Historical Saison Band 60

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

MEIN SÜNDIGER HERZENSBRECHER von HEATH, VIRGINIA
Nichts schmeckt so köstlich wie Jack Warriners Küsse! Dennoch darf Violet ihrer Sehnsucht nicht nachgeben, obwohl der verruchte Gentleman sie vor einer Zwangsehe gerettet hat. Denn ihre Familie hat ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt und Violet ist unsicher: Meint Jack es ernst mit ihr - oder ist er nur auf die Belohnung aus?

MEIN GEHEIMNISVOLLER KAVALIER von HEATH, VIRGINIA
Die strahlendblauen Augen erinnern an einen schimmernden Bergsee, sein Mund verrät Sinnlichkeit und Entschlossenheit … Ja, seit die Pfarrerstochter Cassie den attraktiven Jamie Warriner kennt, sind ihre Träume höchst unzüchtig! Nur zu gerne würde sie sich ihm leidenschaftlich hingeben. Doch Jamie hat ein dunkles Geheimnis …


  • Erscheinungstag 02.01.2019
  • Bandnummer 60
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737344
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Virginia Heath

HISTORICAL SAISON BAND 60

1. KAPITEL

1. Dezember 1813
Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr achtzehn Stunden …

Schmerzhaft drückte sich ihr die dünne Kordel in die Handgelenke. Letty versuchte es nicht zu beachten und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Umgebung. Sie öffnete ein Auge zu einem schmalen Spalt und blinzelte durch die Wimpern. Der grauhaarige Kopf des Earl of Bainbridge hing locker zur Seite und bewegte sich ein wenig bei jeder Erschütterung der Kutsche. Seine Augen waren geschlossen, das Kinn hing schlaff nach unten. Erleichtert stellte sie fest, dass er endlich eingeschlafen war. Nun riskierte sie zum ersten Mal seit fast einer Stunde, die Augen ganz zu öffnen und vorsichtig den Kopf zu heben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Draußen war es stockfinster.

Ein gutes Zeichen.

Es bedeutete nämlich, dass sie durch menschenleeres Gebiet fuhren und meilenweit von jeder Siedlung entfernt waren. Nicht einmal Sterne konnte sie sehen, also war dieser Teil der Great North Road vermutlich von Bäumen gesäumt. Außerdem war die klapprige Kutsche von Lord Bainbridge mit großer Geschwindigkeit unterwegs, ein weiterer Hinweis darauf, dass sie weit entfernt waren vom nächsten Dorf oder einem Gasthaus. Bisher war es stets auf die gleiche Weise abgelaufen: Wenn sie sich einem Gasthof näherten, klopfte der Kutscher laut auf das Dach. Dann packte der Earl sie brutal und presste ihr zusätzlich eine knotige Hand auf den ohnehin geknebelten Mund. Mit der anderen hielt er ihr drohend ein Messer an die Kehle, bis man eilig die Pferde gewechselt hatte.

Nun schlief er, aber das Messer lag immer noch locker in der Hand auf seinem Schoß. Es würde nicht viel nutzen, wenn sie den Versuch wagte, es ihm zu entringen. Ihr wichtigstes Ziel war die Flucht. Bei ihrem letzten Versuch, sich zu wehren, hatte Bainbridge sie mit dem Handrücken so heftig auf die Wange geschlagen, dass ein blutiger Abdruck seines Siegelrings zurückgeblieben war. Nun war die Stelle neben dem Knebel geschwollen und tat weh. Sie hatte eine Ohnmacht vorgetäuscht, um sich vor weiteren Schlägen zu schützen, und sich seitdem nicht mehr gerührt. Auch wenn sie sonst nicht viel damit gewonnen hatte, gab es ihr wenigstens Zeit zum Nachdenken.

So leise und vorsichtig wie möglich, setzte sie sich auf und rückte millimeterweise immer näher an die Tür heran. Wenn sie den Griff erreichte, konnte sie sich auf die Straße fallen lassen. Falls sie das überlebte, würde sich alles Weitere finden, denn einen Plan hatte sie nicht. Doch sie wollte lieber sterben, als nach Gretna Green weiterzufahren und dort Bainbridge zu heiraten.

Der Earl begann zu schnarchen. Das Geräusch war unregelmäßig, und er konnte jederzeit erwachen. Sie durfte keine Zeit verlieren. Letty streckte die gefesselten Arme aus und warf sich verzweifelt gegen den Türgriff. Wie durch eine wunderbare Fügung gelang es ihr, die Tür zu öffnen, als die Kutsche sich gerade ein wenig zur Seite neigte. Plötzlich sprang die Tür krachend auf, und Letty wurde nach draußen geschleudert.

Unwillkürlich rollte sie sich zusammen, bevor sie aufschlug, um Kopf und Glieder zu schützen. Doch trotzdem war der Aufprall stark und schmerzvoll. Sie schnappte nach Luft und konnte vor Schmerz kaum etwas sehen. Scharfkantige Steine bohrten sich ihr in die Haut, als sie sich zur Seite rollte. Schmutziges Wasser rann ihr in die Nase und die geschlossenen Augen, die davon heftig brannten. Aus der Ferne hörte sie einen gedämpften Schrei aus der Kutsche, dann quietschten laut die Bremsen.

Sie erhob sich auf die Knie und zwang ihren geschundenen Körper, sich aufzurichten und zu bewegen. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in den Schutz der dunklen Bäume. Dann rannte sie los, ohne auf die Richtung zu achten. Solange sie sich von der Straße wegbewegte, war es ihr unwichtig, wohin sie lief. Sie achtete nicht auf die Zweige, die ihr die Kleider zerfetzten, und es war ihr gleichgültig, dass es im Wald immer dunkler und bedrohlicher aussah. Nichts war so schrecklich wie der Gedanke, von diesem entsetzlichen Mann wieder eingefangen zu werden.

Hinter sich hörte sie immer noch wütend klingende Stimmen, doch je weiter sie sich entfernte, desto leiser wurden sie. Ohne nachzudenken, hinkte sie immer weiter, bis ihr die Lungen brannten und die Muskeln so wehtaten, dass sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte.

Jack hätte besser direkt nach Hause gehen sollen. Rückblickend weiß man immer alles besser. Aber es führt dazu, dass man Dinge bereut, und Jack Warriner bereute bereits genug. Was machte es schon, dass er nun nass war bis auf die Haut und kalt bis ins Mark? Im Gasthof war es schön warm gewesen, das Ale hatte geschmeckt, und er war ausnahmsweise in netter Gesellschaft gewesen. Er hatte nur auf einen Drink bleiben wollen. Nur, um den Staub der Straße aus der Kehle zu spülen und für ein paar Minuten all die Pflichten zu vergessen, die auf ihm lasteten. Danach hatte er die letzten drei Meilen nach Hause reiten wollen. Doch aus einem Drink waren drei geworden, und aus drei wurden sechs. Dann hatte der Gastwirt den Whisky hervorgeholt und irgendjemand hatte plötzlich eine Fiedel in der Hand gehabt. Bevor er sich dessen bewusst geworden war, hatte er laut mit den übrigen Gästen gesungen, mit den Füßen gestampft, in die Hände geklatscht und sich wie ein Jüngling benommen, der nicht die Last der ganzen Welt auf den Schultern trägt.

Und nun musste er für diesen seltenen Augenblick der Schwäche bezahlen. Der Regen war ungewöhnlich stark, selbst für Dezember, aber um Jacks Elend noch zu vergrößern, wurden die dicken Regentropfen vom unerbittlichen Nordostwind fast horizontal auf ihn zu gepeitscht. Direkt in sein Gesicht. Außerdem kämpfte er noch mit den unvermeidlichen Nachwirkungen von zu viel Alkohol in zu kurzer Zeit.

Zum Glück war er nur noch eine halbe Meile von zu Hause entfernt. Bald würde er sicher in dem Haus sitzen, welches sein Geld zum Frühstück verspeiste. Es war eigentlich ein stattliches Anwesen, das zu seinem vornehmen Titel gehörte. Allerdings hing es ihm auch wie ein knarrender, undichter Mühlstein um den Hals. Es war der Ort, an dem all seine Hoffnungen und Träume gnadenlos unter den schweren Stiefeln der Verantwortung zertreten wurden. Von Jahr zu Jahr versank Jack immer tiefer in Schulden. Der bloße Gedanke daran lähmte ihn und verursachte ihm leichte Übelkeit.

Vielleicht lag es aber auch an zu viel Whisky und Ale. Jack wischte sich mit dem Ärmel das tropfnasse Gesicht ab. Beinahe wäre er aus dem Sattel gestürzt, als sein Pferd sich jäh aufbäumte. Er kämpfte noch damit, das Tier wieder unter Kontrolle zu bringen, als er plötzlich die Frau sah. Geisterhaft trat sie zwischen den Bäumen hervor. Ihre Haut schimmerte gespenstisch bleich im blassen Mondlicht, und die Augen erschienen ihm riesig in ihrem Gesicht. Sie starrte ihn wortlos an. Dann floh sie, wurde allerdings am Fortkommen gehindert durch die nassen Röcke und ihr auffälliges Hinken.

In seinem durch Alkohol benebelten Zustand brauchte Jack mehrere Sekunden, bis er begriff, was er außerdem noch gesehen hatte. Einen Knebel in ihrem Mund. Gefesselte Hände. Blankes Grauen im Blick.

Sie stolperte hinkend vor ihm her auf dem schmalen holperigen Weg, der zu seinem Haus führte. Offensichtlich hatte sie Angst um ihr Leben. Wenn man ihren Zustand bedachte, hatte sie wohl nicht unrecht damit. Endlich überwand Jack seine Trunkenheit so weit, dass er sein Pferd gezielt auf sie zu lenkte.

„Miss! Warten Sie! Ich will Ihnen nichts tun.“ Der Wind riss ihm die Worte aus dem Mund.

Als er bei ihr war, beugte sich Jack tief aus dem Sattel und fasste sie am Arm. Sie drehte sich um und versuchte verzweifelt, sich aus seinem Griff zu befreien. Wie ein in die Enge gedrängtes kleines Tier suchte sie einen Ausweg.

„Ich will Ihnen nichts antun.“

Ihre Gegenwehr wurde schwächer, und er merkte, dass ihr die Kräfte schwanden. Es würde ihr nicht helfen, wenn er sie anschrie.

„Ich will Ihnen helfen“, sagte er ruhig und sah, dass sie die Augen zukniff bei seinen Worten. Zum Beweis für seine Aufrichtigkeit ließ er ihren Arm los und hielt die Hände hoch, als ergäbe er sich. Auf der Stelle versuchte sie zu entkommen, aber er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er hatte das Richtige getan, denn sie zögerte. Drehte sich um. Mit ihren großen Augen schaute sie ihn intensiv an. Sie schien tief in sein Inneres zu blicken, um herauszufinden, ob er vertrauenswürdig war. Dann verlor sie offenbar alle Kraft und Entschlossenheit und glitt zu Boden.

Gerade noch gelang es Jack, ihren Arm wieder zu ergreifen, bevor sie ganz zusammenbrach. Er musste seine gesamte, nicht unbeträchtliche Kraft aufwenden, um ihr lebloses Gewicht vor sich auf den Sattel zu ziehen. Er hielt sie schützend umfangen. Ihre feuchte Haut war eiskalt und er fragte sich, wie lange sie wohl schon hier draußen dem kalten Winterwetter ausgesetzt gewesen war. Sie fühlte sich so zerbrechlich in seinen Armen an. So kostbar.

Er versuchte, ihr den Knebel aus dem Mund zu ziehen, aber er schaffte es nicht. Vollgesogen mit Regenwasser hatte sich der Knoten noch fester zusammengezogen. Derjenige, der ihr das angetan hatte, war sehr brutal vorgegangen. Aus der Nähe sah Jack jetzt auch die Schwellungen in ihrem Gesicht. Ihre Lippe blutete und war geschwollen. Offenbar war sie misshandelt und gefesselt worden.

Sie war allein, nur mit einem beschmutzten und tropfnassen, ärmellosen Seidenkleid bekleidet, blindlings mitten in der Nacht einen einsamen Pfad entlanggestolpert. Also war sie wahrscheinlich auf der Flucht. Und das bedeutete, die Leute, die sie gefangen gehalten hatten, waren wahrscheinlich noch auf der Suche nach ihr. Diejenigen, die diese zerbrechliche Frau geschlagen und gefesselt hatten, würden vermutlich nicht so schnell aufgeben und vor nichts haltmachen, um sie wieder in die Hände zu bekommen. Wer auch immer sie war, sie brauchte seine Hilfe.

Ohne zu zögern, trieb Jack das Pferd zum Galopp an. Mit einer Hand hielt er die Zügel, mit der anderen drückte er seinen bewusstlosen Passagier an sich. Er beachtete den stechenden Wind und Regen in seinem Gesicht nicht mehr. Es war nur noch wichtig, sie nach Hause und in Sicherheit zu bringen. Markham Manor brauchte zwar dringend ein neues Dach, aber wenigstens hatten seine missliebigen Vorfahren so viel gesunden Menschenverstand gehabt, es mit einer zwanzig Fuß hohen Mauer und zwei ebenso hohen, tonnenschweren Toren zu versehen. Er hatte das Gefühl, dass die Warriners dies zum ersten Mal seit zweihundert Jahren brauchen könnten.

2. KAPITEL

Noch ein Monat, drei Tage und ungefähr sechzehn Stunden …

Jack trug den schlaffen Körper in die Eingangshalle und rief mit lauter Stimme nach seinen Brüdern. Da sie gewohnt waren, auf seinen Befehlston sofort zu reagieren, erschienen sie nacheinander auf dem Treppenabsatz. Zuerst kam Joe, der Zweitjüngste, vier Jahre jünger als Jack. Ihn wollte er besonders dringend sehen, weil er medizinische Erfahrung hatte. Sein Bruder warf nur einen Blick auf die Frau. „Ich hole meine Sachen.“ Und er verschwand wieder.

Dann kam Jacob, der Jüngste, die Treppe hinunter. Seine dunklen Haare waren zerzaust, und er rieb sich verschlafen die Augen. Dicht hinter ihm folgte Jamie, sein nächstälterer Bruder. Beide Männer eilten sofort zu Jack, als sie das Bündel in seinen Armen sahen.

„Was zum Teufel …?“

Jacob blieb auf der untersten Stufe stehen und starrte erstaunt die Frau an. Dann folgte er seinem Bruder in den großen Saal, der ihnen trotz der hohen Decken als Wohnraum diente. Jack hatte sie bereits auf ein Sofa gelegt, als Jamie endlich hinkend ankam. Bis zu seiner Verwundung war er ein hervorragender Soldat gewesen. Er erfasste die Situation sofort.

„Wo hast du sie gefunden?“

„Sie tauchte einfach so mitten auf dem Weg auf. Da war sie aber noch bei Bewusstsein.“ Er war besorgt, weil sie schon seit zwanzig Minuten ohnmächtig war. Im trüben Lampenschein hatte ihre Haut unter all dem Schmutz eine graue Färbung angenommen. Das verhieß nichts Gutes.

„Irgendwelche Hinweise darauf, wer ihr das angetan hat?“, fragte Jamie.

Jack schüttelte den Kopf. „Aber draußen wütet noch der Sturm. Wahrscheinlich hätte ich auch eine Armee nicht gehört. Sichere das Haus!“

Jamie befolgte sofort Jacks Befehl und wandte sich an Jacob. „Hol mir den Säbel und die Pistolen aus meinem Schlafzimmer und besorge dir selbst auch etwas. Wir müssen die Tore schließen.“

Die beiden Brüder waren schon gegangen, als Joe mit seiner medizinischen Ausrüstung zurückkam. Obwohl sie kein Geld gehabt hatten, um ihn dieses Jahr wieder zurück zur Universität zu schicken, hatte Joe hartnäckig weiterstudiert. Er hatte die vage Hoffnung, eines Tages doch noch seine Ausbildung zum Arzt abschließen zu können. Das war seit frühester Kindheit sein Wunsch gewesen. Es gab nichts über den menschlichen Körper, was er nicht wusste. Jack durchschnitt und entfernte vorsichtig den Knebel und die Fessel an den Handgelenken der Frau, dann kniete sich Joe neben sie, um sie zu untersuchen.

„Sie ist stark unterkühlt, Jack! Wir müssen sie unbedingt aufwärmen.“ Joe wühlte in seiner Tasche, bis er eine Schere fand, und schnitt das Kleid der Frau vom Saum nach oben auf.

„Was machst du da?“, rief Jack, dem es irgendwie übertrieben vorkam, das arme Mädchen nun auch noch auszuziehen.

„Wir müssen sie aus den nassen Kleidern holen und abtrocknen, Jack, sonst können wir sie nicht aufwärmen. Hypothermie kann tödlich enden. Hol ein paar Decken.“

Dieses Mal tat Jack, was von ihm verlangt wurde. Sein jüngerer Bruder mochte sich ihm sonst in allen anderen Angelegenheiten unterordnen, aber in dieser Situation musste er Joe vertrauen. Nur er konnte der Fremden helfen. Außerdem hatte Jack nur sehr geringe medizinische Kenntnisse. Er hatte keine Ahnung, was Hyper-Was-auch-immer bedeutete. Doch er hielt es für moralisch verwerflich, daneben zu stehen, während man sie ihrer Kleidung entledigte. Joe hatte keine Zeit verschwendet und untersuchte sie bereits, als Jack zurückkam. Den Körper seiner Patientin hatte er sorgfältig mit einem Umhang bedeckt.

„Ich glaube, dass keine Knochen gebrochen sind, obwohl man es nicht mit Sicherheit sagen kann, solange sie noch bewusstlos ist. Sie hat Schnittverletzungen und Blutergüsse am ganzen Körper, siehst du?“

Jack reichte ihm die Decken und schaute sich die unbedeckten Arme und Unterschenkel des armen Mädchens an. Sein Bruder hatte recht. Verschmutzte Schnitt- und Schürfwunden bedeckten ihre bleiche Haut. „Sieh dir diese Prellungen an.“ Joe zeigte auf den linken Arm. „Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie ist irgendwo runtergestürzt und hart auf ihrer linken Seite gelandet. Wenn man die Größe und Färbung der Prellung betrachtet, ist es ein Wunder, dass ihr Arm und das Schlüsselbein bei dem Aufprall nicht zersplittert sind. Einige Wunden sind ziemlich tief. Auch der Riss in ihrer Lippe ist schlimm. Und ihre Handgelenke sind tief aufgescheuert von der Fessel. Es sind alles üble Wunden, und sie könnten sich entzünden. Sie muss stundenlang gefesselt gewesen sein. Ich muss erst einmal alles gründlich säubern.“

Jack war zum Krankenpfleger abgestiegen. Er holte einen Eimer heißen Wassers nach dem anderen, marschierte hin und her zwischen Küche und Saal und überließ es seinem Bruder, alles Notwendige zu tun, obwohl er sich dabei überflüssig fühlte. Nachdem Joe alle Schmutzschichten entfernt hatte, stellte er erstaunt fest, es sei ein Wunder, dass die Frau nicht stärker verletzt war. Doch sie hatte immer noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt, und ihre leichenblasse Farbe war auch noch nicht von ihr gewichen. Trotz der Hitze des prasselnden Feuers, und obwohl sie unter einem Haufen Decken lag, schien ihre Kerntemperatur nicht zu steigen. Ihre geschwollenen Lippen waren immer noch bläulich verfärbt, ihre Hände und Füße kalt wie Eis.

„Sie muss stundenlang draußen in der Kälte gewesen sein, Jack. Ich bin besorgt, dass sie tatsächlich Hypothermie hat. Sie atmet nur noch sehr flach, und ihr Puls geht sehr langsam.“

„Was kann ich tun?“ Es musste einen Weg geben. Die Vorstellung, sie könnte in dieser Nacht in seinem Hause sterben, war entsetzlich, nachdem er alles getan hatte, um sie zu retten. Er hatte das blanke Grauen in ihren Augen gesehen.

„Du kannst deine Körperwärme mit ihr teilen, Jack. In der Zwischenzeit versorge ich ihre anderen Verletzungen.“

„Meine Körperwärme teilen?“ Es hörte sich abwegig an, aber Joe hatte schon früher recht behalten. „Wie genau soll ich das tun?“

„Halte sie auf deinem Schoß wie ein Kind.“ Joe fasste vorsichtig unter ihre Achseln und entblößte ihren nackten Rücken. Sie wickelten die Decke um sie wie bei einem Baby, und Jack setzte sich so hin, dass er sie auf seinem Schoß halten konnte.

Es war gut und schön, wenn Joe ihm sagte, er solle sie wie ein Kind halten. Doch es war sehr offensichtlich, dass sie kein Kind mehr war. Sie war zu groß, darum bedeckte sein Bruder ihre Beine mit Decken, um sie anzuwärmen, während Jack ihre Arme rieb, um Wärme darin zu erzeugen. Ihr Rücken und Hinterteil waren so eisig, dass er die Kälte durch die Decken und seine Kleidung hindurch spürte. Wenn sie nicht geatmet hätte, hätte er glauben können, eine Tote im Arm zu halten. Schützend drückte er sie an sich und hielt sie fest, in der Hoffnung, dass sie die dringend benötigte Wärme aufnehmen würde. Er wiegte sie, sein Bruder trocknete ihr die nassen verfilzten Haare und wickelte ihr dann auch noch eine Decke um die Schultern.

„Wenn sie wach wäre, könnte ich ihr etwas zu trinken geben. Warme Milch oder Tee würden sie von innen erwärmen.“ Erschüttert fuhr Joe mit den Händen durch seine dichten schwarzen Haare. „Ich gehe kurz in die Küche. Vielleicht könnte ich versuchen, ihr mit dem Löffel etwas einzuflößen. Was meinst du?“

Jack zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, was man noch tun konnte. Außerdem befand er sich unter dem Mädchen und konnte seinem Bruder schwerlich helfen. Dieser hilflose Zustand gefiel ihm gar nicht. Er hasste es, sich nutzlos zu fühlen. Normalerweise hatte er immer alles unter Kontrolle. Und nun konnte er nichts anderes tun, als sie in den Armen zu halten und ihr Gesicht nach Anzeichen abzusuchen, dass sie noch lebte. Während er darauf wartete, dass Joe aus der Küche kam, kehrten seine beiden anderen Brüder zurück. Sie sahen aus, als wären sie gerade in einem Hurrikan unterwegs gewesen.

„Nur ein Irrer ist bei diesem Wetter draußen!“, sagte Jamie und schüttelte den Regen ab. „Aber die Tore sind verriegelt und wir haben niemanden auf der Straße gesehen. Wenn jemand hier auftaucht, werden wir abstreiten, je von deiner geheimnisvollen Maid gehört zu haben, bevor wir nicht wissen, was zum Teufel eigentlich hier los ist. Wie geht es ihr?“ Er humpelte, offenbar unter Schmerzen, zum Sofa und schaute auf das stille Bündel in Jacks Armen.

„Joe hat sie, so gut wie unter diesen Umständen möglich, zusammengeflickt. Nun müssen wir sie aufwärmen.“

Jamies Kommentar war nicht sehr aufbauend. „Ich habe viele Männer sterben sehen, nachdem sie den Elementen ausgesetzt waren. Wenn sie aufhören zu zittern, muss man sich wirklich Sorgen machen. Zittert sie?“

Sie tat es nicht. Jack wollte nicht darüber nachdenken, was dies bedeutete. „Sie wird nicht sterben!“ Nicht, wenn er es verhindern konnte. „Joe holt gerade warme Milch.“ Als wäre Milch eine magische Medizin, von der bislang noch niemand gehört hatte, und die auf wunderbare Weise ein armes, halb erfrorenes Mädchen retten konnte. Sie war so still und so erschreckend bleich, dass sie aussah, als wäre ihre Haut aus Alabaster. Er musste an die Angst in ihren großen Augen denken, als sie ihm begegnet war. Hoffentlich waren diese schrecklichen Minuten nicht die letzten, an die sie sich erinnern würde. „Ich kenne nicht einmal ihren Namen.“

Jacob hatte bisher noch nichts gesagt. Nun ging er zu dem Haufen ihrer nassen Kleider auf dem Boden und begann sie zu durchsuchen.

„Sie war doch nicht in der Armee, du Trottel“, sagte Jamie abfällig. „Ich glaube nicht, dass Rang, Nachname und Nummer in ihren Unterröcken steht.“

„Du würdest staunen, was Ladys alles in den Unterröcken aufbewahren.“ Jacob schaute nicht auf. „Obwohl – um das zu wissen, müsstest du wissen, wie man Ladys bezaubert, Jamie, und das tust du nicht.“ Er hockte sich hin und wedelte triumphierend mit einem kleinen Stück bestickten Stoffes. „Ich hingegen bin sehr charmant. Sie heißt Letty.“ Er knüllte das feuchte Tuch zusammen und warf es Jamie an den Kopf. „So steht es auf ihrem Taschentuch.“

Jack streichelte ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Wange und beschwor sie aufzuwachen. „Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?“

Letty. Letty. Liebes, kannst du mich hören?

Sie erkannte die melodische Stimme nicht, aber sie klang beruhigend, obwohl sie einem Fremden gehörte. Es war nicht Bainbridge und auch nicht ihr Onkel. Das allein zählte. Letty versuchte, die Augen zu öffnen, aber ihre Lider gehorchten ihr nicht. Sie war so unglaublich müde. So müde, dass sie keine Kraft hatte, Furcht zu empfinden. Etwas zog sie nach oben zu einem Ort, den sie erreichen wollte, aber etwas, jemand, hielt sie zurück und ließ nicht zu, dass sie davonschwebte. Sie war eingesponnen wie in einen Kokon, nicht eingekerkert. In Sicherheit.

Sie spürte, dass ihr etwas Warmes die Kehle hinabrann. Sie schmeckte es nicht. Starke Arme hielten sie. Mehr von der warmen Flüssigkeit. Letty. Versuche zu schlucken, Liebes. Liebes? Das klang schön. Noch nie hatte jemand sie so genannt. Wir müssen dich aufwärmen. Nun fiel ihr auf, dass ihr kalt war. So kalt, dass ihr ganzer Körper schmerzte. Nicht überraschend nach allem, was ihr zugestoßen war. Bainbridge. Die Kutsche. Der Wald.

Angst stieg in ihr auf. Hatten sie sie gefunden? Sie zwang sich, die Augen zu öffnen und blickte in tiefblaue Augen. Du bist in Sicherheit, Letty. Schöne Augen. Besorgt blickende Augen. Beruhigende Augen. Ich kümmere mich um dich, Liebes, das verspreche ich dir. Die tiefe melodische Stimme sprach ihr direkt ins Ohr. Sie seufzte. Mehr Kraft hatte sie nicht, und ihre Augenlider fielen wieder zu. Der quälende Knebel war weg. Und er hielt sie fest.

Es gab schlimmere Wege abzutreten.

3. KAPITEL

Noch ein Monat und ein Tag …

Letty hatte im Traum das Gefühl zu fallen. Mit einem Ruck wachte sie auf und brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Es war heller Tag. Zwei Paar sehr ähnlich aussehender Augen schauten auf sie herab. Sie bekam Angst und wollte schreien, aber es kam nur ein erstickt klingendes Wimmern aus ihrem Mund.

„Sch-sch …“, sagte das eine Augenpaar freundlich. „Alles in Ordnung. Sie sind hier in Sicherheit.“

Das Gesicht konnte sie nur unscharf erkennen. Dunkle Haare. Lächeln. Daneben stand ein Mann, der ihm auffallend ähnelte. Sie waren ganz sicher verwandt. Das gleiche dunkle Haar, die gleichen tiefblauen Augen, doch er sah sie offenbar missbilligend an. Diese Augen erkannte sie.

„Mein Bruder hat Sie draußen gefunden und gerettet“, sagte der lächelnde Mann und streichelte eine ihrer Hände. „Sie hatten hohes Fieber und viele Verletzungen, aber wie durch ein Wunder haben Sie sich schnell und gut erholt. Nun brauchen Sie nur noch Ruhe. Geben Sie Ihrem Körper Zeit zu heilen. In wenigen Tagen werden Sie wieder ganz gesund sein.“

Letty wollte sprechen, um zu fragen, wo sie war. Ihr Mund fühlte sich jedoch an, als wäre er mit Watte gefüllt, und sie konnte die Zunge nicht bewegen. Sie schaute zu dem stirnrunzelnden Mann, aber er schaute weiter mürrisch drein, bis der lächelnde Mann ihm einen Stoß in die Rippen gab. Nun schien er sich auch zum Lächeln zu zwingen, allerdings erreichte es nicht seine Augen. Letty wusste nicht recht, ob er mitleidig war oder ärgerlich.

„Warum sind Sie gefesselt im Wald herumgeirrt?“ Er schaute sie fragend an.

Doch ihre dumme Zunge gehorchte ihr immer noch nicht, und sie brachte nur ein unverständliches Gurgeln hervor.

„Lass sie in Ruhe, Jack. Du kannst das arme Mädchen verhören, wenn es ihr besser geht.“

Verhören? Waren diese Männer etwa auch ihre Feinde? Sie kannte keinen von beiden – doch das bedeutete nicht, dass sie nicht für einen ihrer Feinde arbeiteten.

„Hier, Letty, nehmen Sie diese Medizin. Sie wird Ihnen helfen zu schlafen.“

Sie konnte sich nicht wehren, als der Löffel ihr gegen die Lippen gedrückt wurde, aber sie erkannte den bitteren Geschmack der Flüssigkeit. Laudanum. Das hatte ihr Onkel ihr auch gewaltsam eingeflößt. Letty wehrte sich nach Kräften. Zu ihrem Erstaunen kam ihr der missmutige Mann zu Hilfe. Derjenige mit den wohlbekannten tiefblauen Augen.

„Lass es sein, Joe. Wenn sie es nicht will, solltest du sie nicht dazu zwingen“, sagte er im Befehlston.

Sofort zog sich der junge Mann zurück, aber er machte ein besorgtes Gesicht. „Ich will ihr nur die Schmerzen ersparen, Jack. Sie braucht Schlaf.“

Offenbar waren aber bereits genügend Tropfen der Flüssigkeit in ihre Blutbahn gelangt, denn plötzlich wurden ihr die Augenlider sehr schwer. Sie spürte wieder eine Hand auf ihrem Gesicht, und sie wusste sofort, wessen Hand es war. Sie mochte die Berührung dieses Mannes.

„Braves Mädchen. Schließe die Augen, Liebes. Alles kommt in Ordnung …“

Als die das nächste Mal erwachte, war es immer noch dunkel im Zimmer, aber sie konnte trotzdem ein wenig sehen. Allerdings war es immer noch ein Problem, die Augen zu öffnen. Das linke Lid wollte nicht aufgehen. Das Zimmer war ihr fremd, aber das Bett war warm und bequem. Und jeder Knochen im Leib tat ihr verteufelt weh.

Die einzige Beleuchtung im Raum kam von der einzelnen Kerze auf dem Nachtschränkchen und vom Mondlicht, das durch die vorhanglosen Fensterscheiben schien. Letty testete ihre Arme und stellte fest, dass sie sie wieder bewegen konnte. Doch deutliche Verletzungen an den Handgelenken bereiteten ihr noch Schmerzen. Mit der rechten Hand befühlte sie den linken Arm und stellte fest, dass sie einen Verband am Handgelenk trug und einen weiteren am Oberarm. Als sie sich aufsetzen wollte, begann sich alles um sie zu drehen und ihr Kopf schmerzte noch mehr.

Letty betastete ihr Gesicht und die geschwollene Lippe. Alles war noch druckempfindlich, obwohl die Verletzung von Bainbridges Siegelring inzwischen fast verheilt war. Also musste sie viele Stunden geschlafen haben. Oder sogar Tage? Sie ertastete eine Schwellung, die heiß war und wehtat und sich über ihre vordere Stirn und das linke Auge erstreckte. Das Lid fühlte sich dick an. Darum bekam sie also das Auge noch nicht auf. Sicher sah sie zum Fürchten aus. Ihre Haare waren voller Sand und getrocknetem Schlamm. Außerdem war sie unglaublich durstig.

Einige Minuten lang blieb sie ruhig liegen und überlegte, was sie nun tun sollte. Außerdem musste sie sich an die unbekannte Umgebung gewöhnen. Das Zimmer war karg eingerichtet. Ein schlichter Mahagonitisch stand an einer Wand und ein dazu passender großer Kleiderschrank an der Wand gegenüber. Der kleine Nachttisch und das Bett waren die einzigen anderen Möbelstücke. Die schweren Vorhänge an den bleiverglasten Fenstern waren geöffnet und ermöglichten ihr den Blick auf den Nachthimmel. Sie hörte stetiges Regenprasseln. Also hatte sich das grässliche Wetter noch nicht gebessert. Das Fenster war geschlossen, aber nicht vergittert oder verriegelt. Das war ein gutes Zeichen – es sei denn, sie war so hoch oben im Gebäude, dass eine Flucht aus dem Fenster ohnehin unmöglich war. Wände und Zimmerdecke machten den Eindruck, sehr alt zu sein.

Letty schaute sich im Zimmer nach weiteren Hinweisen um. Der Boden war von einem einzelnen großen Teppich bedeckt, der zwar alt, aber von guter Qualität zu sein schien. Es gab keine Bilder oder andere Kleinigkeiten, wodurch der Raum sehr unpersönlich aussah. Es war niemand da, der ihr hätte helfen können, die Zimmertür stand jedoch offen. Wenn man sie hier gefangen halten würde, hätte man sie wohl kaum unbewacht und bei offener Tür zurückgelassen. Vielleicht war sie ja doch endlich in Sicherheit?

Sehr langsam brachte Letty sich in eine aufrechte Position. Zwischendurch musste sie immer wieder eine Pause machen, um die Übelkeitswellen vorübergehen zu lassen. Ihre linke Schulter schmerzte stark, das Handgelenk ebenfalls, und auch der linke Fußknöchel war noch empfindlich. Doch davon abgesehen, hatte sie die Flucht bemerkenswert gut überstanden. Wenn sie den guten Arm ausstreckte, konnte sie den Rand des Bechers auf dem Nachtschränkchen erreichen. Mithilfe der Füße schob sie sich immer weiter nach vorn, bis sie mit Finger und Daumen den oberen Rand des Bechers zu fassen bekam. Doch ihre Kraft reichte nicht, um ihn festzuhalten, er entglitt ihr und landete krachend auf dem Holzboden, wo die kostbare Flüssigkeit auslief.

Plötzlich hörte sie Geräusche vom Boden an der anderen Bettseite her. Dann tauchte der Kopf eines Mannes auf. Er schaute sich offenbar leicht verwirrt um und strich sich dann mit einer Hand über das Gesicht und durch die zerzausten dunklen Haare. „Sie sind wach!“, sagte er mit verschlafen klingender Stimme.

„Entschuldigung“, krächzte sie. „Ich habe den Becher fallen gelassen.“ Letty erkannte in ihm keinen ihrer Entführer, aber er kam ihr irgendwie vertraut vor. Dann erinnerte sie sich an ihn als denjenigen, der seinen Komplizen davon abgehalten hatte, ihr Laudanum aufzudrängen.

„Ist schon in Ordnung.“ Etwas ungelenk stand er vom Boden auf und ging um das Bett herum. Er war groß und breitschultrig und mochte etwas älter sein als sie, aber nicht viel. Er goss ihren Becher wieder voll und setzte sich dann neben sie auf das Bett. Das Getränk gab er ihr vorsichtig in die gute Hand, wobei er seine warme Hand um ihre klammen Finger legte. Letty trank gierig alles aus. Sofort schenkte er ungefragt nach. „Es ist das Laudanum“, erklärte er rau. „Mein Bruder sagte mir, es würde Sie durstig machen.“

Sie wusste nicht, woher der Bruder das wusste, aber er hatte recht. Letty konnte sich nicht erinnern, jemals so durstig gewesen zu sein. Den zweiten Becher trank sie jedoch langsamer aus, weil sie sich von dem Mann beobachtet fühlte. Selbst in zerknitterter Kleidung war er sehr ansehnlich, doch ganz anders als die Männer des ton, die sie kannte. Seine Hände zeigten Spuren harter Arbeit.

„Ich heiße Jack Warriner, falls es Sie interessiert.“

Jack Warriner verbrachte sicher viel Zeit im Freien. Selbst im schwachen Licht der Kerze sah sie, dass seine Haut gebräunt war. Doch er sprach nicht wie ein einfacher Mann, seine Wortwahl war die eines Gentlemans. Das offene weiße Leinenhemd betonte seine breiten Schultern und starken Arme. Sein Hals würde in einem hohen Kragen, wie er zurzeit in der Gesellschaft in Mode war, sicher eingeengt aussehen. Doch welcher vermögende Gentleman würde neben dem Bett einer verletzten Fremden auf dem Boden schlafen? So eine beschwerliche Aufgabe würde jeder andere einem Bediensteten übertragen. Es sei denn, er war ihr Bewacher und wollte sie nur in Sicherheit wiegen …

Letty schaute ihn misstrauisch an, während sie die letzten Wassertropfen trank, und reichte ihm den Becher zurück.

„Noch etwas?“, fragte er und hob den irdenen Krug hoch, doch sie schüttelte vorsichtig den Kopf. „Sie haben uns einen tüchtigen Schrecken eingejagt, Letty.“ Woher wusste er, wie sie hieß? „Ich habe Sie auf der Straße aufgelesen, und danach fielen Sie in Ohnmacht, zweifellos aufgrund der vielen Verletzungen und der Kälte. Seit Sie hier sind, haben Sie tief geschlafen. Mein Bruder Joe befindet sich in der Ausbildung zum Arzt. Er hat ihre Verletzungen behandelt. Sie verdanken ihm vermutlich Ihr Leben.“ Seine Sprechweise war ruhig und sachlich. „Können Sie sich erinnern, was passiert ist? Warum Sie gefesselt und geknebelt allein durch den Wald irrten?“

Bevor sie seine Fragen beantwortete, brauchte sie erst selbst ein paar Antworten. Ihr Onkel war nicht dumm. Er würde eine ansehnliche Summe für ihre Ergreifung anbieten, denn seine eigene Zukunft hing davon ab, dass sie den widerlichen Bainbridge ehelichte. Und wenn der Earl sie fand … nun, sie wusste ja bereits, wie grausam er sein konnte. Sie gab vor, noch nachdenken zu müssen, und schüttelte dann wieder den Kopf. Die Bewegung löste eine neue Welle von Übelkeit aus.

Er bemerkte es und sagte: „Liegen Sie still und versuchen Sie, den Kopf nicht allzu viel zu bewegen.“

„Ich danke Ihnen, Sir. Sie sind sehr freundlich.“ Letty versuchte zu lächeln und hoffte, er würde nicht merken, wie misstrauisch sie war.

„Sie können mich Jack nennen“, sagte er und wedelte mit der Hand, „so wie alle anderen.“ Er zog ein wenig die Mundwinkel hoch – eine Abwechslung zu seiner ständig mürrischen Miene –, aber ein Lächeln war es noch nicht. Dann fragte er: „Möchten Sie noch etwas Medizin?“

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie das Laudanum nahm, würde sie wieder in Dunkelheit versinken und die Kontrolle verlieren. Außerdem – falls sie schnell von hier fliehen wollte, musste sie alle Sinne beisammenhaben. Und sie musste ihre Flucht planen.

„Können Sie mir verraten, wo ich bin, … Jack?“

Obwohl es eigentlich nicht schicklich war, setzte er sich wieder neben sie auf die Matratze und seufzte. „Sie sind in meinem Haus, in Markham Manor. Im tiefsten, dunkelsten, kältesten Nottinghamshire. Das nächste Dorf heißt Retford und ist drei Meilen entfernt von hier, aber wenn Sie in eine richtige Stadt wollen, müssten Sie nach Lincoln fahren.“ Also befand sie sich im Norden von England. Noch weit weg von Gretna Green. „Ich habe Sie etwa eine Meile von hier im Wald gefunden, völlig durchnässt und durchgefroren. Sie müssen einige Stunden lang dem Sturm ausgesetzt gewesen sein, bevor ich zufällig des Weges kam. Da ich nicht weiß, wo Sie herkamen, und niemand sich nach Ihnen erkundigt hat, können wir wohl davon ausgehen, dass diejenigen, die Sie gefesselt haben, Ihre Spur verloren haben. Mein Bruder Jamie hat vorsichtshalber alles verbarrikadiert, falls jemand Sie suchen kommt, und wechselt sich mit meinem jüngsten Bruder Jacob in der Bewachung ab. Sie sind hier also sicher.“

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glaubte Letty ihm. Sie hatte es also geschafft! Sie war Bainbridge entkommen und versteckte sich nun in einem Haus. Ihre Erleichterung musste offensichtlich sein. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. Offenbar glaubte er ihre jämmerliche Behauptung nicht, dass sie sich an nichts erinnerte.

„Welcher Tag ist heute?“ Sie hatte noch eine Hoffnung, nämlich, dass inzwischen viel Zeit vergangen war.

„Mitternacht ist vorbei, also muss es Freitag sein.“

Letty riskierte noch ein vorsichtiges Kopfschütteln. Diese Information genügte ihr nicht, um die verbleibende Zeit abzuschätzen. „Welches Datum?“

Er schaute sie mit einem durchdringenden Bick an. Sie hatte das unbequeme Gefühl, er wisse, dass sie log. „Wie gesagt, Mitternacht ist vorbei, also müsste heute der vierte sein.“

„Ich verstehe.“

„Sie haben mich nicht nach dem Monat gefragt, also nehme ich an, Sie wissen doch noch etwas. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht an das Geschehene erinnern?“

Letty senkte den Blick. Dieser Mann hatte ihr bisher nichts als Freundlichkeit erwiesen, darum war es ihr unangenehm, ihn anzulügen. Doch sie hatte schließlich keine Garantie, dass er nicht von einem Lösegeld in Versuchung geführt werden könnte, darum blieb ihr keine Wahl.

„An den Unfall selbst kann ich mich nicht erinnern.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang es unglaubwürdig.

„Erinnern Sie sich an Ihre Familie, Letty? Kann ich jemanden über Ihre missliche Lage informieren?“

Letty wäre lieber gestorben, als ihm die Wahrheit zu gestehen. Wenn ihr Onkel von ihrem Aufenthaltsort erfuhr, war es aus mit ihr. Ihr Leben wäre dann vorbei, und zwar sehr bald, sollte das abscheuliche Komplott ihres Onkels mit dem Earl of Bainbridge in den nächsten paar Wochen umgesetzt werden. Koste es, was es wolle – sie musste bis dahin untertauchen. Sie schüttelte wieder den Kopf. „Leider nicht … Mir ist ganz schwindlig.“

Das stimmte zwar, aber sie hatte es nur gesagt, damit er sie nicht weiter ausfragte. Sie konnte nicht gut lügen. Ihre Eltern hatten es immer gemerkt, wenn sie es versuchte. Für den Fall, dass er in ihrem Blick lesen konnte, schloss Letty seufzend die Augen. Doch sie sah noch die Skepsis im intelligenten Blick seiner blauen Augen. „Vielleicht hilft es, wenn ich noch ein wenig schlafe“, murmelte sie und versuchte ihr Möglichstes, um nur erschöpft zu klingen. Sie spürte, dass er sich vom Bett neben ihr erhob.

„Ich hole besser meinen Bruder, damit er Sie sich noch einmal anschaut. Sie sind sehr krank.“

„Es ist nicht nötig, ihn um diese späte Stunde zu wecken. Ich habe Ihnen und Ihrer Familie schon mehr als genug Unannehmlichkeiten bereitet. Ich glaube, ich schlafe lieber noch ein paar Stunden.“

Sie merkte, dass er zögerte. „Nun gut. Ich bin hier direkt neben Ihnen, falls Sie etwas brauchen“, sagte er barsch und vielleicht eine Spur vorwurfsvoll. Sie hörte, dass er seinen großen Körper wieder auf dem harten, unbequemen Boden ausstreckte, dann raschelte eine Decke.

Letty war außerordentlich dankbar, dass er sie in ihrem Zustand nicht allein ließ. Sie fühlte sich verletzbar, und seine Gegenwart wirkte seltsam beruhigend auf sie. „Es tut mir wirklich leid, so lästig zu sein“, fügte sie unbeholfen hinzu. Doch er machte keinen Versuch mehr, das Gespräch mit ihr fortzusetzen. Sie hörte, wie er sein Kissen aufklopfte und die Bettdecke über sich zog, bis er eine passende Schlafposition gefunden hatte.

Jack Warriner war nicht der höflichste Gentleman, aber Letty bewunderte seine Ehrlichkeit. Er wollte sie hier nicht haben, denn sie war eine große Belastung, aber er würde sie auch nicht wegschicken. Sie war hier vorübergehend in Sicherheit.

Weder ihr Onkel noch der ekelhafte Earl würden ihre Flucht auf die leichte Schulter nehmen. Sollte sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag erleben, wären beide Männer in einer schwierigen Lage. Letty kannte die Strafe für Entführung, erzwungene Eheschließung und anschließende Ermordung der Braut nicht, doch vermutlich würden die beiden es mit dem Leben büßen müssen, falls sie wegen dieser Verbrechen verurteilt würden. Daher würden sie Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sie zu finden und zum Schweigen zu bringen – und zwar vor dem vierten Januar.

Letty brauchte einen Plan, aber dieses Mal einen richtigen. Sie musste sich verborgen halten, bis es für die Entführer zu spät war. Dann hatte sie die volle Verfügung über ihr Erbe. Und sie musste sich überlegen, was sie ihrem klugen Gastgeber erzählen sollte, denn ihre ungeschickten Entschuldigungen würde er ihr nicht ewig glauben. Konnte sie es riskieren, ihm die Wahrheit zu sagen? Bis sie mehr über die Situation und den Mann selbst wusste, war es gewiss klüger, still zu sein.

An ihrer Seite hörte sie die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Mannes. Er war bereits eingeschlafen. Bisher hatte Letty noch nie ihr Schlafzimmer mit einem Mann geteilt. Noch vor wenigen Wochen hätte diese skandalöse Tatsache ihren Ruf zerstört. Damals hatte sie sich sehr um ihren Ruf gesorgt – als wäre er das einzig Wichtige für sie. Natürlich hatte sie zu der Zeit nicht wissen können, dass ihr Leben und ihre Freiheit in Gefahr waren. Sie hatte geglaubt, ihren zukünftigen Gatten frei wählen zu können unter all den bereitwilligen Gentlemen, die sie auf jedem gesellschaftlichen Empfang umschwärmten. Ihr enormes Vermögen erlaubte ihr die freie Auswahl, darum hatte sie es nicht eilig gehabt, einen Ehemann zu wählen. Vor einigen Jahren, als sie noch jung und töricht gewesen war, hatte sie sogar eine Liste mit den Eigenschaften erstellt, die der geeignete Kandidat aufweisen musste. Er sollte attraktiv und klug sein, einen hohen Titel tragen, zu Pferd gut aussehen, gern ins Theater gehen und auch die Künste fördern. Alle Freundinnen sollten sie um ihn beneiden. Aber das Wichtigste war, dass er sie über alles lieben musste.

Sie hatte durchaus passende Gentlemen mit einigen dieser Eigenschaften kennengelernt, aber ihre letzte Bedingung war stets der Stolperstein gewesen. Nach mehreren Saisons waren ihre jugendlichen Hoffnungen nur noch sehr gedämpft, denn bisher hatte sie noch keinen Mann gefunden, von dessen Liebe sie wirklich überzeugt gewesen wäre. Sie hatte immer ihre Zweifel, ob es Letty, die Frau, war, die er liebte, oder nur Violet, die Tee-Erbin. Ihr ungeheures Vermögen war kein beruhigendes Polster, sondern eher eine Last. Gab es denn in ihrer Bekanntschaft überhaupt jemanden, der sie nur um ihrer selbst willen gernhatte? Oder war es nicht eher das viele Geld und all der Luxus, die sie anziehend machten?

Einen passenden Kandidaten gab es, der kurz vor einem Heiratsantrag stand – den wohlhabenden Duke of Wentworth. Doch auch seine Motive durchschaute Letty nicht ganz. Bis sie den vollen Durchblick hatte, würde sie sich nicht zu so etwas Endgültigem entschließen wie einer Heirat. Sie war noch jung, also wozu die Eile? Außerdem war sie seit einiger Zeit mit anderen Plänen beschäftigt. Sie wollte mit ihrem Vermögen etwas Gutes tun und ihrem leeren Leben einen Sinn geben – vielleicht ein Heim für Findelkinder eröffnen. Unglücklicherweise hatte sie die Gier ihres Onkels nach ihrem Geld nicht bedacht. Und leider war sie gesetzlich dazu verpflichtet, seinen Anordnungen Folge zu leisten, bis sie volljährig war.

Das würde sie in einem Monat endlich sein, plus oder minus wenige Stunden.

4. KAPITEL

Nur noch ein Monat …

Noch vor Tagesanbruch ließ sich Jack am Krankenbett von Joe ablösen. Auf dem harten Fußboden hatte er nicht länger schlafen können. Nicht, dass er jemals Zeit zum Ausschlafen hatte, aber selbst für seine Verhältnisse war es noch sehr früh. Seit zwei Tagen pflegte er nun schon diese geheimnisvolle Frau. Letzte Nacht war sie zum ersten Mal imstande gewesen zu sprechen, aber ihre ausweichenden Antworten auf seine Fragen hatten nicht aufrichtig geklungen. Man musste natürlich berücksichtigen, dass das arme Ding gefesselt, geknebelt und schwer misshandelt worden war, darum war es nicht verwunderlich, dass sie zögerte, sich ihm anzuvertrauen. Doch nun stand sie unter seiner Obhut. Er fand, er habe das Recht darauf zu erfahren, welche Art von Problemen sie in sein Haus geführt hatten.

Und sie würde hier für Probleme sorgen.

Das wusste er so sicher, wie er wusste, dass die Sonne jeden Morgen aufging, denn seit zehn Jahren waren Probleme seine ständigen Begleiter. Er kannte die Anzeichen zu genau, um sie zu ignorieren.

Er war nicht überrascht, dass Jamie bereits aufgestanden war und in der Küche saß. Seit sein Bruder von der Iberischen Halbinsel zurückgekehrt war, schien er nicht mehr viel zu schlafen und lächelte noch seltener als Jack. Beides machte ihm Sorgen, aber er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Jamie war schon immer verschlossen gewesen, aber seit seiner Heimkehr war kaum noch etwas aus ihm herauszubekommen.

„Ich dachte, ich reite mal ins Dorf und sehe zu, was ich über unseren Gast herausfinden kann.“ Nachdem er die Frau stundenlang in den Armen gehalten und zwei Nächte neben ihrem Bett geschlafen hatte, fühlte er sich verantwortlich für sie. Und seltsam fürsorglich. Offenbar wurde er auf seine alten Tage noch weich.

Jamie reichte ihm eine dampfende Tasse Tee und schaute ihn gedankenvoll an. „Gute Idee. Ich habe auch bereits daran gedacht. Aber man kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass das Mädchen in Gefahr ist, und wenn du dort Fragen stellst, könntest du in ein Wespennest stechen.“

„Ich bin doch kein Dummkopf.“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Aber für deinen Feinsinn bist du auch nicht gerade bekannt. Ich begleite dich und zeige dir, wie man so etwas macht.“

Ohne darüber nachzudenken, blickte Jack das verwundete Bein seines Bruders an, aber er bereute es sofort, als er sah, wie wütend ihn das machte.

„Ich bin kein verdammter Krüppel, Jack! Ich kann immer noch reiten.“

Jack war nicht in der Stimmung, mit ihm zu streiten. Jeder Versuch brüderlicher Besorgnis würde Jamie nur noch mehr aufbringen.

„Dann gehe ich die Pferde satteln.“

Es war Markttag in Retford, und als sie eintrafen, herrschte schon reger Betrieb. Auf Jamies Vorschlag gingen sie in den Gasthof, um zu frühstücken und Informationen zu bekommen. Das war sinnvoll, denn wenn Fremde in der Gegend waren, würden sie vermutlich im Gasthof übernachten. Jack hätte selbst nicht daran gedacht, also war es gut, dass er Jamie mitgenommen hatte.

„Du brauchst nur zu essen und zuzuhören. Der Trick eines Kundschafters ist es, kein Interesse zu zeigen. Wenn wir etwas Interessantes hören, überlasse mir die weitere Sondierung.“

Jack war ein wenig gekränkt über diesen Mangel an Vertrauen in seine Fähigkeiten, aber er sagte nichts. Jamie wählte einen Tisch in der Mitte des Speiseraums und sie bestellten sich etwas zu essen. Dann verschwand sein Bruder für eine Weile, um sich anderswo umzuhören.

Da er nichts Besseres zu tun hatte, schaute Jack sich die übrigen Gäste näher an. Vielleicht fiel ihm etwas Verdächtiges auf. Da heute Markttag war, erkannte er kaum eins der Gesichter, und sie sahen für ihn alle verdächtig aus. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und hätte alle verhört – genau wie sein militärisch geschulter Bruder es befürchtet hatte. „Du bist nun mal so, großer Bruder“, hatte Jamie auf dem Weg hierher gesagt. „Du kennst es nicht anders, als dass du immer das Sagen hast.“ Jack mochte es nicht, wenn man ihm seine Charakterfehler vorhielt, aber wenn sein eigener Bruder es tat und womöglich recht hatte, störte es ihn noch mehr.

Jamie hatte sich an die Theke gesetzt und an den Gastwirt herangemacht. Da er erst kürzlich als Kriegsheld heimgekehrt war und außerdem zu der berüchtigten Familie gehörte, die am Waldrand hauste, schien der Wirt ganz erpicht darauf zu sein, sich mit Jamie zu unterhalten. Die Einheimischen liebten jeden Klatsch, und die Warriners lieferten ihnen seit Jahren eine Menge Gesprächsstoff. Jack beobachtete, dass der Mann seinem Bruder eine neugierige Frage nach der anderen stellte. Jamie ging damit auf seine übliche verdrießliche Art um, starrte in seinen Drink und schaute den Fragesteller nicht an. Für jeden Außenstehenden sah er aus wie ein Mann, der nichts anderes wollte, als alleingelassen zu werden, nicht wie jemand auf der Suche nach Informationen. Dieses Talent musste Jack widerwillig bewundern.

Einige Minuten später hinkte Jamie zurück zu ihrem Tisch. Er sprach so leise, dass Jack seine Ohren sehr anstrengen musste, um ihn zu verstehen.

„Ein paar Männer aus London sind hier. Ziemlich aggressive Leute, wie man hört, und der Wirt wäre froh, wenn sie bald abreisen würden. Sie sind hier an dem Morgen angekommen, nachdem du deine Lady gefunden hast. Alle waren nass bis auf die Haut trotz der feinen Kutschen, in denen sie ankamen. Die beiden Kutschen und die Hälfte der Leute reisten am nächsten Tag ab, nur drei Männer blieben zurück. Alle Zimmer laufen unter dem Namen Smith. Der Wirt sagt, sie stellen überall Fragen nach einer jungen Frau. Dem Vernehmen nach eine reiche Erbin.“ Jack zog die Brauen hoch. „Sie behaupten, sie sei entführt worden, und sie seien auf der Suche nach ihr. Heute sind sie noch nicht aufgetaucht. Bisher haben sie jeden Morgen das Gleiche getan. Sie stellen Fragen, essen und verschwinden für den Rest des Tages. Er weiß nicht, wohin, aber sie kehren immer sehr übel gelaunt zurück.“

Jamie warf ihm einen warnenden Blick zu, da ihr Frühstück gebracht wurde. Die Wirtin knallte ihnen unfreundlich das Essen auf den Tisch. Die Feindseligkeit gegenüber nicht nur einem, sondern gleich zwei Warriners so früh am Morgen, stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Haben Sie schon bezahlt?“

Das verderbliche Erbe ihres Vaters haftete ihnen immer noch an. Der Bastard war bereits seit sieben Jahren tot, doch noch immer glaubten die Einheimischen, dass ein Warriner Schulden und nichts als Ärger machte. Jamie warf der Frau einen bösen Blick zu und wollte sie zurechtweisen, aber Jack mischte sich ein. „Ich habe vorne bereits gezahlt, Nelly. Wie immer.“ Er wollte die zerstörten Brücken zu den Einheimischen wieder aufbauen, das versuchte er seit Jahren. Obwohl die Beleidigungen schmerzten, konnte er die Leute irgendwie verstehen. Jahrhundertelang waren die Warriners ein übler Haufen gewesen, und es würde mehr als sieben Jahre brauchen, um den Schaden wiedergutzumachen, den seine Vorfahren angerichtet hatten. Erst in den letzten achtzehn Monaten war es Jack gelungen, überhaupt einige Pächter auf sein Land zu locken, aber diese hatten einen schlechten Ruf und waren nicht von hier. Nelly rümpfte die Nase und stolzierte davon.

„Vielleicht gehören sie zu Lettys Familie und suchen sie? Vielleicht wurde sie ja wirklich entführt.“ Als Jack daran dachte, wie verängstigt sie in der Nacht vor ihm davongelaufen war, fühlte er wieder diese seltsame Mischung aus dem Wunsch, sie zu beschützen, und Wut.

Jamie zuckte mit den Schultern. „Oder sie wollen, dass wir das annehmen. Sie werden ja es wohl kaum jemandem erzählen, wenn sie selbst die Entführer sind und ihre Geisel wiederfinden wollen, oder?“ Das war ein vernünftiges Argument. „Außerdem – wenn sie nichts zu verbergen haben, warum nennen sie sich dann Smith? Das ist sehr merkwürdig, Jack. Ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.“

Jamies Bauchgefühl hatte ihm als Soldat die Haut mehr als einmal gerettet. Jack schloss sich seiner Meinung an. Schweigend aßen sie weiter, so konnten sie besser hören, worüber die anderen Gäste sprachen. Es waren hauptsächlich Händler, die hier Geschäfte machen wollten, und keiner erwähnte ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen im Wald.

Sie hatten längst aufgegessen und wollten gerade aufbrechen, als drei vierschrötige Männer in die Gaststube traten und sich umschauten wie Falken auf der Suche nach Beute. Jamie nahm seinen leeren Becher und gab vor zu trinken. „Es geht los. Schätze, das sind sie.“

Die drei Männer teilten sich auf, gingen reihum zu den Gästen und begrüßten sie freundlich. Allmählich kamen sie ihrem Tisch immer näher.

„Denke daran, gib dich gelangweilt und halte den Mund.“

Jack warf seinem Bruder einen sarkastischen Blick zu. „Danke für dein Vertrauen, Jamie.“

„Hallo, Gentlemen, dürfte ich Sie für einen Moment stören?“ Der Mann zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen. Er war ein Ausbund an Höflichkeit. Jamie schaute ihn kaum an und zog nur die Schultern hoch. Jack tat es ihm gleich.

„Wohnen Sie hier in der Umgebung?“

„Was geht Sie das an?“, gab Jamie misstrauisch zurück.

„Nur eine freundliche Frage.“ Der Mann hatte eine aufrichtige Art zu sprechen, aber sein Aussehen machte einen ganz anderen Eindruck. Hinter seinen feinen Kleidern und dem schmierigen Lächeln steckte kein Gentleman, dessen war Jack sich ganz sicher. Er hatte zwar nicht Jamies Erfahrung als Spion, aber er erkannte einen Heuchler, wenn er ihn sah. Dieser Mann hatte riesige Fäuste und seine Nase schien auch schon mehrmals gebrochen worden zu sein. Eine dünne weiße Narbe zog sich über eine Wange. Dieser Mann sah gewalttätig aus. „Meine Freunde und ich sind auf der Suche nach jemandem. Einer jungen Lady.“ Der Mann lächelte sie vielsagend an. „Es gibt eine Belohnung.“

Jamie starrte in seinen leeren Becher, als wäre er nur daran interessiert, wie schnell er ihn wieder füllen konnte. „Eine Belohnung, sagen Sie?“ Es war eine Meisterleistung. Lockeres Desinteresse, das in dem Halunken Hoffnung erweckte, er könnte ihn mit einer Belohnung locken.

„So ist es. Sogar eine ziemlich hohe. Hundert Pfund für jeden, der zu ihrer sicheren Heimkehr beiträgt.“

Jamie pfiff leise, als wäre er beeindruckt. „Hundert Pfund. Das ist eine Menge Geld. Warum so viel?“ Er schaute beiläufig zu Jack, dann wandte er sich wieder zu ihrem Besucher. „Wird sie von der Krone gesucht?“

„Nein. So ist es nicht … Sie ist verschwunden.“

„Wir sind hier an der Straße nach Gretna Green. Hunderte junger Mädchen ‚verschwinden‘ hier jedes Jahr.“ Jamie zuckte wieder mit den Schultern, damit der andere Zeit hatte, seine Andeutung zu verstehen.

„Bedauerlicherweise müssen wir annehmen, dass die fragliche Lady nicht durchgebrannt ist, sondern entführt wurde. Ihre Familie will sie unbedingt zurückhaben.“

„Wenn sie entführt wurde – warum warten Sie nicht einfach auf die Lösegeldforderung und bezahlen?“ Jack machte wieder ein gelangweiltes Gesicht und schaute Jack belustigt an. „Wir sind keine Leute, die es mit einer Bande von Entführern aufnehmen können. Nicht einmal für hundert Pfund. Dafür ist uns unser Leben zu teuer.“

Der Mann nickte lächelnd. „Ich kann Sie verstehen, Gentlemen, aber die fragliche Lady ist ziemlich … einfallsreich. Falls … es ihr gelungen sein sollte zu entkommen, wäre das eine Erklärung dafür, warum es noch keine Lösegeldforderung gibt.“ Alarmglocken schrillten in Jacks Kopf, aber er blieb stumm „Ich möchte Sie nur bitten, sich nach ihr umzusehen. Sie ist von hoher Geburt und kennt sich in der Gegend nicht aus. Es gibt sicher viele Plätze, wo sie sich verstecken könnte. Wenn Sie einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort geben könnten, wäre ihre Familie sehr dankbar … Und für Sie, Gentlemen, könnte es auch gewinnbringend sein.“

Jack wollte nicht länger der stumme Kumpan sein. „Wie sieht sie denn aus … falls wir sie sehen?“ Er ignorierte den warnenden Blick seines Bruders.

„Sehr hübsch. Blonde Haare, grüne Augen, erst zwanzig Jahre alt. Ziemlich auffallendes kleines Ding. Ein wenig zu fantasievoll, wie viele junge Frauen es sind. Nach so einem schrecklichen Erlebnis kann man nicht wissen, in welchem Zustand ihr armer Verstand sein könnte …“ Der Mann schüttelte den Kopf, als wäre er aufrichtig besorgt. Jack sträubten sich die Haare im Nacken. „Ihre Familie möchte sie ohne Aufsehen zurückbekommen. Sie verstehen. Das Mädchen wäre ruiniert, wenn die Welt erfahren würde, was mit ihr geschehen ist. Wenn Sie etwas sehen oder hören, finden Sie mich hier im Gasthaus.“

„Und Ihr Name ist …?“

„Smith. Mr. John Smith.“

„Und wie heißt das Mädchen? Auch Smith?“

„Nein, Sir. Ich bin nur ein Angestellter der Familie. Sie heißt Violet.“

„Kein Nachname?“

Der Mann lächelte hinterhältig. „Richtig, Sir. Die Familie möchte einen Skandal vermeiden. Wenn ihre Entführung bekannt würde, wäre die junge Lady entehrt. Darum verstehen Sie gewiss, warum die Familie sie so schnell wie möglich wieder in ihren Schoß aufnehmen will.“

Jamie durchbohrte den Fremden beinahe mit seinem harten Blick. „Wenn hundert Pfund auf sie ausgesetzt sind, muss sie aus einer bekannten Familie stammen. Das ist sehr viel Geld für eine unbedeutende Lady. Also nehme ich an, die könnten mehr als nur hundert Pfund für ihre sichere Heimkehr erübrigen, finden Sie nicht?“

Der Mann stand auf. Sein Gesicht war zu einer kalten Maske erstarrt. „Darf ich Ihre Namen erfahren, Gentlemen?“ Sein eisiger Blick war misstrauisch, als er von einem zum anderen schaute.

Jack starrte arrogant zurück. „Warriner. Ich bin Jack und dies ist mein jüngerer Bruder Jamie.“

Eine Sekunde lang erkannte er, dass Jamie sich fragte, ob es klug war, dem Kerl ihre echten Namen zu verraten, aber dann sah er offenbar ein, dass es richtig war. Wenn sie Verdacht bei diesem Mann erregten, würde er ihre Geschichte überprüfen, und die meisten ihrer Nachbarn würden bereitwillig die „wilden Warriners“ unten am Fluss verraten.

„Nun, Mr. Warriner, die Familie wäre sicher offen für Verhandlungen.“

Jack lachte und schlug seinem Bruder herzhaft auf den Rücken. „Ich glaube, du und ich sollten uns auf die Jagd nach der Erbin machen, Jamie, was sagst du? Was könnten wir mit mindestens hundert Pfund anstellen, he?“

Jack lächelte scheinbar begeistert den abwartenden Mann an. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Die Warriners hätten hundert Pfund eigentlich sehr gut gebrauchen können. Wie gern hätte er Joe zumindest eine Zeitlang die medizinische Ausbildung bezahlt!

Doch schon der Wunsch nach dem Geld löste in ihm Schuldgefühle gegenüber Letty aus, obwohl er nicht wusste, warum es so war. Sie stellte im Grunde nur eine weitere Belastung für ihn dar. Aber offenbar hatte Jack eine Schwäche für Ladys in Not. „Wo haben Sie sie denn zuletzt gesehen, Mr. Smith?“

Sofort entspannte sich die Miene des Mannes, weil er annahm, sie überzeugt zu haben. „Wir vermuten, sie könnte in diesem Bereich der Great North Road entführt worden sein.“

„Sie vermuten es?“ Kopfschüttelnd schaute Jack seinen Bruder an und lachte verächtlich. „Wir würden also nur hinter einer Vermutung herjagen? Zehn Dörfer und hundert Quadratmeilen von Sherwood Forest müssten durchsucht werden!“ Mit einem gespielt mitleidigen Blick sah er den Mann an. „Ich glaube, mein Bruder und ich haben Wichtigeres mit unserer Zeit anzufangen, als nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück. Falls wir wie durch ein Wunder doch etwas erfahren, werden Sie der Erste sein, der es erfährt, Mr. Smith, das versichere ich Ihnen.“

5. KAPITEL

Immer noch ein Monat …

Der Arzt legte ihr sorgfältig den letzten sauberen Verband an, dann setzte er sich neben sie auf das Bett und lächelte sie an. „Es ist wirklich ein Wunder, dass Sie schon so gesund und munter sind. Als Jack Sie hierherbrachte, war ich überzeugt, dass Sie sterben würden, aber jetzt sind nur noch ein paar kleinere Verstauchungen und Schnittverletzungen übrig, die bald verheilen werden. Offenbar haben Sie eine gute körperliche Verfassung. Noch ein bis zwei Tage Ruhe, dann sind Sie so gut wie neu.“

Letty fühlte sich wirklich viel besser. Und sauberer. Auf ihre Bitte hin, hatte der jüngste Warriner, Jacob, ihr einen Eimer mit heißem Wasser, Seife und Handtücher gebracht, und sie hatte sich den Schmutz aus den Haaren waschen können. Nun saß sie aufrecht im Bett, ihr Magen war angenehm gefüllt, und sie war bekleidet mit einem sauberen Herrenhemd. Sie warf dem Arzt einen ihrer besten Violet-Blicke zu. Dafür war sie in der feinen Gesellschaft gefeiert worden. Hoffentlich verdarb ihre geschwollene Lippe nicht die Wirkung auf ihn. „Vielen Dank, Doktor. Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben.“

„Ich bin noch kein Doktor“, sagte er ein wenig betrübt, „aber vielleicht werde ich es eines Tages sein.“

Sie war erstaunt. „Ich war sicher, Sie seien ein richtiger Arzt, denn Sie haben ausgezeichnete medizinische Kenntnisse. Ohne Ihre Hilfe wäre ich zweifellos gestorben. Warum besorgen Sie sich nicht eine Lizenz und praktizieren als Arzt?“

Er stand auf und räumte die alten Verbände weg. „Ich studiere und lese ausgiebig, und sicher werde ich mich eines Tages qualifizieren können. Es waren aber nicht nur meine Bemühungen, die Ihnen das Leben gerettet haben. Ihr größter Dank gebührt eigentlich meinem Bruder Jack. Er war derjenige, der Sie hierhergebracht hat und seitdem kaum von Ihrer Seite gewichen ist. Nachts hat er ihr Fieber behandelt und Sie warmgehalten.“

Letty erinnerte sich, dass der älteste Warriner letzte Nacht neben ihr auf dem Boden geschlafen hatte. Offenbar hatte er also mehrere Nächte dort verbracht. „Dann werde ich auch ihm danken, Doktor Joe, sobald ich ihn wiedersehe.“

Jack war nicht mehr dagewesen, als sie heute Morgen erwachte. Letty war erleichtert darüber, denn Jack Warriner war scharfsinnig. Ob er wirklich so ein guter Mann war, wie seine beiden jüngeren Brüder behaupteten, würde sich noch herausstellen. Weder Jacob noch Joe Warriner waren bei ihren Antworten zurückhaltend gewesen, als sie sie mit unzähligen Fragen bombardiert hatte. Dank ihnen wusste Letty nunmehr mit Sicherheit, dass sie keine Gefangene in diesem Haus war. Jack Warriner hatte sie auf der Straße gefunden und mit nach Hause genommen. So hatte er ihr das Leben gerettet.

Zu Hause war ein vierhundert Jahre altes Herrenhaus, umgeben von dreißig Morgen Park und landwirtschaftlich genutzten Flächen, hauptsächlich Ackerland. Die Warriners bauten Weizen an und hielten Schafe, und sie bewegten sich nicht in denselben Kreisen wie Bainbridge und ihr zweifelhafter Onkel. Offenbar war nur der Zweitälteste, Jamie, jemals zu einem kurzen Besuch in London gewesen. Darum würde keiner von ihnen wissen, wer sie war.

Die Brüder arbeiteten selbst auf ihrem Land, außer Jamie, der erst kürzlich aus dem Krieg heimgekehrt war. Er musste sich immer noch von den Wunden erholen, die Napoleons Armee seinem Körper zugefügt hatte. Alle drei jüngeren Brüder hatten enormen Respekt vor Jack. Das sah man an ihren leuchtenden Augen, wenn sie ihn im Gespräch erwähnten. In allen wichtigen Angelegenheiten verließen sie sich auf ihn.

Die Warriners waren äußerst loyal zueinander und beschützten sich gegenseitig. So einen Familienzusammenhalt hatte Letty nie erfahren, obwohl sie sich immer danach gesehnt hatte. Sie liebten einander, das war ganz offensichtlich, und sie beneidete sie ein wenig dafür. Es musste schön sein zu wissen, dass immer jemand für dich da war, dir half oder dich tröstete in schwierigen Zeiten. Immer jemanden zu haben, zu dem man gehen konnte. Letty hatte niemanden mehr. Ihre Eltern waren viel zu früh gestorben – als sie siebzehn gewesen war. Sie hatte keinen Menschen mehr auf der Welt, der ihr nahestand, und niemand hatte wirklich Mitleid mit ihr. Schließlich war sie die Tee-Erbin. Als könnte das Geld ihr gebrochenes Herz heilen, ihre Einsamkeit beenden und die Welt wieder zu einem helleren Ort machen.

Sollte einem der Brüder etwas zustoßen, würden die übrigen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um alles in Ordnung zu bringen, oder sie würden einander unterstützen in ihrer Trauer. Sie war seit Tagen aus Mayfair verschwunden, aber sie bezweifelte, dass irgendjemand sie vermisste. Einer ihrer sogenannten Freunde machte vielleicht auf einem Ball oder Nachmittagstee zu einem anderen eine Bemerkung über ihre Abwesenheit, mehr nicht. Sie hatte auch keine wirkliche Freundin, denn Letty wusste nicht, wie man eine Freundin fand. Nie hatte jemand vermutet, sie könnte jemanden brauchen. Sie besaß mehr Geld, als sie in ihrem ganzen Leben ausgeben konnte, und doch beneidete sie die Warriners.

Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass das Leben der Familie nicht einfach war – obwohl niemand etwas Dahingehendes auch nur angedeutet hätte. Sie vermutete, der Grund dafür, dass Joe sich noch nicht als Doktor qualifiziert hatte, war rein finanzieller Natur.

Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man Menschen in Geldnöten leicht für sich gewinnen konnte. Ihr Vater hatte des Öfteren von den Vorteilen gesprochen, wenn man „ein paar Hände schmieren“ konnte. In ein paar Wochen würde sie ganz einfach die Taschen aller vier Warriners mit Gold füllen, und ihre eigenen Reserven wären nicht einmal angekratzt.

Doch da sie dringend Geld brauchten, wäre es durchaus möglich, dass man sie bei passender Gelegenheit an Bainbridge verkaufte. Immerhin konnte der Earl sofort bezahlen, während Letty noch wochenlang warten musste, bis sie über ihr Geld verfügen konnte. Sie hatte bereits einen Termin mit ihrem Anwalt für den Tag ihres Geburtstags vereinbart. Dann würde sie die Papiere unterzeichnen, die ihr die langersehnte Unabhängigkeit brachten. An dem Tag wollte sie auch eine große Summe an die wohltätige Stiftung überweisen, die sie gründen wollte. Dann würde sie ein neues Leben beginnen, das einem nobleren Zweck diente als ihr bisheriges Luxusleben.

Ihr Onkel hatte grundsätzlich abgelehnt, dass sie Geld für gute Zwecke spendete. Sie durfte es nur für Kleider und Luxusartikel ausgeben, die sie nicht brauchte und schon lange nicht mehr wollte. Aber an jenem wundervollen Tag in einem Monat würde sie damit tun können, was ihr beliebte. Hoffentlich konnten die Warriners so lange warten.

Es störte sie, dass man die Bediensteten von ihr fernhielt. Wollten die Brüder ihre Anwesenheit hier geheim halten? Aus welchem Grund? Hatten sie finstere Absichten? War es zu Lettys Schutz oder zu ihrem eigenen? Ihr Hauptproblem war es, herauszufinden, ob sie der Familie vertrauen konnte.

Bis dahin war es wahrscheinlich am besten, einen Fluchtweg auszukundschaften. Sobald Joe draußen war, um ihr mehr Tee zu holen, schwang Letty die Beine über den Bettrand. Vorsichtig testete sie ihr Gewicht auf dem Bein mit dem lädierten Knöchel. Dann humpelte sie zu dem Fenster mit den bleigefassten Scheiben, um einen Blick nach draußen zu werfen.

Markham Manor lag im finstersten, feuchtesten und kältesten Teil von Nottinghamshire. Auf einer Seite wurde das Anwesen von dichtem Wald begrenzt. Die äußere Grenze verlief entlang des Flusses Idle. Also mussten Bainbridge und seine Häscher ein Boot nehmen und sich ihren Weg durch die Bäume bahnen, wenn sie nicht vom Osten her über die schmale unbefestigte Straße kamen, auf der ihr Retter sie gefunden hatte. Diese endete hier vor der Tür.

In der Ferne konnte Letty gerade noch die hohe Mauer ausmachen, die das Land der Warriners eingrenzte, wie sie nunmehr wusste. Sie wusste auch, dass die großen Tore geschlossen worden waren. Ein kleines Stück weiter, gut versteckt hinter dichten Rankgewächsen, befand sich ein kleineres Tor, eine geheime Fluchtmöglichkeit – das hatte Jack nebenbei erwähnt. Es klang sehr mittelalterlich und irgendwie romantisch. Die Warriners von früher mussten so etwas wohl gebraucht haben. Es gab Letty ein wenig Sicherheitsgefühl. Seit drei Tagen war sie nun schon hier, und bisher war noch kein Fremder aufgetaucht. Je mehr Zeit verging, so hoffte sie, umso weniger wahrscheinlich wurde es, dass doch noch jemand kam.

Gleich unter ihrem Fenster war ein gepflasterter Hof, auf dem sie einen großen eisernen Pumpenschwengel sah, daneben standen Eimer, die unordentlich übereinandergestapelt waren. Ihr Schlafzimmer musste folgerichtig gegenüber der Küche liegen, im hinteren Bereich des Hauses. Ein Sprung aus dem Fenster auf den Hof würde Verletzungen nach sich ziehen, aber vermutlich nicht tödlich enden. Neben dem Fenster befand sich ein Spalier, das dicke Zweige von Blauregen trug, die jetzt im Winter kahl waren. Wenn nötig, könnte sie sich daran langsam herablassen und dann in den Wald laufen.

Da sie jetzt wusste, dass die Umgebung sicher war, drehte Letty sich um und humpelte auf die Schlafzimmertür zu, um sich einen Überblick über den Grundriss des Hauses zu verschaffen. Plötzlich ging die Tür auf, und Jack Warriner trat ein.

Beide blieben wie angewurzelt stehen.

Sie hatte sein Hemd an. Das hätte ihn nicht weiter verwundern sollen, weil sein Bruder es ihr angezogen hatte, bevor sie sie in Jacks Schlafzimmer brachten. Nur dort war es einigermaßen wohnlich, während in allen anderen Räumen Schimmel die feuchten, rissigen Wände überzog. Ihr Anblick war für ihn schlichtweg überwältigend. Sie hatte Beine. Wunderschön geformte weibliche Beine, die von dem Hemd nur bis zur Mitte des Oberschenkels bedeckt wurden. Und das wundervollste goldene Haar, das Jack jemals gesehen hatte. Eine Fülle dichter Ringellocken fiel ihr über die Schultern, und kurze Löckchen rahmten ihr Gesicht ein. Die Worte erstarben ihm in der Kehle, seine Augenbrauen schossen nach oben, als er das schöne Geschöpf vor sich anstarrte.

Smaragdgrüne Augen blickten ihn erstaunt an, dann hockte sie sich hin und versuchte, ihre Schenkel mit den Armen zu bedecken. „Würden Sie sich bitte umdrehen!“, rief sie, und er kam wieder zu Sinnen.

„Ja, natürlich! Entschuldigung!“ Jack drehte sich rasch zur Tür – dankbar, dass er wieder zu Atem kommen konnte.

Eine Frau war in seinem Schlafzimmer.

Nachdem er ihre Beine gesehen hatte, konnte er an sie nicht mehr als Patientin denken. Seit seine Mutter vor zehn Jahren gestorben war, war keine Frau mehr in Markham Manor gewesen. Er konnte sich kaum noch erinnern, wann er das letzte Mal die nackten Beine einer Frau gesehen hatte. Im Mai? Im letzten Frühling in Lincoln? Damals hatte er allerdings die Beine der Schankmagd nicht weiter beachtet. Er hatte noch vor der Dunkelheit heimfahren müssen und war mehr mit anderen Körperteilen der Frau beschäftigt gewesen. Vielleicht hätte er besser hinschauen sollen, denn sicher war ein Paar Beine wie das andere, oder? Woran lag es, dass er diese speziellen Beine so anziehend fand?

Er hörte, dass sie wieder ins Bett kletterte und dann das Rascheln der Decke, als sie sich damit zudeckte. „Sie können sich jetzt umdrehen, Mr. … Jack.“

Als er sie nun so sauber, aber verwuschelt im Bett sitzen sah, wurde alles noch schlimmer, und er merkte, dass seine Hose ungemütlich eng wurde. Diese Frau sah so verführerisch aus wie das Fenster einer Bäckerei, und … bei Gott … er wollte von ihr kosten. Doch er hatte keine Zeit zu vergeuden mit solch unerwarteten Gelüsten. Sie stand unter seinem Schutz, und er wusste, dass ihr Gefahr drohte.

„Wir müssen uns unterhalten … Violet.“

Ihre schönen Augen wurden ganz groß, als sie ihren richtigen Namen hörte, und nun wusste Jack ganz sicher, dass sie sparsam mit der Wahrheit umgegangen war. Doch er konnte ihr deswegen nicht böse sein, denn an ihrer Stelle hätte er vielleicht dasselbe getan.

„Im Dorf sind Fremde, die nach Ihnen suchen.“ Ein Ausdruck äußersten Schreckens erschien auf ihrem Gesicht. „Wir haben ihnen nicht gesagt, dass Sie hier sind. Ich hielt es für klüger, zuerst mit Ihnen zu sprechen, bevor ich etwas verrate.“

Erleichtert sank sie fast in sich zusammen. Bei dieser Bewegung fiel der offene Halskragen des viel zu großen Leinenhemdes zur Seite und entblößte ihre glatte, helle, weibliche Schulter. Jacks Lenden zogen sich wieder zusammen, und um es nicht zu zeigen, ließ er sich schwer auf der Matratze vor ihr nieder. „Es ist an der Zeit, dass Sie mir die Wahrheit sagen, finde ich. Sie nicht auch?“

Sie neigte zustimmend den Kopf. Die goldenen Locken neben ihrem Gesicht wippten. Er unterdrückte den Wunsch, eine davon zu berühren. Er hätte ihre Haare sehr gern gestreichelt, weil er wissen wollte, ob sie wirklich so seidig waren, wie sie aussahen. Sie knabberte unwohl an ihrer Unterlippe und lenkte so seinen Blick auch dorthin. Ihre Lippen waren rosig und prall und bereit für einen Kuss. Aus irgendeinem Grund spürte Jack das unerklärliche Verlangen, sie zu küssen. Er würde es natürlich nicht tun. Das arme Mädchen war sowieso schon verängstigt genug. Das Letzte, was sie brauchte, war seine ungezügelte und völlig unangebrachte Lust.

„Wie viele Männer?“

„Drei. Die übrigen sind weitergefahren, um Sie zu suchen, obwohl ich annehme, dass auch sie nicht weit entfernt sind. Es gibt nicht viele Dörfer in diesem Teil des Landes. Sie behaupteten, von Ihrer Familie beauftragt worden zu sein.“

Ihre Miene sah plötzlich hart aus. „Im Grunde genommen stimmt das.“

„Sie behaupteten auch, Sie seien entführt worden, obwohl ich annehme, dass Sie lieber nicht wieder zurückwollen …?“

Er sah mehrere Gefühle auf ihrem Gesicht miteinander ringen. Angst, Verwirrung und endlich Resignation. Sie schaute ihn äußerlich gelassen an. „War bei diesen Männern ein älterer Mann? Grauhaarig mit einem altmodischen Zopf?“

Jack schüttelte den Kopf. „Nein. Der Mann, mit dem ich sprach, nannte sich Mr. Smith. Er hatte eine lange Narbe auf der Wange.“

„Layton. Er heißt Layton. Er arbeitet für den Earl of Bainbridge.“ Sie setzte sich weiter zurück in die Kissen, zog die Knie vor die Brust und legte die Arme darum. Es schien eine unbewusste Geste zu sein. Wahrscheinlich wollte sie sich vor dem schützen, was diese Männer ihr antun wollten.

Es berührte ihn tief. Ein ursprüngliches und irgendwie sehr männliches Gefühl. Er wollte plötzlich Drachen für sie erschlagen – eine lächerliche Vorstellung, die aus dem Nichts kam und ihn fast überwältigte. Es war immer noch möglich, dass sie ihn anlog, doch es machte keinen Unterschied. Er hatte plötzlich den dringenden Wunsch, ihr tapferer Ritter und Held zu sein. Was war los mit ihm? Sonst war er nicht so überspannt. Solche Gefühle für eine Frau hatte Jack noch nie gehabt. Er mochte Frauen … aber immer auf eine bodenständige Art. Er war kein Romantiker. Obwohl das Gefühl wohl bereits in ihm geschlummert haben musste, wenn er sich plötzlich als ihren Helden sah.

Vielleicht lag es an ihrem goldenen Haar, denn er hatte schon immer eine Schwäche für Blondinen gehabt. Die Beine waren natürlich ein Bonus, und dann kam noch erschwerend hinzu, dass sie in seinem Bett lag … und ihn anblickte mit ihren schönen grünen Augen. Einige Augenblicke lang betrachtete sie ihn nachdenklich, dann seufzte sie.

„Letty ist mein wirklicher Name. Zumindest möchte ich am liebsten so genannt werden, weil meine Mutter mich als Kind immer so nannte. Aber eigentlich lautet mein voller Name Violet Dunston.“ Sie hielt kurz inne, als müsste der Name ihm etwas sagen, und als es nicht so war, schien sie ein wenig überrascht zu sein. „Meine Eltern starben vor einigen Jahren bei einem Kutschenunfall, und seitdem stehe ich unter der Vormundschaft des Bruders meines Vaters. Obwohl ich meinem Onkel nie sehr nahestand, hatte ich nie Grund zu der Annahme, dass er mir Böses wollte. Er zog in mein Haus, um seine Vormundschaftspflichten zu erfüllen, aber davon abgesehen, hatten wir wenig miteinander zu tun.

Vor wenigen Wochen stellte er mich dem Earl of Bainbridge vor, der alt genug ist, um mein Großvater zu sein, und offenbar den Wunsch geäußert hatte, mich zu heiraten. Wie nicht anders zu erwarten, war ich nicht angetan von dem Antrag und lehnte ihn ab. Bainbridge ist ein widerwärtiger Mann, der bereits zwei Ehefrauen unter die Erde gebracht hat, und man sagt von ihm, er sei ein furchtbarer Glücksspieler. Ich war erstaunt, dass mein Onkel einen solchen Antrag überhaupt in Erwägung zog. Dennoch setzte er mich gnadenlos unter Druck, den Mann zu heiraten. Weil er sein Freund sei, so ließ er mich glauben. Wir stritten immer wieder darüber, aber schließlich ließ mein Onkel in seinen Bemühungen nach. Ich nahm an, ich hätte ihn davon überzeugt, dass der Earl of Bainbridge der letzte Mann auf Erden ist, den ich jemals heiraten würde. Unglücklicherweise irrte ich mich.“

Schon der Gedanke an den Vertrauensbruch ihres Onkels machte sie wieder wütend. Die ganze Zeit hatte er ihr vorgemacht, nur das Beste für sie im Sinn zu haben … doch auch er hatte es nur auf ihr Vermögen abgesehen, so wie jeder andere Mann, der an ihre Tür klopfte.

„In der fraglichen Nacht hatte ich mich gerade umgezogen, um auf einen Ball zu gehen, und wartete auf die Kutsche. Mein Onkel bat mich vorher noch um ein Gespräch und bot mir ein Glas Wein an, das ich dummerweise trank. Es war mit Laudanum versetzt. Als Bainbridge ankam, war ich kaum noch bei Bewusstsein, aber ich hörte trotzdem, worüber die beiden sprachen. Der Earl hatte ihm versprochen, ihm die Hälfte meines Vermögens zu geben für eine Heirat mit mir. Zahlbar, sobald Bainbridge den gesetzlichen Zugriff auf mein Vermögen haben würde. Es ist zurzeit noch in einem Fonds angelegt, bis ich volljährig bin. Ich wurde gefesselt und in eine Kutsche getragen, um nach Gretna Green zu fahren.

Als ich erwachte, waren wir unterwegs auf der Straße nach Norden. Ich sagte Bainbridge, dass kein Gericht der Welt eine erzwungene Eheschließung anerkennen würde. Ich drohte damit, die beiden verhaften zu lassen und vor Gericht zu bringen und dass ich Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, um diese Scheinehe annullieren zu lassen, falls es doch dazu kam.“ Ihre Stimme schwankte, denn Letty konnte es selbst immer noch kaum glauben. „Er lachte und meinte, er habe nicht die Absicht, mich länger als nötig Fesseln tragen zu lassen. Nur so lange, bis er per Gesetz mein großartiges Vermögen in die Finger bekäme, und …“, ihre Stimme versagte fast, „… er sagte, wenn ich nicht nachgäbe und ihm weiter das Leben schwermachte, habe er keine andere Wahl. Ich würde Probleme haben, meine Eheschließung aus dem Grab annullieren zu lassen.“

Jack Warriner zog die dunklen Augenbrauen zusammen, während er zuhörte. Doch sie konnte nicht erraten, was er dachte. Der Ausdruck auf seinem sehr attraktiven Gesicht war undurchdringlich.

„Also sind Sie entführt worden?“

Letty nickte. „Ja. Allerdings mithilfe meiner eigenen Familie. Wenn sie mich finden, wird Bainbridge mich nach Gretna Green verschleppen. Und sobald wir verheiratet sind, steht ihm nach dem englischen Gesetz mein gesamtes Vermögen zu.“

„Und dann wird Ihr Onkel davon die Hälfte bekommen?“

„Mein Vater ließ ihn in seinem Testament leer ausgehen. Er setzte ihn lediglich als meinen Vormund ein und verlieh ihm als einem der Treuhänder eine gewisse Kontrolle über das Geld. Sobald ich einundzwanzig bin, fällt der Zugriff auf mein gesamtes Erbe an mich. Der Blutzoll dafür, dass er seine Nichte an Bainbridge verkaufte, ist offenbar angenehmer für meinen Onkel, als den Rest seines Lebens in Geldsorgen zu verbringen.“

Jack stand auf und durchbohrte sie fast mit dem wilden Blick seiner blauen Augen, der nichts über seine wirklichen Absichten verriet.

Autor

Virginia Heath
Mehr erfahren