadt danken wollen. Da er Ende des Monats in den Ruhestand geht, müssen wir uns ein letztes Mal ins Zeug legen, um sie zu vollenden.“

Das hatte Cressida einen Vorwand geliefert, um mit gutem Gewissen und dem recht garstigen Gedanken zu entkommen, dass der griesgrämige alte Doktor womöglich nicht allzu entzückt über einen kunstvollen, überaus weiblichen Quilt sein würde.

Nun stützte sie sich mit den Händen auf dem warmen Stein ab, lehnte sich zurück und wandte das Gesicht der Sonne zu, um sich dem Zauber dieses Ortes zu ergeben. Den Hut hatte sie abgelegt. Eine weitläufige Parklandschaft musste permanent gepflegt und zurechtgestutzt werden, während sie reifte. Dieser Park jedoch war vernachlässigt worden und verwilderte auf eine Weise, die Capability Brown wütend auf seiner Perücke hätte herumstampfen lassen. Dennoch war der Ort in ihren Augen schön.

Ein Fasan stob auf und stieß seinen kreischenden Warnruf aus. Ein Zweig knackte. Die Rehe kamen anscheinend näher. Wenn sie ganz still sitzen bliebe, würde vielleicht eines herunterkommen, um in der Nähe zu trinken.

Jemand räusperte sich.

Es geschah so dicht hinter ihr und so unerwartet, dass Cressida erschrak. Sie verlor das Gleichgewicht, ruderte wild mit den Armen und landete knietief im Bach. „Was? Wer?“ Sie drehte sich um und klammerte sich Halt suchend an die Kante der Steinplatte, wobei sie von einem Fuß auf den anderen trat, weil die kleinen Kieselsteine unter ihren Sohlen schmerzten. „Sie? Was um alles in der Welt tun Sie hier?“

Der Earl of Easton stand breitbeinig auf dem Stein und starrte auf sie herab. Seine Haltung zwang sie aufzuschauen. Ihr Blick wanderte von seinen Stiefeln über seine in Breeches gehüllten Oberschenkel, deren Anblick sie aus der Bahn warf. Höher ließ sie ihn gleiten, über Weste und Krawattentuch bis hinauf zu seinem Gesicht. Er hob die Brauen, ganz der Aristokrat. „Dieses Anwesen gehört mir“, sagte er. „Daher sollte ich vielmehr Sie fragen, was Sie hier zu suchen haben, Madam.“

Cressida klebten die durchtränkten Röcke an den Beinen. Die Strömung zerrte daran und drohte sie abermals aus dem Gleichgewicht zu bringen, sodass sie die Kante der Steinplattenbrücke umso fester packen musste. „Ich bin hier, weil Sie sich von hinten an mich herangeschlichen und mich so sehr erschreckt haben, dass ich hineingefallen bin.“

„Ich meinte, in meinem Park, nicht im Bach, wie Sie sehr wohl wissen.“ Guy Thurlow beugte sich vor, reichte ihr beide Hände, und als sie unwillkürlich danach griff, fasste er sie bei den Handgelenken und zog sie schwungvoll vor sich auf die Steinplatte.

„Hoffentlich haben Sie sich nicht den Rücken verrenkt“, entfuhr es Cressida. Vermutlich nicht die taktvollsten Worte an einen Mann, aber sie war nicht gerade eine zarte Elfe …

Er packte sie fester und zog sie sich an die Brust, die sich schwer hob und senkte. Das war, wie Cressida fürchtete, keineswegs der Anstrengung geschuldet.

Sie schluckte. Schon in der Kirche war ihr aufgefallen, wie groß und kräftig er war, und der Schein, stellte sie nun fest, da sie mit der Nase an seine goldene Krawattennadel stieß, hatte sie nicht getrogen. Sie gab ein protestierendes Keuchen von sich, eine zusätzliche Demütigung.

„Oh, um Himmels willen“, murmelte er. „Sie brauchen nicht zu winseln und zu schlottern. Ich neige nicht dazu, mich an Frauen zu vergehen, nicht einmal an solchen, die widerrechtlich mein Land betreten.“

Cressida schaute auf und begegnete seinem Blick. „Ich zittere nicht, weil ich Angst vor Ihnen habe“, erwiderte sie empört.

Er musterte sie, und seine grauen Augen schienen sich zu verdunkeln, als seine Pupillen sich weiteten. Er verzog kaum merklich die Lippen zu einem Lächeln, und jäh ging ihr auf, dass er glaubte, sie genieße diese Parodie einer Umarmung und wolle geküsst werden.

Als er den Kopf mit dem dunklen Haarschopf vorneigte, fuhr sie ihn an: „Ich zittere, weil ich eiskalte Füße habe und nasse Röcke trage. Und wenn Sie so gut wären, mich loszulassen, könnte ich etwas dagegen unternehmen.“

Der Earl ließ sie so abrupt los, dass sie beinahe erneut in den Bach gefallen wäre. Cressida klaubte Schuhe, Strümpfe und Hut auf und schritt hinüber zu dem Busch, in dessen Schatten sie ihren Korb abgestellt hatte. Es war schwierig, sich einigermaßen würdevoll zu bewegen, während ihr der klatschnasse Musselin an den nackten Waden klebte.

Sie setzte sich auf einen Baumstumpf. Es war einer ihrer liebsten Plätze zum Picknicken, doch während sie ihre Röcke auswrang, ahnte sie, dass ihr dieser Platz für immer verleidet worden war. Sie wusste, dass sie im Unrecht war, und das machte die Sache nicht besser. Sie war widerrechtlich eingedrungen. Sie hatte sich an einem öffentlichen Ort – mochte er auch noch so verlassen sein – auf anstößige Weise entblößt. Sie hatte diesen Mann ohne Erklärung vor dem Altar stehen lassen, auch wenn ihm dies noch nicht klar war. Und sollte es ihm klar werden, würde sie in arge Bedrängnis geraten.

Guy Thurlow zog ein großes Taschentuch hervor und reichte es ihr. „Es ist sauber.“

„Danke, aber ich habe eine Serviette.“ Sie kramte im Picknickkorb und entnahm ihm ein gefaltetes quadratisches Gingham-Tuch.

Er ging zum nächstgelegenen Baum, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und ließ den Blick durch den Park schweifen, als halte er nach weiteren Eindringlingen Ausschau.

Und er besitzt den Anstand, sich abzuwenden, während ich meine Strümpfe anlege. Es wäre ihr wahrlich lieber gewesen, der Liste seiner Tugenden keine weitere hinzufügen zu müssen.

Nachdem sie sich die Schuhe geschnürt hatte, stand sie auf, nahm den Korb und räusperte sich. „Ich werde Sie jetzt in Frieden lassen, Mylord.“

Der Earl wandte den Kopf. „Was ist in dem Korb?“

„Meine Wasserfarben. Ein Picknick.“

Er wies auf den Baumstumpf. „Offenbar sind Sie für den Tag gerüstet. Bitte setzen Sie sich doch. Machen Sie es sich bequem.“

„Vielen Dank.“ Sie fühlte sich unbehaglich, aber sein Angebot auszuschlagen und zu gehen wäre wohl befremdlich gewesen. Cressida schüttelte die Serviette aus und legte sich zwei Äpfel, eine Käseecke, ein mit Butter bestrichenes Brötchen und einen Hähnchenflügel zurecht. Sie kramte weiter und holte eine Flasche Limonade, einen Teller und einen Becher hervor. Sie nahm einen Bissen vom Hähnchenflügel. Köstlich. „Es reicht für zwei, sofern Sie nichts dagegen haben, aus der Flasche zu trinken.“

Sie schaute auf und stellte fest, dass der Earl sie mit schmalen Augen fixierte, als habe er soeben den Butler beim Naschen vom besten Portwein ertappt.

Sie schluckte, ihr Appetit war dahin. „Oh. Sie meinten das sarkastisch.“ Sorgsam verstaute Cressida ihr Picknick wieder im Korb, wobei sie sich nochmals all die Gründe vor Augen führte, die sie ins Unrecht setzten.

„Nein, ich war nur erstaunt. Ich bin solch unabhängige junge Damen nicht gewohnt. Bitte essen Sie weiter.“ Er ließ sich auf der anderen Seite ihrer Serviettendecke nieder.

„Weshalb kommen Sie hierher, in den Park?“ Lord Easton griff nach einem Apfel.

„Weil er schön ist und ich wünschte, er würde mir gehören.“ Die Frage hatte sie so sehr überrascht, dass sie aufrichtig antwortete. Sie schnitt den Käse, um ihre Reaktion zu überspielen.

„Schön?“ Abermals sah er sich um, als verstünde er nicht, was sie meinte. „Dies ist eine Wildnis. Weshalb wollen Sie ihn haben? Was sollte eine alleinstehende Dame hiermit anfangen?“ Seine ausholende Geste umfasste den vor Wasserpflanzen trüben See; die vorrückenden Wälder; die mit Flechten überzogenen Säulen, die zwischen den Büschen auf der Hügelkuppe hervorblitzten und davon kündeten, dass der Tempel der Winde völlig überwuchert war.

Ihr war, als betrachte er den Park mit mehr als bloß Unverständnis. Fast so, als habe er die Londoner Elendsviertel vor sich.

„Ich würde ihn liebend gern wieder in das verwandeln, was er einst war – eine großartige Landschaft, die sich ihrer Blüte nähert. Er reift, ganz so, wie Capability Brown es vorhergesehen hat, wenngleich er seine Perfektion vielleicht erst in hundert Jahren erreichen wird. Aber während er sich der Vollendung nähert, die Brown ihm zugedacht hat, muss er gepflegt werden. Stattdessen wurde dieser Park sich selbst überlassen, und dies ist das Ergebnis.“

Der Earl starrte sie an, sichtlich sprachlos ob ihrer Begeisterung. Sie hätte sich mäßigen sollen, denn es war ungehörig, sich derart ausführlich über die eigenen Interessen und Ansichten auszulassen. Doch es fiel ihr schwer zurückzuhalten, was sie empfand.

„Ich habe ein Faible für Gärten und Landschaften. Es würde nicht allzu viel Arbeit erfordern, den See vom Schlamm zu befreien, den Wildwuchs zurückzuschneiden, die Blickfänge freizulegen. Und es böte den Einheimischen eine Verdienstmöglichkeit, was sie begrüßen würden, meinen Sie nicht auch?“

„Ein Faible fürwahr“, stellte er gedehnt fest. Etwas in seinem wachen Blick, in seinen grauen Augen, mit denen er sie unter halb geschlossenen Lidern hervor eindringlich ansah, trieb ihr das Blut in die Wangen. Er flirtete mit ihr, wurde ihr bewusst. Zumindest glaubte sie das; sie hatte kaum Erfahrung mit diesen Dingen. Cressida legte das Käsemesser beiseite, von der Erkenntnis getroffen, dass sie gern gewusst hätte, wie man flirtete. Das ist verrückt.

„Alles wirkt so verwuchert.“ Von einem Moment auf den anderen wandelte sich seine Miene und zeigte nichts als nüchterne Neugier. „Es wird nötig sein, einen Experten hinzuzuziehen – vielleicht Repton.“

„Ja, wenn Sie viel Geld ausgeben möchten, wobei Sie dennoch Männer anstellen müssten, die die eigentliche Arbeit übernehmen. Vielleicht würde Repton Ihnen eine Miniaturfregatte auf den See setzen, deren Mastspitzen von der Südterrasse aus zu sehen wären, wodurch die Illusion entstände, das Meer läge gleich jenseits des Hügels.“

„Lächerlich!“

„Das habe ich auch gedacht, als ich von derlei Vorhaben gelesen habe. Vermutlich könnten Sie eine Eremitage im gotischen Stil oder eine Burgruine errichten lassen. Bestimmt hat Mr. Repton entsprechende Pläne, Mylord.“

„Nennen Sie mich Easton. Obgleich ich gewiss eine förmliche Vorstellung anstreben sollte. Allerdings fehlt uns dafür die passende Matrone, es sei denn, diese recht ängstlich dreinblickende Ente dort würde einspringen.“

Ihr entschlüpfte ein wenig damenhaftes Schnauben, das teils Heiterkeit, teils Nervosität geschuldet war. „Miss Williams. Cressida Williams.“

„Entstammen Sie einer hiesigen Familie, Miss Williams?“

„Nein. Ich komme aus Devon, wo ich bei meinem Großonkel gelebt habe. Nun wohne ich bei meiner Cousine, die vor einer Weile nach Stowe Easton gezogen ist.“ Es war das Beste, sich möglichst an die Wahrheit zu halten, und gewiss hatte er keine Ahnung, dass seine Braut von der Kirche aus nach Devon geflohen war.

Das Thema Familie brachte sie auf etwas, das er gesagt hatte, als sie zu fahrig gewesen war, die volle Bedeutung zu ermessen. „Sie sprachen von Ihrem Anwesen. Heißt das, dass der Marquess …? Dass Sie es geerbt haben?“

„Mein Vater erfreut sich glücklicherweise bester Gesundheit. Er hat mir Easton Court als Landsitz übereignet. Damit einher geht die Herausforderung, es bewohnbar zu machen.“ Allzu erfreut ob dieser Aussicht klang er nicht.

„Ich bin froh, dass es wieder genutzt wird“, entgegnete Cressida höflich. „Für die Stadt wird es förderlich sein, denn ich könnte mir vorstellen, dass viel instand gesetzt werden muss. Und ich bin sicher, der Pfarrer wird keinen Hehl daraus machen, auf welch vielfältige Weise Sie der Gemeinde dienlich sein können.“

„Gewiss erstellt er bereits eine Liste. Um ihn von seinem gestrigen Vortrag über die Altertümer der Kirche abzulenken, habe ich ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass ich mich hier niederzulassen gedenke.“

Diese Unterhaltung wurde allzu vertraulich, ja fast freundschaftlich. Cressida durfte es nicht riskieren, länger in seiner Nähe zu bleiben, damit sie nichts preisgäbe, was sie verraten könnte. Sie begann, ihr Picknick einzupacken. „Ich muss gehen, My… Lord Easton.“

„Ich dachte, Sie seien hergekommen, um zu malen.“

„Das Licht ist ungünstig.“ Eine Lüge. Es gelang ihr nicht, seinem fragenden Blick standzuhalten. Gewiss durchschaute Lord Easton den Vorwand. Vermutlich hielt er sie für scheu, für ein Mädchen vom Lande, eingeschüchtert von einem Aristokraten. Sie senkte den Blick und entdeckte neben dem Korb das Brötchen, das sie vergessen hatte. Sie riss es in Stücke, die sie in den See warf. Sogleich stiegen Fische auf, um sie zu untersuchen. Cressida wischte sich die Hände ab und hob den Korb auf.

„Wenigstens kann ich auf einen guten Fang hoffen, sollte ich mich dem Angeln zuwenden. Sofern mir die hiesigen Wilderer etwas übrig gelassen haben, das es wert ist, geangelt zu werden.“

„Diese Gegend ist reich an Flüssen, weshalb Sie wohl nicht befürchten müssen, Ihre Fischgründe könnten geplündert worden sein. Guten Tag, Lord Easton.“

„Guten Tag, Miss Williams. Haben Sie vielen Dank für Ihre Ratschläge.“

Cressida nickte ihm zu, obwohl sie nicht wusste, ob er es sarkastisch gemeint hatte oder nicht. Sie wandte sich hügelan Richtung Pfad, wobei sie gleichmäßig ausschritt und lässig den Korb schwang, als wäre sie völlig unbeschwert. Dabei hätte sie nichts lieber getan, als ihn fortzuwerfen und zu rennen.

Nur wohin? fragte sie sich. Die Schlange war in ihren Garten Eden eingedrungen.

Guy schaute Cressida Willams nach. Hochgewachsen, anmutig … ungewöhnlich. Eine erwachsene Frau und eine verteufelt attraktive obendrein, wenngleich ein Kenner sie nicht unbedingt als schön bezeichnet hätte. Einzigartig. Und ehrbar, ermahnte er sich und dachte daran, wie sie auf sein Flirten hin errötet war und verlegen reagiert hatte. Er war nicht hier, um sich eine Mätresse zuzulegen, und ganz gewiss hatte er nicht vor, ehrbare Damen zu verführen.

Er wandte sich ab und schleuderte einen Stock in den See, woraufhin die Enten lärmend aufflogen. Vielleicht war Miss Williams auch gar nicht so ehrbar? Immerhin streifte sie ohne Begleitung umher, tat so, als gehörte sein Land ihr, und schwadronierte selbstsicher über die richtige Pflege sowie die Schönheit des Parks.

Und er wunderte sich über sich selbst. Er hätte sie zu seinem Haus geleiten, in einer drittklassigen Kusche heimschicken und ihr höflich, aber unmissverständlich vor Augen halten sollen, dass dies Privatbesitz sei.

Das wäre angemessen gewesen, aber stattdessen hatte er sich dem Genuss hingegeben, Miss Williams’ Nähe zu spüren. Und das war absurd. Alle Frauen, mit denen er in London flirtete, waren weit hübscher und gebildeter als sie. Und doch hatte sie etwas an sich, das ihn faszinierte. Ihn fesselte. Und diese albernen Empfindungen hatte ihn die Begegnung in die Länge ziehen lassen. Narr.

Er trat gegen ein üppig wucherndes Grasbüschel und betrachtete erneut die Landschaft ringsumher. Schön, hatte sie gesagt. Er hatte zu viel Zeit im Krieg verbracht, in Gelände, in dem jedes dichte Gehölz, jeder Morgen Buschland einen Feind verbergen mochte. Das hatte zur Folge, dass er sich in diesem ungepflegten Park unbehaglich fühlte. Dabei war ihm klar, dass dieses Gefühl hier in England, auf seinem eigenen Grund und Boden, eine ebensolche Illusion war wie seine jugendliche Überzeugung, unbesiegbar zu sein.

Guy schritt aufs Haus zu und versuchte, hinter die Verwahrlosung zu blicken. Was erfasste Cressida Williams, das ihm entging?

Nach und nach gelang es ihm, den Ort mit anderen Augen zu sehen. Die verschiedenen Grüntöne wirkten beruhigend, die Konturen von Landschaft und Anpflanzungen harmonisch. Die kleinen Bauten aus weißem Marmor hier und da erweckten den Eindruck eines Landes der Antike, das sich bis zum Horizont erstreckte. Schließlich kam das Haus in Sicht. Er überquerte eine Fläche, die eine Wiese hätte sein sollen und sich bis hinauf zum Ha-Ha zog, einer künstlichen steilen Böschung, die Tiere fernhielt, ohne den Blick zu versperren. Seine Gedanken waren nicht mehr gar so konfus.

Arthur lehnte an einer mächtigen Eiche, die an einer Seite des abfallenden Rasens aufragte. Als er Guy erblickte, richtete er sich auf und kam ihm entgegen.

„Ich wollte schon Suchtrupps aussenden. Was für eine Wildnis dort draußen.“

„Ich weiß. Zuerst habe ich in jedem Dickicht und jeder Senke einen Scharfschützen vermutet.“ Guy bemerkte Arthurs knappes Nicken. Es würde eine Weile dauern, bis sie das Gefühl abgelegt hätten, in der Armee, im Krieg zu sein. „Aber ich bin auf keine französische Infanterie gestoßen. Stattdessen bin ich etwas begegnet, das wohl der Genius Loci ist.“

„Der Geist dieses Ortes?“, riet Arthur. Latein war nie seine Stärke gewesen.

„Sogar der Schutzgeist. Anscheinend soll ich dies hier nicht als überwucherte Wildnis betrachten, die es zu zähmen gilt, sondern als etwas Schönes, das der behutsamen Korrektur bedarf.“

„Hast du getrunken?“

„Nicht einen Tropfen.“

„Dann kann ich nur annehmen, dass sie ein bezaubernder Geist ist.“

„Woher weißt du, dass es sich um einen weiblichen Geist handelt?“

Arthur grinste nur.

„Sie ist auf jeden Fall faszinierend“, räumte Guy ein, als sie die Terrasse erreichten.

4. KAPITEL

Die eine Meile zurück nach Stowe Easton nahm sich aus wie zehn Meilen. Cressida verließ den Weg neben dem „Raven’s Nest“ und sank auf die erstbeste Bank, ohne sich darum zu scheren, dass dies kein geeigneter Sitzplatz für eine Dame war.

Der Kellner kam heraus, starrte sie an und näherte sich, um zu fragen, ob er ihr etwas bringen könne.

Einen Krug besten Biers, lag ihr auf der Zunge. Männer jedenfalls schien das Getränk stets rasch zu beleben. Aber Damen tranken auf dem Marktplatz weder Bier noch etwas anderes. Sie dankte ihm, stand auf und wanderte bis zum überdachten Friedhofstor, unter dem sie sich auf einer Bank niederließ, um wieder zu Atem zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen.

Ihr erster Impuls war, ihre Taschen zu packen und aus der Stadt zu fliehen. Aber der einzige Ort, an den sie hätte gehen können, war das Haus ihres Bruders – und darin lebten auch seine Frau Dorinda und ihre fünf lebhaften Kinder. Die Aussicht war wenig verlockend. Dorinda war der Meinung, dass Schwägerinnen, die eine gute Partie ausschlugen, die Gesellschaft schockierten und den eigenen Brüdern Unannehmlichkeiten bereiteten, dazu verdammt waren, als alte Jungfer zu enden. Und alte Jungfern waren zu einem Dasein als nützliche Tante verdammt. Cressida mochte ihre Nichten und Neffen, nur nicht aus nächster Nähe und für längere Zeit, geschweige denn dauerhaft. Wenn sie schon zu einem Hausmütterchen degradiert werden sollte, würde sie sich als Gesellschafterin verdingen und wenigstens ein Gehalt für ihre Mühen beziehen.

Marjorie wäre gar nicht glücklich darüber, sie gehen zu lassen. Erst neulich hatte sie beteuert, wie sehr sie Cressidas Gesellschaft schätze. Sie zu verlassen wäre undankbar angesichts ihrer grenzenlosen Güte.

Cressida lehnte den Kopf gegen eine der verwitterten Eichenholzsäulen und betrachtete das beschauliche Treiben des Stadtlebens. Ein kleines Mädchen streichelte ein Kätzchen zu energisch und wurde gekratzt, woraufhin es heulend zu seiner Mutter rannte, die an Ernest Potters Stand Gemüse kaufte. Zwei Knaben, zweifellos Schulschwänzer von der hiesigen Volksschule, spielten zwischen den Grabsteinen. Drei Damen – Cressida kannte sie von Marjories Quilt-Zirkel – schritten Seite an Seite über den Marktplatz, die Köpfe zusammengesteckt und in ein Gespräch vertieft. In der Ferne ertönte ein Posthorn und kündigte die Postkutsche gen Westen an.

Es gefiel ihr hier in Stowe Easton mit seinen freundlichen Bewohnern. Sie genoss den friedvollen Alltag des Kleinstadtlebens, aufgelockert durch kleinere Dramen. Sie liebte Marjorie, und sie fühlte sich wohl in dem kleinen Haus mit den fröhlichen Dienstboten. Wieso sollte ein Mann sie dazu nötigen, all dies aufzugeben?

Das würde er nicht, beschloss sie. Lord Easton hatte durch nichts zu verstehen gegeben, dass er sie erkannt hatte. Und wenn nicht einmal ihr Anblick auf den Altarstufen seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte, würde nichts dies tun.

Sie war in Sicherheit, solange sie besonnen blieb. Wichtig war, nicht in Panik zu verfallen, sich nicht zu verhalten, als hüte sie ein Geheimnis, und nicht die Nerven zu verlieren, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete.

Als Marjorie mit ihrem Korb voller Stoffstücke am Arm zurückkehrte, war ihr Gesicht vor Triumph gerötet. Der Ehren-Quilt war fertig, und erst eine gute halbe Stunde und mehrere Tassen Tee später beendete sie ihre ausführliche Schilderung des Quilts und erkundigte sich nach Cressidas Tag.

Nachdem Cressida alles erzählt hatte, abgesehen von Guy Thurlows verstörender Wirkung auf ihren Puls, biss sich Marjorie auf die Lippen, offenbar tief in Gedanken. „Bist du dir sicher, dass er dich nicht erkannt hat?“

„Ich bin mir sicher.“ Das war sie inzwischen tatsächlich. „Ich habe nachgedacht, und der einzige Ort, an dem wir ihm begegnen könnten, ist die Kirche, wo wir ihm einfach aus dem Weg gehen können.“

„Er wird hier zur Kirche gehen?“ Marjorie wirkte, als sei ihr just eingefallen, dass ihre beste Sonntagsschute aus der vergangenen Saison stammte und somit nicht geeignet war, um damit einem Earl gegenüberzutreten.

„Dies ist der nächstgelegene Ort, in dem es einen Gottesdienst gibt. Unsere Hochzeit sollte hier stattfinden, weil die Kapelle auf Court in einem solch schlechten Zustand ist.“

„Womöglich hat er einen Geistlichen mitgebracht und hält zu Hause Andachten ab.“

„Das bezweifle ich.“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Guy Thurlow mit einem Kleriker unter einem Dach lebte. „Vielleicht geht er ja nicht zur Kirche“, meinte sie hoffnungsvoll.

„Das wird er gewiss. Wenn er sich hier niederlässt, ist es seine Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen.“

Cressida nickte und nahm sich einen weiteren Scone vom Teller. Es stimmte zwar, dass Essen keine Probleme löste, aber durch Scones mit Marmelade wurden sie auf jeden Fall erträglicher.

Der folgende Tag war ein Freitag. Als Marjorie und Cressida zu ihrem Einkauf aufbrachen, war die Neuigkeit, dass der Earl of Easton sich auf Easton Court einrichten und es instand setzen werde, bereits in aller Munde.

Sie vernahmen nicht eine Stimme, die sich der allgemeinen Begeisterung nicht anschloss. Selbst die alte Mrs. Fortingbrass, eine Witwe, die unbedingt das Schlechte in allen sehen wollte, musste einräumen, dass der Name Seiner Lordschaft nie in den Skandalblättern auftauchte – nicht, dass sie diese lese, aber man höre derlei Dinge ja. Es werde also keine ausschweifenden Orgien mit Glücksspiel und Zügellosigkeit geben, keine jungen Burschen, die sich mit eigens aus London herbeigeschafften Dirnen vergnügten, verkündete sie.

Cressida hatte einen Punkt erreicht, an dem sie glaubte, schreien zu müssen, sollte der Name des Earls noch ein einziges Mal fallen. Als sie nun in Mr. Millingtons Kurzwarenladen diese Behauptung erhaschte, konnte sie ein Glucksen nicht unterdrücken.

„Oh, Mrs. Fortingbrass, was ist eine Dirne?“, fragte sie mit großen Unschuldsaugen, was ihr einen Tritt gegen den Knöchel vonseiten ihrer Cousine einbrachte.

„Das, was aus schamlosen jungen Frauen wird“, beschied die Witwe ihr und beäugte Cressidas neues Promenadenkleid kritisch.

Bis zum Sonntag hatte Cressida sich eingeredet, dass Guy Thurlow gewiss nicht in der Kirche erscheinen werde. Adelige Junggesellen ohne Ehefrau, die sie zum Kirchenbesuch anhielt, hatten an einem sonnigen Julimorgen Besseres zu tun, als einer langweiligen Predigt und dem kurzatmigen Pfeifen der altersschwachen Orgel zu lauschen, die den Chor begleitete.

Daher hatte sie Muße, sich über Marjorie zu amüsieren, die viel Gewese um ihr Äußeres machte. Cressida ließ sich gar überreden, ihr rosarotes Musselinkleid mit dem zarten Rankenmuster, dem Spitzenkragen und den zwei Volants am Saum zu tragen und ihre beste Schute aufzusetzen. Hätte sie erwartet, den Earl anzutreffen, hätte sie sich nicht „herausgeputzt“, sagte sie sich. Das hätte ihm zu viel Bedeutung beigemessen.

„Da, ich wusste, er würde nicht kommen“, flüsterte sie, während sie Platz nahmen. Sie saßen sechs Reihen hinter der geschlossenen Kirchenbank von Easton Court mit der prachtvollen Eichenholztäfelung und dem markanten Wappen. Die Wände waren hoch, doch der Kopf eines großen Erwachsenen wäre dennoch zu sehen gewesen.

Der Pfarrer hatte das morsche Kastengestühl endlich durch offene Sitzbänke ersetzt, aber niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, Hand an die Bank von Easton Court zu legen. Oder an die von Sir Gregory Armstrong auf der anderen Seite, dachte Cressida lächelnd, als der betagte Baronet den Mittelgang entlangschwankte, gestützt von seinem Leibdiener auf der einen und seiner Haushälterin auf der anderen Seite.

Die Orgel gab ein einleitendes Pfeifen von sich, während der Küster auf die Altarstufen zueilte. Offenbar war eine Person von Bedeutung eingetroffen. Cressida hielt den Blick auf die Bank vor sich geheftet, doch das Rascheln der Sonntagskleider um sie her kündete davon, dass die Gemeinde nicht widerstehen konnte, sich umzuschauen.

Das Klappern von Absätzen auf den Steinfliesen wurde lauter und hallte an ihr vorbei. Der Küster führte zwei Gentlemen zur rechten der eingefassten Kirchenbänke und öffnete ihnen die Tür. Natürlich handelte es sich um Lord Easton. Cressida erhaschte einen kurzen Blick auf schlicht, aber erlesen geschneiderte Kleider und einen glänzenden hohen Hut in einer behandschuhten Hand, ehe er im Innern des Kastengestühls verschwand.

Marjorie stieß sie unauffällig an. „Wer ist das bei ihm?“, fragte sie leise.

„Keine Ahnung. Ist dir sein Arm aufgefallen? Zweifellos ein Freund aus der Armee.“

Die Orgelmusik schwoll an, und alle erhoben sich. Aller Augen waren auf den Pfarrer sowie den sorgsam frisierten dunklen Schopf gerichtet, der alles war, was von dem faszinierenden Neuankömmling zu sehen war. Das blonde Haar seines Begleiters war kaum zu erkennen.

Zu Cressidas Verwunderung öffnete der Küster die Tür erneut, um Lord Easton ans Lesepult treten zu lassen, wo er die erste Lesung hielt. Hinterher hätte Cressida nicht zu sagen vermocht, worum es gegangen war, obgleich er mit einer klaren, ruhigen Stimme vorgetragen hatte, die bis in die letzte Reihe gedrungen sein musste.

Nach dem Gottesdienst nahm Mr. Truscott am Westportal Aufstellung, um die Gemeindemitglieder zu verabschieden. Lord Easton und Sir Gregory mitsamt seinen helfenden Händen folgten ihm auf dem Fuße, ehe sich die Kirchenbänke Reihe um Reihe leerten.

Cressida ließ sich Zeit damit, Gebetbuch und Retikül einzusammeln, und wartete, bis die meisten anderen hinausgegangen waren. Mit etwas Glück würde Lord Easton bereits auf dem Weg zu seiner Kutsche sein, bis sie und Marjorie das Portal erreichten.

Sie hatte Pech. Seine Lordschaft stand noch neben dem Pfarrer, wobei die Unterhaltung der beiden immer wieder von aufgeregten Gemeindemitgliedern unterbrochen wurde. Sein blonder Freund stand schweigend daneben.

„… reparieren oder ersetzen?“

„Ich fürchte, sie ist nicht mehr zu reparieren. Auf Wiedersehen, Mrs. Whitlow, Mr. Whitlow, Miss Miranda. Wir haben einen Orgelbauer aus Oxford geholt, damit er sie untersucht. Mäuse in den Blasebälgen, der Holzwurm in den Pedalen. Vielen Dank für Ihr Angebot, uns nächsten Sonntag mit den Blumen zu helfen, Mrs. Matcham. Er war entsetzt über den Zustand des Instruments.“

„Mit Ihrem Einverständnis werde ich ...

Autor

Louise Allen
Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.
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Lucy Ashford
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