Historical Saison Band 46

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LADY ELEANORS VERWEGENER RETTER von PRESTON, JANICE
Eleanor Ashby in Gefahr - auf ihre Kutsche wird geschossen! Zum Glück ist ein verwegener Gentleman als Retter zur Stelle: der attraktive Matthew Damerel. Zwar überschattet ein Skandal seine Vergangenheit, aber nach einem geraubten Kuss brennt die adlige Schönheit lichterloh vor Verlangen nach ihrem nicht standesgemäßen Retter …

LADY HARRIETS HUNGRIGES HERZ von PRESTON, JANICE
Sir Benedict war ihre größte Liebe - und ihr größtes Unglück! Ihn unerwartet auf einem Ball wiederzusehen, reißt die schmerzliche Wunde in Lady Harriets Herzen auf. Aber seine sinnliche Umarmung erwidert ihr Körper mit verräterischer Sehnsucht. Als hätte er sie damals, als sie blutjung war, nicht verführt und schmählich verlassen!


  • Erscheinungstag 30.05.2017
  • Bandnummer 46
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768591
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janice Preston

HISTORICAL SAISON BAND 46

JANICE PRESTON

Lady Eleanors verwegener Retter

Verzweifelt winkend steht eine zarte Gestalt mitten auf dem Weg: Mit starker Hand zügelt Matthew sein Gespann und kommt Lady Eleanor Ashby zu Hilfe. Kurz darauf muss er der Schönheit zum zweiten Mal das Leben retten – und lässt sich zu einem glühenden Kuss hinreißen! Auch wenn er fortan um sein eigenes Geheimnis fürchten muss, das dadurch in Gefahr gerät …

Lady Harriets hungriges Herz

Lady Harriet Brierley ist durchtrieben – warum begehrt er sie dann bloß so heftig? Seine sinnlichen Gefühle für seine ehemalige Geliebte sind Sir Benedict ein Rätsel – und leider unkontrollierbar! Als er sie auf einem Maskenball im Gewand der Jagdgöttin Diana sieht, sehnt er sich fast nach einem Pfeil aus ihrem silbernen Köcher durch sein gequältes Herz …

1. KAPITEL

April 1811

Hustend und dem Ersticken nahe, rüttelte sie am Griff des Fensters, konnte es jedoch nicht öffnen. Ihre Augen tränten, und die erhitzten Holzdielen versengten ihr die Füße. In ihren Ohren dröhnte das unheilvolle Tosen des Feuers, das unten wütete. Panik erfasste sie, und sie schrie …

„Ellie, Ellie! Wach auf!“

„Was?“ Eleanor erwachte in ihrer sanft schaukelnden Kutsche. Benommen starrte sie ihre Tante Lucy, die verwitwete Marchioness of Rothley an, die sie besorgt musterte. Sie lehnte sich gegen die Rückenpolster, wobei ihr der schreckliche Traum noch lebhaft vor Augen stand.

„Du hast geschrien. Wurdest du schon wieder von diesem Albtraum geplagt?“

Eleanor holte tief Luft – frische und reine Luft. „Ja, verzeih mir, wenn ich dich erschreckt habe, Tante.“ Allmählich ging ihr Herzschlag von einem Galopp in einen Trab über. „Alles an diesem Traum erscheint so real, und ich finde darin keinen Ausweg.“

„Ich bin bloß froh, dass du dem echten Feuer entkommen bist, mein Täubchen. Ich wage gar nicht daran zu denken, was alles hätte passieren können.“

Eleanor nickte.

„Mylady?“ Tante Lucys Zofe, die auf der gegenüberliegenden Bank saß, beugte sich zu ihr vor.

„Ja, Matilda?“

„Ist es wahr, dass jemand die Bibliothek absichtlich in Brand gesteckt hat?“

„Ja“, erwiderte Eleanor einsilbig. Sie wollte das Thema nicht näher erörtern. Jemand war in tiefster Nacht in Ashby Manor, ihrem geliebten Zuhause, eingebrochen, hatte auf dem Boden der Bibliothek einen Bücherstapel errichtet und ihn in Brand gesetzt. Der ganze Ostflügel war den Flammen zum Opfer gefallen. Und all die wunderbaren Bücher!

„Das habe ich dir doch schon erzählt.“ Lizzie, ihre eigene Zofe, die ebenfalls mit in der Kutsche nach London reiste, versetzte Matilda einen Stups mit dem Ellbogen. „Wenn Lady Ashby nicht zufällig aufgewacht wäre, hätte sie …“

„Lizzie!“

Die junge Zofe blickte sie schuldbewusst an und schwieg. Eleanor musste nicht daran erinnert werden, was geschehen wäre, wenn sie in jener Nacht nicht aufgewacht wäre. Sie erschauderte, wenn sie an den schrecklichen Moment dachte, als sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers geklettert war und vergeblich mit den Zehen nach der obersten Sprosse der Leiter getastet hatte, die noch wenige Augenblicke zuvor von ihrem Stallmeister Fretwell gegen die Wand gelehnt worden war. Wenn Lizzie nicht gekommen wäre … Vor Grauen zog sich Eleanor der Magen zusammen. Lizzie hatte aus einiger Entfernung beobachtet, wie jemand Fretwell niederschlug und die Leiter umwarf.

Wer ist dieser Unbekannte? Wollte er mich wirklich umbringen?

Obgleich die männlichen Bediensteten wenig später alles abgesucht hatten, war es ihnen nicht gelungen, eine Spur des Übeltäters zu finden. Fretwell hatte ihn nicht kommen sehen, und Lizzies Beschreibung war viel zu ungenau, um weiterzuhelfen. Außerdem hatte es in der Umgebung keine weiteren Vorfälle gegeben.

„Ich hoffe, Tante Phyllis fühlt sich bei Reverend Harris wohl“, sagte Eleanor zu Tante Lucy, um das Thema zu wechseln. Phyllis, ihre Tante väterlicherseits, hatte ihr ganzes Leben lang in Ashby Manor gewohnt und sich um sie gekümmert, nachdem ihre Mutter durchgebrannt war. Eleanor erinnerte sich, dass sie damals erst elf Jahre alt gewesen war. Seit dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren war Tante Phyllis ihre Anstandsdame.

„Oh, ich habe keinen Zweifel, dass sie es in vollen Zügen genießt, Zuhörer zu haben, die ihr nicht entfliehen können“, erwiderte Tante Lucy. Eleanor wusste, dass die ältere Schwester ihrer Mutter und Tante Phyllis nichts füreinander übrighatten. „Mein Mitleid gilt dem Reverend und seiner Frau. Ich bin froh, dass Phyllis es abgelehnt hat, dich nach London zu begleiten, mein Täubchen. Ich freue mich darauf, dich zu guter Letzt doch noch unter die Haube zu bringen.“

Eleanor schüttelte lachend den Kopf. „Du weißt ganz genau, dass ich nur nach London reise, um den Bauarbeiten zu Hause zu entfliehen. Ich hege nicht den geringsten Wunsch, einen Ehemann zu finden.“ Außer ich verliebe mich in jemanden und er sich in mich, und das ist ausgesprochen unwahrscheinlich.

„Du wirst darüber anders denken, sobald du jemandem begegnest, der dein Herz höherschlagen lässt“, entgegnete Tante Lucy, und ihre dunklen Augen leuchteten.

„Du hast eine andere Auffassung von Ehe als Tante Phyllis“, sagte Eleanor. „Ihr ist nur wichtig, dass der Bewerber die entsprechende Herkunft nachweisen kann und über ein großes Vermögen verfügt.“

„Ja, aber sie muss auch nicht mit dem Mann zusammenleben. Glaub mir, es ist eine Qual, mit einem Mann verheiratet zu sein, den du nicht achten kannst oder der sogar lieblos und grausam ist.“

Die Tante verfiel in Schweigen, und Eleanor nahm an, dass sie an ihre unglückliche Ehe zurückdachte. Der verstorbene Lord Rothley war ein gewalttätiger und unberechenbarer Mensch gewesen.

„Nein, das möchte ich wirklich nicht“, stimmte ihr Eleanor zu. Sie war froh, dass Tante Lucy sie nicht zu einer Ehe drängen würde, die ihr nicht behagte.

„Wo befindet sich das Haus, das James für uns gemietet hat?“, erkundigte sich die Tante.

Eleanor nahm den Brief ihres Cousins aus dem Ridikül, glättete ihn und fuhr mit einem Finger über die Zeilen, bis sie die entsprechende Stelle fand.

„Upper Brook Street“, sagte sie. „Ich hoffe, dass es sich als geeignet erweist.“

Nachdem James von dem Feuer und ihrem Wunsch erfahren hatte, London für die Saison einen Besuch abzustatten, hatte er umgehend in ihrem Namen ein Stadthaus gemietet. Wahrscheinlich wollte er sicherstellen, dass ich nicht bei ihm wohne, dachte Eleanor naserümpfend. Gewiss hatte seine Frau Ruth ihn dazu gedrängt.

Das Verhältnis zwischen ihr und Ruth war angespannt, seit diese herausgefunden hatte, dass nicht James, sondern Eleanor den Titel und Ashby Manor erben würde. Das Baronat gehörte zu den ältesten in England und war bereits im 11. Jahrhundert an einen ihrer Vorfahren vergeben worden. Da auch weibliche Nachkommen erbberechtigt waren, war sie seit dem Tod des Vaters die rechtmäßige Baroness Ashby.

Da hat Ruth wohl voreilig geheiratet … Eleanor schmunzelte. Ihrer Meinung nach hatte Ruth es sich selbst zuzuschreiben. Schließlich konnte es ihr nicht schnell genug gehen, James’ Ehefrau zu werden. Dabei hatte sie offenbar versäumt, sich vorher zu vergewissern, ob er Aussichten auf den Titel hatte. Zum Glück habe ich Ruths Bruder Donald gerade noch rechtzeitig durchschaut, dachte Eleanor. Auch wenn sie einen Skandal verursacht hatte, als sie sich am Vorabend der Verlobung von ihm losgesagt hatte. Sofort kursierten wieder die alten Geschichten über die Schande ihrer Mutter.

Es ist das schlechte Blut deiner Mutter!, hallten Tante Phyllis’ Worte in ihren Ohren nach. Seit ihre Mutter vor vierzehn Jahren mit einem Kaufmann durchgebrannt war, hatte sie sich diesen Satz immer wieder anhören müssen. Umso entschlossener war sie, künftig niemandem den geringsten Anlass zu geben, Gerede über sie zu verbreiten. Sie versuchte, sich wieder auf Tante Lucys fröhliches Plaudern zu konzentrieren.

„Die Upper Brook Street ist wirklich eine gute Adresse“, sagte die Tante gerade. „Ich mochte es stets, zur Saison in London zu sein. Und sicherlich wirst auch du diesmal eine glücklichere Zeit haben als bei deinem Debüt. Damals warnte ich deinen Vater und diese griesgrämige Phyllis, weil ich wusste, dass du noch zu jung und schüchtern warst. Und das war auch kaum überraschend, nachdem deine Mama … Wie dem auch sei! Ich werde kein Wort mehr darüber verlieren. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf London freue, mein Schätzchen. Und deine Gesellschaft wird mir guttun. Ich habe mich in Rothley fast zu Tode gelangweilt. Schließlich bin ich noch viel zu jung, um mich in das Witwenhaus zurückzuziehen, ganz gleich, was mein ältester Sohn behauptet.“

Am späten Mittag dieses ersten Reisetages riss ein ohrenbetäubender Knall sie aus ihren Tagträumen. Die Kutsche stieß gegen etwas, geriet ins Schwanken und kippte dann sehr langsam um, bis sie krachend auf dem Boden aufschlug. Unwillkürlich hatte Eleanor die Arme um Tante Lucy geschlungen, um den Aufprall abzufedern, während sie auf die Kutschenseite fielen. Die beiden Zofen landeten unter hysterischem Kreischen in einem Gewirr aus Armen und Beinen neben ihnen.

Eleanor richtete den Oberkörper auf, wobei sie noch immer die Tante festhielt. Ihre Hüfte schmerzte.

„Oje! Wie furchtbar!“, kreischte Matilda.

„Schüsse! Straßenräuber! Wir werden alle getötet! Großer Gott, steh uns bei!“, jammerte Lizzie.

„Lizzie! Matilda!“ Eleanor hob die Stimme, um sich angesichts des Gejammers der Zofen Gehör zu verschaffen, die sich aneinanderklammerten und die Augen geschlossen hatten. „Würden Sie bitte mit diesem höllischen Lärm aufhören! Ist jemand verletzt?“

„Mein Schädel … Oh, Mylady – Blut! Ich werde verbluten!“

Eleanor drehte sich zu Lizzie um, die sich entsetzt an die Stirn fasste. Dort hatte sie eine kleine Wunde, die wie alle Kopfverletzungen stark blutete. „Unsinn, Lizzie. Bitte reißen Sie sich zusammen. Hier, nehmen Sie mein Taschentuch und drücken Sie es fest gegen die Stirn. Es ist nur eine Schramme.“

Tante Lucy hatte sich mittlerweile von ihr gelöst und sich aufgerichtet. Beruhigend redete sie auf Matilda ein.

„Ist mit dir alles in Ordnung, Tante?“

„Ich bin nur kräftig durchgeschüttelt worden, mein Schätzchen, so wie wir alle. Aber dank deiner Fürsorge habe ich keine Verletzung davongetragen. Du hast dafür gesorgt, dass ich nicht hart aufgeschlagen bin, wofür ich dir herzlich danken möchte. Und Matilda scheint auch unverletzt zu sein, sie hat nur den Schrecken noch nicht ganz verkraftet.“ Sie verzog das Gesicht, als Matilda bei der Nennung ihres Namens erneut in Schluchzen ausbrach. „Und du, Ellie?“

„Ich habe mir nur eine Prellung an der Hüfte zugezogen. Gut, dass wir uns nichts gebrochen haben.“

„Was um alles in der Welt ist eigentlich passiert?“, fragte Tante Lucy. „Ach, jetzt hören Sie endlich auf zu jammern, Matilda. Niemand hat bleibende Schäden erlitten, und wir sind alle noch am Leben.“

„Ich weiß auch nicht, was geschehen ist. Aber Lizzie scheint mir in einem Punkt recht zu haben. Es klang nach einem Schuss.“ Eleanor bemühte sich, ruhig zu klingen, um die Panik, die unter der Oberfläche lauerte, zu verbergen.

Sie blickte zu dem Fenster der rechten Tür über ihren Köpfen. Obgleich die Kutsche auf der Seite lag, bewegte sie sich noch immer ruckweise, und Eleanor hörte, wie die Männer draußen versuchten, die ängstlich wiehernden Pferde zu beruhigen. Sie stellte sich auf die linke Tür, die jetzt zum Boden geworden war. Manchmal hat es doch seine Vorteile, groß zu sein, dachte sie mit trockenem Humor, während sie mit den Händen gegen die andere Tür stieß, die sich über ihren Köpfen befand. Mit lautem Knall schlug sie auf, woraufhin die erschrockenen Pferde noch lauter wieherten. Sie zog sich am Türrahmen hoch und steckte den Kopf durch die Öffnung. Sie konnte nicht viel erkennen und rief nach den Männern. Sofort kletterte ihr Kutscher Joey auf die Seite der Kutsche.

„Joey, Gott sei Dank! Was ist passiert? Bitte helfen Sie mir hinaus.“

Sie ergriff die Hände des Kutschers, der sie nach oben zog und ihr dann hinunter auf den Boden half. Ihr stockte der Atem, als sie das Chaos vor sich erblickte.

Alle vier Pferde waren zu Boden gestürzt. Das Führungsgespann strampelte und scharrte wie wild, um wieder Halt zu finden. Dahinter auf der rechten Seite lag ein Pferd blutend unter der Achse, sein linker Gespannpartner wälzte sich halb unter ihm, verdrehte wie wild die Augen und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Fretwell bemühte sich verzweifelt, die führenden Pferde mit einem Messer vom Ledergeschirr loszuschneiden. Timothy, der Lakai, wollte die Tiere beruhigen, musste aber immer wieder den Hufen ausweichen.

Eleanor wollte den Männern zu Hilfe eilen, doch Joey hielt sie am Arm zurück.

„Wir haben gerade eine scharfe Kurve passiert, Ellie. Geh bis dahin zurück und schau, dass niemand kommt. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, ist ein Zusammenstoß mit einer anderen Kutsche.“ Vor lauter Anspannung sprach der alte Kutscher mit ihr, als ob sie noch das kleine Mädchen von früher wäre.

Eleanor blickte zurück, und erst jetzt erkannte sie, in welcher gefährlichen Lage sie sich befanden. Die Kutsche war kurz hinter einer Kurve umgekippt. Nun blockierte sie fast die ganze Straße, die zu beiden Seiten von dichtem Wald gesäumt war. Sie erschauderte, wenn sie daran dachte, was sich in diesem Wald verbergen mochte. Doch jetzt war nicht die Zeit, sich darüber Sorgen zu machen. Die Röcke gerafft, hastete Eleanor auf die Wegbiegung zu, wobei sie das Klappern von nahenden Pferdehufen vernahm.

Ihr Herz raste vor Angst. Es klang, als wären die Pferde schon auf ihrer Höhe, obgleich sie noch nicht zu sehen waren. Sie tat das Einzige, was sie noch tun konnte, um die Katastrophe zu verhindern. Sie eilte auf die Straßenmitte und winkte wild mit den Armen, als zwei schwarze Pferde, die einen Phaeton zogen, auf sie zupreschten.

Fluchend zog der Mann auf dem Sitz an den Zügeln, sodass sich der Wagen auf der Straße drehte und ruckelnd wenige Zoll von ihr entfernt zum Stillstand kam. Ihre Beine zitterten, und sie sah stumm zu, wie ein Reitknecht vom Dienersitz sprang und zu den Pferden rannte. Der Mann auf dem Vordersitz warf ihr einen wütenden Blick zu, zurrte dann die Zügel fest und sprang auf den Boden. Eleanor zuckte zusammen, als er mit grimmiger Miene auf sie zuschritt.

2. KAPITEL

Stolpernd wich Eleanor zurück, während sich der zornige Mann mit hochgezogenen Brauen über durchdringend eisblauen Augen näherte.

„Was um alles in der Welt hat Sie dazu veranlasst?“, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen. „Wollten Sie sich umbringen …“ Er sprach nicht weiter, als er die Szenerie hinter Eleanor erblickte. Er fasste sie an den Oberarmen und sah ihr ins Gesicht.

„Sind Sie verletzt?“

Eleanor schüttelte den Kopf.

„Gut. Sie müssen jetzt ganz stark bleiben. Gehen Sie zu Henry da drüben.“ Er wies auf den Reitknecht. „Sagen Sie ihm, er soll zu mir kommen und mir helfen. Währenddessen halten Sie mein Gespann fest. Sind Sie dazu in der Lage?“ Sie nickte. „Braves Mädchen.“

Entschlossen eilte er auf die umgestürzte Kutsche zu. Eleanor, die noch immer unter Schock stand, starrte ihm einen Moment hinterher. Dann schüttelte sie die Benommenheit ab und tat, was der Fremde ihr aufgetragen hatte.

Braves Mädchen? Wofür hält sich dieser Mann? Er kann nicht viel älter sein als ich!

Sie schob diese unangenehmen Gedanken beiseite. Auch wenn es demütigend war, von ihm in die Rolle der hilflosen Frau gedrängt zu werden, schien er wirklich helfen zu wollen. Wie ein Ritter in glänzender Rüstung … Diese absurde Vorstellung brachte sie beinahe zum Lächeln. Ihrer Erfahrung nach verhielten sich Männer selten ritterlich gegenüber hochgewachsenen und unabhängigen Frauen wie ihr.

Die Gegenwart des Fremden trieb die Bediensteten zu noch größerem Eifer an. Bald war das Führungsgespann befreit, sodass die vorderen Pferde aufstehen konnten. Währenddessen hielt Eleanor die prächtigen schwarzen Hengste vor dem Phaeton am Zaumzeug fest und blickte sich in der waldreichen Umgebung um. Lag dort jemand auf der Lauer?

Timothy wurde zu einem nahe gelegenen Bauernhaus geschickt, das durch die Bäume zu sehen war, um Hilfe zu holen. Das verletzte Pferd, das noch immer verzweifelt strampelte, wurde untersucht. Eine hitzige Diskussion entbrannte, bevor der Fremde dem Kutscher eine Hand auf die Schulter legte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er schob Joey sanft in ihre Richtung, während er Fretwell zunickte, der eine Pistole aus dem Fach unter dem Kutschbock zog.

Mit Tränen in den Augen sagte Joey: „Sie erschießen sie, Mädchen. Meine Bonny. Sie ist von einer Kugel getroffen worden und hat sich ein Bein gebrochen. Wir können nichts mehr tun, um sie zu retten.“

„Oh, Joey! Es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr Sie an den Pferden hängen.“ Eleanor spürte, wie auch ihr Tränen in die Augen traten. „Schauen Sie nicht hin.“ Sie ergriff seine linke Hand und zog ihn zur Seite, damit er den Blick von der grausigen Szene abwandte. Wenige Sekunden später ertönte ein Schuss, der sie beide zusammenzucken ließ. Joey seufzte.

„Das war’s dann wohl, Mädchen … Entschuldigen Sie, ich meine, Mylady.“ Er riss sich zusammen. „Es gibt noch immer drei Pferde, die mich brauchen. Ich muss zurück.“ Er wandte sich zum Gehen, hielt jedoch einen Moment inne und sah sie besorgt an. „Mylady, wer ist zu einer so niederträchtigen Tat fähig? Auf ein unschuldiges Tier zu schießen, ist schon schlimm genug, aber es hätte auch einen von uns treffen können.“

Seine Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn, als sie zusah, wie er zu den anderen Männern zurückkehrte und sie gemeinsam Bonnys Kadaver von dem Gespannpartner Joker hievten. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, als Fretwell erneut die Pistole lud und langsam die Straße entlangging, wobei er zu beiden Seiten in den Wald starrte.

Mittlerweile war Joker wieder auf den Beinen, zitterte und ließ zu, dass Joey ihn streichelte und ihm beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Henry kehrte zurück, um sich wieder um das schwarze Gespann vor dem Phaeton zu kümmern, und Eleanor begab sich zu den Männern vor der Kutsche.

Ihr entging nicht, dass der Fremde sie prüfend musterte, und auch sie versuchte unauffällig, sich ein Bild von ihm zu machen. Sein Phaeton und die Pferde waren hochwertig, doch seine Kleidung – ein Paletot, der offen über einem weiten dunkelblauen Gehrock hing, Breeches aus Wildleder und ein unordentlich gebundenes Krawattentuch – war nicht dazu geschaffen, Eindruck zu schinden. Kein Gentleman aus ihrem Bekanntenkreis hätte einen solchen Mangel an Eleganz zur Schau getragen. Seine Statur war athletisch, das Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase – vermutlich das Ergebnis eines Nasenbeinbruchs – war entgegen der Mode gebräunt, und sein kantiges Kinn ließ ihn wie einen eigensinnigen Mann erscheinen, der nicht in die Gesellschaftszimmer der feinen Kreise passte.

Zweifellos stellte er einen Respekt einflößenden Gegner dar. Gegner? Sie ärgerte sich, dass sie seit dem Brand überall eine Bedrohung witterte.

Sie hob das Kinn und erwiderte den festen Blick des Mannes. Kühl taxierte er sie mit seinen blauen Augen. Seine Züge drückten Stärke und Zielstrebigkeit aus. Einen Moment lang kniff er die Augen ein wenig zusammen, bevor er lächelte. Dieses Lächeln nahm seinem Gesicht das Furchteinflößende, und mit einem Mal verströmten seine Augen Wärme und Herzlichkeit.

„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Sir.“

Er verbeugte sich. „Es war mir ein Vergnügen, Madam.“ Sein Lächeln wurde zu einem Strahlen. „Ich habe schon lange davon geträumt, eine junge Prinzessin in Not zu retten, und jetzt …“, er wies mit einem Arm auf die Kutsche, „… ist mein Traum wahr geworden.“

Eleanor nahm an, dass er sie verspottete, doch in seinem Blick ließ sich keine Heimtücke erkennen.

„Wie dem auch sei“, sagte sie. „Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar, und es tut mir leid, dass ich beinahe ein weiteres Unglück verursacht hätte.“

„Sie haben das Richtige getan. Es hätte schlimme Folgen haben können, wenn Sie nicht so entschlossen gehandelt hätten – oder genauer gesagt, mutig.“ Sie bemerkte ein teuflisches Funkeln in seinen Augen, als er leise hinzufügte: „Oder tollkühn.“

Eleanor öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch er drehte sich gerade um, weil ein leiser Schrei aus dem Inneren der umgestürzten Kutsche erklang.

„Große Güte!“ Erst jetzt fiel Eleanor ein, dass Tante Lucy, Lizzie und Matilda noch immer in der Kutsche gefangen waren. „Darf ich Ihre Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen, Sir?“

„Wer ist denn noch in der Kutsche?“

„Meine Tante und unsere Zofen.“

Der Fremde kletterte sofort auf die Kutschenseite, kniete sich hin, zog die drei Frauen nacheinander hinaus und half ihnen behutsam auf den Boden.

Offenkundig ist er es gewohnt, das Kommando zu übernehmen, dachte Eleanor, als sie beobachtete, wie zielstrebig er zu Werke ging. Bleich und aufgewühlt stellte sich Tante Lucy zu ihr.

„Wie geht es …?“ Eleanor konnte die Frage nicht zu Ende sprechen.

„Ich frage mich, wer unser Retter ist“, unterbrach Tante Lucy sie flüsternd. „Er ist sehr attraktiv – sehr männlich, meine ich. Oder findest du etwa nicht, Ellie?“

„Pst, Tante Lucy. Er wird dich noch hören“, zischte Eleanor.

Der Fremde schritt gerade auf sie zu. Er trug keinen Hut, und ein paar helle Strähnen seines dunkelblonden Haars fielen ihm in die Stirn. Unwirsch strich er sie nach hinten.

„Ich fürchte, dass ich erneut in Ihrer Schuld stehe, Sir“, sagte Eleanor.

„Wie ich bereits versicherte, ist kein Dank nötig. Es war … ist mir ein Vergnügen. Darf ich mich vorstellen? Matthew Thomas, zu Ihren Diensten, meine Damen.“

Tante Lucy, deren kleine dunkle Augen neugierig funkelten, erwiderte: „Lady Rothley.“

Mr. Thomas verbeugte sich. „Ich fühle mich geehrt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Rothley. Und …?“

„Erlauben Sie mir, sie mit meiner Nichte Eleanor, Baroness Ashby, bekannt zu machen.“

Mr. Thomas verbeugte sich erneut. „Ich bin entzückt, Lady Ashby.“

Eleanor erkannte Bewunderung in seinem Blick. Es war, als ob ihr Inneres einen Purzelbaum schlüge. Oh ja, insgeheim stimmte sie ihrer Tante zu, dass er sehr attraktiv war. Sie wandte den Blick von Mr. Thomas zu Fretwell, der mit gerunzelter Stirn zurückkehrte.

„Fretwell, ich hoffe, Ihr Kopf hat keinen neuen Schaden genommen. Die Wunde war gerade erst verheilt.“

„Abgesehen von ein paar blauen Flecken ist mir nichts passiert, Mylady. Ich bin froh, dass keiner umgekommen ist – zumindest kein Mensch“, fügte er mit düsterer Miene hinzu.

„In der Tat hätte viel Schlimmeres passieren können …“

Fretwell warf Mr. Thomas einen misstrauischen Blick zu, bevor er leise fragte: „Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen, Mylady?“ Mit dem Kopf wies er auf die andere Seite der Straße.

Verwundert entschuldigte sich Eleanor bei Mr. Thomas und folgte dem Stallmeister. „Was ist los?“

„Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, Mylady“, sagte er. „Wir sind hier nicht sicher und wissen auch nicht, wer er eigentlich ist. Er ist sehr rasch nach dem Schuss aufgetaucht, finden Sie nicht?“

„Fretwell! Sie wollen doch nicht unterstellen, dass jemand absichtlich auf das Pferd geschossen hat, oder?“ Eleanor wies Fretwells Verdacht trotz der eigenen Zweifel von sich. „Weshalb sollte jemand …?“

„Nach dem Feuer scheint mir das hier kein Zufall zu sein.“

Der Brand … Das mittlerweile fast schon vertraute Unbehagen stellte sich wieder ein, doch sie ließ sich nichts anmerken. Es war ihre Pflicht, vor den Bediensteten Haltung zu bewahren. Wenn die Männer sie als schwache Frau betrachteten, würde der Respekt schwinden, und ihre Autorität war rasch untergraben.

„Unsinn!“, erwiderte sie. „Hier ist niemand zu sehen. Bestimmt war es nur ein verirrter Schuss eines Jägers. Und wenn Sie unterstellen wollen, dass Mr. Thomas etwas damit zu tun haben könnte, muss ich mich sehr über Sie wundern! Sonst geht doch auch nicht die Fantasie mit Ihnen durch.“

Fretwell errötete, blickte sie aber starrköpfig an. „Mylady, ich weiß, was in der Nacht des Feuers passiert ist. Das war kein Unfall, es geschah mit Absicht.“

„Schon gut, ich werde vorsichtig sein, aber bitte behalten Sie Ihre Mutmaßungen für sich. Ich möchte nicht, dass Lady Rothley Angst bekommt, und es gibt keinen Anhaltspunkt, dass Mr. Thomas in die Angelegenheit verwickelt ist.“ Sie erblickte ihren Lakaien in Begleitung eines Mannes, der zwei Zugpferde am Zügel führte. „Timothy kehrt mit Unterstützung zurück. Lassen Sie uns sehen, wie wir von hier fortkommen.“

Wie sie das mit einer beschädigten Kutsche bewerkstelligen sollten, war ihr allerdings ein Rätsel. Tante Lucy, Lizzie und die immer noch ins Taschentuch schluchzende Matilda hatten sich etwas entfernt auf einen Grashügel am Straßenrand gesetzt. Eleanor, die der Vorfall stärker in Mitleidenschaft gezogen hatte, als sie zugeben wollte, hätte sich am liebsten zu ihnen gesellt und alles Weitere den Männern überlassen.

Doch es ging um ihre Kutsche, ihre Pferde und ihre Bediensteten. Folglich trug sie die Verantwortung.

Sie begab sich zu den Männern und achtete nicht auf die verwunderten Blicke von Mr. Thomas und dem Bauern. Ihre eigenen Leute wussten nur zu gut, dass es nicht ratsam war, ihre Zuständigkeit infrage zu stellen.

Rasch wurde deutlich, dass Mr. Thomas sich nach wie vor als derjenige betrachtete, der die Anweisungen erteilte. Eleanor fand es zunächst amüsant, nur als Zuschauerin eingestuft zu werden, doch dann empörte sie sich immer mehr, als sie keinerlei Beachtung fand.

Sie trat einen Schritt vor, um ihre Autorität geltend zu machen.

3. KAPITEL

Matthew Thomas inspizierte die umgestürzte Kutsche.

„Befestigen Sie die Kette hier“, befahl er Timothy, zeigte auf eine Stelle an der Eisenfeder am hinteren Teil der Kutsche und bemühte sich, nicht auf die Baroness zu achten, der es offensichtlich in den Fingern juckte, das Kommando zu übernehmen.

„Timothy, Sie müssen die Kette weiter vorn anbringen – so weit hinten ist das sinnlos!“, erklärte sie ihrem Lakaien gebieterisch.

Matthew, der sich gerade vorgebeugt hatte, um zu überprüfen, ob die Kette gut befestigt war, hob eine Braue und sah die Baroness an.

Sie erwiderte seinen Blick mit der üblichen aristokratischen Überheblichkeit.

„Wenn die Kutsche von dort aus hochgezogen wird, wird sie sich eher drehen als sich aufrichten“, verkündete sie.

Matthew wurde wütend, wahrte jedoch die Beherrschung. Er war nicht mehr der unbändige Junge von einst.

„Wenn die andere Kette ganz vorne an der Kutsche befestigt wird, gleicht das die seitliche Bewegung aus, und wir können den Wagen mühelos aufrichten“, sagte er ruhig.

Im Grunde belustigte ihn ihre Entrüstung. Sie richtete sich kerzengerade auf, und ihre Größe war beachtlich für eine Frau. Sie war nur etwa zehn Zentimeter kleiner als er mit seiner Körpergröße von einem Meter fünfundachtzig. Ihr hellblauer Reisemantel klaffte auf und enthüllte eine feminine Figur, die er anerkennend musterte, bevor er ihr wieder in die hitzigen bernsteinfarbenen Augen blickte. Sie runzelte die Stirn und zog die dunklen Brauen zusammen.

Sein Interesse an ihr war in dem Moment geweckt worden, als er von seinem Sitz gesprungen und ihr in das bleiche Gesicht gesehen hatte. Sie war von auffälliger Attraktivität, wenn sie auch nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprach. Überdies besaß sie Courage – sich vor seine herangaloppierenden Pferde auf die Straße zu stellen, zeugte von außergewöhnlichem Mut.

Selbstverständlich konnte er ihre Schönheit bewundern und sie sogar begehren, doch dabei musste er eine Distanz wahren, als handelte es sich bei ihr um eine bezaubernde Skulptur oder ein Gemälde. Er war schon lange nicht mehr Teil der trügerischen Welt, der sie entstammte. Erneut wandte er seine Aufmerksamkeit der beschädigten Kutsche zu.

„Wir benötigen Stangen, um die Kutsche hochzuhebeln, während die Pferde ziehen“, stellte Eleanor ein paar Minuten später fest.

Matthew hielt erneut mit der Arbeit inne. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie wich zurück und sah ihn verunsichert an. Dann presste sie die Lippen zusammen und näherte sich wieder, bis sie sich beinahe Nase an Nase gegenüberstanden. War das Schneid oder nur ein angeborenes Überlegenheitsgefühl?

Er bemühte sich um einen gelassenen Tonfall und sprach sehr leise, damit keiner der Bediensteten seine Worte hören konnte. „Falls Sie unbedingt helfen möchten, schlage ich vor, dass Sie erneut meine Pferde festhalten. Dann kann Henry uns unterstützen. Außer, Sie haben ernsthaft vor, Ihre Schulter unter die Kutsche zu klemmen, wenn die Pferde zu ziehen beginnen. Bei allem Respekt scheinen Sie mir für eine derartige Tätigkeit weder körperlich geschaffen noch passend gekleidet.“

„Hm.“ Sie senkte den Blick.

„Übrigens haben Sie mit den Stangen vollkommen recht, Mylady.“ Er wies mit einem Arm auf das hintere Ende der Kutsche, wo bereits zwei stabile Stangen auf dem Boden lagen. „Wie Sie sehen, hat der Bauer an alles gedacht.“

Als sie in die angezeigte Richtung blickte, errötete sie.

„Oh.“ Sie schwieg einen Augenblick betroffen. „Das hatte ich nicht gesehen.“

Matthew bekam Gewissensbisse. Er hatte sie nicht lächerlich machen wollen. Er hätte sich nicht über ihre Arroganz ärgern sollen. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie zu der Welt gehörte, die er so verabscheute.

Nach wie vor standen sie sich dicht gegenüber, und ihr verführerischer Duft stieg ihm in die Nase – blumig und verwoben mit dem untrüglichen Aroma einer schönen Frau. Verlangen erfasste ihn, und er drehte sich rasch weg, um sich wieder dem vorliegenden Problem zu widmen.

Unter großen Mühen richteten die Männer die schwankende Kutsche auf und begutachteten das Ausmaß des Schadens. Ein Rad musste ausgetauscht werden, der Rest ließ sich mehr oder weniger gut reparieren.

„Es gibt im nächsten Dorf ’nen Stellmacher“, sagte der Bauer, der sich als Alfred Clegg vorgestellt hatte. „Ich lass ihn benachrichtigen. Die Pferde können solange auf meiner Koppel weiden. Wohin sind die Herrschaften denn unterwegs?“

„Wir haben Zimmer im White Lion in Stockport reserviert“, antwortete Eleanor, die von Henry abgelöst worden war und sich wieder zu den Männern gestellt hatte.

Der Bauer kratzte sich am Kopf und blickte gen Himmel. „Das is’ ziemlich weit weg, Madam. Außerdem wird’s sicher noch regnen.“

„Haben Sie eine Kutsche oder ein Gefährt, das wir von Ihnen mieten könnten?“

„Leider nich’, Madam. Meine Frau ist heute mit dem Gig zum Markt gefahr’n. Ich hab’ nur noch ’nen Heuwagen.“ Er blickte sie zweifelnd an. „Für Ihr Gepäck is’ das vermutlich in Ordnung, und vielleicht haben Ihre Bediensteten auch nix dagegen, aber …“ Er verfiel in Schweigen und schüttelte den Kopf. „Meine Pferde würden’s ohnehin heute nich’ bis Stockport schaffen. Sie sind stark, aber nicht schnell.“

„Ich habe für heute Abend ein Zimmer im Green Man in Ashton reserviert“, sagte Matthew. „Das liegt weit näher als Stockport, außerdem handelt es sich um einen sauberen und komfortablen Gasthof. Ich nehme an, dass sie dort noch ausreichend Zimmer für uns alle haben. Mit dem Heuwagen könnten wir problemlos das Gepäck und die Bediensteten befördern, und ich würde die beiden Damen in meiner Kutsche mitnehmen – falls sie nichts dagegen haben, ein wenig zusammenzurücken.“

Während er sprach, blickte er in die Runde. Die Mehrheit signalisierte Zustimmung, aber die Baroness sah ihn aufmüpfig an, und auch ihr Stallmeister musterte ihn mit Argwohn.

„Das scheint mir eine ausgezeichnete Ideen, Mr. Thomas. Bist du etwa nicht der Meinung, Ellie?“, mischte sich Lady Rothley ein.

Matthew erwiderte Lady Rothleys Lächeln und hoffte, dass sie nicht ahnte, wer er war. Er hatte ihre Söhne gekannt – zwei ungestüme Lebemänner –, doch der Marchioness war er zuvor nie begegnet. Es war viele Jahre her, seit er aus der Welt ausgeschlossen worden war, der diese Damen angehörten. In der Jugend hatte er seiner Mutter auffällig geähnelt, doch sein ereignisreiches Leben hatte auch sein Äußeres verändert. Er nahm an, dass die Ähnlichkeiten nicht mehr so augenscheinlich waren. Beim Gedanken an seine Mutter zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Mit einem stummen Fluch vertrieb er seine Schwäche. Seine Familie hatte nicht an seine Unschuld geglaubt. Sie hatten sogar vergessen, dass er existierte. Verbittert schob er die finsteren Erinnerungen beiseite.

„Ich würde es bevorzugen, wie geplant nach Stockport weiterzureisen, Tante“, erwiderte Eleanor. „Fretwell, Sie sollten besser hierbleiben – falls Mr. Clegg keine Einwände hat – und morgen die verbleibenden Pferde nach Hause bringen.“

Der Bauer nickte zustimmend.

Fretwell warf Matthew einen misstrauischen Blick zu. „Ich denke, ich sollte besser bei Ihnen bleiben, Mylady. Zum Schutz …“, murmelte er.

Matthew hob erstaunt die Brauen. Was war ihm hier entgangen?

„Nein, Fretwell. Ich werde meine Pläne nicht ändern. Ich miete eine andere Kutsche, die uns nach London bringt. Joey, Sie können ebenfalls hierbleiben und die Reparaturen überwachen. Ich werde Ihnen ein neues Gespann schicken, mit dem Sie uns nach London folgen können, sobald die Kutsche wieder reisetauglich ist.“

Zweifellos ist sie eine Frau, die ihre eigenen Entschlüsse fasst und ihre eigenen Wege geht, dachte Matthew, als er ihre Anweisungen hörte.

„In Ashton miete ich eine Kutsche, die uns weiter nach Stockport bringt“, fuhr sie fort. „Mr. Thomas hat ja freundlicherweise angeboten, uns bis dorthin mitzunehmen.“

Ihre unverhohlene Abneigung, einen Abend in seiner Gesellschaft zu verbringen, erzürnte Matthew. Für wen hielt sich Lady Ashby, dass sie ihn wie einen Niemand behandelte? Für einen Moment hätte er sie am liebsten auf der Straße stehen gelassen und wäre weitergefahren. Doch dann besann er sich. Die Baroness benötigte dringend eine Lektion, die sie von ihrem hohen Ross herunterbrachte.

Herausfordernd hob er eine Braue und wandte sich an Lady Rothley. „Da alle derartig durchgerüttelt wurden, scheint es mir ratsamer, Sie blieben heute Abend in Ashton, Mylady. Ich bin mir sicher, dass es Ihnen im Green Man gefallen wird und Sie einen gemütlichen Platz neben dem Kamin und ein heißes Getränk willkommen heißen.“

„Das ist eine verlockende Aussicht, Mr. Thomas“, erwiderte Lady Rothley und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

Eleanor verzog die Lippen.

„Ausgezeichnet“, sagte Matthew. „Dann ist alles geklärt. Ich bringe Sie und Ihre Nichte mit meinem Phaeton nach Ashton, und die Bediensteten und das Gepäck folgen uns mit Cleggs Heuwagen.“ Er wandte sich an Eleanor, wobei er über ihren Unmut schmunzeln musste. „Wollen wir aufbrechen, Madam?“

4. KAPITEL

Die Fahrt zum Green Man war für Eleanor nicht nur unbequem, sondern auch peinlich. Die Sitzbank des Phaetons bot eigentlich nur für zwei Reisende Platz. Zu dritt herrschte quälende Enge, und zu ihrem Verdruss half Matthew ihr zuerst auf die Sitzbank, bevor er Tante Lucy hinaufhob. Dann kletterte er auf der anderen Seite hinauf, sodass Eleanor in der Mitte zwischen den beiden eingequetscht war.

Matthew Thomas brachte sie mit seinem wissenden Lächeln, dem spöttischen Tonfall und seiner männlichen Ausstrahlung ganz durcheinander.

Während der Fahrt verhielt sich Tante Lucy ungewöhnlich schweigsam.

„Bist du sicher, dass du keine Verletzung davongetragen hast, Tante?“, erkundigte sich Eleanor besorgt.

„Ja, ganz sicher. Mach dir um mich keine Gedanken, mein Schätzchen. Ich bin nur ein wenig müde, das ist alles.“

Ermattet schloss die Tante die Augen. Eleanor drückte ihr aufmunternd die Hände. Auch sie fühlte sich erschöpft, doch der muskulöse Oberschenkel von Mr. Thomas und die Hitze, die von ihm ausging, stellten sicher, dass sie wach blieb. Sosehr sie sich auch bemühte, sich auf die Straße vor ihnen zu konzentrieren, immer wieder wanderte ihr Blick zu seinen Händen, die von abgewetzten Lederhandschuhen verhüllt waren. Er führte die Zügel mit großem Geschick, und sein prachtvolles Gespann befolgte jede Anweisung.

„Wie lange haben Sie die beiden schon?“, erkundigte sie sich, auf die samtschwarzen Pferde weisend, deren Fell in der Nachmittagssonne glänzte. „Sie wirken wie …“ Sie zögerte, erschrocken über das, was sie hatte sagen wollen. „Ich meine, dass die zwei ein ausgezeichnetes Gespann abgeben.“

„Sie wirken wie was?“

Warum hatte sie bloß nicht die Zunge im Zaum gehalten? Er starrte sie durchbohrend mit seinen blauen Augen an.

„Sehen sie etwa zu gut aus für mich? Wollten Sie das eigentlich sagen?“

Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Sie wagte es, ihn von der Seite anzublicken. „Ich wollte Sie nicht verletzen.“

„Dann ist es ja gut, nicht wahr?“

Sie nahm ihm die Worte nicht ab. Eine Zeit lang war außer den Hufschlägen nichts zu vernehmen. Eleanor biss sich auf die Unterlippe.

„Nichtsdestotrotz haben Sie recht“, sagte Matthew schließlich. „Die Tiere sind weit kostbarer als jene, die ich mir sonst leiste. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ich besitze sie erst seit gestern.“

Eleanor unterdrückte einen überraschten Ausruf. Es war kaum zu glauben, dass ein Gespann, das noch ganz neu war, den Befehlen so willig folgte. Zweifellos wusste Matthew Thomas mit Pferden umzugehen, doch schien es ihr nicht ratsam, das Lob auszusprechen. Der Mann war bereits eingebildet genug. Erneut heftete sie den Blick auf die Straße.

„Sie möchten Ihre Überraschung unbedingt verbergen, doch ich interpretiere Ihr Schweigen als Kompliment“, sagte Matthew grinsend. „Das besänftigt meinen verletzten Stolz.“

„Ganz offenkundig sind die Pferde ungewöhnlich gut geschult worden, bevor Sie sie erworben haben“, erwiderte Eleanor scharfzüngig, weil sie sich darüber ärgerte, dass er sie durchschaut hatte.

„Touché. Da haben Sie mir einen eindrucksvollen Hieb versetzt!“, rief Matthew lachend.

Eleanor hob eine Braue, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zuckten. „Falls Sie ein Kompliment verdienen, Mr. Thomas, werde ich nicht zögern, es auszusprechen. Doch bis dahin …“

Einen Moment herrschte Schweigen, dann begann Matthew erneut zu lachen. „Ihnen kann man es nur schwer recht machen“, sagte er. „Also fassen wir die Lage zusammen …“ Aus dem Augenwinkel sah Eleanor, dass er einen Blick auf Tante Lucy warf, die seit geraumer Zeit eingedöst war. „Sie haben beinahe einen schweren Unfall verursacht, indem Sie vor meinen Phaeton gelaufen sind – ein Unfall, der nur durch meine außergewöhnliche Kontrolle über die Tiere verhindert wurde. Anschließend habe ich Ihre Pferde befreit, Ihre Tante und die Zofen gerettet und geholfen, Ihre Kutsche wieder aufzurichten. Und jetzt bringe ich Sie zu einem Gasthof, in dem Sie sich von dem Schrecken erholen können. Dennoch halten Sie mich für keines Lobes wert?“ Er senkte die Stimme zu einem heiseren Flüstern ganz nah an ihrem Ohr. „Was genau muss ich tun, um Ihre Anerkennung zu erringen?“

Eleanor erschauerte wohlig, als sie seinen Atem auf dem empfindlichen Ohrläppchen und wie eine Zärtlichkeit am Hals spürte. Sie beschloss, nicht auf die Frage einzugehen.

„Haben Sie eine weite Reise vor, Sir? Ich glaube, Sie erwähnten nicht, wohin Sie unterwegs sind.“

„Nein, das habe ich vermutlich nicht getan.“

Er sprach nicht weiter, und Eleanor hob das Kinn und richtete den Blick wieder auf die Straße.

Schließlich seufzte er in übertriebener Weise. „Ich bleibe für zwei Nächte in Ashton. Anschließend reise ich nach Worcestershire, bevor ich nach London zurückkehre.“

Sie hätte ihm am liebsten weitere Fragen gestellt, zog es aber vor zu schweigen.

„Und Sie? Reisen Sie zur Saison nach London, Mylady?“

„Ja, in der Tat.“

„Verbringen Sie jede Saison in der Stadt?“

„Nein, keinesfalls.“ Ausweichend zu antworten, fiel auch ihr nicht schwer.

„Haben Sie heute eine weite Strecke zurückgelegt?“, erkundigte er sich.

„Wir sind aus Lancashire gekommen.“

„Aus dem Norden oder Süden der Grafschaft?“

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

Er lachte laut auf. „Waffenstillstand! Ich könnte dieses vergnügliche Frage-und-Antwort-Spiel endlos fortsetzen, aber anscheinend finden Sie keinen Gefallen daran. Ich werde Sie also nicht weiter mit meinen impertinenten Fragen behelligen.“

Dass er sie offenbar für humorlos hielt, versetzte Eleanor einen Stich. Sie war dieses lockere Gerede zwischen einem Mann und einer Frau nicht gewohnt. Gewiss ließ ihre Verlegenheit sie steif und unfreundlich wirken. Auch wenn sie nicht wusste, weshalb seine Meinung für sie eine Rolle spielen sollte. Ganz gleich, wie wortgewandt er sich ausdrückte, er gehörte nicht ihrem Stand an. War er ein wohlhabender Geschäftsmann oder ein Fabrikant?

Sie spürte, dass er sie beobachtete, und wagte erneut, ihn anzusehen. Seine blauen Augen wirkten nicht mehr eisig, sondern freundlich und offenherzig. Das heitere Lächeln verwandelte sein Gesicht und verlieh ihm einen anziehenden Charme. Als sie bemerkte, welche Bewunderung in seinem Blick lag, erhitzte sich ihr Blut. Sie spürte, wie sich eine verräterische Röte von ihrem Hals über die Wangen ausbreitete, und verunsichert senkte sie den Kopf.

Sie war eine unabhängige Frau – was in diesen Zeiten eine große Seltenheit war. Sie konnte frei über ihr Leben und ihr Vermögen verfügen und schuldete niemandem eine Rechtfertigung – seit ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag nicht einmal mehr den Vormündern. Mit zielstrebiger Entschlossenheit leitete sie die Verwaltung ihrer Ländereien und kümmerte sich um das Wohlergehen aller, die für sie arbeiteten. Doch so selbstsicher sie auch nach außen hin auftrat, in Gegenwart von Matthew Thomas fühlte sie sich ungeschickt wie ein junges und unerfahrenes Mädchen. Sie wusste einfach nicht, wie sie auf seinen flirtenden Tonfall reagieren sollte. Die Erfahrung mit Donald hatte sie daran zweifeln lassen, Männer angemessen beurteilen zu können und ihre Absichten zu durchschauen.

„Sofern Sie meine Anerkennung gewinnen möchten, sollten Sie sich einzig auf die Straße konzentrieren, Sir. Heute hatten wir schließlich schon genug Aufregung zu verkraften.“ Wieder blickte sie geradeaus und war erleichtert, dass The Green Man in Sicht war.

Als sie im Hof des Gasthofs anhielten, schreckte Tante Lucy mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. „Natürlich kann das ein weiterer Anschlag auf dein Leben gewesen sein, Ellie!“

5. KAPITEL

Matthew, der gerade vom Sitz springen wollte, hielt neugierig inne.

„Tante Lucy! Das ist absurd. Es muss ein Unfall gewesen sein.“

„Da kannst du dir nicht sicher sein, Ellie. Was ist mit dem Feuer im Herrenhaus? Jemand hat den Brand gelegt und abgewartet, was passieren würde. Er hat Fretwell fast den Schädel eingeschlagen, um ihn an deiner Rettung zu hindern, falls du das vergessen haben solltest!“

„Fast den Schädel eingeschlagen … Tante! Das ist wohl etwas übertrieben.“ Eleanor senkte warnend die Stimme. „Mr. Thomas hat bestimmt kein Interesse daran, diese wilden Spekulationen zu hören. Ich gehe davon aus, dass es ein Einbrecher war, und Fretwell befand sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ein Einbrecher? In der Bibliothek? Weshalb sollte ein Einbrecher absichtlich einen Stapel Bücher in Brand stecken? Du kannst das nicht einfach als Zufälligkeit abtun.“

Eleanor warf ihrer Tante einen erbosten Blick zu. Doch die alte Dame scherte sich nicht darum und fuhr fort: „Dein Schlafzimmer liegt direkt über der Bibliothek, und heute hat jemand auf deine Kutsche geschossen. Ganz gleich, welche Absicht hinter den Taten steckt, du scheinst in beiden Fällen eine Rolle zu spielen.“

„Ich glaube, du hast zu viele Schauerromane gelesen“, erwiderte Eleanor. Sie lachte, als ob sie das Geschehene auf die leichte Schulter nähme, doch Matthew war ihre gequälte Miene nicht entgangen. „So etwas passiert heutzutage nicht. Sicher stimmen Sie mir zu, nicht wahr, Mr. Thomas?“

Matthew kletterte vom Sitz. Eleanor blickte ihn fragend an und wartete offenkundig auf seine Zustimmung, doch die Geschichte interessierte ihn. Er würde sich nicht dazu drängen lassen, seine Meinung zu äußern, bevor er nicht genau wusste, was vorgefallen war.

„Bevor ich ein Urteil fälle, würde ich gern die Einzelheiten kennen, Mylady.“

Er half Eleanor vom Sitz und unterdrückte ein Grinsen, als sie errötete und ihre Hand sofort aus der seinen zog, sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte. Zweifellos war sie eine Frau mit widersprüchlichen Eigenschaften: In einem Moment spielte sie die große adlige Herrin, im nächsten wurde sie rot wie ein Schulmädchen. Von einer verheirateten Frau hätte er das nicht erwartet. Wahrscheinlich war ihr Gatte einer jener maßlos selbstherrlichen Aristokraten, die sich nicht die Mühe gaben, ihre Ehefrau zu umwerben. Dabei hätte sie es aus seiner Sicht wahrlich verdient!

„Ich denke, wir sollten darüber lieber sprechen, wenn wir unter uns sind“, fügte er hinzu und blickte in Richtung des Gastwirts, der ihnen zur Begrüßung entgegeneilte.

Eleanor drehte sich zu dem Mann um, doch Matthew kam ihr zuvor. Zwar kleidete er sich nicht wie ein Gentleman, doch seine guten Manieren – die allmählich wie aus einem langen Schlaf erwachten – geboten ihm als männlichem Begleiter, das Notwendige mit dem Wirt zu regeln.

„Guten Tag, Fairfax. Wir benötigen zwei zusätzliche Schlafzimmer für die beiden Damen und eine Unterkunft für ihre Bediensteten, die in Kürze eintreffen werden. Ich hoffe, dass Sie noch genügend Zimmer frei haben.“

Fairfax zog ein langes Gesicht. „Es tut mir leid, Sir. Ich würde gern alle unterbringen, aber mein Haus ist bis unters Dach ausgebucht.“ Mit einem Seitenblick auf die Damen fügte er leise hinzu: „Wegen des großen Faustkampfs, der morgen stattfindet, werden Sie heute nirgendwo in Ashton noch ein freies Zimmer finden.“

Matthew verfluchte sich. Er war so damit beschäftigt gewesen, die Probleme nach dem Kutschenunfall zu lösen, dass er gar nicht mehr an den Kampf gedacht hatte. Und dabei war der unerlaubte Faustkampf der Grund gewesen, weshalb er einen Umweg nach Ashton eingeplant hatte, nachdem er in Rochdale einen erfolgreichen Geschäftsabschluss getätigt hatte.

Eleanor trat einen Schritt nach vorn und unterbrach seine Überlegungen. „So wie es aussieht, müssen wir unsere Reise wohl doch fortsetzen, Mr. Thomas“, sagte sie mit unverhohlener Genugtuung und blickte ihn herausfordernd an.

Matthew verzog amüsiert die Lippen. Jetzt war sie also wieder die provokative große Dame.

Eleanor wandte sich an den Gastwirt. „Ich benötige eine Kutsche, um mit meinen Leuten nach Stockport weiterzureisen, wo wir für heute Nacht Zimmer reserviert haben. Würden Sie sich bitte darum kümmern?“

Bevor Fairfax antworten konnte, schwankte Lady Rothley leise stöhnend hin und her und hielt sich eine Hand an die Stirn. Eleanor war sofort an ihrer Seite und legte stützend einen Arm um die Taille ihrer Tante.

„Tante Lucy! Geht es dir nicht gut?“

„Ich glaube, der Schrecken sitzt mir noch immer in den Knochen, mein Schätzchen. Ich fühle mich mit einem Mal ganz schwindelig.“

„Komm, lass uns hineingehen. Du musst dich hinsetzen und dich ausruhen. Oh, was habe ich mir bloß dabei gedacht? Wie konnte ich auch nur in Erwägung ziehen, dich den Strapazen einer Weiterreise auszusetzen? Nur weiß ich nicht, was wir jetzt machen sollen, wenn es keine freien Zimmer mehr gibt …“

Ganz Gentleman, bot Matthew an: „Darf ich Ihnen vorschlagen, dass Sie das Zimmer nehmen, das für mich reserviert ist? Bestimmt treibt Fairfax auch noch Liegen für Ihre Zofen auf.“ Für ihn würde es eine längere Anreise bedeuten, um den morgigen Kampf zu sehen, doch die Unbequemlichkeit dürfte keine Rolle spielen. „Die Kutsche der beiden Damen war in einen Unfall verwickelt“, erläuterte er, an den Gastwirt gewandt.

„Selbstverständlich, Sir. Wenn es den Damen nichts ausmacht, ein Zimmer zu teilen, finden wir gewiss noch ein Eckchen für die Zofen. Die männlichen Bediensteten können oben über den Ställen schlafen. Ich nehme an, dass es ihren Ansprüchen genügt.“

„Ich werde noch heute nach Stockport weiterreisen und in einem der Zimmer nächtigen, das Sie reserviert haben. Im White Lion, nicht wahr?“, fragte Matthew nach.

Lady Rothley schien wieder munter zu werden. Mit ihrer zarten Gestalt und den glänzenden Knopfaugen erinnerte sie Matthew an einen Vogel, der einen saftigen Wurm erspäht. „Das ist eine ausgezeichnete Idee, Mr. Thomas, nicht wahr, Ellie? Ich muss gestehen, dass ich heute einfach nicht mehr weiterreisen kann.“

Eleanor drängte ihre Tante, in den Gasthof zu gehen. „Es tut mir leid, dass ich mir nicht genug Gedanken um deinen Zustand gemacht habe, Tante. Es muss ein furchtbarer Schreck für dich gewesen sein. Aber jetzt haben wir ja doch noch eine gute Lösung gefunden“, fügte sie hinzu. „Bestimmt wird es den Bediensteten ebenfalls recht sein, hier eine Pause einzulegen.“ Sie machte auf der Türschwelle halt, drehte sich zu Matthew um und streckte die rechte Hand aus. „Mr. Thomas, wir wissen Ihre Hilfe wirklich sehr zu schätzen, möchten Sie aber nicht länger aufhalten. Gewiss haben Sie eine Menge anderer Dinge zu erledigen.“

Ihre Überheblichkeit erregte seinen Zorn. Was war mit dieser Frau bloß los? Nachdem er ihr auf der Straße aus einer echten Notlage geholfen und überdies nichts weniger als sein Schlafzimmer geopfert hatte, wäre es wohl das Mindeste, dass sie ihn auf eine Erfrischung einlud.

„Ich danke Ihnen sehr, dass Sie sich darüber Sorgen machen“, erwiderte er, nicht auf die ausgestreckte Hand achtend, „aber wenn Sie sich recht erinnern, waren wir eben noch in ein Gespräch verwickelt. Ich werde bleiben, bis ich mich vergewissert habe, dass Sie und Ihre Tante nicht in Gefahr schweben.“

Lady Rothley war stehen geblieben, um seinen Worten zu lauschen. Sie blickte ihre Nichte stirnrunzelnd an. „Also wirklich, Eleanor, wie kannst du dich nur so unhöflich verhalten, nach allem, was Mr. Thomas für uns getan hat?“ Sie schenkte Matthew ein Lächeln. „Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe ausgesprochen dankbar und versichere Ihnen, dass wir beide erfreut wären, wenn Sie gemeinsam mit uns Tee trinken würden.“

Der Tadel der Tante beschämte Eleanor. „Verzeihen Sie mir, Mr. Thomas. Ich nahm an, dass Sie in Eile wären, weil Sie noch weiter bis nach Stockport reisen müssen. Selbstverständlich sollten Sie mit uns Tee trinken, wenn es Ihre Zeit erlaubt.“

Matthew musterte sie. Ihre Zerknirschung wirkte aufrichtig, doch es lagen auch Anspannung und Misstrauen in ihrem Blick.

„Meinetwegen müssen Sie sich keine Gedanken machen“, sagte er leichthin. „Es bleibt mir noch ausreichend Zeit, um vor Einbruch der Nacht nach Stockport zu gelangen.“

„Nun denn. Fairfax, würden Sie uns bitte Tee bringen lassen?“, forderte Eleanor den Gastwirt auf.

Fairfax verbeugte sich. „Natürlich, Mylady. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Sie wurden in einen kleinen, aber sauberen Privatsalon geführt. Matthew wartete ab, bis Eleanor und ihre Tante Platz genommen hatten, bevor er sich an der gegenüberliegenden Seite des Kamins auf ein kleines Sofa setzte. Wenig später brachten zwei Dienstmädchen ihnen Tee und servierten dazu dünn geschnittene Brotscheiben mit Butter und einen köstlichen Rührkuchen.

Beim Eintritt in den Privatsalon hatte Eleanor den Hut, den Reisemantel und die Handschuhe abgelegt, und Matthew holte tief Luft. Sie war sogar noch attraktiver, als er zunächst gedacht hatte: Der elfenbeinfarbene Teint ihrer glatten Haut, der noch hervorgehoben wurde, als die Hitze des Kaminfeuers ihre Wangen rosig erglühen ließen, war verlockend. Er sehnte sich danach, sie zu berühren und ihre vollen rosenfarbenen Lippen zu küssen. Sie hatte glänzendes dunkelbraunes Haar, und die Locken, die ihr Gesicht umrahmten, leuchteten im Schein der Flammen. Wie würde ihr prachtvolles Haar erst zur Geltung kommen, wenn sie die Haarnadeln löste, und es ihr offen über die Schultern fiel? Und dann ihre verführerischen Rundungen … Es war lange her, dass er sich derartig zu einer Frau hingezogen gefühlt hatte. Wenn sie sich nicht so arrogant gebärdet hätte, wäre er vermutlich in Versuchung geraten, in ihr die Frau seiner Träume zu sehen.

Vergiss deine Schwärmerei, sie ist verheiratet! Und selbst wenn sie nicht verheiratet wäre, bewegt sie sich in einer gänzlich anderen Welt als du. Du weißt nur zu gut, dass sie dir nie die geringste Beachtung geschenkt hätte, wenn die Umstände sie nicht dazu gezwungen hätten!

Matthew verdankte sein bescheidenes Vermögen seiner Arbeit als Kaufmann. In den Augen der untätigen Aristokratie war das verpönt. Nein, solche Damen wie Lady Ashby würden ihn normalerweise keines Blickes würdigen.

Er wartete, bis sich die Dienstmädchen zurückgezogen hatten, bevor er auf das Thema zu sprechen kam, das ihn nicht losließ. „Erzählen Sie mir doch bitte, was es mit dem Feuer auf sich hat, von dem Ihre Tante gesprochen hat, Mylady.“

Nach anfänglichem Zögern berichtete Eleanor von der Nacht, in der es gebrannt hatte – von dem beißenden Rauch, der sie geweckt hatte, von dem Schrecken bei dem Versuch, aus dem Fenster zu fliehen, von Fretwells rätselhafter Verletzung und der schattenhaften Gestalt seines Angreifers. Aus all dem hörte er heraus, welchen Kummer ihr der Schaden bereitete, den ihr geliebtes Zuhause genommen hatte.

Matthew fand Eleanor immer faszinierender, und gleichermaßen wuchs auch die Sorge um sie. Ihr lebhaftes Mienenspiel offenbarte die Gefühle, die für sie mit dem schrecklichen Ereignis verknüpft waren. Belustigt und schelmisch funkelten ihre Augen, als Lady Rothley die Schilderungen mit einer Auswahl der abwegigsten Geistergeschichten würzte, die unter den Bediensteten kursierten. Sie brachen alle drei in Gelächter aus, als die Tante Matildas makabere Mutmaßungen zum Besten gab, von denen selbst Eleanor zuvor kein Wort vernommen hatte. Dabei formte sich ihr verlockender Mund zu einem strahlenden Lächeln, das ihrem ohnehin attraktiven Gesicht einen geradezu unwiderstehlichen Reiz verlieh. Ihr unbefangenes und ansteckendes Lachen ließ Matthew mit einem Mal eine schreckliche Einsamkeit empfinden. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Abgesehen von seinem Geschäftspartner Benedict Poole war er von niemandem abhängig und niemand von ihm – und genau so gefiel es ihm auch. Dass er Eleanor immer mehr begehrte, geschah ebenso unwillkommen wie unerwartet. Daher versuchte er, sich allein auf den Inhalt ihrer Worte zu konzentrieren.

„In Bezug auf den Vorfall auf der Straße“, sagte sie gerade, „wissen Sie bereits, was geschehen ist. Ich nehme an, dass ein Schuss bei einer Jagd fehlgegangen ist. Unglücklicherweise traf er ein Pferd aus meinem Gespann, weshalb die Kutsche umstürzte. Auch wenn meine Tante eine lebhafte Fantasie besitzt, scheint es mir ebenso wenig ein gezielter Angriff auf mein Leben gewesen zu sein, wie es bei dem Feuer der Fall war.“

Matthew fiel auf, mit welchen Ängsten sie in Wahrheit zu kämpfen hatte, auch wenn ihn das im Grunde nichts anging. Sehr bald würde er wieder seiner eigenen Wege gehen, und angesichts seiner lüsternen Gedanken je eher, desto besser. Wahrscheinlich würde er keine der beiden Damen jemals wiedersehen.

6. KAPITEL

Eleanor entspannte sich immer mehr und vergaß das Misstrauen gegen Mr. Thomas, das Fretwell in ihr geweckt hatte. Hatte sie in ihm nicht sogar einen Ritter in glänzender Rüstung gesehen und sich insgeheim beklagt, dass einer Frau wie ihr niemals ein Mann schützend zu Hilfe eilte? Überdies stellte er sich als angenehmer Gesprächspartner heraus – zumindest wenn er sie nicht verspottete oder versuchte, mit ihr zu flirten. Wenn er sie mit seinen blauen Augen auf diese bestimmte Art und Weise betrachtete, erhitzte sich ihr Blut, und sie spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Das war ihr bei Donald nie so ergangen.

Ihre Blicke trafen sich erneut, und Eleanor kam es vor, als ob sie ein Blitz durchzucken würde. Hitze stieg ihr in die Wangen, und verwirrt starrte sie in die Flammen. „Meine Güte, das Feuer ist wirklich heiß.“

Sie klappte ihren Fächer auf und war froh, etwas zu haben, womit sie ihre Hände beschäftigen konnte. Glücklicherweise schien Tante Lucy ihre Aufgewühltheit nicht zu bemerken. Sie war voll und ganz damit beschäftigt, so viel wie möglich über ihren Retter in Erfahrung zu bringen. Matthew Thomas wich den Fragen geschickt aus, und Eleanor hörte mit stiller Belustigung zu, wie alle verbalen Manöver der Tante ins Leere liefen.

Eleanor lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, sich zu entspannen. Sie beobachtete, wie er mit einer Hand die Tasse anhob. Das war nicht die weiche, sorgsam manikürte Hand eines Gentleman, sondern eine maskuline und zupackende Hand. Er trank den Tee aus und sah ihr kurz ins Gesicht, als er sich vorbeugte, um die Tasse auf dem Tisch abzustellen – die Lippen noch feucht von der Flüssigkeit. Verlangen erfasste sie, als sie dem Klang seiner tiefen Stimme lauschte. Sie hätte ihm ewig zuhören können. Wie wundervoll es sein musste, sich an einen solchen Mann zu lehnen und die Last des Lebens zu teilen …

Kaum huschte ihr dieser Gedanke durch den Kopf, verwarf sie ihn. Sie brauchte keinen Mann zur Unterstützung. Sie hatte die drei Jahre, die seit dem Tod ihres Vaters vergangen waren, in dem Streben verbracht, gerade dies unter Beweis zu stellen. Außerdem würde sich bei ihm letztlich dasselbe herausstellen wie bei allen Männern, die ihr bisher Aufmerksamkeit geschenkt hatten – in Wahrheit waren sie nur an ihrem Vermögen interessiert.

Natürlich träumte sie davon, dass jemand ihr Herz im Sturm eroberte und ihr Liebe und ewige Treue schwor. Aber würde sie ihrem eigenen Urteil jemals trauen können?

Donald hatte sie mit seinem eifrigen Werben zum Narren gehalten, nachdem sie sich auf James’ und Ruths Hochzeit begegnet waren. Er war Offizier in der Armee und für den Fronturlaub nach Ashby gekommen. Eleanor hatte geglaubt, dass er sie liebte. Und obgleich seine Küsse sie seltsam unberührt gelassen hatten, war sie davon ausgegangen, dass ihre Zuneigung für ihn mit der Zeit wachsen würde.

Sie musterte Matthew Thomas, und wieder fühlte sie sich maßlos zu ihm hingezogen … Gewiss würde ein Kuss von einem Mann wie ihm sie nicht gleichgültig lassen.

Würde sie jemals erleben, wie es war, von einem Mann in den Armen gehalten zu werden, der sie aufrichtig liebte? Sie pries den Tag, an dem sie zufällig mitgehört hatte, wie Donald mit seiner Schwester Ruth über sie gesprochen hatte. Seine Geringschätzung ihr gegenüber war mehr als eindeutig gewesen. Er war nur an ihrer gesellschaftlichen Position und dem Reichtum interessiert, den sie von ihrem dahinsiechenden Vater erben würde. Zum Leidwesen ihres Vaters hatte sie Donald am nächsten Tag eine endgültige Absage erteilt, und es war nicht zu der geplanten Verlobung gekommen. Donald war daraufhin zu seinem Regiment zurückgekehrt. Die traurige Nachricht, dass er den Krieg nicht überlebt hatte, erreichte sie wenig später.

Ihr Vater war im darauffolgenden Frühling gestorben. Noch immer bedauerte Eleanor, dass er sich bis zu seinem Tod Sorgen um ihre Zukunft und die der Ländereien gemacht hatte.

Im Zimmer war es still geworden. Schuldbewusst zuckte Eleanor zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu.

„Sie wirkten, als ob Sie ganz in Gedanken wären.“ Matthew sah sie fragend an. „Mir scheint, dass nicht alle davon angenehm waren …“

Eleanor errötete. Tante Lucy war neben dem Kamin eingeschlafen, sodass sie im Grunde allein waren.

„Ich glaube nicht, dass es für Sie interessant ist, woran ich gedacht habe, Mr. Thomas.“

„Sie würden sich über meine Interessen wundern, Mylady“, sagte er leise, und seine Augen funkelten.

Bewunderung lag in seinem Blick. Unsicher, was sie entgegnen sollte, betrachtete Eleanor ihre Hände, die sie auf dem Schoß verschränkt hatte. Sowohl ihr Debüt als auch die Erfahrung mit Donald hatten sie gelehrt, vorsichtig zu sein und der Bewunderung von Männern keine große Bedeutung beizumessen. Viel öfter war sie geheuchelt als aufrichtig.

Matthew blickte sie noch immer an, als ob er eine Entgegnung erwartete. Die Verärgerung über seine Hartnäckigkeit gewann die Oberhand.

„Sie irren sich, Sir.“ Sie verlieh ihrer Stimme einen ausdruckslosen Ton. „Meine Gedanken waren ausgesprochen vergnüglich. Ich dachte an all die Abendkleider, Hüte und Schuhe, die ich in London kaufen werde, und an die vielen wundervollen Feste und Bälle, zu denen man mich einladen wird.“ Sie musterte ihn mit ironischen Blicken. Seine Mundwinkel zuckten, und Lachfalten bildeten sich an seinen Augenwinkeln.

„Mit anderen Worten gehen mich Ihre Gedanken nichts an. Ich werde Sie nicht weiter mit meiner Neugier quälen. Schließlich haben wir alle das Recht auf Geheimnisse. Lassen Sie uns zu den unverfänglichen Themen wechseln, die Sie zu bevorzugen scheinen. Sie erwähnten, dass Sie nicht jede Saison in London verbringen …“

Eleanor lachte, weil er sich nicht von ihr hatte täuschen lassen. Ganz offenkundig war er klug. Dieser Mann sollte sie nicht für eine geistlose Liebhaberin von Tand und Vergnügen halten – ganz gleich, was sie eben geäußert hatte.

„Ich reise nach sieben Jahren erstmals wieder nach London.“ Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie weiter: „Ich freue mich darauf. Es ist mir zu Hause ein wenig langweilig geworden, müssen Sie wissen. Eine Zeit lang in der Stadt zu leben, ist eine willkommene Abwechslung.“

Sie sah, dass er die Augen leicht zusammenkniff, während sie beinahe über die eigenen Worte strauchelte. Sie musste vorsichtiger sein, wenn sie sich keine Blöße geben wollte. Klug? Oh ja. Er ist scharfsinnig und auf beunruhigende Weise einfühlsam.

„Ich habe das große Glück, dass meine Tante mich begleitet“, fuhr sie fort. „Sie war seit vielen Jahren nicht mehr in der Stadt, doch früher war sie als gute Gastgeberin bekannt.“ Sie lächelte. „Ich nehme an, sie möchte herausfinden, ob man sich an sie erinnert.“

„Besuchen Sie in der Stadt noch andere Familienmitglieder?“

„Mein Cousin James und seine Frau Ruth leben in London. James hat freundlicherweise in meinem Namen ein Haus gemietet, sodass wir nicht gezwungen sind, bei ihm zu wohnen. Meine Familie ist nicht sehr groß. Außer James gibt es nur noch meine Cousins mütterlicherseits – Lucas und Hugo, die beiden Söhne von Tante Lucy. Lucas hält sich in Rothley auf, aber ich hoffe, dass Hugo in der Stadt ist.“

„Rothley“, sagte er. „Der Name kommt mir bekannt vor, auch wenn ich den Ort gerade nicht genau zuordnen kann.“

„Er liegt in Northumberland.“

„Und einen kälteren und trostloseren Ort können Sie sich gar nicht vorstellen“, mischte sich Tante Lucy in das Gespräch. „Auch wenn die Rauheit der Natur durchaus ihren Reiz besitzt. Aus welchem Teil des Landes kommen Sie denn, Mr. Thomas?“

7. KAPITEL

Gerissen, wie sie war, hatte Tante Lucy ihren Retter doch noch in die Enge getrieben. Eleanor konnte Matthew an den Augen ablesen, dass er nach einer ausweichenden Antwort suchte.

„Aus Worcestershire, Mylady.“

„Aha“, sagte Tante Lucy mit hörbarer Genugtuung. „Ich glaube, Sie erwähnten, Sie wären dorthin unterwegs, bevor Sie nach London zurückkehren. Besuchen Sie Ihre Familie?“

Eleanor schmunzelte, denn Matthew blickte sie fassungslos an. Offenbar war ihm gerade bewusst geworden, dass Tante Lucy jedes Wort gehört hatte, das sie auf der Fahrt zum Gasthof gewechselt hatten. Das überraschte sie nicht im Geringsten. Sie wusste, wie weit die Tante ging, um ein saftiges Häppchen Klatsch und Tratsch in Erfahrung zu bringen. Sich schlafend zu stellen, gehörte zu ihren beliebtesten Taktiken.

„Nein, ich möchte nur ein paar Lieblingsplätze aus meiner Jugend aufsuchen – um der alten Erinnerungen willen.“

„Worcestershire ist ein hübscher Landstrich. Von welcher Gegend sprachen Sie doch gleich genau?“

„In der Nähe des Städtchens Bromsgrove.“ Matthew hatte die Brauen inzwischen weit zusammengezogen. „Allerdings ist es viele Jahre her, dass ich dort gelebt habe.“

Eleanor griff ein, bevor ihre Tante so lange stocherte und bohrte, bis ihr Gegenüber ungehalten wurde. Dann war es immer noch besser, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. „Verzeihen Sie, Mr. Thomas, aber ich glaube, meine Tante möchte wissen, ob sie mit Ihrer Familie bekannt ist.“

Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Obgleich Eleanor auffiel, dass ihm die hartnäckige Nachfrage Unbehagen bereitete, ließ sie nicht locker und sah ihn fragend an.

„Ich bin ein Kaufmann“, erläuterte er an Tante Lucy gewandt. „Können Sie irgendeinen Grund ersinnen, weshalb eine Lady wie Sie meine Familie kennen sollte?“

Oh, das war schlau! Diesen Angriff hat er mit Bravour abgewehrt. „Offenkundig haben Sie eine gute Bildung genossen“, sagte Eleanor.

„Ja, meine Familie war … ist … nicht arm. Ich war in Harrow im Internat.“

Ein Klopfen an der Tür kündigte Fairfax an. „Ihre Bediensteten und das Gepäck sind eingetroffen, Myladies.“

Er verschwand, und bald erschienen Lizzie und Matilda an der Tür. Tante Lucy erhob sich vom Sessel.

„Mr. Thomas, bitte entschuldigen Sie mich. Ich bin sehr müde. Die Ereignisse des Tages haben mich ein wenig in Mitleidenschaft gezogen, und meine alten Knochen schmerzen. Da meine Zofe jetzt hier ist, um mir zu helfen, werde ich mich zurückziehen. Ich hoffe aber, dass wir uns wiedersehen. Statten Sie uns doch in der Upper Brook Street einen Besuch ab, wenn Sie wieder in die Stadt zurückkehren.“

Matthew verbeugte sich. „Das werde ich mit Vergnügen tun, Mylady, und sei es nur, um mich zu vergewissern, dass Sie und Ihre Nichte Ihr Ziel ohne weitere Zwischenfälle erreicht haben.“

Dann wandte sich Tante Lucy an Eleanor. „Ellie, würdest du bitte mit Fairfax sprechen und ein leichtes Abendessen bestellen, das später auf unser Zimmer gebracht wird? Da die Gaststube überfüllt sein wird, erscheint es mir unklug, wenn wir beide zum Essen hinuntergehen. Wir sollten keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.“ Zum Abschied lächelte sie in Matthews Richtung. „Mr. Thomas, erlauben Sie mir, Ihnen erneut meinen Dank für Ihre Hilfe auszusprechen. Ich weiß nicht, was wir ohne Sie gemacht hätten.“

Erschöpft klammerte sie sich an Matildas Arm und verließ mit ihr den Privatsalon. Lizzie wartete an der Tür, doch Eleanor winkte ab.

„Gehen Sie ruhig schon mit nach oben, Lizzie, während ich noch mit dem Gastwirt rede. Ich komme sofort nach.“

„Sie sollten uns umgehend auf das Zimmer folgen, sobald Sie mit ihm gesprochen haben, Mylady“, erwiderte Lizzie und warf Matthew einen argwöhnischen Blick zu. „In diesem Gasthof laufen ein paar fragwürdige Gestalten herum.“

Etwas Missmutiges vor sich hin murmelnd, verschwand ihre Zofe den Gang hinunter. Fretwells Verdächtigungen schienen ansteckend zu sein.

Eleanor schenkte Matthew ein verlegenes Lächeln und wollte sich von ihm verabschieden.

„Ich bedaure, dass es zwischen uns zu Unstimmigkeiten gekommen ist, Mylady“, sagte Matthew. „Wollen wir Frieden schließen? Ich habe die Einladung Ihrer Tante in die Upper Brook Street angenommen, aber ich wäre erleichtert, wenn Sie sich ebenfalls über meinen Besuch freuen würden.“

Ihr war bewusst, dass sie sich Matthew gegenüber schnippisch und überheblich verhalten hatte, doch sie wusste einfach nicht, wie sie auf seine ebenso spöttische wie charmante Art reagieren sollte. Unsicher lächelnd streckte sie die rechte Hand aus. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mr. Thomas. Ich wollte nicht undankbar erscheinen und bin auch nicht immer so streitsüchtig. Ich bin es einfach gewohnt, die Herrin im Hause zu sein, und es fällt mir schwer zuzulassen, dass andere für mich Entscheidungen fällen. Dennoch weiß ich Ihre Hilfe wirklich zu schätzen. Ich werde Sie mit Freude in unserem Haus in der Upper Brook Street willkommen heißen.“

Er ergriff ihre Hand, doch statt des Händedrucks, den sie beabsichtigt hatte, hob er ihre Finger an seinen Mund. Als er die Lippen auf ihre nackte Haut presste, fühlte sie ein Kribbeln am ganzen Körper. Sein durchdringender Blick ließ ihr Herz schneller schlagen.

Verwirrt wich sie einen Schritt zurück. Sie rang nach Luft, als er ihr folgte und sie entschlossen mit seinen blauen Augen anblickte.

„Sir … Mr. Thomas?“

Er blieb stehen, und Eleanor sah, wie seine Miene versteinerte, bevor er sich kurz verbeugte. „Ich fürchte, ich hätte fast meine guten Manieren vergessen, Mylady. Ich kann Sie nur um Verzeihung bitten und hoffe, dass Sie es mir nicht nachtragen.“

Was hatte sie getan? Als sie einander in die Augen geblickt hatten, hatte Eleanor gewollt, dass er … was tat? Sie berührte? Das schlechte Blut der Mutter …

„Da wir gerade erst Frieden geschlossen haben, würde ich mich unglaubwürdig machen, wenn ich die Feindseligkeiten so rasch wieder aufnehmen würde, Mr. Thomas. Es war ein langer und anstrengender Tag. Sollten wir es vielleicht einfach darauf schieben?“

„Sie sind äußerst großzügig. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen, aber wenn Sie gestatten, leite ich zuvor die Wünsche Ihrer Tante an Fairfax weiter. Dann können Sie gleich nach oben gehen, sonst kommt Ihre grimmige Zofe Sie bestimmt suchen.“ Er zog eine Grimasse, als ob er sich schrecklich vor der Bediensteten fürchtete.

Gegen ihren Willen musste Eleanor lachen. „Du meine Güte! Ich habe Sie nicht für einen solchen Feigling gehalten, Mr. Thomas. Lizzie hat nur ihre Pflicht getan, weil Tante Lucy zu müde war, um als Anstandsdame bei uns zu bleiben.“

Als sie ihn lachend ansah, verdunkelten sich seine Augen und funkelten verwegen. Dann blinzelte er, und es war vorbei.

„Ich hoffe, dass Sie eine ruhige Nacht haben, Mylady. Bei meiner Rückkehr in die Stadt werde ich Ihnen einen Besuch abstatten“, versprach er mit fester Stimme.

„Dann sage ich nicht ‚Leben Sie wohl‘, sondern ‚Auf Wiedersehen‘, Mr. Thomas, und ich danke Ihnen nochmals für Ihre unschätzbare Hilfe.“

„Es war mir ein Vergnügen. Bis bald.“

Er verbeugte sich und war verschwunden.

8. KAPITEL

Mitten in der Nacht wurde Matthew plötzlich von einem durchdringenden Schrei aus dem Schlaf gerissen. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu besinnen, wo er war – in einem der beiden Zimmer, die Lady Ashby für sich und ihre Tante im White Lion in Stockport reserviert hatte. Als aus dem Nachbarzimmer eine Reihe dumpfer Geräusche zu vernehmen waren, sprang er aus dem Bett. Im Dunkeln tastete er sich zur Tür.

Auf dem Gang öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite, und der Bewohner hielt einen Kerzenhalter in die Höhe und spähte hinaus. Die flackernde Flamme erhellte die mürrischen Züge eines alten Mannes im Nachtgewand, der eine Schlafmütze trug.

„Was ist los?“, grummelte er.

Matthew verlor keine Zeit mit Antworten, sondern rannte gegen die Tür des Nachbarzimmers an, bis sie aufsprang. Dabei achtete er kaum auf den Alten, der mit bebender Stimme rief: „Das ist das Zimmer meiner Jenny!“

In diesem Zimmer war es ebenso dunkel wie in seinem eigenen, und Matthew konnte nur das Keuchen von Menschen vernehmen, die anscheinend auf dem Bett kämpften. Er eilte näher und schrie: „Bringen Sie Licht!“

Als der gebrechliche Mann die Tür erreichte, wurde die Szene mit einem Mal sichtbar: Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt drehte sich um. Seine Augen funkelten durch die Löcher einer Maske. Eine Klinge blitzte auf, und Blut verteilte sich spritzend auf dem Bettlaken. Matthew sah das bleiche und schmerzverzerrte Gesicht eines völlig verstörten Mädchens, das die Augen schloss.

Matthew packte den maskierten Mann und zerrte ihn vom Bett. Dabei fiel dessen Messer zu Boden. Als der Angreifer sich auf ihn stürzte und versuchte, ihn zu erwürgen, stolperte Matthew rückwärts. Er kämpfte, und es gelang ihm, die Hände des Maskierten von seinem Hals zu lösen. Schließlich ließ der Angreifer ihn los, stieß den Alten beiseite und rannte aus der Tür. Während Matthew noch nach Atem rang, war der Übeltäter bereits außer Sichtweite. Der alte Mann im Nachtgewand – wahrscheinlich Jennys Vater – stand wie erstarrt da, den Mund vor Entsetzen geöffnet.

Als Matthew zur Tür hastete, um die Verfolgung aufzunehmen, hielt ihn ein Stöhnen zurück, das vom Bett kam. Das Opfer benötigte Hilfe. Er fand eine Kerze auf dem Kaminsims und zündete sie an. Dann ging er zu Jennys Vater, ergriff ihn an den Schultern und schüttelte ihn.

„Sir, Sie müssen jetzt stark sein.“ Er hörte, dass sich im Haus etwas regte und Stimmen laut wurden. „Finden Sie den Gastwirt und sagen Sie ihm, dass er sofort einen Arzt rufen soll. Und schicken Sie die Wirtin her.“ Er schob den alten Mann auf den Gang. „Beeilen Sie sich!“

Matthew ging auf das Bett zu. Das Mädchen lag reglos unter der Decke. Einzig ihr Gesicht, die Schultern und Arme waren sichtbar. Arme und Hände zeigten Spuren eines Kampfes. Blut floss aus den Wunden, wenn auch nicht in Strömen. Es gab also Anlass zur Hoffnung. Matthew überprüfte mit einem Finger ihren Puls. Er war zu spüren und nicht so schwach, wie er befürchtet hatte. Er hob die Kerze an. Das Blut schien ausschließlich von den Armen und Händen des Mädchens zu stammen und von einer langen, diagonalen Wunde über dem linken Schlüsselbein. An dieser Stelle war auch das Nachtgewand eingerissen. Matthew holte ein Tuch vom Waschtisch, um die Blutung zu stoppen. Jenny rührte sich nicht.

Während er sich um die Verletzungen kümmerte, wanderten seine Gedanken zurück nach Indien – zu seinem Großonkel Percy, der sich so großherzig gegenüber einem verunsicherten und gekränkten Jugendlichen verhalten hatte, der zu Unrecht aus dem Heimatland verbannt worden war. Der arme Onkel Percy starb, nachdem er bei einem Raubüberfall niedergestochen worden war. Matthew schnürte es noch immer die Kehle zu, wenn er an seine vergeblichen Bemühungen dachte, den Großonkel zu retten. Er hoffte inständig, dass Jenny keine weiteren Verletzungen erlitten hatte als die, welche er auf den ersten Blick erkennen konnte.

Er drehte sich um, als Mrs. Goody, die Frau des Gastwirts, aufgeregt in das Zimmer eilte, Jennys Vater dicht auf den Fersen.

„Du liebe Güte!“, rief sie und rang die Hände. „Was ist denn hier passiert?“

„Die junge Frau wurde angegriffen. Sie blutet an den Händen, Armen und im Halsbereich. Weitere Stichwunden konnte ich nicht feststellen.“

„Stichwunden? Meine Jenny? Oh, Jenny, Jenny, mein Liebstes …“ Der alte Mann warf sich neben dem Bett auf die Knie und ergriff Jennys linke Hand. Die Augenlider des Mädchens zuckten.

„Mein Mann lässt den Arzt holen“, sagte Mrs. Goody. Sie warf einen kurzen Blick auf Jennys Vater, beugte sich zu Matthew vor und senkte die Stimme. „Haben Sie das Mädchen überall untersucht, Sir, oder …?“

Matthew spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg. Er verstand sowohl die Frage als auch Mrs. Goodys vorsichtigen Flüsterton. Der Vater machte sich schon genug Sorgen.

„Nein“, antwortete er. „Ich habe die Decke nicht angerührt und kann nur hoffen, dass sie keine weiteren Verletzungen davongetragen hat.“

„Vielen Dank, Sir. Wir werden alles Erdenkliche für die Ärmste tun. Könnten Sie bitte meinen Mann suchen und ihn mit heißem Wasser und sauberer Bettwäsche nach oben schicken? Wenn Sie die Tür hinter sich schließen, kann ich überprüfen, ob das arme Kindchen weiteren Schaden genommen hat. Oh, ich hätte nie gedacht, dass etwas so Schreckliches bei uns passieren könnte!“

Als Matthew sich auf den Weg machte, um den Gastwirt zu finden, bekam er plötzlich weiche Knie. Du lieber Gott! Die Erkenntnis raubte ihm fast den Atem! Hätte er nicht die Unterkunft mit Eleanor und ihrer Tante getauscht, hätte nicht Jenny, sondern eine von den beiden heute Nacht dort geschlafen. Ihm wurde ganz übel, doch mit diesem schrecklichen Gedanken musste er sich später befassen.

Nachdem Matthew mit Goody gesprochen hatte, hastete er mit einem Stapel frischer Bettwäsche in das Zimmer zurück und fand Jenny wach vor. Als er eintrat, starrte sie ihn erschrocken an und klammerte sich an ihren Vater. Mrs. Goody scheuchte ihn aus dem Zimmer.

„Sie ist völlig verängstigt und wird eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen. Legen Sie sich ruhig wieder hin. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand. Sie hat Gott sei Dank keine weiteren Schäden erlitten. Sie hatte großes Glück, dass Sie ihr zu Hilfe geeilt sind.“

Autor

Janice Preston
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