Historical Saison Band 4

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Bitte heiraten Sie mich, Mylord! von CORNICK, NICOLA
… fleht Eleanor und bekommt einen süßen Kuss als Antwort: Lord Mostyn erfüllt ihr die kühne Bitte! Doch kaum trägt sie seinen goldenen Ring, verschwindet ihr junger Gemahl spurlos. Und Eleanor muss nicht nur gegen ihre tiefe Sorge ankämpfen, sondern auch gegen einen Skandal, der ihren Ruf gefährdet …

Lord Carltons heimlicher Eheschwur von HERRIES, ANNE
"Einer von euch muss meine Schwester Cassie heiraten." Fünf Gentlemen geben Jack Thornton ihr verschwiegenes Ehrenwort, bevor er in den Kampf zieht. Aber nur Lord Carlton ist überzeugt, dass er der Richtige für Cassandra ist. Doch darf er sie um ihre Hand bitten, solange ein dunkles Geheimnis ihn belastet?


  • Erscheinungstag 03.04.2011
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783862957057
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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IMPRESSUM

HISTORICAL SAISON erscheint alle zwei Monate im CORA Verlag GmbH & Co. KG

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CORA Verlag GmbH & Co. KG ist ein Unternehmen der Harlequin Enterprises Ltd., Kanada

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

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Lektorat/Textredaktion:

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Vertrieb:

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Anzeigen:

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Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

 

© 2000 by Anne Herries

Originaltitel: „A Matter Of Honour“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B. V. / S.àr.l.

Übersetzung: Eleni Nikolina

© 2002 by Nicola Cornick

Originaltitel: „The Notorious Marriage“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B. V. / S.àr.l.

Übersetzung: Martina Manecke

Fotos: Harlequin Books S.A.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON, Band 4 (4) 2011

by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN: 978-3-86295-705-7

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

HISTORICAL SAISON-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:

BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL MYLADY, MYSTERY, TIFFANY HOT & SEXY, TIFFANY SEXY

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Anne Herries

Lord Carltons heimlicher Eheschwur

1. KAPITEL

„Du willst das Thornton-Mädchen heiraten?“ Die verwitwete Lady Longbourne raffte sich fast schon zu einer sitzenden Haltung auf, besann sich dann aber darauf, dass es für eine solche Anstrengung zu warm war. „Carlton, du solltest wirklich von geschmacklosen Scherzen Abstand nehmen.“

„Es war nicht als Scherz gemeint, Mama.“ Lord Vincent Carlton lächelte. Er sah ausnehmend gut aus, besaß einen Titel und war sehr reich, hatte also alles, was ein Mann sich wünschen konnte. Zwar war niemand großzügiger als er, wenn es um Menschen ging, die ihm etwas bedeuteten, doch manch andere hielten ihn für hochmütig und stolz. „Deswegen bin ich gekommen. Um dich zu bitten, Cassandra zu dir einzuladen. Dann können wir uns besser kennenlernen, bevor ich um sie anhalte.“

„Ich soll die kleine Thornton hierher einladen?“, wiederholte Lady Longbourne bestürzt. „Das kannst du doch unmöglich ernst meinen, Carlton. Ziehst du wirklich eine solche Mesalliance in Betracht? Immerhin bist du ein Viscount.“

„Das muss er“, warf der zweite Besucher ein. „Es ist eine Frage der Ehre, Mama. Vinnie muss sie heiraten.“

Ihre Ladyschaft setzte einen Fuß, der in einem Satinpantöffelchen steckte, auf den Boden, dann den zweiten. Entsetzen und Unglaube spiegelten sich auf ihrem Gesicht wider, das auch heute noch an die außerordentliche Schönheit erinnerte, die sie in ihrer Jugend berühmt gemacht hatte. Finster fasste sie ihren jüngeren Sohn ins Auge. Sir Harry Longbourne war ihr Lieblingssohn, da er aus ihrer zweiten, sehr viel glücklicheren Ehe stammte.

„Wovon redest du da, Harry? Warum sollte Carlton dazu verpflichtet sein, dieses Mädchen zu heiraten?“, verlangte sie zu wissen. Plötzlich wurde sie blass. „Carlton! Du hast doch nicht … du kannst das arme Ding doch unmöglich entehrt haben, oder?“

Der Viscount lächelte nicht mehr. Es kränkte ihn sehr, dass sie glauben konnte, er würde so tief sinken, eine Frau zu entehren, noch dazu eine Dame! Allerdings hatte er seine Mutter zu gern – obwohl er wusste, dass sie seinen Bruder vorzog – und war zu sehr Gentleman, um seinen Ärger zu zeigen.

„Natürlich nicht!“, kam Harry ihm zuvor. „Was für ein Gedanke! Du müsstest Vinnie wirklich besser kennen, Mama. Es war ein Versprechen, das wir alle Jack Thornton gaben, kurz bevor er bei Waterloo getötet wurde.“

„Ein Versprechen? Was für ein Versprechen?“, fragte seine Mutter aufgebracht. „Was hat ein Versprechen an Cassandras Bruder mit Carltons Antrag zu tun?“

„Jack hatte gerade von dem Tod seines Vaters gehört“, fuhr Harry geduldig fort, während Carlton sich erhob und ans Fenster des kleinen Salons trat, in dem Lady Longbourne sich am liebsten aufhielt. Er blickte in Gedanken versunken auf die gepflegte Rasenfläche und die Rosenbeete hinaus. Hinter sich hörte er das Ticken der emaillierten Uhr auf dem reich verzierten Kaminsims. „Natürlich traf es ihn zutiefst …“

„Wie jeden an seiner Stelle“, warf Lady Longbourne ein. „Den größten Teil seines Vermögens zu verspielen, während der eigene Sohn für König und Vaterland kämpft. Und sich dann zu …“ Sie erschauderte. „Es muss fürchterlich gewesen sein für die arme Cassandra, ihren Vater zu finden und feststellen zu müssen, dass er sich selbst das Leben genommen hatte.“

„Genau, Mama.“ Carlton nahm den Faden der Geschichte auf. „Jack war verzweifelt, völlig von Sinnen vor Kummer. Er flehte uns an, uns um seine Schwester zu kümmern. Einer von uns sollte sie heiraten, falls er fallen sollte.“

„Aber warum ausgerechnet du?“, wandte seine Mutter ein. „Du könntest eine viel bessere Partie machen, Carlton.“

„Du meinst, ich sollte eine Erbin heiraten oder die Tochter eines Dukes? Vielleicht um das Familienvermögen zu retten?“

Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, aber kräftig und mit der stolzen, Respekt gebietenden Haltung eines Soldaten. Das dunkle Haar trug er modisch kurz, und seine Kleidung verriet die Kunst eines ausgezeichneten Schneiders. Alles an ihm spiegelte genau das wider, was ihn ausmachte – einen Gentleman von Vermögen und der Freiheit, jetzt, da er aus dem Schlachtengetümmel des Kontinents heil zurückgekehrt war, genau das tun zu können, was ihm beliebte.

„Nun …“ Sie senkte den Blick vor dem Spott in seinen Augen. „Natürlich meinte ich das nicht, Carlton! Ich weiß sehr wohl, wie gut du dich um das Gut kümmerst, seit du es geerbt hast. Aber die Tochter eines bloßen Baronets? Du solltest an dein Ansehen denken und an unseren Familienstolz.“

Er hob die dunklen Augenbrauen, und seine Mutter errötete. Denn sowenig sie daran erinnert werden wollte, war sein verstorbener Vater ebenfalls ein unbesonnener Spieler gewesen. Wäre er nicht völlig unerwartet gestorben, hätte er sie sehr gut in den Ruin treiben können.

„Ja, ich weiß. Nur ein Unfall hat deinen Vater davor bewahrt, ein ähnliches Schicksal wie das Sir Edward Thorntons zu erleiden. Aber das ist nicht der Punkt.“

„Der Punkt ist, Mama“, rief Vincent sanft in Erinnerung, „dass du mir ständig vorhältst, ich müsse meine Pflicht erfüllen und einen Erben zeugen …“

„Was sollte ich auch sonst tun?“, unterbrach sie ihn entrüstet. „Dein Onkel Septimus spricht doch auch von nichts anderem. Und was seine abscheuliche Frau angeht, die sich mit ihrem scheußlichen Balg brüstet, als stünde er schon kurz davor, deinen Platz einzunehmen: Sie inspizierte bei ihrem letzten Besuch die Vorhänge, als würde sie in nächster Zeit hier einziehen. Du magst ja nicht mehr in der Blüte deiner Jugend stehen, Carlton, aber tot umfallen wirst du auch nicht gerade!“

„Vielen Dank für deine Zuversicht, Mama. Es erleichtert mich zutiefst, dich das sagen zu hören.“

„Ach, du!“ Sie beäugte ihn streng. „Immer musst du scherzen. Ich finde wirklich, manchmal hast du einen sehr seltsamen Sinn für Humor, Vincent!“

„Vergib mir, Mama. Es tut mir sehr leid, dass du meine Scherze nicht zu schätzen weißt.“

„Was ich nicht zu schätzen weiß, ist diese alberne Idee, du müsstest die kleine Thornton heiraten.“ Sie seufzte. „Zwar waren wir Jacks und Cassandras Nachbarn, während mein lieber Bertie noch am Leben war …“ Sie betupfte sich die Augen mit einem hauchdünnen Spitzentaschentuch. „Und auch jetzt wären wir es noch, denke ich, wenn du nicht so großzügig gewesen wärst, mich hier auf Carlton Manor wohnen zu lassen – das Longbourne natürlich bei Weitem vorzuziehen ist. So viel weniger zugig im Winter, weißt du. Aber …“, nun erinnerte sie sich doch noch an den Beginn ihrer Rede, „… warum musst ausgerechnet du es sein, der sie heiratet?“

Lord Carlton hatte jahrelange Erfahrung darin, die oft verworrenen Sätze seiner Mama zu entwirren. Er erkannte somit ohne Schwierigkeiten, was ihr Sorge bereitete.

„Es war gar nicht so großzügig, wie du meinst“, versicherte er ihr lächelnd. „Das Haus hier bedeutet mir nichts. Ich ziehe mein eigenes in London vor. Und vergiss nicht Großvater Hamiltons Gut in Surrey, das einen sehr angenehmen Landsitz abgeben wird, sobald ich es moderner einrichte.“

„Nun, du kannst mit deinem Geld natürlich machen, was dir beliebt.“ Lady Longbourne ließ sich erleichtert in die Seidenkissen zurücksinken. „Wahrscheinlich könntest du dir leisten, ein Dutzend Häuser zu kaufen. Ich fand eigentlich immer, dass es ein wenig ungerecht von meinem Vater war, dir den Löwenanteil seines Vermögens zu vermachen.“

„Nein, nein, Mama“, beeilte Harry sich einzuwerfen. Wie immer, wenn dieses Thema aufkam, wurde er hochrot vor Verlegenheit. Die Großzügigkeit seines Halbbruders war ihm so häufig zugutegekommen, dass er die Andeutungen seiner Mutter sehr ungerecht fand. „Ich habe doch Papas Landsitz, der vielleicht nicht so groß ist wie Vinnies, der aber immerhin gute Gewinne abwarf, als ich ihn erbte. Vinnie hingegen musste viel Arbeit hineinstecken, bevor Carlton wieder zu florieren begann.“

„Nun, das mag ja sein“, gab Lady Longbourne zu. „Und natürlich war er zu uns allen immer nur großzügig. Trotzdem verstehe ich nicht, warum er dieses Mädchen heiraten muss.“

„Jacks Leiche wurde nie gefunden“, sagte Vincent mit rauer Stimme. „Er war mein Freund, Mama. Sein Körper liegt in einem namenlosen Grab irgendwo in Frankreich. Wenigstens das bin ich ihm schuldig.“

Lady Longbourne war für den Moment zum Schweigen gebracht. Die leidenschaftlichen Worte ihres Sohnes und der Schmerz in seinen Augen überraschten sie. Es sah Carlton gar nicht ähnlich, so offen seine Gefühle zu zeigen.

„Wir waren fünf“, erklärte Harry. „Wir haben mit Strohhalmen gelost und …“

„Ich habe gewonnen“, beendete Vincent den Satz und sah Harry streng an. „Ich erinnere mich an Cassandra nur als ein dünnes kleines Ding, aber damals war sie erst zwölf. Ich stelle mir vor, inzwischen wird sie sich sehr verändert haben. Außerdem ist ein Versprechen, das man auf dem Schlachtfeld gibt, eine Frage der Ehre, Mama. Ich beabsichtige, es zu halten.“

„Und wenn sie dich nun nicht will?“, wandte Harry ein. Er war vierundzwanzig Jahre alt, blond und blauäugig und verfügte über ein sonniges Gemüt. Sieben Jahre trennten ihn von seinem Halbbruder, den er sehr bewunderte. „Was tun wir dann?“

„Ich darf ihr als Erster den Hof machen“, sagte Vincent. „Sollte sie mich abweisen, könnt ihr Übrigen euer Glück versuchen.“

„Dich abweisen?“, rief Lady Longbourne ungläubig. „Ich halte Cassandra Thornton für keine so dumme Gans, das auch nur in Erwägung zu ziehen. Natürlich wird sie deinen Antrag mit Freuden annehmen. In ihrer Lage musst du ihr wie ein Geschenk Gottes erscheinen. Verändert mag sie sich ja haben, aber sie war immer unscheinbar, und aus einem unscheinbaren Kind kann keine Schönheit werden.“

„Ich erwarte auch nicht, dass sie eine Schönheit ist, und wünsche mir eigentlich auch gar keine Schönheit zur Frau“, bemerkte Vincent, der für seine ausgesprochen reizvollen Geliebten bekannt war. „Die jungen Damen, die in London als ‚wahre Schönheiten‘ und ‚Diamanten reinsten Wassers‘ beschrieben werden, weisen selten ein Wesen auf, das sich mit ihrem Äußeren vergleichen ließe. Meistens sind sie verwöhnt und eitel. Nein, nein, Mama, ich lasse mich durch dein Nörgeln nicht abschrecken.“ Er lächelte nachsichtig. „Willst du mir also den Gefallen erweisen, Cassandra zu dir einzuladen?“

„Selbstverständlich. Du hättest nicht zu fragen brauchen, Carlton. Du bist mein Sohn, und der einzige Wunsch, der mir noch geblieben ist in diesem Leben, ist, meinen Liebsten zu helfen. Sosehr ich auch um dein Glück bange, wenn du dich an ein solches Mädchen wegwirfst, werde ich natürlich alles tun, um dich zu unterstützen. Ich stehe völlig zu deiner Verfügung.“

Was allerdings hieß, dass sie den aufgedrängten Besuch als eine Zumutung empfand, die sie nur aus Liebe zu ihm ertrug.

Lord Carlton seufzte insgeheim. Seine Mama bildete sich seit einer ganzen Weile ein, sie sei von zarter Gesundheit, und verbrachte sehr viele Stunden im Haus, statt sich erbaulicheren Beschäftigungen hinzugeben. Ihre jetzige Trägheit war die Folge einer wirklichen Krankheit, die sie nach dem Tod ihres geliebten Gatten erlitten hatte. Eine Erkältung hatte sich zu einem bösartigen Fieber ausgewachsen und Harrys Vater in nur wenigen Tagen dahingerafft. Es betrübte Vincent, seine Mutter so zu erleben. Er erinnerte sich an sie als strahlende Braut von Sir Bertram Longbourne und wünschte, sie könnte wieder so glücklich werden.

In gewisser Hinsicht musste er ihr recht geben. Cassandra Thornton war ein unscheinbares Kind gewesen, allerdings mit einem hübschen Lächeln und lebhaften Temperament. Außerdem hoffte er, dass seine Mutter ein wenig von ihrer eigenen Lebhaftigkeit zurückgewinnen würde, wenn sie sich um ein armes Mädchen kümmern musste, das völlig allein in der Welt stand.

„Du bist sehr freundlich, Mama.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Wirst du Cassandra noch heute schreiben?“

„Noch vor dem Dinner“, versprach sie und unterdrückte einen Seufzer. „Du musst doch wissen, dass ich dir zuliebe alles tun würde, Carlton.“ Sie tätschelte ihm die Wange. „Ich liebe dich schließlich, weißt du.“

„Ich weiß“, erwiderte er lächelnd. „Und habe auch nie daran gezweifelt.“

„Du bist ein großer Trost für mich auf meine alten Tage.“ Lady Longborne sah auch Harry mit Tränen in den Augen an. „Ich kann mich sehr glücklich schätzen, zwei mir so ergebene Söhne zu haben. Es gibt Männer, die ihre Mütter kaum besuchen und es vorziehen, sich in London diversen Vergnügungen hinzugeben, ohne an jene zu denken, die nicht in der Lage sind …“

„Mama“, fiel Harry ihr unbehaglich ins Wort. „Wenn du mich entschuldigen möchtest. Ich denke, ich mache vor dem Dinner noch einen Spaziergang.“

„Wir sind dir beide herzlich zugetan“, versicherte Vincent, während sein Bruder sich hastig zurückzog. „Aber ich sollte dich warnen, Mama. Onkel Septimus bat mich, dir mitzuteilen, dass er dich sehr bald zu besuchen gedenkt.“

„Oh nein!“, rief Lady Longbourne entsetzt. „Ich hoffe nur, er möchte allein kommen. Denn wenn er Felicity und Archie mitbringt, werde ich es nicht ertragen!“

„Da er erst in wenigen Wochen eintreffen wird, wirst du Cassandra bei dir haben. Mit ihrer Hilfe wird es mir wohl gelingen, dich vor den Gardinenpredigten meines Onkels zu schützen.“

„Du wirst doch hoffentlich nach deinem Onkel abreisen?“

„Ich werde bleiben, bis Cassandra meinen Antrag entweder angenommen oder abgewiesen hat. Dann sehen wir weiter.“

Tief in Gedanken versunken, unternahm Vincent später seinen abendlichen Spaziergang über sein Gut. Es wurde wirklich höchste Zeit, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Da er bisher noch keiner Frau begegnet war, die er zu seiner Gattin hätte machen wollen, schien die vernünftigste Lösung zu sein, eine Vernunftehe einzugehen. Am besten mit einer Frau, die nicht zu viel von ihm verlangte.

Als Jack ihm vorgeschlagen hatte, Cassandra zu heiraten, hatte er gezögert. Hätte er bei jener ersten Gelegenheit sein Wort gegeben, wäre die ganze alberne Sache mit den Strohhalmen nicht nötig gewesen. Nach Jacks Tod war Vincent davon überzeugt gewesen, dass es seine Pflicht war, Cassandra zu heiraten.

Warum hatte er es also so lange hinausgeschoben? Elf Monate waren vergangen, seit Napoleon besiegt und nach Sankt Helena verbannt worden war, und neun seit seiner Heimkehr nach England. Seine Wunden waren längst verheilt, dennoch hatte er keine Anstalten gemacht, sein Jack gegebenes Versprechen einzulösen. Nur einen Brief schrieb er Cassandra aus Frankreich.

Es gab Gründe, die ihn davon abhielten, sie aufzusuchen. Er hatte Jack fallen sehen, er wusste, der Schuss musste tödlich gewesen sein. Viele Soldaten waren an der Stelle, an der sie gefallen waren, begraben worden – manche so arg verstümmelt von den französischen Kanonenkugeln, dass nicht einmal ihre Freunde sie hatten identifizieren können.

„Verdammt, Jack!“, fluchte Vincent leise, den Blick bedrückt auf die untergehende Sonne gerichtet. „Warum gönnst du mir keinen Frieden?“

Doch er hatte seinen Freund im Stich gelassen und würde niemals Frieden finden, wenn es ihm nicht gelang, dafür auf irgendeine Weise zu büßen. Die einzige Bitte, die Jack je an ihn gerichtet hatte, war, sich um Cassandra zu kümmern.

„Sie ist nicht hübsch“, hatte Jack gesagt, als sie vor einem fast erloschenen Lagerfeuer saßen. „Aber sie würde jedem eine wunderbare Frau sein. Sie braucht einen anständigen Mann, Vinnie. Und schon immer fand ich, dass du und Cassie wunderbar zueinander passen würdet.“

„In Ordnung, Jack“, sagte Vincent jetzt leise in die Dunkelheit hinein. „Du hast gewonnen, verdammt noch mal. Ich werde sie heiraten … wenn sie mich haben will.“

Zwei Tage später betrachtete Miss Cassandra Thornton voller Genugtuung die Ansammlung von Kleidern, die auf ihrem Bett ausgebreitet lag. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so viele neue Kleider besessen. Zwar wusste sie auch, dass es beileibe nicht ausreichen würde für eine Saison in London, die sie bereits ins Auge gefasst hatte, seit sie von ihrer erstaunlichen Erbschaft erfahren hatte. Doch sie war nichtsdestotrotz mehr als zufrieden.

„Sie sind wunderschön“, bemerkte ihre Freundin, während sie über den besonders hübschen Stoff eines grünen Ausgehkleides strich. „Du hast solches Glück, Cassie. Ich habe noch nie etwas so Bezauberndes gesehen.“

„Gefällt dir das?“, fragte Cassie und hielt ihr das Kleid an. „Ja, die Farbe steht dir sehr gut. Sie betont den Goldschimmer deines Haars und das Grün deiner Augen. Du musst es tragen, Sarah.“

„Oh, das könnte ich nicht“, wehrte Miss Sarah Walker ab. Zwar hatte sie beim Anblick der vielen schönen Kleider einen kleinen neidvollen Stich nicht unterdrücken können. Als fünfte Tochter eines Landpfarrers wusste sie, dass ihre Eltern sich nie eine Saison für sie leisten könnten. „Ich bewunderte es nur und wollte nicht, dass du es mir gleich gibst.“

„Das weiß ich doch, Dummerchen!“ Cassie lachte und drückte ihrer Freundin das Kleid in die Hände. „Es sind noch genug Kleider für mich übrig. Die werden ausreichen, bis ich nach London fahre.“

„Wann reist du ab?“ Sarah betrachtete das Kleid mit unverhohlener Sehnsucht, zögerte aber noch immer. „Bist du sicher, du wirst es nicht bereuen, Cassie?“

„Ganz sicher. Es steht dir viel besser als mir. Eigentlich finde ich, auch der braune Samtstoff und der blaue Musselin würden wunderbar an dir aussehen. Du sollst alle bekommen.“

„Cassie! Du bist viel zu großzügig. Unmöglich kannst du dir leisten, mir all diese Kleider zu schenken!“

„Doch, ich kann es mir sehr wohl leisten.“ Cassie griff nach einem Paisley-Schal und zwei reizenden Hüten und legte sie auch noch zu dem Kleiderstapel. „Tante Gwendoline war so unglaublich reich, Sarah. Ich wäre fast gestorben, als der Anwalt ganz aus Cornwall zu mir kam, um mir zu eröffnen, dass sie mir alles vermacht hat. Sie war Mamas ältere Schwester, und ich erinnere mich vage daran, sie gesehen zu haben, als Mama mit mir zu ihr fuhr. Es muss wenige Monate vor Mamas Tod gewesen sein.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch sie wischte sie energisch fort.

„Liebste Cassie“, sagte ihre Freundin. „Sie fehlt dir immer noch sehr, nicht wahr?“

„Ich weiß, es ist lange her – ich war erst vierzehn, als sie erkrankte –, aber ich liebte sie so sehr. Damals hatte ich wenigstens Vater und Jack. Sie beide so plötzlich zu verlieren …“ Sie schluckte mühsam. „Vor allem Jacks Verlust ist unerträglich. Ich vermisse ihn so sehr, Sarah.“

„Ich weiß.“ Die beiden Mädchen umarmten sich. „Und dann eröffneten die Anwälte dir auch noch, dir blieben nur wenige Monate Zeit, eine andere Bleibe zu finden. Es ist so ungerecht, dass ein Gutsbesitz immer an den nächsten männlichen Verwandten gehen muss, selbst wenn es sich dabei nur um einen entfernten Cousin handelt.“

„Es war ja sowieso nicht viel übrig, nachdem die Schulden bezahlt worden waren. Nur das Haus und ansonsten lediglich diverser Krimskrams. Trotzdem hat es mich getroffen, dass ich gehen musste. Besonders da Vaters Cousin Kendal so abscheulich ist. Ich konnte es kaum erwarten, endlich zu verschwinden, dabei wusste ich nicht, wohin.“

„Du hättest zu uns kommen können“, erinnerte Sarah sie. „Ich wäre so froh darüber gewesen. Papa hat dir doch gesagt, dass du mit mir im selben Zimmer schlafen und so lange bei uns bleiben kannst, wie du nur willst.“

„Dein Vater ist so freundlich“, meinte Cassie lächelnd, „aber ich wollte euch nicht zur Last fallen. Nein, ich hatte insgeheim schon beschlossen, mich als Gouvernante oder Gesellschafterin zu verdingen. Und dann hinterließ die gute Tante Gwendoline mir ihr Vermögen. Jetzt wünschte ich, ich hätte ihr öfter geschrieben. Andererseits hat sie mich nie ermutigt. Deswegen kam mir wohl auch gar nicht der Gedanke, sie um Hilfe zu ersuchen.“

„War sie in ihren letzten Jahren nicht zu einer richtigen Einsiedlerin geworden?“

„So wurde mir gesagt. Sie hieß uns schon nicht besonders willkommen, als Mama und ich sie besuchten. Trotzdem hinterließ sie mir ihr gesamtes Vermögen.“

„Und jetzt reist du nach London und lernst einen gut aussehenden Mann kennen.“

„Oh, mindestens ein Dutzend“, warf Cassie fröhlich ein. „Ich habe die Absicht, ein großer Erfolg zu werden, obwohl ich keine Schönheit bin. Ein Vermögen lässt viele über das eher unscheinbare Aussehen einer Dame hinwegsehen.“

„Du bist nicht unscheinbar“, protestierte Sarah. „Papa sagt, du bist eine ansehnliche Frau. Und aus seinem Mund ist das ein großes Kompliment.“

„Ja, in der Tat!“ Cassie musste lachen. Sie war zwar nicht, was man gemeinhin schön nannte, aber sie konnte auch nicht hässlich genannt werden. Zumindest dürfte ihr Aussehen keinen Gentleman entmutigen, der von ihrem beachtlichen Vermögen erfuhr. „Ich weiß das, und es erfreut mich sehr.“

„Wann fährst du also?“

„Sobald Mrs. Simmons meinen Brief beantwortet hat. Lady Fitzpatrick hat sie mir als Anstandsdame empfohlen. Ohne eine respektable Anstandsdame kann ich unmöglich nach London. Sie verleiht mir das nötige Ansehen, damit ich in der besten Gesellschaft aufgenommen werden kann.“

„Sie wird dir sicher bald antworten“, meinte Sarah ein wenig wehmütig. „Wie sehr du mir fehlen wirst, Cassie!“

„Nun, das ist gar nicht nötig“, sagte Cassie, einen plötzlichen Entschluss fassend. „Warum kommst du nicht mit mir? Es würde sich nicht gehören, wenn wir beide allein nach London reisen, weil du erst neunzehn bist. Ich bin zwar schon einundzwanzig, aber ohne Begleitung zu reisen wäre auch für mich unschicklich. Wie viel glücklicher wäre ich, wenn du Mrs. Simmons und mich begleiten würdest.“

Sarah sah sie ungläubig an. „Das meinst du nicht ernst? Nein, nein, Papa kann es sich nicht leisten, mich gehen zu lassen.“

„Du wirst deinen Vater nicht um Geld bitten müssen“, beruhigte Cassie sie. „Die Kleider, die ich dir schon gegeben habe, werden für eine Weile reichen, und in London werde ich mehr für uns beide kaufen. Das soll mein Geschenk für die Freundlichkeit sein, mit der du und deine Familie mich überschüttet habt, seit mein Vater … starb.“

Der Gedanke an den Selbstmord ihres Vaters schmerzte sie zutiefst. Nach seinem Tod hatten viele Gemeindemitglieder sie geschnitten. Wären nicht Reverend Walker und seine Familie gewesen, hätte sie sich womöglich von ihrer tiefen Verzweiflung überwältigen lassen.

Ein Unglück nach dem anderen hatte sie damals heimgesucht – als erstes die Entdeckung des leblosen Körpers ihres Vaters in seiner Bibliothek. Sein Tod hatte ihr nicht so großes Leid verursacht wie der ihres geliebten Bruders, aber seitdem verabscheute sie Schusswaffen und schrak nachts immer wieder aus Albträumen auf. Seit Wochen war sie nicht mehr in der Lage zu schlafen, ohne irgendwann mit tränenüberströmtem Gesicht aufzuwachen.

Es hatte Augenblicke gegeben, in denen Cassie sich gewünscht hatte, sterben zu können. Doch inzwischen waren Monate vergangen, und sie hatte sich langsam mit ihrem Verlust abgefunden. Jetzt wollte sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Die Neuigkeit von ihrer Erbschaft hatte ihre Zuversicht natürlich noch gestärkt.

Nur den Verlust ihres Bruders, den sie von klein auf vergöttert hatte, würde sie nie ganz verwinden können. Sicher würde sie keinem anderen Menschen je so nahe sein wie ihm. Vielleicht hatte sie auch aus diesem Grund beschlossen, nicht aus Liebe zu heiraten. Liebe war zu schmerzhaft, und Cassie wollte nie wieder so sehr leiden. Sie besaß jetzt Geld, was ihr jetzt also noch fehlte, war ein Mann von Stand, der ihr einen sicheren Platz in der Gesellschaft garantierte. Nie wieder sollte man auf sie herabsehen, weil sie die Tochter eines Selbstmörders war.

„Oh, schau doch nicht so traurig, meine Liebste“, bat Sarah sanft. „Ich ertrage es nicht, dich so unglücklich zu sehen.“

Cassie schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht unglücklich, Sarah. Ich musste nur an Jack denken. Er wird mir immer fehlen, ich werde aber versuchen, all das hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Du kannst mir dabei helfen, indem du mich nach London begleitest.“ Sie zwinkerte Sarah schelmisch zu. „Tatsächlich werde ich ohne dich gar nicht erst abreisen. Und deinen Vater werde ich schon überreden, seine Zustimmung zu geben.“

„Das wird er bestimmt, weil du ihn bitten wirst“, meinte Sarah aufgeregt. „Aber natürlich nur, wenn wir eine Anstandsdame finden.“

„Lady Fitzpatrick hat versprochen …“ Cassie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Das Hausmädchen trat ein. „Ja, Ellie, was ist? Hast du etwas für mich?“

„Sie haben mich gebeten, Ihnen die Briefe zu bringen, Miss.“

„Ist er also endlich angekommen?“ Cassie nahm die Briefe entgegen und öffnete sofort einen, der aus London kam. „Er ist von Mrs. Simmons …“ Sie überflog die ersten Zeilen. „Sie wird mir als Anstandsdame zur Verfügung stehen … Oh!“, rief sie dann enttäuscht aus. „Aber erst Ende nächsten Monats.“

„Im nächsten Monat?“ Sarah zuckte die Achseln. „Das ist doch gar nicht so schlecht, oder?“

„Dann ist es schon August, bis wir in London sind. Die Saison wird vorüber sein. Vielleicht sollten wir dann besser nach Brighton fahren?“

„Brighton ist im Sommer sehr beliebt.“

„Aber es ist nicht London“, wandte Cassie grübelnd ein. „Na ja, wir werden uns wohl damit begnügen müssen.“ Sie öffnete den zweiten Brief, begann ihn zu lesen und schnappte erstaunt nach Luft. „Du liebe Güte!“

„Ist etwas geschehen?“

„Nein. Er ist von Lady Longbourne. Erinnerst du dich an Sir Bertram? Nach seinem Tod zog seine Witwe in Lord Carltons Haus. Das Longbourne-Gut, das selbstverständlich Sir Bertrams Erben gehört, wird schon seit einigen Jahren vermietet.“

„Ich erinnere mich ein wenig an die Familie“, sagte Sarah. „Ich kannte sie nicht besonders gut; Papa besuchte sie einmal, nach Sir Bertrams Tod. Es muss acht Jahre her sein. Ich hatte ihn begleitet, blieb aber zusammen mit Sir Bertrams Sohn im Garten. Er heißt Harry, glaube ich.“

„Stimmt. Lady Longbourne hat zwei Söhne, Harry und seinen Halbbruder Vincent.“ Cassie errötete leicht. „Ich meine, Lord Carlton.“

„Kanntest du sie gut?“

„Ja, ziemlich. Meine Mutter traf sich oft mit Lady Longbourne zum Tee. Einmal erinnere ich mich …“ Sie lächelte verlegen und errötete wieder. „Ich hatte von Jack ein Kätzchen zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen.“

„Und was geschah?“

„Mein Kätzchen kletterte auf einen Baum, und obwohl ich wieder und wieder nach ihm rief, wollte es nicht zu mir kommen. Es miaute so jämmerlich, dass ich es nicht mit anhören konnte. Jack war mit Vater ausgeritten, also bin ich selbst hinaufgeklettert, um das arme Tier zu retten. Und dabei blieb ich selbst hilflos hängen.“

„Cassie!“, rief Sarah halb belustigt, halb entsetzt. „Was hast du dann getan?“

„Ich saß auf einem Ast und wartete auf Jacks Rückkehr. Aber Vincent Carlton kam vor ihm. Er hatte natürlich Jack besuchen wollen, mit dem er befreundet war. Ich rief ihn zu Hilfe. Allerdings bestand ich darauf, er müsse zuerst mein Kätzchen retten, bevor er mir herunterhalf. Er trug eine helle Reithose, und sie riss an einer äußerst heiklen Stelle, als er auf den Baum kletterte.“ Sie lachte ein wenig beschämt.

„War er böse?“

„Na ja, vielleicht einfach bloß ziemlich verlegen, denke ich. Er ritt wieder davon, ohne auf Jack zu warten. Danach sah ich ihn nie wieder. Er hielt sich meist in London auf. Von Lady Longbourne habe ich schon seit Jahren nichts mehr gehört. Nur Lord Carlton schickte mir einen Brief aus Frankreich, in dem er mich bat, mich an seine Anwälte in London zu wenden, sollte ich mich in Schwierigkeiten befinden. Es war ein sehr freundlicher Brief …“

„Er muss dir also am Ende verziehen haben.“

„Oder er hielt es für seine Pflicht. Seine Freundschaft zu Jack setzte sich auf dem Schlachtfeld fort. Mein Bruder erwähnte ihn so oft in seinen Briefen.“

Cassie hielt bedrückt inne. Doch sie erlaubte sich nicht, in Selbstmitleid zu schwelgen. Vielmehr hatte sie beschlossen, die Zeit der Trauer zu beenden. Jack hätte nicht gewollt, dass sein Tod ihr das Herz brach.

„Möchtest du mit mir ausreiten?“, fragte sie Sarah. „Du kannst meine Stute haben, und ich nehme Jacks Braunen.“

„Was wird mit den Pferden, wenn du fort bist?“

„Ich werde beide mitnehmen. Kendal habe ich schon gesagt, dass Saracen das persönliche Eigentum meines Bruders war, und in seinem Testament hat er alles mir vermacht. Seine ganze übrige Habe ließ ich in große Truhen packen und zu Nanny Robinsons Landhäuschen schicken. Ich werde Kendal nicht erlauben, irgendetwas zu berühren, das meinem Bruder gehört hat!“

„Ist er so fürchterlich, Cassie?“

„Abscheulich! Er kam, kaum drei Wochen nachdem Jack gefallen war, zu Besuch und benutzte schon seinen Titel. Dann wagte er es, mir die Gnade zu erweisen, seine Frau zu werden. Genau mit diesen Worten, um mich spüren zu lassen, welch großen Gefallen er mir zu tun gedachte! Ich hätte ihn ohrfeigen können!“

„Das war wirklich gefühllos von ihm. Was für ein Glück, dass du ihn abgewiesen hast. Jetzt, da du über ein Vermögen verfügst, kannst du dir deinen Gatten selbst aussuchen.“

„Zweifellos hätte er versucht, auch mein Vermögen in seine Hände zu bringen, hätte er davon geahnt“, meinte Cassie aufgebracht.

„Was stand nun eigentlich in Lady Longbournes Brief?“, fiel Sarah nach kurzem Schweigen ein. „Du hast nichts gesagt.“

„Nein?“ Cassie lachte. „Wir haben uns durch andere Dinge ablenken lassen.“

„Wie zum Beispiel Lord Carltons Malheur.“

Cassie nickte lächelnd. „Sie war so freundlich, mich zu sich einzuladen.“

„Oh, wie nett.“

„Ja, das dachte ich auch.“

„Und wirst du ihre Einladung annehmen?“

„Nur wenn du mich begleitest. In den letzten Monaten hast du mir immer beigestanden, Sarah. Jetzt könnte ich es nicht ertragen, mich von dir zu trennen. Ich werde Lady Longbourne schreiben, dass sie uns nächste Woche erwarten kann. Sie wird bestimmt erfreut sein, da sie sagt, sie bräuchte dringend Gesellschaft.“

„Wenn Papa nur einverstanden ist!“

„Das wird er, denn er kennt Lady Longbourne doch“, beruhigte Cassie sie. „Wir wollen zur Pfarrei gehen und ihn bitten. Außerdem werde ich natürlich Janet mitnehmen. Sie hat auf mich aufgepasst, seit Vater … und sie wird sich gern um uns beide kümmern.“

Janet war Lady Thorntons Zofe gewesen. Obwohl sie auf die sechzig zuging und eine nüchterne, strenge Frau war, die ihrer jungen Herrin, ohne zu zögern, die Leviten las, wenn sie es für nötig hielt, war sie ihr natürlich treu ergeben.

„Papa hält sehr viel von deiner Janet.“ Sarahs Augen leuchteten vor Aufregung. „Lass uns sofort zu ihm gehen!“

Erst sehr viel später an diesem Abend – Cassie war allein und machte sich bereit, zu Bett zu gehen – hatte sie Gelegenheit, über den heutigen Tag nachzudenken.

Reverend Walker war sehr eingenommen von der Idee, seine Tochter Lady Longbourne und danach Brighton besuchen zu lassen. Als jüngerer Sohn eines verarmten Baronets, der nur eine kleine Pfründe besaß, um sich und seine Familie zu ernähren, wusste er, dass sich seiner Tochter kaum eine bessere Gelegenheit bieten würde, mit der guten Gesellschaft in Kontakt zu kommen. Zwar dachte er nicht einmal im Traum daran, es laut auszusprechen, doch insgeheim hoffte er, seine liebenswerte, hübsche Sarah würde einen passenden jungen Mann kennenlernen, während sie sich bei ihrer Freundin aufhielt.

Cassie hatte es nicht anders erwartet, als dass Sarahs Papa den großen Vorteil für seine Tochter erkennen würde. Nichts hätte günstiger sein können. Sicher wäre es sehr viel besser gewesen, hätten sie gleich nach London reisen können. Doch daran ließ sich nun nichts ändern.

Cassie bürstete sich gedankenverloren die Haare, ohne wirklich ihr Spiegelbild zu betrachten. Ein versonnenes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie sich wieder an jenen so weit zurückliegenden Vorfall in ihrem Garten erinnerte.

Ein Lachen entfuhr ihr beim Gedanken an den saftigen Fluch, den Vincent ausgestoßen hatte, als seine Hose sich an einem Ast verfing, zerriss und enthüllte, dass er nichts unter dem engen Kleidungsstück trug.

Auch damals hatte sie gelacht, worauf er sie wütend angefunkelt hatte. Aber bis auf den ersten unbedachten Fluch ließ er sich zu keiner Unflätigkeit mehr hinreißen. Überhaupt war er immer der vollkommene Gentleman gewesen, wie Cassie sich erinnerte, und besaß das schönste Lächeln, das sie je gesehen hatte.

Damals träumte sie viele Nächte von ihrem Retter in der Not, bis sie ihn mit der Zeit vergessen hatte und sich erst wieder an ihn erinnerte, als sein Brief aus Frankreich eintraf und sie zu Tränen rührte. Er war nicht der einzige von Jacks Freunden gewesen, der ihr geschrieben hatte, aber nur er hatte einen so tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Nur er fand die Worte, die ihr zeigten, wie wichtig ihm ihr Wohlbefinden war.

Die Vorstellung, Lord Carlton wiederzubegegnen, erfüllte sie mit Vorfreude. Endlich hätte sie Gelegenheit, ihm zu danken.

Cassie erhob sich und trat an das Fenster. Ein blasser Vollmond stand am Himmel, warf sein silbriges Licht auf den Garten und weckte ein wehmütiges Verlangen in ihr – aber ein Verlangen wonach?

Sie wusste nicht, was sie wollte – oder vielleicht doch. Sich indes etwas zu wünschen, das nicht sein konnte, war sinnlos.

„Ach Jack, mein lieber Bruder“, seufzte sie. „Wenn du nur bei mir wärst, damit ich Tante Gwendolines Vermögen mit dir teilen könnte. Wie viel Spaß wir dabei haben würden, es zusammen auszugeben.“

Ein Schauder überlief sie, als sie eine Bewegung in den Büschen auszumachen glaubte. Sie öffnete das Schiebefenster und beugte sich hinaus. Inzwischen hatte sich eine Wolke vor den Mond geschoben, sodass sie kaum noch etwas sehen konnte.

Unsinn! Natürlich war niemand da gewesen. Cassie schloss das Fenster und wandte sich ab. Nun bildete sie sich auch noch Dinge ein! Einen Augenblick hatte sie geglaubt, einen Mann gesehen zu haben, der das Haus beobachtete.

2. KAPITEL

Die folgenden Tage erwiesen sich als sehr arbeitsreich. Cassie, Sarah und Janet packten Reisetruhen und Hutschachteln und suchten in den Schränken nach vergessenen Schultertüchern, Schals und Hüten. Mit ein wenig Fantasie konnten sie die Hüte mit neuen Bändern versehen, sodass sie wie neu wirkten.

„Vielleicht können wir ja Lady Longbourne dazu überreden, einige Tage mit uns in London zu verbringen“, schlug Cassie ihrer Freundin vor. „Ich rechne zwar nicht wirklich damit, denn es ist schon sehr freundlich von ihr, uns zu sich einzuladen. Allerdings könnten wir auf diese Weise einige Kleider in Auftrag geben und uns auf die Zeit in Brighton vorbereiten.“

„Ach, Cassie, ich habe nie erwartet, etwas so Hübsches zu besitzen“, entgegnete Sarah. Fast ehrfürchtig strich sie über den Stoff des grünen Ausgehkleids, das die Freundin ihr geschenkt hatte.

„Es steht dir ausgezeichnet zu deinem honigblonden Haar und den grünen Augen.“ Cassie warf im Spiegel einen flüchtigen Blick auf ihr eigenes dunkles Haar, das gewiss genauso seidig schimmerte wie das ihrer Freundin, es jedoch nicht mit dem Goldton aufnehmen konnte. „Du bist so hübsch, Sarah. Alle jungen Männer in Brighton werden dir zu Füßen liegen.“

„Wenn sie keine reiche Erbin heiraten müssen“, wandte Sarah lachend ein. „Der arme Papa kann mir nicht mehr als einhundert Pfund geben und vielleicht ein Nadelgeld von fünfzig Pfund im Jahr, wie er es auch jetzt tut.“

Cassie bemerkte nichts dazu, nahm sich aber insgeheim vor, ihren Anwälten zu schreiben, um zu prüfen, ob es nicht möglich war, ihrer Freundin eine gewisse Summe zu überschreiben. Zwar hatte sie sich noch nicht ganz mit den Einzelheiten ihres Erbes vertraut gemacht, wusste jedoch, dass ihr sehr viel Geld zur Verfügung stand.

Zu Sarah würde sie nichts sagen, aber ihr Entschluss war gefasst.

Schließlich war es Zeit für die Mädchen, sich auf die Reise zu begeben. Die Kutsche, die Lady Longbourne fürsorglich schon am Vorabend geschickt hatte, fuhr um zehn Uhr vor. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass alle Koffer und Taschen und Truhen festgezurrt worden waren, verabschiedeten sie sich, stiegen ein und begannen ihr neues Abenteuer.

Cassie drehte sich ein letztes Mal zu ihrem Heim um. Der Rest ihrer Habseligkeiten würde zu Nanny Robinson geschickt werden. Ein Stallknecht hatte schon am frühen Morgen ihre geliebten Pferde zu Lady Fitzgeralds Ställen gebracht. Zwar hätte sie noch einen Monat hier verweilen können, doch hin und her gerissen zwischen der Erinnerung an schöne und traurige Momente, war sie eher erleichtert, alles hinter sich lassen zu können.

Sie liebte ihr altes Zuhause, aber sie wollte nicht ohne ihre Familie dort leben. Nein, so ist es besser, sagte sie sich und lehnte sich entspannt in die Polster zurück.

Es war alles so aufregend, so erfreulich, dass sie und Sarah fast ununterbrochen etwas zu plaudern fanden. Zwei Stunden waren vergangen, als ein Ausruf des Kutschers die beiden Mädchen aufhorchen ließ. Cassie blickte aus dem Fenster. Die Pferde wurden gezügelt, sodass sie nur mehr im Schritt gingen. Nachdem Cassie hinausgesehen hatte, zog sie an der Schnur, die den Kutscher wissen ließ, dass sie halten wollte.

„Was ist denn?“, fragte Sarah. „Warum halten wir?“

„Jemand ist krank“, antwortete Cassie. „Eine Frau liegt auf der Erde. Ich glaube, ja, ich bin sicher, dass sie in Schwierigkeiten sein muss.“

Sarah folgte Cassies Blick und schnappte hörbar nach Luft. „Aber … sie ist ja …“

„Ja, genau.“

Als die Kutsche hielt, sprang Cassie hinaus, ohne auf Hilfe zu warten. „Du bleibst hier, Sarah. Ich schaue nach, was getan werden muss.“

Janet hatte in einer Ecke der Kutsche gedöst. Jetzt wachte sie auf und sah sich verwirrt um. „Sind wir schon da?“

„Nein.“ Sarah blickte zum offenen Schlag. „Cassie hat darauf bestanden, dass wir halten.“

Janet schaute hinaus und schnaubte missbilligend über das übereilte Benehmen ihrer Herrin. Sie ließ sich vom Reitknecht aus der Kutsche helfen, und auch er beobachtete seine junge Herrin eher skeptisch. Entschlossen ging Janet zu Cassie, die am Straßenrand kniete, über eine Frau gebeugt, die offensichtlich Schmerzen litt. Es war ein recht schmutziges, in Lumpen gehülltes Geschöpf.

„Was machen Sie denn nun schon wieder, Miss Cassie?“, schalt Janet.

So viele Jahre war sie daran gewöhnt, dass Miss Cassandra verletzte Vögel und Kätzchen nach Hause brachte, die dann in der Küche durchgefüttert wurden. So rechnete sie auch jetzt mit nichts Gutem. Es überraschte sie also nicht, als ihre junge Herrin vorschlug, die Vagabundin in ihrer Kutsche mitzunehmen.

„Das wäre nun wirklich nicht klug“, wandte sie ein, doch ein strenger Blick von Cassandra brachte sie zum Schweigen. „Dürfte ich dann wenigstens sagen, dass der passende Platz für sie der Kutschbock …“

„Nein, das darfst du nicht“, unterbrach Cassie sie entschieden. „Wenn du und Sarah nicht bereit seid, mit dieser armen Frau zu fahren, könnt ihr ja auf dem Kutschbock sitzen.“

„Kein Grund, sich aufzuregen“, gab Janet seufzend nach. „Überlassen Sie mir die Arme. Sie kann neben mir sitzen. Ich kümmere mich um sie, falls … nun, wollen wir einfach hoffen, es kommt nicht so weit.“

„Ich wusste, du würdest mir zustimmen“, meinte Cassie mit einem entwaffnenden Lächeln. „Ich möchte bei ihr sein, Janet, nur um sicherzugehen, dass sie nicht leidet.“

„Natürlich“, meinte Janet mit einem weiteren Seufzer. „Ich habe nichts anderes erwartet.“

Lord Carlton saß in Erwartung der Ankunft von Miss Cassandra Thornton und deren Freundin Miss Sarah Walker mit seiner Mama im Salon von Carlton Manor. Es war bereits über drei Uhr nachmittags hinaus. Allmählich begannen sie sich zu fragen, wo ihre Gäste bleiben mochten, da sie vor mindestens einer Stunde hätten ankommen müssen.

Lady Longbourne sah heute ausgesprochen gut aus in ihrem schlichten, aber eleganten perlgrauen Kleid mit dem seidenen Schultertuch und dem reizenden Spitzenhäubchen, das selbst ihren Sohn zu einer Bemerkung bewegte.

„Dieses Häubchen steht dir ausnehmend gut, liebe Mama. Es gefällt mir sehr.“

„Nun, das freut mich, mein Lieber, da du es bezahlt hast – ebenso wie einige andere Dinge, die ich mir auf dein Drängen zu meinem Geburtstag bestellte. Darüber hinaus gabst du mir auch noch die Saphirohrringe, die für eine Frau meines Alters viel zu extravagant sind.“

„Dir aber auch sehr gut stehen.“

„Du darfst dein Geld nicht an einen Menschen von meiner delikaten Konstitution verschwenden“, wandte sie ein, ohne einen gereizten Unterton verhindern zu können. Wirklich, sie fand es ausgesprochen rücksichtslos von Carlton, von ihr zu erwarten, zwei junge, sehr wahrscheinlich alberne Dinger zu unterhalten. Es war ein warmer Nachmittag, und eigentlich müsste sie jetzt ihr Nickerchen halten. „Ich denke, ich werde nie die Gelegenheit haben, sie zu tragen.“

„Ich sehe nicht ein, warum nicht“, erwiderte Vincent ungerührt. „Wir müssen für unsere Gäste einige Abendgesellschaften geben, Mama – und vielleicht einen Ball, sollte Cassandra einwilligen, meine Frau zu werden.“

Bevor Lady Longbourne antworten konnte, öffnete der Butler die Tür und verkündete die Ankunft der Gäste. „Miss Cassandra Thornton und Miss Sarah Walker.“

Lady Longbourne hob ihr Lorgnon, als die beiden jungen Damen hereinkamen. Sie trugen beide Kleider von sehr guter Qualität, doch von den Händen einer Provinzschneiderin gefertigt, wie das geübte Auge Ihrer Ladyschaft mühelos erkannte. Die neueste Mode war zwar treu nachgeahmt worden, gereichte aber selbstverständlich einer Dame, die Carltons Gattin werden sollte, nicht zur Ehre. Zweifellos würde sie sich selbst um Cassandras Garderobe kümmern müssen!

Aber welche von beiden war nun Miss Thornton?

„Ich denke, diese junge Dame ist Cassandra.“ Vincent lächelte belustigt, und seine grauen Augen funkelten, während er ihr die Hand hinhielt. „Es sind einige Jahre seit unserer letzten Begegnung vergangen, die Umstände waren allerdings so ungewöhnlich, dass sich mir Ihr Gesicht unauslöschlich eingeprägt hat. Habe ich recht und sind Sie Miss Thornton?“

„Ich fürchte ja, Mylord.“ Lachend reichte Cassie ihm die Hand. Leicht errötend hielt sie seinem neckenden Blick stand. „Obwohl es mir lieber wäre, nicht an die damaligen Umstände erinnert zu werden. Sie müssen an jenem Tag sehr böse auf mich gewesen sein, wenn Sie sich auch nichts anmerken ließen.“

Vincent hob ihre Hand an die Lippen und küsste sie leicht. „Ich kam mir recht albern vor, gebe ich zu. Allerdings hoffe ich doch, nie so flegelhaft zu sein, Sie meine schlechte Laune spüren zu lassen.“ Dann wandte er sich an Sarah und begrüßte sie ebenso vollendet höflich. „Jede Freundin Miss Thorntons ist bei uns willkommen – nicht wahr, Mama?“

Cassandras Aussehen hatte Vincent angenehm überrascht. Auch ihm war aufgefallen, dass ihre Kleidung den letzten Schliff fehlen ließ. Doch sie sah so offen, gesund und freundlich aus, und ihm gefiel ihr Lächeln, das auch ihre Augen erreichte. Insgeheim hatte er gefürchtet, ihre Sorgen hätten sie verändert, doch nun bemerkte er, dass ihr Lebensmut ungebrochen war.

Lady Longbourne war lächelnd näher gekommen. „Ihr seid sehr willkommen, meine Lieben.“ Sie küsste beide Mädchen auf die Wange. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie trist es für eine Witwe allein auf dem Land sein kann. Besonders wenn einen die Gesundheit langsam im Stich lässt. Es ist mir ein Vergnügen, so reizende Gesellschaft zu haben.“

Noch während sie sprach, erkannte sie, dass die Anwesenheit der jungen Damen eine erfrischende Abwechslung für sie darstellen würde. Sie freute sich schon darauf, passende Garderobe für Cassandra auszusuchen. Dann kam ihr der Gedanke, sie würde das Mädchen nach London begleiten müssen, und sie schrak unwillkürlich davor zurück. Allerdings war es ihre Pflicht, Carltons Verlobte in der Gesellschaft bekannt zu machen. Ihr blieb nichts anderes übrig, selbst wenn sie dabei ihre Gesundheit aufs Spiel setzen sollte.

Cassandra war sofort die Mattigkeit ihrer Gastgeberin aufgefallen, ebenso die leicht herabgezogenen Mundwinkel sowie die blasse Gesichtsfarbe, die gewiss auf fehlende Bewegung und Mangel an frischer Luft zurückzuführen war.

„Es tut mir so leid zu hören, dass Sie sich unwohl fühlten, Mylady“, sagte sie. „Wie freundlich von Ihnen, uns dennoch einzuladen. Ich hoffe wirklich sehr, wir werden Ihnen nicht zu viel Mühe machen.“

„Nein, nein, gewiss können Sie nicht die geringste Mühe für mich sein. Wie oft hatte ich mir eine Tochter gewünscht. Nun darf ich mir einbilden, nicht nur eine, sondern gleich zwei Töchter gewonnen zu haben.“

„Schön gesagt, Mama“, meinte Vincent trocken. „Lassen Sie mich Ihnen versichern, Miss Thornton, Sie wurden voller Ungeduld erwartet.“

„Verzeihen Sie unsere späte Ankunft. Wir wurden für eine Stunde oder sogar länger aufgehalten, nicht wahr, Sarah?“

„Es war so schrecklich“, erzählte Sarah, wobei sie ganz ihre Zurückhaltung vergaß. „Wir trafen während der Reise auf eine Gruppe von Zigeunern, und eine der Frauen war der Ohnmacht nahe. Cassie bestand darauf, dass die Kutsche hielt, und dann nahmen wir sie mit uns …“

„Ihr habt eine Zigeunerin mitgenommen?“, rief Lady Longbourne entsetzt. „Aber sie hätte Flöhe haben können oder eine ansteckende Krankheit oder … weiß der Himmel was!“

„Bitte sorgen Sie sich nicht, Mylady“, beruhigte Cassie sie. „Sie erwartete ein Kind, und die Geburt stand offensichtlich dicht bevor. Wie sie uns sagte, versuchte sie, ein Lager zu erreichen, wo die weisen Frauen ihres Stammes sich um sie kümmern würden, und …“

Lady Longbourne schnappte hörbar nach Luft. „Meine liebe Cassandra“, unterbrach sie ihren Gast mit vor Entsetzen gesenkter Stimme. „Sie dürfen wirklich nicht so offen über solche Dinge sprechen. Besonders nicht in der Gegenwart von Herren. Man wird Sie für leichtfertig halten … oder Schlimmeres.“

„Oje.“ Cassie unterdrückte ein Lächeln. „Ich wollte Sie nicht verärgern, Mylady. Bitte setzen Sie sich doch. Sie sehen ganz schwach aus. Verzeihen Sie mir bitte meine schlechten Manieren. Ich fürchte, ich weiß nicht genau, wie man sich in guter Gesellschaft benimmt. Mein einziger Gedanke war, dass ich die arme Frau nicht einfach dort auf der Erde liegen lassen konnte und …“ Sie warf Lord Carlton einen verstohlenen Blick zu und erkannte, dass er, weit davon entfernt, schockiert zu sein, ein Lächeln zu unterdrücken versuchte. „Ich versichere Ihnen, dass wir kein Leid davongetragen haben. Nur konnte ich sie nicht einfach im Stich lassen.“

„Nein, das wäre wirklich sehr unfreundlich von Ihnen gewesen“, stimmte Vincent ihr zu. Der nachsichtige Blick, den er seiner Mutter zuwarf, zeigte Cassie, dass er in dieser Hinsicht glücklicherweise nicht so strenge Ansichten hegte wie sie.

„Vielen Dank, Mylord. Trotzdem denke ich, die arme Sarah wird sich bereits nach einem heißen Bad sehnen“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. „Nur für den Fall, dass die bedauernswerte Frau doch Flöhe hatte.“

Vincent lachte. Sein Lachen klang tief und ein wenig heiser, aufregend und gleichzeitig so ansteckend. Cassandra lächelte. Doch Lady Longbourne teilte die Belustigung ihres Sohnes offenbar nicht. Demonstrativ kehrte sie ihm den Rücken zu und wandte sich freundlich an Sarah, um ihr mitzuteilen, dass sauberes Wasser in ihrem Zimmer bereitstand.

„Ich werde Mrs. Midge bitten, Sie gleich nach oben zu begleiten. Ich kann so gut verstehen, wie sehr die Begegnung Sie aufgebracht haben muss. Nach einem schönen Bad werden Sie sich gleich besser fühlen. Sobald Sie glauben, fertig zu sein, kommen Sie beide wieder zum Tee herunter. Sie müssen ja vor Hunger sterben, da Sie Ihr Mittagsmahl verpasst haben.“

„Oh, wir waren gut vorbereitet“, meinte Cassie munter. „Janet reist nie ohne einen Korb mit Proviant, da, wie sie sagt, man nie weiß, was einem auf der Reise begegnen mag.“

„Sie ist wohl schon oft mit Ihnen gereist, nehme ich an, Miss Thornton.“

Lord Carltons Witzelei war weder besonders hilfreich, noch verdiente sie eine Antwort, also überhörte Cassie sie klugerweise einfach.

Ungerührt fuhr sie fort: „Obwohl wir das meiste davon den Begleitern der armen Frau gaben, der wir halfen, aßen wir doch jede ein Stück Pastete und einen Keks, nicht wahr, Sarah?“

„Ja, aber ich gebe zu, ich bin noch ein wenig hungrig, Cassie.“

Die Haushälterin, die inzwischen hereingekommen war, folgte Lady Longbournes Aufforderung, die beiden Damen zu ihren Zimmern zu führen. An der Tür hielt Cassie noch kurz inne und schaute zurück. Sie begegnete dem Blick Lord Carltons, und ihr Herz machte einen Sprung.

Wie unglaublich gut er doch aussah! So viel besser als in ihrer Erinnerung. Es war ein glücklicher Umstand, dass Lord Carlton seine Mutter gerade jetzt besuchte. Ein Gentleman seines Standes besaß gewiss viele Freunde. Und sollte er öffentlich zeigen, dass ich seine Billigung finde, dachte Cassie, werde ich überallhin eingeladen werden. Wenn sie nur irgendwie vor Ende der Saison nach London gelangen könnte.

Vincent, ein Weinglas in der Hand, betrachtete Cassandra gedankenverloren, während der Butler den zweiten Gang des Dinners servierte: ein sehr ordentliches Mahl für ländliche Verhältnisse – Tauben in Weinsauce, eine gebratene Poularde, Schweinebraten und dazu Erbsen und kleine in Butter geschwenkte Kartoffeln. Zum Abschluss gab es eine Quarkspeise und einige Törtchen. Vielleicht nicht ganz auf dem Niveau des französischen Kochs, den er selbst in London beschäftigte, aber doch nicht so schlecht, um Ärgernis zu erregen. Dennoch stellte Vincent fest, dass er keinen Appetit hatte.

Ihm fiel auf, dass auch Cassandra nur wenig von der Poularde und den Gemüsebeilagen kostete, die Schweinekeule und die Tauben gar nicht anrührte. Als schließlich der Nachtisch gebracht wurde, sprach sie jedoch den verschiedenen Desserts zu. Ganz offensichtlich war sie ein gesundes Mädchen mit einer lebhaften, intelligenten Art.

Er hatte Zweifel gehabt, ob er sein Versprechen Jack gegenüber würde halten können. Doch jetzt, da er sie verstohlen betrachtete, schien es ihm, als müsste er sich nicht allzu sehr dazu überwinden. Sie war nicht hübsch, da hatte seine Mutter recht behalten, aber durchaus charmant und anziehend.

In der guten Gesellschaft war es üblich, dass ein verheirateter Mann sich eine Geliebte hielt. Vielleicht würde Cassie ja damit einverstanden sein. Vincent wusste nur nicht genau, ob es das war, was er sich wirklich wünschte. Aber was wollte er dann? Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Eine Liebesheirat? So naiv, an die wahre Liebe zu glauben, konnte er doch nicht mehr sein, oder?

Cassie war sich nur allzu bewusst, dass Lord Carlton sie während des Essens beobachtete. Er aß kaum, und der nachdenkliche Ausdruck in seinen Augen stand so sehr im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten, dass es sie erstaunte. Als er sich jedoch nach dem Dinner zu den Damen gesellte, war er wieder charmant und unbekümmert.

„Möchten Sie sich vielleicht ein wenig das Haus ansehen, Miss Thornton?“, fragte er. „Es ist nicht sehr alt, also kann ich Ihnen keine Geister oder faszinierende Antiquitäten versprechen. Aber wir besitzen eine gut bestückte Bibliothek mit einer prächtigen Decke.“

„Die wird Cassandra nicht sehen wollen“, wandte seine Mama streng ein. „Du solltest ihr die Orangerie zeigen. Das wäre viel passender.“

„Es wäre mir eine Freude, mir das Haus ansehen zu dürfen, Mylord“, sagte Cassie.

„Und Sie, Miss Walker?“

Doch Sarah bat, sie zu entschuldigen, da sie Lady Longbourne versprochen hatte, am Klavier für sie zu spielen.

Cassie erhob sich und begleitete ihren Gastgeber in die Halle hinaus. Sie durchquerten einen zweiten großen Salon, in dem es außer einigen recht ungemütlich aussehenden Sofas, die alle an die Wände geschoben worden waren, keine weiteren Möbel gab.

„Hier halten wir ab und zu einen kleinen Tanzabend ab“, erklärte Vincent. „Es gibt natürlich nicht genügend Platz für einen wirklichen Ball. Deswegen dachte ich schon an einen Anbau. Das Haus meines Großvaters in Surrey hingegen ist viel größer. Ich denke, sollte ich mich auf dem Land niederlassen, dann auf dem Gut meines Großvaters.“

„Nun, ich könnte mir schon vorstellen, dass Sie auch hier gut und gern zwanzig Paare unterbringen können, wenn Sie wollen“, meinte Cassie höflich.

„Ja, vielleicht. Bisher hatte ich nicht den Wunsch, hier einen Ball abzuhalten. Das könnte sich in Zukunft natürlich ändern.“

„Ihre Gattin wird später gewiss ab und zu Gäste einladen wollen“, gab Cassie zu bedenken. „Manche Damen verlangt es häufiger nach Gesellschaft als andere. Ich nehme an, Ihre Mama lebt lieber ein wenig zurückgezogen.“

„Das stimmt. Wenn ich heirate, wird sich zweifellos einiges ändern.“

„Natürlich.“ Sie begegnete offen seinem Blick. „Sie sind es wahrscheinlich gewohnt, zu kommen und zu gehen, wie es Ihnen beliebt, ohne irgendjemandem Rechenschaft abgeben zu müssen. Ich habe die Männer schon immer um diese Freiheit beneidet.“ Sie seufzte. „Nun, eine Frau zu sein hat sicher auch seine Vorteile.“

Sie klang allerdings so zweifelnd, dass Vincent aufhorchte.

„Das stelle ich mir auch vor“, meinte er amüsiert. „Aber wie mögen diese Vorteile aussehen? Sagen Sie es mir bitte, Miss Thornton, denn ich bin nicht sicher. Und ich ahne, Sie haben über das Thema schon eingehend nachgedacht.“

„Nun, ein Vorteil ist, dass wir Frauen einfach Zuflucht zu unserer Würde nehmen und uns weigern zu antworten, wenn ein Gentleman sich entschließt, unmäßige Neugier zu zeigen.“ Cassie sah ihn belustigt an. „Ich freue mich schon darauf, die Decke in Ihrer Bibliothek zu bewundern, Mylord.“

„Hier entlang bitte“, sagte Vincent schmunzelnd. „Die Decke wurde von einem unbekannten, aber talentierten italienischen Künstler gemalt, den mein Vater unter nicht unerheblichen Kosten hierherbrachte. Ich hoffe sehr, dass sie Ihnen gefallen wird.“

Cassie folgte ihm in die beeindruckend große Bibliothek, an deren Wänden bis zur Decke reichende, geschmackvolle Bücherschränke aus dunklem Mahagoni standen. Zwei große Tische beherrschten die Mitte des Raums. Drei Ledersofas, von der Abendsonne, die durch die hohen Fenster drang, in warmes Licht getaucht, luden zum Verweilen ein. Dennoch war es vor allem die bemerkenswerte Decke, die sofort jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zog. An beiden Enden befanden sich zwei Halbkreise in einem zarten Blau, und vor diesem Hintergrund tummelten sich ein Satyr und halb nackte Nymphen, nur unzureichend von hauchdünnen Tüchern bedeckt. Den Rest des Bildes bildeten Girlanden von Trauben und Weinblättern und die dazugehörigen pausbäckigen Engelchen, die sie hielten.

„Oh“, brachte Cassie nur leise hervor. „Es ist sehr ungewöhnlich. Natürlich sehr schön, aber nicht ganz, was man erwarten würde.“

„Es ist genau das, was man von meinem Vater erwarten würde“, sagte Vincent lächelnd, als ihm klar wurde, dass Cassie sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ. „Mama findet es natürlich abscheulich. Sie hätte es am liebsten, wenn ich es übermalen ließe. Aber was man auch denken mag, es ist trotz allem ein Kunstwerk. Würden Sie mir nicht zustimmen?“

„Oh doch“, antwortete Cassie, ohne zu zögern. „Ich glaube auch nicht, dass Sie es übermalen sollten. Außerdem braucht man ja nicht hinzuschauen, wenn man nicht möchte.“

„Nein“, meinte er mit einem anerkennenden Blick. „Das braucht man nicht.“

Cassie sah sich um, entdeckte am anderen Ende eine Tür und ging darauf zu. „Und was befindet sich hinter dieser Tür, Mylord?“

„Der Billardraum. Für eine Dame nicht von Interesse, nehme ich an.“

Sie sah ihn schmunzelnd an. „Diese spezielle Dame hätte ihn aber gern gesehen. Darf ich?“

„Sehr gern.“ Er öffnete einladend die Tür und ließ Cassie eintreten.

Er folgte ihr und beobachtete, wie sie fast ehrfürchtig über die samtweiche Oberfläche des riesigen Tisches strich, der den Raum beherrschte. Einen Moment nur zögerte sie, dann suchte sie mit Sorgfalt ein Queue aus dem Gestell an der Wand aus, rieb die Spitze mit Kreide ein und betrachtete die Kugeln, die auf dem Tisch lagen.

„Darf ich?“

Er nickte und sah verblüfft zu, wie sie schnell hintereinander drei Kugeln versenkte. Als er ihr applaudierte, errötete sie und legte das Queue beiseite.

„Sie können also Billard spielen“, sagte er. „Ich vermute, Jack hat es Ihnen beigebracht.“

„Wir verbrachten viele Stunden damit, zusammen zu üben“, antwortete sie ein wenig verlegen. „Ein ungewöhnlicher Zeitvertreib für eine Dame, ich weiß. Aber für mich war es wichtig, einfach mit Jack zusammen zu sein, wenn er es mir erlaubte. Mama tadelte mich natürlich, doch manchmal war ich ein wenig eigensinnig und achtete nicht auf ihre Worte, fürchte ich.“

„Ich verstehe.“ Vincent betrachtete sie scheinbar betrübt. „Es ist natürlich ein grässlicher Fehler, Miss Thornton. Zweifellos würden Sie bei vielen Leuten Missbilligung hervorrufen, sollten Sie dieses schreckliche Laster zugeben. Ich verspreche, es Ihnen nicht zum Vorwurf zu machen.“

„Oh, ich würde nicht im Traum daran denken, es vor anderen Leuten zuzugeben“, sagte Cassie mit einem Augenzwinkern. „Und ich glaube auch nicht, dass Sie jemals das Vertrauen einer Dame enttäuschen würden.“

Vincent verbeugte sich knapp. „Sie berufen sich also auf meine Ehre als Gentleman, dass kein Wort unseres Gesprächs über meine Lippen kommt. Wirklich sehr klug.“

Cassie lachte, und Vincent fand, ihre leicht heisere, tiefe Stimme klang bezaubernd. „Das ist wohl einer jener Vorteile, von denen wir sprachen, Mylord. Meinen Sie nicht?“

Er lächelte anerkennend. „Nun gehen wir besser zu den anderen zurück, Miss Thornton. Ich habe unser kleines Tête-à-tête sehr genossen. Es war besonders aufschlussreich.“

Der Ausdruck in seinen Augen ließ Cassie erröten. Hatte sie zu viel gesagt? Sein neckender Humor hatte ihr das Gefühl gegeben, offen mit ihm reden zu können. Jetzt allerdings fragte sie sich, ob er sie vielleicht für zu locker hielt.

Zumindest hoffte sie, dass sie sich irrte. Es war wichtig, was Lord Carlton von ihr hielt, denn er und seine Mama würden ihr die Türen zur Londoner Gesellschaft öffnen.

Eine Stunde später saß Cassie allein vor der Kommode in ihrem Schlafzimmer und bürstete sich das Haar. Im Kerzenschein schimmerten ihre kastanienbraunen Locken rötlich. Sie hatte Janet zu Bett geschickt, nachdem jene ihr dabei geholfen hatte, das Kleid aufzuhaken.

Es war ein schöner Abend gewesen. Lady Longbourne hatte sich als aufmerksame Gastgeberin erwiesen, die darüber hinaus einen unwiderstehlichen Charme besaß. Sicher gefiel sie sich ein wenig zu sehr in der Rolle der armen, kranken Frau, allerdings konnte sie sehr lebhaft sein. Cassie hatte sich seit langer Zeit nicht mehr so gut unterhalten.

Aus Lord Carlton wurde sie nicht recht schlau. Sie mochte, was sie bisher von ihm gesehen hatte, glaubte aber, dass er seine wahren Gefühle hinter einer Maske der Leutseligkeit verbarg. Konnte es sein? War er wirklich so liebenswürdig, wie er schien?

Cassie blies die Kerze aus, trat ans Fenster und zog die Vorhänge leicht zurück. Es herrschte Dunkelheit, da der Mond hinter den Wolken verschwunden war, und so konnte sie nichts sehen. Seltsam unruhig wandte sie sich wieder ab und wünschte, sie hätte daran gedacht, sich ein Buch aus Lord Carltons Bibliothek mitzunehmen.

Bei dem Gedanken an den erwartungsvollen Ausdruck in seinen Augen, als sie zum ersten Mal die Decke erblickte, musste Cassie lächeln. Hatte er geglaubt, sie würde mit Entsetzen oder Verlegenheit reagieren? Nun, er war offenbar mit ihrer Haltung einverstanden gewesen. Sie hatte das Gefühl, eine Art Probe bestanden zu haben. Aber warum es Lord Carlton gefallen sollte, dass sie nicht besonders zimperlich war, konnte sie sich nicht vorstellen.

Sie musste lachen. Wie so oft ging die Fantasie mit ihr durch.

„Du biegst dir die Dinge zurecht, wie sie dir gefallen“, hatte Jack ihr einmal vorgehalten. „Das Leben ist nicht so, Cassie. Wenn du nicht aufpasst, kleine Schwester, wird man dich eines Tages sehr verletzen. Und das möchte ich nicht.“

Cassie lächelte. Sie rechnete nicht damit, von jemandem jemals wieder so sehr geliebt zu werden wie von ihrem Bruder.

Vincent stand im Garten und blickte zu Cassies Fenster hinauf. Hinter den Vorhängen war es dunkel. Sie schlief wohl bereits. Seine Erinnerung an Jacks Schwester hatte ihn nicht getäuscht. Sie war eine außergewöhnliche Frau.

Der Gedanke an Jack weckte den vertrauten Schmerz in ihm. Gütiger Himmel, würde er denn nie von dieser Tortur befreit werden?

„Ich tat, was ich für richtig hielt“, flüsterte er. „Ich wollte nicht, dass du stirbst, Jack. Vergib mir bitte … Ich wollte nicht, dass du stirbst.“

Die Erkenntnis, wie sehr Cassie an ihrem Bruder gehangen hatte, machte seine Lage nur noch schwieriger und seine Schuld drückender.

Würde er ihr je die Wahrheit gestehen können? Und wenn er es tat, würde sie ihm vergeben?

3. KAPITEL

„Und wo ist Carlton?“ La Valentina richtete mit kaum unterdrückter Ungeduld den Blick ihrer wunderschönen Augen auf Sir Harry Longbourne. „Ich habe ihn seit einer Woche nicht gesehen.“

La Valentina, eine gefeierte Opernsängerin, wurde nicht nur wegen ihrer wundervollen Stimme bewundert, sondern auch wegen ihrer exotischen Schönheit. Zahlreiche Gentlemen suchten ständig ihre Nähe, doch nur die wirklich Wohlhabenden unter ihnen konnten sich ihren extravaganten Geschmack leisten. Man munkelte, dass die Gier der Dame nach allen schönen Dingen im Leben sogar die Zügellosigkeit ihres Temperaments übertraf.

Sie war seit sechs Monaten Carltons Geliebte, zumindest behauptete man das allgemein, und manch enttäuschter Verehrer ließ durchblicken, dass in nicht allzu weiter Ferne Hochzeitsglocken läuten würden. Zwar glaubte niemand wirklich einen solchen Unsinn – ein Viscount sollte eine Opernsängerin zur Frau nehmen? Niemals! Zu sehr war Carlton sich seiner Pflicht bewusst, und auch sein Stolz verbot es ihm. Dennoch konnten die eifrigsten Klatschmäuler nicht widerstehen, ein so pikantes Gerücht in Umlauf zu bringen.

„Nun?“, drängte La Valentina. „Bekomme ich noch eine Antwort von Ihnen?“

„Die Sache ist die …“, begann Harry, hielt dann jedoch inne. Er gehörte nicht zu den vielen Verehrern dieser Dame. Da er von dem Gerücht über sie und Vincent gehört hatte, beschloss er, es gleich im Keim zu ersticken. „Vinnie ist auf dem Land, Madam. Seine zukünftige Braut ist auf Besuch bei seiner Mutter, und …“ Ihm blieb das nächste Wort buchstäblich im Hals stecken, als die Geliebte seines Bruder ihn mit finsteren Blicken bedachte.

„Soll ich das etwa so verstehen, dass Carlton zu heiraten gedenkt?“ Entsetzen und Wut spiegelten sich deutlich in ihrem Gesicht wider. Offenbar hatte sie es sich erlaubt, ein wenig an die Gerüchte über einen bevorstehenden Antrag von Vincent zu glauben.

So unbehaglich Harry auch zumute war, er würde seinen Mann stehen. „Sicher doch“, log er schamlos. „Das war schon abgemacht, als Cassandra noch ein kleines Mädchen war. Natürlich wurde es nicht öffentlich bekannt gegeben, aber die Familien waren sich einig.“

„Ach, tatsächlich?“ La Valentina schien einen Moment sprachlos zu sein. Dann nickte sie Harry nur kurz zu und segelte stolz erhobenen Hauptes majestätisch davon, direkt auf den Prinzregenten zu, der gerade angekommen war und zu ihren glühendsten Verehrern gehörte.

Flüchtig wurde Harry von Unruhe gepackt, als er sich fragte, was Vinnie wohl dazu sagen würde, wenn diese kleine Notlüge bekannt wurde. Das würde sich wohl kaum verhindern lassen. Wahrscheinlich würde er einen Kinnhaken verpasst kriegen – und von Vinnie verdrescht zu werden, der immerhin zu den wenigen sehr guten Boxern gehörte, denen sogar die Ehre zuteil wurde, gegen Gentleman Jackson höchstpersönlich in den Ring zu treten, konnte nicht gut ausgehen. Eine blutige Nase war das Mindeste, was er erwarten durfte. Harry seufzte. Verdient hätte er es ja. Was hatte ihn nur dazu veranlasst, solche Lügenmärchen in die Welt zu setzen?

In glücklicher Unkenntnis der Dinge, die sich in London abspielten, war Vincent am folgenden Morgen damit beschäftigt, seinen Gästen ein passendes Pferd zu besorgen.

„Ich weiß, dass Sie eine sehr gute Reiterin sind“, wandte er sich an Cassandra. „Jack hat oft von Ihren großartigen Sprüngen über die Zäune geschwärmt.“ Als er bemerkte, wie sie betroffen den Blick senkte, fügte er hastig hinzu: „Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht verletzen.“

„Nein, nein, das haben Sie nicht. Lange Zeit konnte ich es kaum ertragen, an Jack zu denken. Der Verlust war einfach zu überwältigend …“ Sie suchte nach den richtigen Worten. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber vor Kurzem ist Jack in gewisser Weise wieder zu mir zurückgekehrt. Er war fort, doch nun habe ich irgendwie das Gefühl, dass er mir nahe ist.“ Bei Vincents betretenem Blick errötete sie. „Sie werden denken, die Trauer hat mir den Verstand getrübt.“

„Keineswegs. Sie standen sich beide sehr nahe. Zunächst konnten Sie Ihre Trauer kaum ertragen, doch nun fangen Sie an, sich an die glücklichen Zeiten zu erinnern.“

Cassie nickte. Gewiss stimmte es, was er sagte, aber es war nicht nur das. Jeder vernünftige Mensch musste sich über sie wundern, das wusste sie. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass ihr Bruder versuchte, sich in Gedanken mit ihr in Verbindung zu setzen. Als Kind hatte sie sehr oft gespürt, wenn Jack etwas von ihr wollte, ohne dass er es ihr hatte sagen müssen. Allerdings war er damals am Leben gewesen.

Vincent wandte sich an Sarah, die an seiner anderen Seite ging. „Und Sie, Miss Walker? Reiten Sie auch so gut wie Miss Thornton?“

„Aber nein!“, rief Sarah fast entsetzt. „Im Vergleich zu Cassie bin ich eine wahre Anfängerin.“

„Dann werde ich ein sanfteres Tier für Sie aussuchen“, meinte Vincent lächelnd. „Eine solche Stute habe ich für Mama gekauft, aber sie reitet fast nie aus.“

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...
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