Historical Saison Band 35

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PIKANTE GEHEIMNISSE EINES GENTLEMANS von SCOTT, BRONWYN
Auch eine Lady hat gewisse … Bedürfnisse! Miss Annorah Price-Ellis, ihres keuschen Daseins überdrüssig, kontaktiert einen geheimen Gentleman-Escort-Service: Fünf Nächte soll der charmante, mit allen Liebeskünsten vertraute Mr. D'Arcy ihre sinnlichsten Wünsche erfüllen. Doch Annorah hat die Rechnung ohne ihr Herz gemacht …

SINNLICHE NÄCHTE MIT DER COMTESSE von SCOTT, BRONWYN
Londons bester Liebhaber: Channing Deveril ist so gut im Bett, dass die Damen ihn dafür bezahlen. Nur Alina ersehnt sich etwas anderes von ihm. Die geschiedene Comtesse hofft, dass der attraktive Sohn eines Earls ihr Zugang zur feinen Gesellschaft verschafft. Doch stattdessen verlieren sie sich in einem lustvollen Rausch!


  • Erscheinungstag 22.03.2016
  • Bandnummer 35
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765637
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Bronwyn Scott

HISTORICAL SAISON BAND 35

BRONWYN SCOTT

Pikante Geheimnisse eines Gentlemans

Wendet sich eine Dame an die Liga der diskreten Gentlemen will sie nur eins: erotische Erfüllung. Nicholas D´Arcy weiß also genau, was die schöne Annorah Price-Ellis von ihm erwartet. Doch dass sie ihm nach Ablauf der fünf Liebesnächte ein höchst privates, verführerisches Angebot macht, lässt ihn zum ersten Mal an seinem Weg als Gentleman-Escort zweifeln …

Sinnliche Nächte mit der Comtesse

Channing Deveril schenkt den Damen der Gesellschaft den sinnlichen Himmel auf Erden. Aber sein Herz bleibt auch in zügellosen Nächten unberührt - bis Alina Marliss nach London zurückkehrt. Schon in Paris war sie wie Feuer in seinem Blut! Was die inzwischen geschiedene Comtesse de Chalons jetzt allerdings von ihm verlangt, verschlägt dem Earl den Atem …

1. KAPITEL

London, Juni 1839

Wäre Nicholas D’Arcy ein weniger außergewöhnlicher Liebhaber gewesen und seine Gespielin, die attraktive rothaarige Lady Alicia Burroughs, ein wenig diskreter, dann hätte ihr Gatte sie wohl nicht entdeckt. Doch „weniger“ war kein Ausdruck, der Nick beschreiben konnte, und „diskret“ keiner, den man für Lady Burroughs verwenden würde. Gerade verlieh die temperamentvolle Dame ihrer Anerkennung für seine Fähigkeiten im Bett mit einer Stimmkraft Ausdruck, die einer Operndiva alle Ehre gemacht hätte.

Zum Henker! Das ganze Haus konnte sie hören. Wahrscheinlich die ganze Nachbarschaft! Es war reines Glück, dass Nick die schnellen Schritte im Korridor vernahm, gerade als Lady Burroughs mit lautem Schluchzen den Gipfel der Lust erreichte. Auch er war zum Höhepunkt gekommen, einer seiner besten, und abgesehen von dem Lärm, den sie machte, war Lady Burroughs seine Bemühungen durchaus wert gewesen. Verzückt lag sie unter ihm – den Kopf hatte sie in den Nacken geworfen – und lustvoll stöhnend bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Sie atmete schwer, und zu seiner Überraschung tat er es auch. Lord Burroughs wusste nicht, was ihm entging, indem er seine Ehefrau vernachlässigte. Allerdings würde er es gleich wissen.

„Alicia!“, brüllte der Gatte im Gang.

„Burroughs!“ Alicia setzte sich keuchend auf, und so großes Entsetzen blitzte in ihren Augen auf, dass Nick sich Sorgen zu machen begann. Wie viel Zeit hatte er wohl noch? Zehn Sekunden? Vielleicht fünfzehn? Burroughs war ein vierschrötiger Mann und nicht besonders schnell. Und vielleicht rannte er nicht einmal, sondern ging nur rasch. Ihm blieb genügend Zeit, sich seine Hose anzuziehen, aber mehr nicht.

Nick sprang aus dem Bett, griff nach seinen Pantalons und schlüpfte hastig hinein, bevor er nach Hemd und Frackrock griff. „Sie sagten, er würde bis Montag fort sein!“, zischte er und legte seine Schuhe auf den Stapel in seinen Händen.

„Oh, seien Sie still! Sie wollen doch nicht, dass er Sie hört. Schnell!“ Alicia saß in der Mitte des Betts, das Laken züchtig über ihre runden Brüste gezogen.

Nick sah sich um. Keine Zeit, aus dem Fenster zu steigen, und wenn er die Tür benutzte, würde er Lord Burroughs direkt in die Arme laufen. „Hat das Ankleidezimmer einen Ausgang?“ Wenn er schon ertappt werden sollte, dann nicht von einem Wichtigtuer von einem Mann, der es nicht fertig brachte, seine Frau im Ehebett zu halten.

Nach einem letzten Augenzwinkern zu Lady Burroughs eilte er ins Ankleidezimmer und von dort in den anliegenden Raum, das Schlafgemach Seiner Lordschaft. Nur Sekunden später hörte er Lord Burroughs brüllen: „Wo ist er?“

In deinem Zimmer, alter Narr, dachte Nick leise lachend, aber er musste rasch überlegen. Selbst Burroughs war nicht so beschränkt, nicht zu erkennen, dass der einzige Fluchtweg durch das Ankleidezimmer führte. Nick stürzte in den Gang hinaus und wählte ein anderes Zimmer zur Gartenseite des Hauses hin. Er schlüpfte hinein und schloss die Tür leise hinter sich. Für den Augenblick war er sicher. Er legte sein Bündel auf den Boden und zog die Schuhe an.

„Millie, bist du das?“, kam eine Stimme aus dem Ankleideraum. Nick hielt mitten in der Bewegung inne, einen Schuh schon am Fuß, den anderen noch in der Hand. Er packte seine Sachen und lief zum Fenster. Er war zu langsam. Eine Dame mittleren Alters in einem seidenen Morgenrock kam herein, bevor Nick den Raum auch nur halb durchquert hatte. Die Dowager Countess!

Sie würde schreien. Nick sah, wie sie den Mund öffnete. Er musste diesen Schrei verhindern, und es blieb ihm nur ein Augenblick, um es zu tun. Und so tat er das Einzige, was ihm einfiel. Hastig legte er die zwei Schritte zurück, die ihn von ihr trennten, riss sie in die Arme und küsste sie. Und zwar sehr gründlich, bis ihm auffiel, dass sie seinen Kuss mit großer Leidenschaft erwiderte. Die Dowager Countess – wer hätte das gedacht! Es war zweifellos eine der angenehmsten Überraschungen dieses Abends, vor allem, als sie sagte: „Junger Mann, Sie sollten das Fenster nehmen. Sie werden feststellen, das Spalier ist recht robust.“ Und sie zwinkerte ihm zu. „Es ist schon oft auf die Probe gestellt worden.“

Lieber Himmel, wusste Burroughs überhaupt, was sich in seinem Haus abspielte? Nickt dankte ihr und verschwendete keine Zeit mehr. Er hörte, wie Burroughs die Tür zum Nachbarzimmer aufriss. Wieder würde ein Moment darüber entscheiden, ob er entdeckt wurde oder entkommen konnte. Er warf zuerst seine Sachen aus dem Fenster und schwang dann ein Bein hinaus, um das Spalier auszutesten.

„Kommen Sie, wann immer Sie möchten“, rief die Dowager Countess ihm nach. „Der Gärtner sorgt dafür, dass das Spalier stets in gutem Zustand ist. Er denkt, es sei wegen der Rosen.“

Nick musste lächeln und kletterte in dem Moment in die Dunkelheit hinaus, als Burroughs an die Tür zum Schlafzimmer seiner Mutter klopfte.

Die restliche Flucht verlief ohne Schwierigkeiten. Nick fand aus dem Garten hinaus, und erst nachdem er ein Gewirr von Gassen hinter sich gelassen hatte, nahm er sich die Zeit, sich vollständig anzukleiden. Für den Augenblick war er in Sicherheit, wenn auch nicht wirklich. Alicia Burroughs zeichnete sich nicht gerade durch Diskretion aus, wie er sehr wohl wusste. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Burroughs erfuhr, wer der Mann bei seiner Gattin gewesen war.

Am Ende werde ich einer Strafe nicht entgehen können, dachte Nick grimmig. Er stopfte sein Hemd in die Hose. Allerdings würde Burroughs nichts außer seinem Namen erfahren, sodass die Verantwortung für das heutige Debakel lediglich ihn selbst treffen würde. Auf keinen Fall durfte es eine Verbindung zu der Liga der diskreten Gentlemen geben, nichts durfte die Organisation, zu der er gehörte, aufdecken, die, wie ihr Name schon sagte, um jeden Preis diskret bleiben musste. Niemanden störte es, einen höchst kompetenten Gentleman Escort als „Begleiter“ zu engagieren – wenn gewährleistet war, dass keiner je davon erfuhr!

Nicholas ging weiter. Noch war er nicht bereit zum Argosy House, dem Hauptquartier der Liga, zurückzukehren. Was sollte er Channing sagen? Der Gründer der Liga wäre in der Tat sehr enttäuscht von ihm. Diskretion war das oberste Gesetz. Es zu brechen, bedeutete finanziellen Ruin. Es würde das Ende der Gentlemen sein, das Ende des beträchtlichen Gewinns, das Ende sehr vieler Dinge – und nicht zuletzt sein eigenes Ende: Nicholas D’Arcy, Londons fantastischster, aufregendster Liebhaber. Viele Frauen zahlten enorme Summen für seine Liebeskünste. Sie stopften ihm die Taschen mit Edelsteinen voll, um herauszufinden, wie fantastisch war. Und da er diese Edelsteine und jede Summe Geldes brauchte, ermutigte er ihren Glauben in seinen Ruf. Aber war er nicht wirklich genau das – der fantastische Nick – allerdings auch nicht mehr?

Wenn er ehrlich sein wollte, musste er eingestehen, dass ein gekonntes Liebesspiel so ziemlich alles war, was er beherrschte. Dem Himmel sei Dank, dass er sein einziges Talent in eine Einkommensquelle hatte verwandeln können. Und er dankte dem Himmel, dass er Channing Deveril begegnet war, der seinen Erfolg überhaupt erst ermöglicht hatte. Sonst würde er sich wahrscheinlich noch immer als Schreiberling in einer Reederei am Hafen durchkämpfen und zu wenig verdienen, um seine Familie unterstützen zu können.

Dank seines Rufs war es ihm jetzt jedoch möglich, seiner Mutter anständige Summen Geldes zu schicken. Er konnte seinen beiden Schwestern aufregende Briefe über großartige Feste und die neueste Mode schreiben, ohne sich etwas ausdenken zu müssen. Natürlich wussten sie nicht, wie er sein Geld verdiente, nur das er jetzt ein Geschäftsmann war. Aufgrund der schlechten Gesundheit seines Bruders würden sie auch niemals die Wahrheit erfahren. Denn es würde sich nie die Gelegenheit für sie ergeben, nach London zu kommen und die wahre Situation zu erfassen, wofür er unendlich dankbar war. Das zerstörte Leben eines Bruders war schon Schuld genug. Nick wollte nicht auch noch seiner Mutter das Herz brechen.

Die Milchmädchen begannen ihre Runden, als Nicholas die Stufen zu Argosy House hinaufging. Es unterschied sich in nichts von den anderen Häusern in der Jermyn Street, die ebenfalls von wohlhabenden ledigen Gentlemen bewohnt wurden. Alle Fenster der übrigen Gebäude waren jedoch dunkel, nur im Argosy House brannten noch die Lichter. Die Herren würden noch etwa eine Stunde aufbleiben und von ihrem Abend erzählen, um sich danach zurückzuziehen.

Er betrat das Haus und hörte lautes Männerlachen im Salon. Unwillkürlich musste er lächeln. Es gab ihm ein Gefühl der Geborgenheit, zu wissen, was ihn erwartete, wenn er nach Hause kam. Und dies war das einzige Zuhause, das er jetzt besaß, der einzige Ort, an dem er sich wohlfühlen konnte.

Im Salon saßen sieben Männer lässig in den Sesseln und auf den Sofas – die Krawattentücher gelöst, die Frackröcke abgelegt und die Westen aufgeknöpft – und alle genossen ihren Brandy. Diese Männer waren seit vier Jahren seine Kameraden und Mitglieder derselben geheimen Liga.

Jocelyn Eisley entdeckte ihn als Erster. „Oho, Nick, mein Junge. Das war ja ein knappes Entkommen heute Abend. Wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen.“

Alle wandten sich ihm zu. Einige pfiffen anerkennend, andere applaudierten.

„Du wirst noch in die Zeitung kommen.“ Amery DeHart salutierte mit seinem halb geleerten Glas.

„Ein dreifaches Hoch auf unseren Nick.“ Eisley räusperte sich und sprang für einen Mann seiner Größe erstaunlich gewandt auf einen Polsterhocker. „Ein Gedicht ist das Mindeste, um ein solches Ereignis zu würdigen. Es kommt nicht oft vor, dass jemand von uns einer Dame Freude bereitet, während ihr Gatte sich im Haus aufhält.“

Mehrere Gentlemen stöhnten mitfühlend. Nick setzte sich neben DeHart auf das Sofa. Eisleys Gedichte waren schon Tradition.

„Ein schmutziges Gedicht, Eisley“, rief Miles Grafton. „Eine schmutzige Tat verlangt ein schmutziges Gedicht.“

„Hört, hört!“, erwiderten die anderen.

„Nun gut.“ Eisley strich die blonden Locken zurück und bat um Aufmerksamkeit. „Ich schenke euch also meine letzte Schöpfung.“ Seine sonore Stimme bebte dramatisch, als ginge es um einen Auftritt in einer Tragödie im Drury-Lane-Theater. „Einst war da ein Mann namens Nick, der erfreute die Damen mit großem Geschick. So sehr haben sie gestöhnt, wenn Nick sie verwöhnt, dass der Hass aller Gatten lag ihm im Genick.“ Er verbeugte sich schwungvoll.

„Geht es nicht uns allen so?“, rief Amery lauter als nötig. „Wir sind die Wüstlinge, die jeden Gatten eifersüchtig machen.“

„Dem Himmel sei Dank dafür“, meldete sich Captain Grahame Westmore finster aus der Ecke neben dem Kamin, wo er Platz genommen hatte. „Wenn die Gentlemen des ton ihren ehelichen Pflichten angemessen nachgingen, wären wir ohne Beschäftigung.“ Westmore war ein ehemaliger Kavallerieoffizier und gab sich ebenso verschlossen wie Nick. Über ihn wusste er weniger als über all die anderen Männer, die heute anwesend waren.

„Nun, was denkt ihr?“ Eisley sprang vom Hocker herunter. „Ist es nicht mein bisher bestes? Ich werde es heute Nachmittag bei White’s rezitieren, und noch vor dem Dinner wird mein kleines Liedchen in jedem Salon in Mayfair wiederholt werden – wenn auch nur diskret selbstverständlich. Am besten bestellst du dir wieder einige dieser Pariser, die du so magst, Nick. Deine Beliebtheit wird rasant in die Höhe schnellen, mein Junge. Sie werden nur noch von ‚Nicks Trick‘ reden.“

„In der Zeitung reden sie von ‚Nicks kopfloser Flucht‘, wie ich erfahren habe“, hörten sie eine tiefe Stimme an der offenen Tür.

Nick zuckte zusammen. Er brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass Channing Deveril eingetreten war, der Begründer der Liga. Offenbar hatte er von dem Vorfall bereits gehört.

„Knapp davongekommen heute Nacht, was, Nick?“ Channing warf ihm einen scharfen Blick zu.

„Aber davongekommen.“ Nick zuckte die Achseln. Vielleicht war Channing nicht allzu verärgert. Immerhin war es ein Risiko ihres Geschäfts, erwischt zu werden, und hätte jedem passieren können.

Channing lächelte schwach. „Dafür müssen wir alle dankbar sein. Komm mit mir in mein Büro, damit wir darüber reden und entscheiden können, was zu tun ist.“

Nick folgte ihm widerwillig. „Was gibt es da zu entscheiden?“, fragte er unruhig, als er sich in den Sessel vor Channings poliertem Schreibtisch sinken ließ.

„Was mit dir geschehen soll, natürlich.“ Channing warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. „Vielleicht bist du heute Nacht zu weit gegangen.“

„Man kann nie zu weit gehen.“ Nicholas lachte, Channing allerdings nicht.

„Ich meine es ernst, Nick, und dasselbe solltest du tun. Dieser Sturm wird nicht einfach so vorüberziehen. Burroughs wird wissen, dass du es gewesen bist.“

„Er wird es nur vermuten können, nicht sicher wissen“, warf Nick ein.

Channing hob ungläubig die Augenbrauen. „Du täuschst dich. Mit kleinen Versen wie ‚Nicks Trick‘ und Karikaturen in den Zeitungen, die als ‚Nicks kopflose Flucht‘ betitelt werden und inzwischen schon ganz London erreicht haben dürften?“ Da hatte Channing gewiss nicht unrecht. „Außerdem denke ich nicht, dass Alicia Burroughs sich je durch ihre Verschwiegenheit ausgezeichnet hätte.“

Noch ein Punkt, in dem er Channing recht gab. „Die Agentur wird nicht hineingezogen werden“, versicherte Nick in der Hoffnung, Channings Unwillen zu besänftigen.

„Meine Sorge gilt nicht allein der Agentur, sondern auch dir, Nick. Ich will nicht, dass es ein Duell gibt.“ Er öffnete eine Schublade und holte einen Ordner heraus, den er Nick zuschob. „Und deswegen habe ich einen neuen Auftrag für dich.“

Nick überflog das Dokument im Ordner und runzelte die Stirn. „Fünf lustvolle Liebesnächte? Auf dem Land? Ist so etwas überhaupt möglich? Lust und Land scheint mir eine völlig unwahrscheinliche Zusammenstellung zu sein.“ Nicholas schob den Ordner mit unverhohlener Verachtung wieder zurück. Er war ein Londoner. Die Stadt mit ihren kultivierten Damen war seine bevorzugte Umgebung. Der Himmel mochte ihn vor einer Landpomeranze verschonen. „Das ist wirklich nicht meine Spezialität, Channing.“

Channing hob die blonden Augenbrauen. „Ein Duell mit einem gehörnten Gatten ist hingegen nicht meine. Wenn ich dich daran erinnern darf, ist die Mission der Liga, einer Frau Lust zu verschaffen ohne den Beigeschmack eines Skandals. Duelle, mein Freund, passen nicht zu unserem Versprechen absoluter Diskretion. Du musst die Stadt verlassen, bis das Gerede sich gelegt hat. Du weißt, wie es in London um diese Jahreszeit zugeht. In den folgenden zwei Wochen wird ein anderer Skandal diesen hier vergessen lassen, allerdings nicht, falls du hier bleiben solltest und jeden mit deiner Anwesenheit daran erinnerst. Ich habe nicht den Wunsch, dich von einem eifersüchtigen Ehemann erschießen zu lassen.“

„Es wird nichts passieren, das verspreche ich dir“, warf Nicholas ein. „Burroughs hat keine Beweise. Er kann nicht mehr als einen Schatten gesehen haben.“

Channing spielte gedankenverloren mit dem Brieföffner. „Nun ja, was er diesem Schatten allerdings anzutun gedenkt, hat sich bereits wie ein Lauffeuer in London verbreitet. Hast du irgendetwas zurückgelassen? Einen Manschettenknopf? Einen Schuh? Irgendetwas, das dich mit dem Vorfall dort in Verbindung bringen könnte.“

„Nichts“, erwiderte Nicholas heftig. „Ich lasse niemals etwas zurück. Ich schwöre, dass es eine saubere Flucht war.“

Channing lachte knapp. „Wir scheinen eine unterschiedliche Auffassung von einer ‚sauberen Flucht‘ zu haben.“

Dramatisch legte Nicholas eine Hand aufs Herz. „Das schmerzt mich zutiefst.“ Und er war wirklich ein wenig verstimmt darüber, dass Channing glaubte, ihn nach diesen Dingen fragen zu müssen. Er war einer von Channings besten Männern, soweit es die sinnlicheren Aktivitäten ihrer Organisation anging. Nicht jede Frau kam zu ihnen, weil sie auf der Suche nach körperlicher Befriedigung war. Einige Damen versuchten einfach nur, Aufsehen zu erregen und vielleicht auch ihren Gatten zurückzugewinnen, der sich von ihr abgewandt hatte oder sie zu lange als selbstverständlich ansah. Doch es gab auch jene, die tatsächlich die intimen Freuden finden wollten, die ihnen bisher versagt geblieben waren. Und dafür war er zuständig. Nick hoffte, dass Channing diesen Aspekt des Briefes übersehen hatte.

„Abgesehen vom möglichen Skandal, würde ich dennoch dich schicken.“ Channing legte den Brieföffner beiseite und fixierte Nicholas mit einem strengen Blick aus seinen blauen Augen. „Diese Frau sucht nach körperlicher Erfüllung, und das ist nun einmal deine Spezialität.“ Er hatte ihn nicht übersehen.

„Aber nicht auf dem Land“, wandte Nicholas ein, obwohl er wusste, dass er in diesem Gespräch den Kürzeren ziehen würde. „Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, ausgerechnet jetzt die Liga zu verlassen.“ Er wies auf das genannte Datum im Brief. „Fast eine ganze Woche Mitte Juni? Mitten in der Saison. Schon jetzt haben wir mehr Aufträge, als wir bewältigen können.“ Es würde ihn schwer treffen, die Vergnügungen Londons zu verpassen: den Marlborough-Ball, den Mittsommer-Maskenball in Lady Hydes herrschaftlichem Haus in Richmond. Alles fand in eben jener Woche statt, ganz zu schweigen von den Sommernächten in den Vauxhall Gardens mit ihrem faszinierenden Feuerwerk.

Channing blieb ungerührt. „Wir werden schon zurechtkommen.“

„Du könntest jemand anders beauftragen. Jocelyn oder Grahame. Miles oder Amery. Hat DeHart nicht gesagt, es gefalle ihm auf dem Land? Er hatte großen Erfolg auf der Hausparty, zu der du ihn geschickt hast.“ Er weigerte sich, aufs Land zu fahren. Er mied es wie der Teufel das Weihwasser.

„Alle haben bereits einen Auftrag“, sagte Channing entschieden. „Du wirst gehen müssen.“ Er schenkte Nicholas sein gewinnendes Lächeln, das Männer und Frauen gleichermaßen so bezaubern konnte, dass sie gemeinhin taten, was immer er von ihnen verlangte. „Mach dir keine Sorgen, Nicholas, die Stadt wird es noch geben, wenn du zurückkommst.“

Was sollte er darauf erwidern, ohne zu viel zu verraten? Es gab Dinge in seinem Leben, die er nicht einmal Channing erzählt hatte. „Im Brief steht, sie werde gut bezahlen. Wie gut?“ Er wusste, dass er mit dieser Frage seine Zustimmung signalisierte. Doch es war immer noch besser, das Schlachtfeld mit höflicher Resignation zu verlassen, als offen davongejagt zu werden.

„Eintausend Pfund“, sagte Channing leise.

Nicholas lächelte trocken. Er würde so ziemlich alles tun für eintausend Pfund. Selbst seinen Ängsten die Stirn bieten. „Nun, damit ist die Sache entschieden.“

„Das dachte ich mir schon. Pack also deine Sachen. Ich habe bereits eine Reisekutsche für dich gemietet. Sie fährt um elf. Du wirst pünktlich zum Tee dort ankommen.“

Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als seinen alten Trick anzuwenden und sich zu sagen, dass es schlimmer hätte sein können – wenn er auch nicht sicher war, wie das möglich wäre. Nun ja, es hätte über einen längeren Zeitraum als fünf Tage sein können, es hätte ein Auftrag für einen ganzen Monat sein können.

2. KAPITEL

Sussex, England

Ihr Leben würde in einem Monat vorbei sein. Sie spürte es regelrecht in den Knochen und auch nicht zum ersten Mal. Bereits seit April fühlte sie, wie es sich heranschlich, und jetzt war es da, und sie konnte nichts tun, um es aufzuhalten. Das Unvermeidliche würde geschehen, wenn sie auch jahrelang versucht hatte, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Doch jetzt starrte es sie – selbst nach so langer Zeit konnte sie es nicht bei seinem Namen nennen – bedrohlich an, jenes schreckliche Datum auf ihrem geistigen Kalender.

Selbstverständlich hatte sie um Hilfe ersucht. Alle Experten, die sie befragte, kamen zu derselben Diagnose. Es blieb ihr nichts anderes zu tun übrig, als es hinzunehmen. Und so hatte sie sich gezwungen gesehen, Zugeständnisse zu machen und Vorbereitungen zu treffen. Und deshalb saß sie jetzt an diesem wunderschönen Juninachmittag in ihrem sonnenhellen Salon ihres Landguts Hartshaven und wartete – gewiss eine seltsame Beschäftigung für jemanden, dem die Zeit knapp wurde.

Annorah blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war fast vier. Er würde jeden Moment erscheinen, und sie war alles andere als gefasst. Nie hatte sie etwas so Gewagtes oder Endgültiges getan. Während jenes grauenhafte Datum immer näher rückte, hatte sie immer öfter darüber nachgedacht, was sie noch alles tun wollte, welche Freuden sie ein letztes Mal erleben wollte. Sie war reich. Ihr Vermögen war enorm. Sie konnte sich alles leisten, was ihr Herz begehrte: Reisen nach Paris oder Venedig, wunderschöne Kleider. Letztendlich konnte ihr ganzer Reichtum sie jedoch nicht retten. Also hatte sich ihr eine Frage aufgedrängt: Was wünschte sie sich? Und die Antwort war schnell gefunden.

Sie war dreißig Jahre alt, zumindest noch zwei Wochen lang, und bereits seit fast einem Jahrzehnt über die Blüte ihrer Jugend hinaus. Zwar fühlte sie sich nicht so, und sie hoffte, sie sah auch nicht so aus. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie nicht viel erreicht, ganz gewiss nichts von all dem, was eine Frau in ihrem Alter erlebt haben sollte – die Liebe eines Gatten und die Geburt seiner Kinder. Einige Male war sie zwar kurz vor einer Vermählung gewesen. Das eine Mal hatte man ihr das Herz gebrochen, und ein anderes Mal hatte sie plötzlich selbst einen Rückzieher gemacht. Später hatte sie sich nach Hartshaven zurückgezogen und sich immer seltener in die Londoner Gesellschaft begeben, jedes Jahr weniger oft, sodass es inzwischen eine kleine Ewigkeit her war, seit sie das letzte Mal ihren Fuß in die Hauptstadt gesetzt hatte.

Es war ein einsames Leben gewesen. Was sie allerdings ihr Eigen nennen konnte, war ein wunderschönes Gut auf dem Land und Unmengen von Geld. Sie besaß alles, was das leibliche Wohl einer Frau anging, bis auf einen Mann. Doch das würde sich bald ändern. In wenigen Momenten würde ein Mann in ihr Haus kommen. Sie hatte ihn aus London bestellt, ebenso wie sie ein neues Kleid bestellen würde – und sollten ihr jetzt deswegen Bedenken kommen, so kamen sie zu spät.

Annorah ging in Gedanken ein letztes Mal den sorgfältig verfassten Brief durch, den sie geschickt hatte. Jedes einzelne Wort hatte sich ihr ins Gedächtnis eingeprägt.

Werte Gentlemen,

ich suche eine diskrete Verbindung mit einem Mann von vornehmer Lebensart und angenehmen Umgangsformen. Er muss sauber und gepflegt und ein kenntnisreicher Gesprächspartner – mit anderen Worten, gebildet – sein und das ruhige Landleben lieben. Ich bin bereit, großzügig zu zahlen für fünf Nächte seiner Gesellschaft.

Sie hatte drei Tage gebraucht, um sich für diese wenigen Zeilen zu entscheiden. Nach all der Mühe, die sie sich gegeben hatte, hätte der Brief eigentlich länger sein müssen. Und nun konnte sie nur hoffen, dass die Agentur wusste, was sie meinte. Die kleine Anzeige, die sie in einer Zeitschrift entdeckt hatte, deutete an, dass man in der Agentur erfahren genug war, um zwischen den Zeilen lesen zu können, und genau wusste, was in jeder gegebenen Situation verlangt wurde. Und doch enthielten jene kümmerlichen paar Zeilen die kühnsten Worte, die sie je geschrieben hatte.

„Es ist so weit, Annorah. Hör auf, eine solche Gans zu sein.“ Sie spürte, wie der Mut sie zu verlassen drohte. Doch wenn nicht jetzt, dann wann? Sie kannte die Antwort. Nie. Wenn sie die Geheimnisse der Leidenschaft kennenlernen wollte, bevor es zu spät war, dann musste sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Also wartete sie darauf, dass ihr Geburtstagsgeschenk ankam: der vollkommene Mann – ein Mann, der ihr nicht das Herz brechen würde, der ihr nicht vormachen würde, sie zu lieben, obwohl es ihm nur um ihr Geld ging, der begriff, dass sie nur eine kurze Affäre wollte, bei der sie die fleischliche Liebe erfahren würde, ohne es bereuen zu müssen.

Fünf Nächte voller Leidenschaft sollten genügen. Danach würde sie sich in ein Schicksal fügen, dem sie, den klügsten Anwälten Englands zufolge, nun einmal nicht entrinnen konnte. Sie würde entweder bis zu ihrem einunddreißigsten Geburtstag verheiratet sein und ihr Gut und Vermögen behalten dürfen oder ledig bleiben und somit das Gut und den größten Teil ihres Vermögens an die Kirche und wohltätige Stiftungen verlieren. Das Herrenhaus sollte dann eine Schule werden, und sie müsste sich mit einem Cottage und einem angenehmen Einkommen zufrieden geben müssen, von dem sie fortan schlicht und alles andere als großartig leben würde. Vergessen wäre die Freiheit, sich alles leisten und alles tun zu können, was sie wollte.

In beiden Fällen allerdings lief sie Gefahr, das Leben zu verlieren, wie sie es kannte. Sollte sie heiraten, würde ihr sagenhaftes Vermögen an ihren Gatten gehen, blieb sie allein, würde alles der Kirche zufallen. Sie selbst konnte einfach nicht gewinnen. Ihr erster Impuls war gewesen, Einkäufe zu tätigen: eine unverschämt große Anzahl von Kleidern mit den passenden Accessoires und dazu den Mann, der sie bewundern sollte.

Der Kies auf der Auffahrt knirschte. Ihr Puls beschleunigte sich. Durch das Fenster erhaschte Annorah einen Blick auf eine Chaise, die vor das Haus fuhr, dann wurde sie von der großen halbkreisförmigen Treppe verborgen, die zum Eingangsportal führte. Sie würde ans Fenster treten müssen, um die Auffahrt ganz im Blick zu haben, aber sie wollte nicht so ungeduldig erscheinen.

Schon erschien ihr Butler Plumsby an der Tür. „Miss, Ihr Gast ist angekommen. Darf ich mir erlauben anzumerken, dass er recht ansehnlich ist für einen Bibliothekar?“ Natürlich hatte sie ihren Dienstboten nicht die Wahrheit gesagt, sondern vorgegeben, ein letztes Mal ein Verzeichnis ihrer Bibliothek machen zu wollen, eine Art Inventar, sollte sie sich entschließen, alles der Schule zu überlassen.

„Danke, Plumsby. Ich komme gleich heraus, um ihn zu begrüßen.“ Ihr Herz schlug schneller, denn in Gedanken verweilte sie bei Plumsbys Worten: Er ist also ansehnlich. Sie warf einen letzten Blick in den Wandspiegel, um sicherzugehen, dass ihre Frisur ordentlich saß und sie keinen Schmutzfleck im Gesicht hatte. Dann atmete sie tief durch und trat in den Gang hinaus. Plötzlich kam sie sich übertrieben grell vor in ihrem gelben Musselinkleid vor dem dezenten Blau und dem eleganten italienischen Marmor der Halle. Allerdings war jetzt keine Zeit mehr sich umzukleiden oder sich unbemerkt über die Hintertreppe davonzustehlen. Er hatte sie bereits gesehen.

Lächelnd ging sie auf ihn zu. „Sie sind da. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“ Annorah verschränkte fest die Hände in der Hoffnung, ihre Unruhe verbergen zu können, spürte aber, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Ansehnlich“ drückte die Wahrheit nicht einmal annähernd aus. Himmel, er musste denken, dass sie ein Dummkopf war! Stumm starrte sie ihn an. Sie kannten sich kaum eine Minute, und schon verschlug es ihr die Sprache.

Tee! Annorah griff erleichtert den Gedanken auf. „Plumsby, lassen Sie bitte Tee in den Salon bringen. Ich kümmere mich jetzt um meinen Gast.“ Kaum hatte sie ausgesprochen, erkannte sie ihren Fehler. „Verzeihen Sie, wie vorschnell von mir. Ich bestelle schon unseren Tee, dabei haben wir uns noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Annorah Price-Ellis.“

Sie reichte ihm die Hand, um ihn auf geschäftsmäßige Weise zu begrüßen, doch er nahm ihre Hand, beugte sich über sie und küsste sie flüchtig, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden. So wurde es sehr viel mehr als eine höfliche Begrüßung. Mit seiner Berührung wurde es vielmehr ein Prolog, ein Versprechen. „Nicholas D’Arcy, zu Ihren Diensten.“

Zu Ihren Diensten. Annorah musste schlucken. Er war gekommen, und er war fantastisch. Der Blick aus seinen dunkelblauen Augen war intensiv, fesselnd. Das schwarze Haar trug er verwegen aus der Stirn gekämmt, und diese Frisur betonte die hohen Wangenknochen und einen Mund, den man nur vollkommen nennen konnte – einen Mund, der so sinnlich war, dass Annorah den Wunsch verspürte, ihn zu berühren.

Lieber Himmel, ihre Gedanken eilten wirklich schnell voraus! Sie war ihm kaum begegnet und schon berührte sie in der Fantasie seinen Mund. Hastig rief sie sich ihre guten Manieren in Erinnerung, deutete einen Knicks an und fragte sich verlegen, ob das überhaupt angebracht war. Knickste man vor einem solchen Mann? Aber genau das war ja die Frage. Was für ein Mann war er? Gekleidet war er wie ein Gentleman – ein Gentleman, der vom Glück verlassen worden war, oder ein Hochstapler in eleganter Kleidung, der lediglich jene nachäffte, die über ihm standen? Nun, es war ihre Fantasie. Sie konnte sie ausschmücken, wie es ihr beliebte.

Was sie allerdings nicht konnte, war wie ein Tölpel in der Halle herumstehen. Nun kamen ihr endlich die vielen Jahre guter Erziehung zu Hilfe. Zunächst würde sie mit ihm Tee trinken, alles Übrige würde sich schon von selbst finden. Das vertraute Teeritual würde ihr auch ein wenig die Nervosität nehmen. Das Gesprächsthema würde sich ganz natürlich ergeben: Nahm er Milch zum Tee? Zog er Zucker vor? Wollte er dazu Kuchen oder ein Sandwich? Die Unterhaltung würde allmählich in Gang kommen und sie das Gefühl haben, ihn ein wenig kennenlernen zu können.

Annorah wies auf den breiten Durchgang zu ihrer Linken und sagte, wie sie hoffte, auf kultivierte Weise, wenn die Worte sich auch eher wiederholten: „Plumsby wird uns den Tee im Salon servieren. Sie können eine Erfrischung zu sich nehmen, während wir über das Geschäftliche sprechen.“ Gewiss war das doch der richtige nächste Schritt. Es war besser, alle Einzelheiten besprochen zu haben, bevor sich die Dinge weiter entwickelten.

Nicholas D’Arcys blaue Augen blitzten amüsiert, ein Lächeln erschien um seine Mundwinkel. Er beugte sich verschwörerisch vor, so dicht, dass sie seinen Duft erhaschte – einen Wohlgeruch, der sie an den Sommer denken ließ. „Das soll ein Geschäft sein?“

Plötzlich fiel es ihr schwer, klar zu denken. Sie begann über Kunden und Auftragnehmer zu plappern und darüber, wie wichtig es für beide war, die Bedingungen einer eventuellen Verbindung zwischen ihnen auszuhandeln. Woraufhin er ihr nur leicht einen Finger an die Lippen legte.

„Ein wunderschöner Sommertag wartet auf uns, Annorah. Warum zeigen Sie mir nicht lieber die Gärten? Wir können uns unterhalten, während wir darin umherschlendern.“

„Ist es aber abgeschieden genug?“ Sie sollten im Freien über ihr Arrangement sprechen, wo jeder sie belauschen konnte? Gewiss waren die Dienstboten neugierig, was ihren Besucher betraf.

„Wir werden die Köpfe zusammenstecken und flüstern.“ Wieder sah er sie amüsiert an und reichte ihr den Arm, einen sehr festen Arm, dessen Muskeln der elegante blaue Gehrock nur betonte. Jetzt beugte er den Kopf, bis er ihren fast berührte, und sie hörte seine Stimme leise an ihrem Ohr. „Außerdem finde ich, dass das Risiko, von jemandem entdeckt zu werden, selbst den banalsten Spaziergängen eine gewisse Würze verleiht, meinen Sie nicht auch?“

„Ich werde Ihrer Erfahrung in dieser Hinsicht vertrauen müssen, Mr. D’Arcy.“ Ein süßer Schauer überlief sie bei der bloßen Vorstellung, und ihr wurde nur allzu bewusst, dass der Mann im makellosen, vornehmen Aufzug alles andere als ein Gentleman war.

„Bitte nennen Sie mich Nicholas. Wollen wir?“

Wie schnell sie die Kontrolle über das Gespräch verloren hatte. Es war erstaunlich, wie geschickt er die Führung übernommen hatte. Dabei weilte er lediglich seit einigen Minuten in der Halle, und schon riss er das Kommando an sich. Er wusste nicht einmal, wie man zu den Gärten gelangte, und doch waren sie bereits auf dem Weg zu den großen Fenstertüren, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht. Annorah hatte nicht erwartet, dass er so gelassen sein könnte, und war eher davon ausgegangen, dass sie die Oberhand behalten würde. Dieses Arrangement sollte ausschließlich nach ihren Regeln abgewickelt werden. Als sie ihren Brief abgeschickt hatte, war sie ihrer eigenen Souveränität sicher gewesen, weil er der Gast sein würde und sie die Gastgeberin. Doch plötzlich wurde ihr bewusst, wie leicht diese Rollen auf den Kopf gestellt werden konnten.

Im Garten gewann sie ihr inneres Gleichgewicht wieder. Nicholas D’Arcy stellte Fragen, hielt ab und zu vor gewissen Blumen inne, um etwas zu ihren Blüten zu bemerken, und Annorah antwortete, inzwischen wieder ein wenig selbstbewusster, erneut ganz die Gastgeberin.

„Ah, diese hier ist wirklich sehr selten. Eine Regenwald-Schwertlilie, wenn ich mich nicht irre. Sehr verrucht, nicht wahr, mit ihrem speerähnlichen Staubblatt, das kühn aus der Blüte herausragt?“

Annorah errötete heftig über seine unverhüllte Anspielung auf den männlichen Phallus. „Alle Blumen haben Staubblätter, Mr. D’Arcy.“

„Ja, aber nicht bei allen wird es so ungeniert zur Schau gestellt. Nehmen wir zum Beispiel jene zarte rosa Blüte dort drüben. Das Staubblatt wird brav von den Blütenblättern verdeckt. Aber nicht bei diesem Burschen.“ Er wies wieder auf die Schwertlilie. „Er ist sehr viel kecker und ragt groß und stolz hervor, damit jeder ihn sehen kann.“

„Blumen sind wohl kaum geschlechtliche Wesen, Mr. D’Arcy.“

„Meinen Sie? Erlauben Sie mir, da anderer Meinung zu sein. Nicht nur das, sie sind außerdem moralisch völlig bedenkenlos, mehr als jedes andere Geschöpf auf Gottes Erde. Überlegen Sie doch nur. Sie lassen sich täglich unendlich oft bestäuben und nur zu dem Zweck, ihren Samen in den Wind zu werfen, ohne sich darum zu kümmern, wo er landen mag.“

Ihre gute Erziehung verlangte eigentlich, dass sie einem solch lächerlichen Gespräch sofort Einhalt gebot, aber Annorah brachte es nicht über sich. Er hatte eine so angenehme Tenorstimme, mit der er jedes Wort zu streicheln schien, während er unzüchtige Bilder vor ihrem inneren Auge erscheinen ließ. Wenn er sie bereits bis ins Innerste erzittern lassen konnte, wenn er ausgerechnet über ein so trockenes Thema wie Botanik mit ihr sprach, würde er mit seiner Stimme jedes Thema verführerisch klingen lassen. Dennoch sollte sie ihm Einhalt gebieten. „Mr. D’Arcy, das ist kaum ein anständiges Thema für ein Gespräch.“

„Ich muss wieder darauf bestehen, dass Sie mich Nicholas nennen“, schalt er sie sanft. „Und um ganz offen zu sein, haben Sie mich nicht eingeladen, um anständig zu sein.“

Seine Bemerkung traf den Nagel auf den Kopf und bot ihr die Möglichkeit, das delikate Thema anzuschneiden. Inzwischen waren sie weitergegangen und hatten die unanständige Schwertlilie und den Blumengarten hinter sich gelassen. Sie entfernten sich immer weiter vom Haus, als sie eine Allee hinuntergingen und auf einen römischen Pavillon in einiger Entfernung zuhielten. Hier konnten sie von niemandem belauscht werden. Sie vermutete, dass er das Gespräch absichtlich in eine solche Richtung gelenkt hatte.

„Nein, Nicholas, ich habe Sie nicht herkommen lassen, um anständig zu sein. Ebenso wenig jedoch sind Sie hier, um sich sündiger Maßlosigkeit hinzugeben.“ Zu größerer Offenheit konnte sie sich nicht durchringen. Sie war kein scheues Mauerblümchen, das sich fürchtete, seine Meinung zu sagen. Bisher war sie immer selbstbewusst ihren eigenen Weg gegangen, aber eine solche Unterhaltung war etwas völlig Neues für sie. Noch nie hatte sie mit irgendjemandem über solche Themen gesprochen – ganz gewiss nicht mit einem so faszinierenden Mann, der sie mit intensivem Blick betrachtete.

„Ich verstehe“, antwortete Nicholas feierlich und bedeckte ihre Hand, die auf seinem Arm lag, tröstend mit seiner. „Was haben Sie der Dienerschaft gesagt?“

„Dass Sie gekommen sind, um den Wert meiner Bibliothek zu schätzen. Ich besitze eine recht umfangreiche Sammlung, doch sie wurde das letzte Mal vor einem halben Jahrhundert von meinem Großvater katalogisiert.“

Sein anerkennendes Lächeln erfüllte sie mit Genugtuung. Sie hatte lange über eine Ausrede nachgedacht, die ihr erlauben würde, einen männlichen Gast in ihrem Haushalt aufzunehmen.

„Sehr klug, Annorah. Sie haben mir die Aura eines Gelehrten, eines lebensfernen Büchernarren verliehen. Das wird gewiss jeden Verdacht zerstreuen, ich könnte irgendwelche Hintergedanken hegen, was Ihre Person angeht. Sie haben mir eine Aufgabe zugewiesen, die verlangt, dass ich mich täglich mit Ihnen einschließe, und was das Beste ist, Sie haben mir die vollkommene Ausrede geliefert, um Sie bei Ihren Spaziergängen zu begleiten. Niemand würde erwarten, dass Sie Ihren Gast vor aller Welt versteckten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich weiß, wie die Leute auf dem Land sind. Ein Neuling ist etwas Aufregendes und muss mit allen geteilt werden.“

Annorah errötete bei so viel Lob. Sie wandten sich von dem Pavillon ab und kehrten zum Haus zurück. Währenddessen fuhr Nicholas fort:

„Was uns angeht, Annorah, werden wir nicht wieder von solchen Arrangements sprechen. Sie und ich werden uns der Aufgabe widmen, Freunde zu werden. Eine bloße Geschäftsangelegenheit ist unter unserer Würde.“ Er rümpfte so übertrieben angewidert die Nase, dass Annorah lachen musste.

„Doch Spaß beiseite, wir müssen einen Moment ernst sein.“ Er wandte sich ihr zu, und sie blieb unwillkürlich stehen. Über seine Schulter hinweg konnte sie das Haus sehen und wurde daran erinnert, dass die Täuschung beginnen würde, wenn sie es erreichten. Sobald sie den Garten hinter sich gelassen hatten, würde es kein Zurück mehr geben, und der Gedanke daran ließ sie erzittern.

Er nahm ihre Hände in seine, umfasste sie mit warmem, starkem Griff. Sein Blick ruhte offen auf ihr. „Wir stehen kurz vor dem Beginn einer wundervollen, intimen gemeinsamen Reise, Annorah Price-Ellis. Es ist mir eine Ehre, diese Reise mit Ihnen anzutreten. Sie wird uns beide verändern. Zweifellos haben Sie sich alles sorgfältig überlegt, aber ich muss Sie ein letztes Mal fragen – sind Sie bereit? Ist es wirklich das, was Sie wollen? Werden Sie auf keine wie auch immer geartete Weise dazu gezwungen?“

So muss es sein, am Altar zu stehen, in die Augen des Mannes zu blicken, den man liebt, und zu wissen, dass er dasselbe empfindet. Der Gedanke erschien wie aus dem Nichts und war völlig unvernünftig. Natürlich musste er sie fragen, ob sie auch wirklich einverstanden war, das wusste sie. Es gehörte zu seiner Arbeit. Und sie wusste ebenfalls, dass nichts an seiner Frage auch nur das Geringste mit Liebe oder einer Heirat zu tun hatte. Trotzdem blieb das Gefühl, als wären sie dabei, eine Art Schwur zu leisten und dem anderen, wenn auch nur für eine kurze Zeit, ein Versprechen zu geben. Nach der heutigen Nacht würde er für immer zu ihr gehören und ein Teil von ihr sein wie kein anderer Mensch. Bis zum Ende ihres Lebens würde sie Nicholas D’Arcy in ihrem Herzen tragen, weil er ihr erster und wahrscheinlich auch einziger Liebhaber sein würde.

Annorah nickte. Ihre Stimme klang leise im stillen Spätnachmittag. „Ich bin bereit.“

Er hob ihre Hände an die Lippen. „Ich ebenfalls.“ Ein aufmunterndes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Vielleicht war ihm das leichte Zittern ihrer Stimme nicht entgangen. „Seien Sie beruhigt, Annorah, ich weiß genau, was Sie wollen.“

3. KAPITEL

Sie wollte die Hochzeitsnacht, die Hochzeitsreise, die Freuden zweier Liebender, die dem Leib und Wesen des anderen zum ersten Mal begegnen, bis zur Neige auskosten. Leicht würde es nicht werden. Er würde geschickt genug sein müssen, um eine Vertrautheit zwischen ihnen zu schaffen, die über das rein Körperliche hinausging, ihn aber nicht dazu zwang, sich unangenehm heftigen Gefühlen aussetzen zu müssen. Er zog es bei Weitem vor, Leidenschaft zu schenken, jedoch keine Empfindungen.

In seinem Zimmer angekommen, öffnete Nicholas seinen Koffer, das einzige Gepäckstück, das er den Lakaien, den man ihm als Kammerdiener zugewiesen hatte, nicht hatte auspacken lassen. Nicholas betrachtete sein Handwerkzeug und platzierte jedes einzelne Teil auf die Kommode wie ein Chirurg, der seine Instrumente zurechtlegt: die winzigen Glasfläschchen mit den kostbaren Duftölen, die teuren, aus Frankreich importierten Überzieher, die man in England Pariser nannte, die Seidenbänder, die zarten Federn. Alle waren zu einem einzigen Zweck entworfen worden – dem, sinnliches Vergnügen zu bereiten. Mit ihrer Hilfe würde er selbst dann eine Frau befriedigen können, wenn er nicht sehr an ihr interessiert war. Mit der richtigen Frau jedoch konnten sie Wunder wirken.

Er bezweifelte nicht, Annorahs Wunsch nach sinnlichen Abenteuern erfüllen zu können. Ihr Wunsch, auch ihre Empfindungen mit ihm teilen zu können, war schon eine schwierigere Aufgabe. Er war von Natur aus zurückhaltend. Schon früh hatte er allerdings das Talent besessen, andere Menschen aus der Reserve zu locken. Dieses Talent hatte ihm dabei geholfen, den anderen zu durchschauen und gleichzeitig sich zu beschützen. Solange seine Gesprächspartner damit beschäftigt waren, über sich selbst zu plaudern, blieb ihnen keine Zeit, sich über ihn Gedanken zu machen.

Nicholas steckte die Gegenstände in eine Schublade der Kommode und verbarg sie sorgfältig unter seinen Krawattentüchern. Bibliothekare hatten keine Federn oder Fesseln bei sich. Er lächelte. Ein Bibliothekar? Endlich einmal etwas Neues. Er war in seinem Leben schon in viele Rollen geschlüpft, was immer seine Klientinnen von ihm verlangten, und hatte im Lauf der Jahre großes Geschick im Verwandeln entwickelt. In seinem Metier musste man die Menschen täuschen können, was nicht einmal so schlecht war. Eine angenehme Täuschung war besser als die Wahrheit, besonders wenn die Wahrheit aus Schulden, Sorgen und sogar Schuldgefühlen bestand.

Hier war kein Platz für solche Gefühle. Entschieden verdrängte er seine Gedanken. Er konzentrierte sich besser auf seine Strategie. Heute Nacht würde er sein Werkzeug nicht brauchen. Sie war noch nicht bereit, trotz ihrer mutigen Worte.

Von Anfang an hatte er ihre innere Unruhe gespürt. Sie wirkte, als hätte sie nicht glauben können, dass tatsächlich jemand auf ihren Brief antwortete. Und deshalb hatte er sie sofort berührt und oft, hatte ihre Hand geküsst, sie während ihres Spaziergangs wieder und wieder flüchtig gestreift. Sie war so scheu gewesen, dass er befürchtete, sie würde ihre Meinung ändern – eine Möglichkeit, die er sich nicht leisten konnte, da er sein Honorar für diese Arbeit bereits in Gedanken verplant hatte.

Er kannte die Macht der Berührung sehr wohl und wusste, wie sehr sie dazu beitragen konnte, von jemandem akzeptiert zu werden. Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass die Menschen sehr viel eher das taten, was er wollte, wenn er sie berührte, während er sie um etwas bat. Und tatsächlich: Als sie das Haus erreicht hatten und er ihr Versprechen bekommen hatte, begann sie allmählich aufzutauen.

Nicht, dass sie kalt war oder eine Abneigung gegen ihn gefasst hatte. Nicholas hatte gesehen, wie rasch der Puls an ihrem Hals schlug, als sie ihn in der Halle begrüßte. Die Röte in ihren Wangen war ihm ebenso wenig entgangen, als sie im Garten über die Schwertlilie gesprochen hatten. Sie wusste sehr wohl, was sich zwischen Mann und Frau abspielte. Aber ihr ganzes Leben lang waren ihr die Regeln des Anstands eingetrichtert worden, und so sehr sie sie auch für kurze Zeit abzuschütteln versuchte, schien es ihr schwerer zu fallen, als sie wahrscheinlich vermutet hatte. Nun, er konnte ihr in jedem Fall helfen. Trotzdem wüsste er wirklich gern, warum sie den Brief geschrieben hatte.

Nicholas schlenderte zum Bett und streckte sich darauf aus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Es blieben noch zwei Stunden bis zum Dinner, und er musste sie zum Nachdenken nutzen. Er plante den Abend wie ein General vor der Schlacht. Das heutige Schlachtfeld würde das Speisezimmer sein. Sehr einfach für ihn. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, die Situation auszunutzen – er würde wie von ungefähr über den Stiel seines Glases streichen, es umfassen und auf eine Weise trinken und essen, die Annorahs Sinnlichkeit wecken würde –, während er gelassen weiterplauderte, ihr Geheimnisse entlockte, sie in Sicherheit wiegte und sie dazu brachte, in ihm einen Mann zu sehen, der ihr mit Freuden Vergnügen bereiten würde, und nicht jemand, der geschickt worden war, um geschäftsmäßig ihre Bedürfnisse zu stillen.

Heute Abend visierte er ein doppeltes Ziel an. Er wollte ihr das Gefühl geben, ihre Verbindung würde kein bloßes Geschäft sein. Und er wollte herausfinden, was Annorah dazu getrieben hatte, einen solchen Brief zu schreiben. Mehr noch als das, warum war dieser Brief überhaupt nötig gewesen?

Niemand entschloss sich ohne besonderen Grund zu einem solchen Schritt. Er dachte an die Pistolen in seinen Taschen und ging die üblichen Gründe durch. Wollte sie sich an jemandem rächen? Gab es jemanden, der ihr ihre Entscheidung verübeln würde? Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Frau versucht hätte, auf diese Weise eine ungewollte Heirat zu verhindern.

Er musste an ihre Worte von der Liebe zum ruhigen Landleben denken, deren Ironie ihm nicht entgangen war. Dass sie es ruhig nannte, hatte vielleicht eine Bedeutung. War sie eine Einsiedlerin? Konnte es sein, dass sie tatsächlich die Einsamkeit auf dem Land genoss, so unvorstellbar ein solcher Gedanke auch schien? Andererseits würde sie dann gewiss keinen kenntnisreichen Gesprächspartner verlangen. Auch der erste Eindruck von Annorah hatte ihm gezeigt, dass sie zwar nervös gewesen war, aber keinesfalls eine Einsiedlerin.

War sie also zur Abgeschiedenheit gezwungen worden? Sehnte sie sich nach dem Umgang mit Menschen? Aber vielleicht ging er hier ein wenig zu weit. Sussex war schließlich nicht aus der Welt, es lag lediglich fünf Stunden von London entfernt. Gewiss konnte eine Frau, die bereit war, für fünf Nächte eintausend Pfund auszugeben, es sich leisten, nach London zu fahren, wenn sie es wünschte.

Hier kam er zu der anderen Sache, die ihm zu schaffen machte. In London könnte Annorah auf die tugendhafteste Weise zu einem Mann kommen, wenn sie denn der Wunsch nach körperlicher Intimität so sehr beherrschte. In der Stadt wimmelte es nur so von Männern, die nach einer reichen Erbin Ausschau hielten und Annorah sofort die Ehe antragen würden. Es erinnerte ihn an einen Satz aus einem Roman, von dem seine weiblichen Bekannten so schwärmten: „Ein lediger Mann im Besitz eines großen Vermögens benötigt selbstverständlich dringend eine Gattin“ – oder so ähnlich. Eine Frau im Besitz eines großen Vermögens, doch ohne Gatten an ihrer Seite, war hingegen wirklich ein ausgesprochen ungewöhnlicher Fall.

Wie es aussah, hielt sie sich freiwillig auf dem Land auf. Warum sollte jemand auf dem Land leben wollen, wenn er es nicht musste? Warum sollte jemand beschließen, sich mit einem Fremden auf das intimste Spiel einzulassen, wenn sie nur fünf Stunden fahren musste, um sich zu diesem Zweck legitim einen Ehemann zu angeln?

Sehr viele Gründe konnte es nicht geben für eine reiche Frau, London zu schmähen, und gewiss waren es keine guten Gründe. Wäre sie unansehnlich, könnte er es verstehen, aber das traf keineswegs auf Annorah zu, wie er erleichtert festgestellt hatte. Nein, zu seinem Glück war Annorah Price-Ellis auf eine stille, subtile Art sehr anziehend. Sie hatte sofort seinen Blick auf sich gezogen, ein lebhafter Farbtupfer in der eleganten, strengen Eingangshalle.

Während ihres Spaziergangs im Garten war sie ihm wie eine Naturgöttin vorgekommen. Er hatte die Momente genutzt, um sie zu betrachten: ihr schmales, zartes Gesicht, die moosgrünen Augen, die ihn an eine Sommerwiese erinnerten, und das weizenblonde Haar, das wahrscheinlich die Farbe wilden Honigs annehmen würde, wenn es nass war – eine Vermutung, die er gern auf die Probe stellen würde. Und er sah verführerische Rundungen, die der dünne Musselin nicht verbarg. Sie hatte lange Beine, eine schmale Taille und hohe, volle Brüste. Nein, Annorah Price-Ellis war alles andere als hässlich. Doch das vertiefte noch seine Verwunderung. Wie konnte eine schöne, reiche Frau zu solchen Mitteln greifen?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Nicholas klingelte nach dem Kammerdiener. Zeit, sich zum Essen umzuziehen, und gerade heute Abend wollte er seiner Erscheinung die größte Aufmerksamkeit schenken. Der Diener war ein junger Mann namens Peter, der sich zwar geschickt anstellte, aber keine Erfahrung besaß. Falls er sich wunderte, weshalb ein Bibliothekar sich so große Mühe mit seiner Erscheinung gab, kümmerte es Nicholas nicht. Am Ende war das Ergebnis zufriedenstellend. Er sah in seinem dunklen Abendanzug, einer modischen Paisley-Weste und mit einem perfekt geschlungenen Krawattentuch sehr elegant aus.

Er schickte Peter fort und warf einen letzten Blick in den Spiegel, um sich zu vergewissern, dass die Diamantnadel in seinem Krawattentuch weit genug hervorsah, um das Licht einzufangen, dass der Frackrock faltenfrei über den Schultern lag und das Haar ordentlich mit dem schwarzen Band im Nacken gebunden war. Längeres Haar mochte ja zurzeit nicht die bevorzugte Mode in den Londoner Ballsälen sein, aber es war erstaunlich, wie sehr die Frauen es im Schlafzimmer liebten.

Schließlich ganz zufrieden schloss Nicholas kurz die Augen und atmete tief ein. Die Verführung konnte beginnen. Welch düstere Gedanken das Landleben auch in ihm weckte, er würde seiner Aufgabe gewachsen sein. Er würde Miss Price-Ellis mit seinen Liebeskünsten verwöhnen, als hinge alles davon ab. Denn genau das tat es auch.

Er war bereits vor ihr im Salon, denn ein Gentleman ließ keine Dame auf die Ankunft eines Gastes warten. So wie er lässig dastand, bildete sein eleganter schwarzer Abendfrack einen deutlichen Kontrast zu dem weißen Marmor des Salons. Lässig hielt er ein halb geleertes Glas Wein, das er sich eingeschenkt hatte, in einer Hand. Den Blick hatte er auf die Fenster gerichtet und die grünen Gärten dahinter. Als sie eintrat, drehte er sich um. Ihre leisen Schritte und das sanfte Rascheln ihrer Röcke hatten sie verraten.

„Sie besitzen ein wunderschönes Zuhause. Ich bewunderte gerade die Aussicht.“ Mit der Hand, die das Glas hielt, wies er auf die Gärten, doch sein Blick ließ ihren nicht los, als wollte er sagen, dass er eine ganz andere Aussicht sehr viel mehr schätzte.

Unter seinem intensiven Blick erfasste sie eine süße Hitze. Sie hatte sich eine Stunde lang nicht entscheiden können, welches Kleid sie anziehen sollte, bevor sie nach ihrer Zofe geschickt und mit ihr schließlich das lavendelfarbene Chiffonkleid gewählt hatte. Offenbar hatte sich die Mühe gelohnt. „Danke. Hartshaven wurde dazu angelegt, Bewunderung zu erwecken. Es sollte ein Rahmen für Schönheit sein.“

„Das ist es zweifellos.“ Sein Lächeln vertiefte sich, und ein Grübchen erschien an seinem linken Mundwinkel.

Lieber Himmel, konnte er jede Bemerkung in ein verstecktes Kompliment verwandeln? Doch was blieb ihr anderes übrig, als sich nicht beirren zu lassen? Annorah trat ans Fenster und gab ihm ein Zeichen, sich zu ihr zu gesellen. Sie versuchte, die Konversation auf neutraleren Boden zu lenken, damit sie nicht ständig an die vor ihr liegende Nacht denken musste und dabei so nervös wurde, dass sie kein Wort hervorbrachte. „Mein Urgroßvater ließ die ursprünglichen Gärten von Kent und Bridgeman anlegen.“

„Ich erkenne die Formgestaltung.“ Er stand dicht neben ihr, sodass sie die exquisiten Duftnoten seines Rasierwassers wahrnahm, vollkommen für einen Abend wie diesen. Annorah glaubte nicht, je den Duft eines Mannes so anziehend gefunden zu haben. So sehr konzentrierte sie sich darauf, selbstverständlich diskret, dass ihr fast entgangen wäre, was er sagte.

„Ich hatte das Glück, Chiswick House zu besuchen. Burlingtons Gärten sind vorzüglich, so wie Ihre.“

Chiswick? Das ließ sie aufhorchen. Unwillkürlich sah Annorah ihren Gast an. Chiswick House war der Landbesitz des Earl of Burlington. Nicholas D’Arcy, wer immer er auch war, verkehrte in sehr erlesenen Kreisen.

Er bemerkte ihren Blick, bevor sie ihn wieder abwenden konnte, und lächelte. „Erstaunt?“

„Ich kenne Sie kaum. Alles könnte mich also erstaunen.“ Sie sprach schärfer, als sie beabsichtigt hatte, aber in diesem Moment hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Dass sie ihn kaum kannte, hielt sie nicht davon ab, Herzklopfen zu bekommen in seiner Nähe und fasziniert jedem seiner Worte zu lauschen. Als sie dieses Unterfangen begonnen hatte, war sie davon ausgegangen, dass ihre Vernunft sie vor jeglicher Art übertriebener Gefühlsausbrüche beschützen würde. Doch offenbar hatte sie sich getäuscht.

„Touché.“ Er nahm ihre Hand und legte sie sich auf den Arm. Seine Berührung ließ Annorah erschauern. „Das werden wir beim Dinner ändern.“ Er blickte über ihre Schulter. „Ich glaube, Ihr Butler ist bereit, uns zu Tisch zu bitten.“

Plumsby räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Nicholas fesselte sie so sehr, dass sie die Ankunft des Butlers nicht bemerkt hatte. „Das Dinner ist serviert.“

„Ich habe Plumsby gebeten, im kleinen Speisesalon für uns decken zu lassen“, sagte Annorah, froh, etwas sagen zu können. Sie klang immer weniger wie eine Gastgeberin und ganz gewiss nicht wie die selbstbewusste Frau, die die Oberhand behielt im Umgang mit ihrem Gast. In Wirklichkeit hatte sie nicht halb so viel gesellschaftlichen Schliff und Eleganz wie er. Also konnte sie nur hoffen, dass ihr Esszimmer ihn nicht enttäuschen würde.

Der Raum enttäuschte nicht. Er bot eine wunderschöne Aussicht auf die hintere Veranda, und die Dienerschaft hatte alles aufs Perfekteste vorbereitet. Die letzten rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die hohen Fenstertüren und tauchten die cremefarbenen Wände in rotgoldene Farbtöne. Doch es war vor allem der Tisch in der Mitte des Raums, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Zwei hohe weiße Wachskerzen standen in ihren silbernen Leuchtern auf der makellos weißen Tischdecke, als würden sie Wache halten. Ihre Flammen flackerten einladend. Zwischen ihnen nahm ein Gesteck gelber Rosen die Mitte des runden Tisches ein, die von Annorahs geliebtem Wedgewood-Porzellan mit dem blauen Blumenmuster, schmalen Kelchgläsern und glänzendem Silberbesteck vollkommen ergänzt wurden. Eine Flasche Champagner wurde in einem Eiskübel kühl gehalten.

Zwei Lakaien halfen ihnen beim Hinsetzen, und Plumsby entfernte die Abdeckung von ihren Tellern. Danach brauchte Annorah ihre Dienste nicht mehr. Sie hatte Plumsby bereits erklärt, dass sie es vorziehen würde, ganz zwanglos mit ihrem Gast zu speisen. Also würden sie sich selbst bedienen. Plumsby hatte protestiert, doch sie hatte eingewandt, dass er sich wegen eines Gastes keine so große Mühe zu geben brauchte. Und da es sich bei dem Gast lediglich um einen „Bibliothekar“ handelte, hatte Plumsby schließlich nachgegeben.

„Darf ich?“ Nicholas griff nach der Champagnerflasche und entkorkte sie mit einer geschickten Bewegung. Er schenkte ihnen ein und wandte sich dann dem Geflügel zu, das er mit derselben Gewandtheit tranchierte, die er bei allem an den Tag zu legen schien. Schon bald hatte er ihrer beider Teller mit Hähnchenbrust und Salat gefüllt. Ob er nun als Gentleman geboren war oder nicht, er wies in jedem Fall beste Tischmanieren auf und bot ihr ausnahmslos das Beste von allem, was ihnen heute serviert worden war. Plötzlich erschien er ihr noch faszinierender, noch geheimnisvoller. Was für ein Mann ging in Chiswick House ein und aus, dinierte wie ein vornehmer Gentleman und hielt sich doch unter diesen seltsamen Umständen am selben Tisch mit einer sonst äußerst zurückgezogen lebenden Frau auf? Der Himmel wusste, dass er mit seinem Auftreten und seinem hinreißenden Aussehen überall willkommen sein würde.

„Ein Toast, Annorah.“ Er hob sein Glas. „Auf Sommerabende und neue Freundschaften.“

Ihre Gläser berührten sich mit einem melodiösen Klang. Annorah nippte an ihrem Champagner. Sie liebte dieses Getränk und konnte es sich gewiss leisten, es jeden Abend zu trinken, aber es schien ihr wie eine Sünde, es allein zu tun – obwohl es im Nachhinein eine sehr kleine Sünde war im Vergleich zu der Sünde, die sie heute Nacht begehen wollte. Verzweifelt suchte sie nach einem Gesprächsthema.

„Sie sind also ein Liebhaber schöner Gärten?“

„Ich bin ein Liebhaber vieler schöner Dinge, darunter auch Gärten.“ Er ließ seine Finger träge am Glasstiel auf und ab gleiten. Bei jedem anderen Mann wäre ihr die Geste vielleicht gar nicht aufgefallen. Doch bei ihm konnte sie kaum den Blick davon nehmen.

„Was bewundern Sie außerdem noch?“

Er lächelte. „Ich bewundere Sie, Annorah.“

Sofort senkte sie den Blick auf ihren Teller und errötete. So oft in so kurzer Zeit war sie schon lange nicht mehr errötet. Vielleicht war sie wirklich zu selten in männlicher Gesellschaft. „Sie brauchen mir so etwas nicht zu sagen. Außerdem kennen Sie mich kaum gut genug, um sich eine Meinung über mich bilden zu können.“

„Sie glauben, ich meine es nicht ernst? Ich versichere Ihnen aber, dass ich es tue. Sie zeigten mir heute Nachmittag Ihr wunderschönes Zuhause und müssen mir erlauben, Ihnen zu widersprechen. Ein Gut ist oft das Spiegelbild seines Besitzers. Man kann viel über einen Menschen sagen, indem man seine Umgebung betrachtet. Ich spüre, dass Sie mir eine Geschichte erzählen könnten, Annorah, und ich würde sie sehr gern hören. Wie kommt es, dass Sie hier so abgeschieden leben?“

Gereizt begegnete sie seinem Blick. „Ist das eine höfliche Art, mich zu fragen, wie ich das ehrwürdige Alter von dreißig Jahren erreicht habe, ohne zu heiraten?“

Nicholas lachte und lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Was für ein kratzbürstiges Geschöpf Sie doch sind! Und so misstrauisch. Seit wir uns an den Tisch setzten, haben Sie mich der Unaufrichtigkeit und der Schmeichelei beschuldigt, und weil ich mich ganz aufrichtig nach Ihrer Geschichte erkundigte, halten Sie mich für ungehobelt. Sie geben mir wirklich Rätsel auf.“

Lieber Himmel, er hatte recht. Sie versuchte, sich zu sammeln. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe keine Erfahrung mit … einer solchen Situation.“

Er beugte sich wieder vor und berührte ihre Hand auf dem Tisch. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich finde Rätsel erfrischend.“ Er zwinkerte ihr zu. „Trinken Sie noch etwas Champagner. Es wird helfen, und vielleicht versuchen wir es einfach noch einmal.“ Während er sprach, strich er ihr zärtlich über die Handfläche, und Annorah fand es gleichzeitig entspannend und aufregend.

Noch nie hatte ein Mann sie so berührt wie er, oder auch so oft. Jeden Augenblick seit seiner Ankunft war sie sich seiner Gegenwart intensiv bewusst gewesen. Und obwohl er nichts tat, das unziemlich gewesen wäre, erweckte er eine angenehme Hitze in ihr, ein Prickeln in ihrem Leib, an ganz intimen Stellen. Nein, noch nie hatte ein Mann eine solche Wirkung auf sie gehabt.

„Und jetzt erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Annorah. Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass Sie Herrin dieses Hauses wurden.“ Er schenkte sich und ihr mit seiner freien Hand nach.

„Ich bin hier aufgewachsen und nie von hier fortgegangen, jedenfalls nie für lange.“ Sie nippte an ihrem Glas. Er hatte recht, der Champagner half. Nur sehr selten sprach sie über ihre Familie.

„Warum nicht?“ Seine Stimme, seine Berührung, die Aufrichtigkeit seines Blickes entlockten ihr mühelos ihre Geheimnisse. Selbst der Raum schien sich mit ihm gegen sie verschworen zu haben mit dem schwachen Kerzenlicht, das eine intime, Vertrauen erweckende Atmosphäre schuf.

„Weil es mein Zuhause war und die Leute, dich ich liebte, hier lebten. Hartshaven war nicht immer leer.“ Sie hatte nicht vorgehabt, über sich zu sprechen oder Dinge zu enthüllen, die nicht das Geringste mit der Aufgabe zu hatten, für die sie diesen Mann hatte kommen lassen. Doch sobald sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören.

Eine Geschichte folgte der nächsten, ermutigt durch Nicholas Gelächter und seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Annorah erzählte ihm von ihren Großeltern, ihren Eltern, ihren Cousins, die im Sommer zu Besuch kamen. Nur von ihrer Tante sagte sie nichts. Ihre Tante hatte in einer glücklichen Geschichte nichts verloren.

Jene Sommertage erzählten ihre ganz eigenen Geschichten: Annorah war über die grünen Wiesen getollt, hatte im Fluss geangelt und unzählige Male Verstecken in den Gärten gespielt. Während sie sprach, kehrten die Erinnerungen wieder. Fröhlichkeit erfüllte ihre Geschichten: das Lachen ihrer Cousins und Cousinen, die Geduld ihres Großvaters, während er ihr das Angeln beibrachte. Alles wurde wieder lebendig für sie, so sehr, dass auch sie sich lebendiger fühlte und nicht mehr mit einem Fremden beim Dinner zu sitzen schien, sondern mit einem Mann, der in kurzer Zeit ihr Freund sein würde – ein Freund, von dem sie nicht viel wusste, aber dennoch ein Freund.

„Was ist passiert?“ Nicholas leerte den Rest der Champagnerflasche. Lieber Himmel, hatten sie bereits so viel getrunken, oder saßen sie schon so lange zu Tisch?

„Was immer passiert. Wir wuchsen auf, die Zeit verging.“ Die Fröhlichkeit aus jener Zeit verebbte. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. „Ich würde alles darum geben, diese Zeit zurückrufen zu können. Und Sie? Wie sind Sie an diesen … Punkt gelangt?“ Die Frage war kühn. Der Champagner sprach aus ihr. Aber das war schon den ganzen Abend so gewesen.

„Ich denke, die Zukunft sieht vielversprechend aus.“ Nicholas leerte sein Glas und stellte es mit Entschiedenheit auf den Tisch. Dann erhob er sich und streckte die Hand aus. „Kommen Sie mit.“

Annorah stellte ihr Glas langsam hin. Jetzt war es so weit! Er würde sie nach oben begleiten und sie verführen. Etwas hölzern erhob sie sich und nahm seine Hand. Jetzt, da der Augenblick gekommen war, kam ihr der bevorstehende Akt plötzlich so sinnlos vor im Vergleich zu ihrem anregenden Gespräch, und der Freund wurde auf einmal wieder zu einem Fremden für sie. Der Zauber war gebrochen.

4. KAPITEL

Er war dabei, sie zu verlieren. Die verführerische Atmosphäre, die der Champagner und das Kerzenlicht herbeigeführt hatten, erwies sich als nicht stark genug, um Annorah ihre Bedenken vergessen zu lassen. Zwar hatte er die Wirkung von Perlwein und Kerzenschein Wirkung nicht falsch eingeschätzt, aber sie für mächtiger gehalten, als sie wirklich war. Sie hatte nicht lange vorgehalten. Nicholas erkannte in Annorahs Blick, dass sie sich zu fragen begann, ob es klug gewesen war, ihn herzubestellen. Zuerst hatte er sie nach oben führen wollen, doch nun entschied er sich lieber für die Terrasse, frische Luft und den Sternenhimmel.

Annorah fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu und lachte, sobald sie auf die Terrasse traten. „Ich fürchte, ich habe eine der wichtigsten Regeln des gesellschaftlichen Umgangs gebrochen.“

Nick betrachtete zufrieden ihre geröteten Wangen. „Und welche Regel wäre das?“, fragte er lächelnd.

„Die Regel, dem Mann das Reden zu überlassen. Man soll ihn durch geschicktes Fragen dazu bringen, über sich zu reden. Die erste Regel, die jede Debütantin lernt. Wenn ein Mädchen nicht flirten kann, sollte es wenigstens zuhören können.“

Nicholas lachte amüsiert. Ihre Offenheit war wirklich erfrischend. „Aber nein, Annorah! Ich fand Ihre Geschichten sehr interessant und muss sagen, dass ich einen der anregendsten Abende seit Jahren verbracht habe.“

„Und doch hat die Methode Erfolg, nicht wahr?“ Ihr trockener Ton ließ Nick aufhorchen. Sie musterte ihn nachdenklich. Jetzt war nichts mehr von der romantischen Stimmung geblieben. Jetzt würde er wieder ganz von vorn anfangen müssen.

„Verzeihung?“ Er täuschte Unverständnis vor, obwohl ihm natürlich klar war, was sie sagen wollte. Wenn sie wirklich so gewagt sein wollte, würde sie sich schon ganz und gar dazu bekennen müssen.

„Sie haben mich gut verstanden. Das Dinner, die Geschichten – alles war dazu da, mich reden zu lassen und mir zu zeigen, was für ein guter Zuhörer Sie sind. Wirklich sehr klug von Ihnen, einen alten Debütantinnen-Trick gegen mich einzusetzen.“

Sie war so viel intelligenter als seine gewohnten Klientinnen und bei Weitem nicht so beeinflussbar. Dieser Auftrag erwies sich als wahre Herausforderung für ihn. Annorah hatte ihn im Grunde offen einen Süßholzraspler geschimpft. Lächelnd nahm er ihre Hand in seine. „Ein Trick? Was für ein schroffes Wort, Annorah. Was lässt Sie glauben, es war eine List und nicht die Wahrheit? Sie sind eine sehr reizvolle Frau.“

Und es stimmte auch. Es hatte ihm Spaß gemacht zu beobachten, wie lebendig, ja fast ungestüm sie wurde, als sie über ihre Kindheit sprach. Allerdings war es eine gezähmte Wildheit, und er fragte sich, was geschehen sein mochte, dass sie diesen Wesenszug so völlig verleugnete. Und er fragte sich ebenfalls, wie es sein mochte, diesen Wesenszug zu befreien, ihm freien Lauf zu lassen.

„Ich bin eine sehr misstrauische Frau“, verbesserte sie ihn. „Ganz besonders einem Menschen gegenüber, der auf Anhieb Gefallen an mir findet.“

Besonders wenn dieser Mensch ein Mann ist, vermutete Nick. In ihrer Stimme klang tiefer Kummer mit. „Einige Menschen verspüren eine ganz natürliche Verbundenheit miteinander, zweifeln Sie etwa daran?“

Ihr Blick drückte nur allzu deutlich aus, was sie von seiner Meinung hielt. „Einige vielleicht, aber ganz gewiss nicht alle. Die meisten nicht.“

Heute Abend stellte sie viele seiner Ansichten in Frage. Nick hatte nicht damit gerechnet, dass die Eroberung der kleinen Landpomeranze sich als so schwierig herausstellen würde, dass sie selbst so kratzbürstig, selbstbewusst und attraktiv sein würde.

Er führte ihre Hand an die Lippen und glaubte, die Wahrheit erraten zu haben. „Ich bin kein Mitgiftjäger, Annorah. Ich bin nicht gefährlich, und Sie sind in Sicherheit bei mir. Ich bin nicht ‚die meisten‘.“

Doch sie schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie schließlich hierher eingeladen, damit Sie mir den Kopf mit Schmeicheleien verwirren, von denen ich von Anfang an wusste, dass sie nur geheuchelt sind. Sie könnten schlimmer sein, denke ich …“

„Dann denken Sie nicht“, unterbrach er sie rasch. Ihre Gedanken gingen in eine Richtung, die die romantische Atmosphäre nur zerstören konnte. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Wange. „Sie haben mich nicht hergebracht, damit Sie nachdenken, sondern damit Sie Vergnügen haben.“ Er begann sie zwischen den Worten mit Küssen zu übersäen, zuerst ihr Kinn, dann ihren schlanken Hals. „Es ist keine Schande, Vergnügen zu empfinden, Annorah, keine Schmach, es zu begehren. Es ist nur menschlich.“ Jetzt küsste er die kleine Kuhle an ihrem Hals und spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Sie schmolz wieder dahin. Nick fuhr fort, sie mit Worten und Küssen zu liebkosen, und merkte zufrieden, wie ihr Körper genau auf die Weise zum Leben erwachte, die er beabsichtigt hatte.

Genau der richtige Moment, um sie auf die Lippen zu küssen – ganz langsam, genüsslich, ließ er sich viel Zeit damit, ihren Mund zu erkunden, immer intensiver, immer hitziger. Dann riss er sie an sich, damit sie seinen harten Körper an ihrem fühlen konnte. Sanft drückte er die Hand auf ihren Rücken, presste sie dichter an sich, bis sie sich an ihn schmiegte.

Nick erkannte genau den Augenblick, da er sie davon überzeugt hatte, dass er ihr den Himmel auf Erden bereiten konnte. Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, und als er sich von ihrem Mund löste, ließ sie den Kopf nach hinten sinken und lud ihn wortlos ein, ihren Hals zu küssen. Wieder bat Nick sie, mit einer Stimme, heiser vor Verlangen: „Kommen Sie mit mir.“

Dieses Mal folgte sie ihm. Er achtete wohlweislich darauf, ihre Hand nicht loszulassen. Das hätte eigentlich helfen sollen, und bis zu einem Punkt tat es das auch – bis sie die oberste Stufe der Treppe erreicht hatten, dann den Gang hinunter bis zur dritten Tür auf der rechten Seite, hinter der ihr Schlafgemach lag. Und dort war es dann plötzlich vorbei. Zumindest für Annorah.

Erstaunt stellte Nick fest, dass sein Körper mehr als bereit war für die Aufgabe, die ihn heute erwartete. Keins seiner „Hilfsmittel“, wie er sie gern nannte, würde nötig sein. Es war nicht immer leicht, bei Bedarf erregt genug zu sein, um einer Frau Vergnügen zu bereiten. Heute Abend allerdings war es leicht gewesen. Vom Moment an, da er sie in ihrem lavendelfarbenen Chiffonkleid mit der hohen Taille und dem tiefen Dekolleté erblickt hatte, das unter den Brüsten gerafft war und so die Wirkung des Ausschnitts noch verstärkte. Das Kleid brachte ihre verführerischen Rundungen vollkommen zur Geltung, doch Annorah stellte sich nicht absichtlich zur Schau, wie es die Damen seiner Bekanntschaft in London getan hätten.

Er griff nach der Türklinke, schon im Begriff, Annorah eintreten zu lassen und ihr zu folgen, doch sie hielt ihn auf, ihre Hand auf seiner, ihr Blick offen und womöglich sogar ein wenig traurig, als er seinem begegnete. „Es tut mir leid, Nicholas. Ich glaube nicht, dass ich es heute Nacht tun kann.“

Geduldig lächelte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Möglicherweise könnte ich dich überreden. Vielleicht mit einer Massage bei Kerzenlicht? Die ganze Nacht liegt vor uns, wir können langsam vorgehen.“ Es würde ihm ein Vergnügen sein, sich Zeit bei ihr zu lassen. Hier brauchte er keine Angst vor einem wütenden Gatten zu haben, der jeden Moment durch die Tür gestürzt kommen könnte.

„Nein.“ Sie trat entschlossen von ihm zurück. „Sie sind ein sehr attraktiver Mann, Nicholas D’Arcy, aber Sie sind noch immer ein Fremder für mich. Ich glaube, was immer wir heute Abend tun würden, wäre ein Fehler. Und deswegen möchte ich lieber warten und auf Besseres hoffen.“

Damit öffnete sie die Tür, schlüpfte in ihr Zimmer und ließ ihn allein im Gang stehen – aufs Höchste erregt. Als er sich vorhin eine Strategie für heute Nacht zurechtgelegt hatte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, er könnte sie damit zubringen, sich selbst Erleichterung zu verschaffen.

Vergeblich hatte Nicholas auf den Schlaf gewartet. Doch seine Gedanken ließen ihn nicht ruhen. Er musste ständig an Miss Annorah Price-Ellis denken. War sie ebenso unbefriedigt ins Bett gegangen wie er? Bereute sie in diesem Moment vielleicht ihre Entscheidung? Nick hatte gemerkt, wie sehr seine Küsse sie erregt hatten. Hatte auch sie sich selbst Erleichterung verschafft? Die Ironie ließ ihn lächeln. Nur zwei Türen trennten sie voneinander, und dennoch hatten sie ihre Lust nicht miteinander, sondern allein gestillt. Channing und die Männer würden wiehern vor Lachen, wenn sie es wüssten. Sie durften es nie erfahren, denn sie würden es ihn nie vergessen lassen.

Außerdem machte ihm Annorahs Bemerkungen im Gang zu schaffen. Ein Fehler? Sie wollte lieber warten und auf Besseres hoffen? Noch nie hatte eine Frau eine Nacht mit ihm für nicht gut genug befunden. Nick hieb gereizt in sein Kissen und drehte sich in der Hoffnung auf die Seite, so leichter Schlaf zu finden. Doch stattdessen kehrten seine Gedanken wieder zu Annorah zurück und zu der Frage, was ihre jugendliche Unbekümmertheit und die Wildheit in ihr erstickt hatte.

Er verspürte eine erstaunliche Verbundenheit mit Annorah Price-Ellis. Ihre Geschichten hatten ihn an seine eigene Kindheit erinnert. Auch er hatte viele glückliche Sommer voller Gelächter und Spiel auf dem Land verbracht. Auch ihm hatten sie schmerzlich gefehlt, als sie ein plötzliches Ende fanden. Zudem hatte er Annorah durch ihre Erzählungen besser kennengelernt. Er hatte gesehen, wie die lebensprühende Flamme ihrer Jugend wieder in ihr erwacht war, während sie sich erinnerte, eine Flamme, die jetzt fast erloschen war. Auch in dieser Hinsicht ähnelten sie sich.

Sie glaubte, ihr Leben sei vorüber und dass sie nichts Schönes mehr zu erwarten hätte, da ihre besten Tage bereits hinter ihr lagen. Warum sie das glaubte, war ihm noch unklar. Obwohl er behutsam nachgehakt hatte, hatte sie sich ihm nicht anvertraut. Er konnte jedoch verstehen, dass sie versuchte, sich auf eine gewisse Weise einen sicheren Hafen zu schaffen. Zu wissen, was sie erwartete, musste ihr ein Gefühl der Geborgenheit geben.

Er kannte diese Art der Geborgenheit gut. Und es schockierte ihn nicht wenig zu entdecken, dass er und Miss Price-Ellis trotz ihrer Unterschiede etwas sehr Wesentliches gemein hatten. Als er nach London gekommen war und Channings Hilfsangebot angenommen hatte, hatte er gewusst, dass er gewisse Hoffnungen und Erwartungen würde aufgeben müssen.

Channing hatte ihm nicht nahegelegt, diese Hoffnungen aufzugeben, aber Nick kannte die gesellschaftlichen Regeln. Sobald er zu einem Gentleman Escort geworden war, hatte er zwar seine ganz eigene Nische gefunden, aber er würde nie wirklich zur guten Gesellschaft gehören. Keine respektable Dame würde ihn als Ehemann in Betracht ziehen. Und das bedeutete, er würde niemals eine eigene Familie haben, was er bis zum Tod seines Vaters nie für möglich gehalten hätte. Stattdessen gab es seinen Bruder, seine zwei Schwestern und seine Mutter, die sich auf ihn verließen. Keinen Augenblick gab es für ihn einen Zweifel daran, dass er seine Träume vergessen würde, um seine Familie mit jedem Mittel, das ihm zur Verfügung stand, zu versorgen.

Er fragte sich, was geschehen war, um Annorah glauben zu lassen, dass sie ihre Träume vergessen musste. Glaubte sie es wirklich, oder hoffte sie insgeheim doch noch, alles könnte anders kommen? Immerhin war er hier, ein wahrer Wolf in Menschengestalt, im Begriff, ihr sicheres Versteck hier auf dem Lande zu bedrohen – noch dazu auf ihre eigene Einladung hin.

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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