Historical Saison Band 63

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

DER EARL, DER MICH VERFÜHRTE von ALLEN, LOUISE
Der Earl ist ein ruchloser Schuft! Dessen ist Ellie sich sicher. Dennoch muss sie ihm vertrauen, da nur er ihr aus einer Notsituation helfen kann. Verzweifelt macht sie sich mit dem attraktiven Earl auf die Reise in ein neues Leben - und merkt entsetzt, dass sie Gefahr läuft, seinen Verführungskünsten zu erliegen!

LADY TESS UND IHR FEURIGER RETTER von LETHBRIDGE, ANN
Jaimie, Earl of Sandford, ist der einzige Mann, der Tess retten kann! Er muss das wertvolle Familienerbstück finden, mit dessen Erlös sie der Zwangsheirat entgehen kann. Denn Lady Tess will ihre Freiheit niemals aufgeben! Auch wenn sie sie sich bei Jaimies Anblick plötzlich wünscht, sich in seine starken Arme zu werfen …


  • Erscheinungstag 23.04.2019
  • Bandnummer 0063
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737375
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Louise Allen, Ann Lethbridge

HISTORICAL SAISON BAND 63

1. KAPITEL

London, Mai 1816

Während die glühende Sonne in das glitzernde Blau des Mittelmeers eintaucht und sanfte Brisen die Hitze des Tages verscheuchen, liege ich auf Polstern im Schatten des Zelts und warte auf die Rückkehr des Wüstenlords. Neben dem Aufschlagen der kleinen Wellen und dem Rascheln der Palmwedel ist nur das sanfte Rauschen der Sandkörner zu hören. Es klingt wie Seide auf den nackten Arme von …

Das sanfte Rauschen… Verdammt!“ Ellie Lytton warf ihre Feder in das Tintenfass und schaute missmutig auf die Worte, die sich wie von selbst geschrieben hatten. Sie öffnete die Schublade ihres Schreibtischs und legte das Blatt auf einen Haufen ähnlicher Papiere – auf manchen waren ein oder zwei Absätze, auf anderen nur einige Sätze zu sehen. Sie nahm ein leeres Blatt hinaus, schüttelte die überschüssige Tinte von der Federspitze und setzte erneut an.

Ich kann kaum in Worte fassen, liebe Schwester, wie faszinierend der Dattelanbau in diesem Bereich der nordafrikanischen Küste ist. Von großer Aufregung erfüllt, habe ich den ganzen Tag die schwer arbeitenden Einheimischen in ihren farbenprächtigen Roben beobachtet …

„Was ist nur in mich gefahren?“, murmelte sie, während sie zum Regal über ihrem Schreibtisch blickte.

Dort befanden sich fünf Bücher, die alle in rotes Saffianleder gebunden waren und auf deren Rücken in vergoldeten Buchstaben stand: Der junge Reisende in der Schweiz, Der junge Erkunder des englischen Hochlandes, Oscar und Miranda entdecken London, Pflanzenführer für die Länder der Welt und Der junge Reisende an der englischen Küste. Sie alle entstammten der Feder von Mrs. Bundock.

Ihre Verleger, Messrs Broderick & Alleyn, waren Spezialisten für „erbauliche und lehrreiche Werke für junge Menschen“ und hatten vorgeschlagen, dass Oscar und Miranda als Nächstes die Niederlande erkunden sollten. Edamer Käse, Grachten und der Tulpenanbau würden ihrer Meinung nach eine interessante Mischung ergeben.

Ellie, die in der Welt der Jugendliteratur als Mrs. Bundock bekannt war, hatte sich ihnen widersetzt. Sie sehnte sich nach Hitze, Farbe und exotischen Dingen, auch wenn sie die Informationen für ihre Recherche nur aus Büchern entnahm. Sie würde den jungen Oscar nach Nordafrika schicken, hatte sie verkündet. Insgeheim hoffte sie darauf, dass die Korsen ihn fangen und dem herablassenden, kleinen Musterknaben ein schlimmes Schicksal bescheren würden.

In Wahrheit hätte sie nichts lieber getan, als eine Geschichte über Liebe und Leidenschaft zu schreiben und an Minerva Press zu verkaufen. Doch es war ein Albtraum, die beiden Geschichten in ihrem Geist zu trennen. Sie musste Oscars Expedition fertigstellen und genug Geld verdienen, damit sie über mehrere Monate ihren Roman schreiben konnte. Gerade als der Bursche anfing, über Salzbecken und Dattelpalmen zu schreiben, hatte sich ein dunkelhaariger Mann mit grauen Augen in ihre Vorstellungskraft gedrängt. Er ritt auf einem schwarzen Hengst, und seine weißen Roben flatterten im Wüstenwind.

Sie strich die Haarsträhnen zurück, die sich aus ihrem locker gebundenen Haarknoten gelöst hatten, und steckte sie mit weiteren Haarnadeln fest.

Wenn es nach dem Mittagessen ruhig im Haus sein sollte, würde sie sich der Sardinenfischerei widmen.

Ihr Stiefbruder Francis war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen und hatte zweifellos bei einem anderen Klubmitglied übernachtet, weshalb eine wunderbare Ruhe herrschte. Da nur Polly, das Dienstmädchen, zu Hause war, fühlte es sich für Ellie so an, als wäre sie allein.

Ein Klopfen an der Haustür ließ ihre Hoffnung auf einen ungestörten Morgen schwinden. Ellie gab einen unschicklichen Fluch von sich und versuchte, das Klopfen zu ignorieren. Doch es war erneut zu hören, und Polly machte keine Anstalten, aus dem Untergeschoss hochzukommen. Um ihre Herrin nicht bei der Arbeit zu stören, musste sie sich hinausgeschlichen haben. Sicherlich war sie zum Markt gegangen.

Ellie warf einen Blick auf die Uhr. Zum Glück war neun Uhr morgens viel zu früh für einen anstrengenden Besuch gesellschaftlicher Art. Wahrscheinlich war es nur Francis, der wieder seinen Schlüssel vergessen hatte.

Sie stand auf, wischte ihre tintenbefleckten Hände an ihrer Schreibschürze ab, steckte noch einige Haarnadeln in ihre zerzauste Frisur und ging hinkend in den Flur. Ihr Bein schmerzte vom langen Sitzen. Nachdem sie die Haustür geöffnet hatte, stand nicht Francis vor ihr, sondern ein großer, dunkler Gentleman mit grauen Augen in unordentlicher Abendgarderobe.

„Miss Lytton?“

„Äh … Ja?“

Ich muss träumen.

Auf jeden Fall konnte sie nicht mehr zusammenhängend sprechen.

Ich habe Sie soeben in meiner Schublade verstaut.

„Ich bin Hainford.“

„Ich weiß“, sagte Ellie und war sich ihres unbeholfenen, schroffen Tonfalls bewusst. Wo sind die weiße Roben und der schwarze Hengst? „Ich habe Sie schon einmal gesehen, Lord Hainford. Zusammen mit meinem Stiefbruder Francis.“

Aber nicht so. Nicht mit dunklen Augenringen und blutunterlaufenen Augen. Nicht so bleich im Gesicht und einem edlen Anzug, der so aussieht, als hätte sich ein Hund darin gewälzt. Nicht mit blutbefleckten …

„Ihr Hemd … Sie bluten.“

Ellie riss die Tür weit auf und eilte die Stufe hinunter, um ihn am Arm zu fassen. Erst als sie ihn berührte, erinnerte sie sich daran, dass sie allein zu Hause war. Doch Anstandsdame hin oder her – sie konnte diesen Mann nicht draußen stehen lassen. Da er offenbar viel Blut verloren hatte, konnte er jeden Moment zusammenbrechen.

„Wurden Sie von Straßenräubern überfallen? Kommen Sie herein, um Himmels willen.“ Als er sich nicht rührte, zog sie ihn am Arm. „Lassen Sie mich helfen – stützen Sie sich ruhig auf mich. Am besten gehen wir in den Salon. Dort ist das beste Licht. Ich werde mir die Wunde ansehen, und sobald mein Hausmädchen zurück ist, werde ich nach Dr. Garnett rufen lassen.“

Sie hätte genauso gut an einem der neuen Gaslaternenpfähle auf der Pall Mall zerren können.

„Es geht mir gut, Miss Lytton, es ist nur ein Kratzer. Ich muss mit Ihnen reden.“ Der Earl of Hainford, der Blut auf ihre Türschwelle tröpfelte, sah nicht aus wie ein unverschämt früher Besucher, sondern wie ein Mann auf dem Weg zu seiner Hinrichtung.

Gleich würde er hinfallen, und sie wäre niemals dazu in der Lage, ihn hochzuheben. Vor Sorge wurde sie ungehalten.

„Unsinn. Treten Sie ein.“

Als sie ihn diesmal am Arm packte, ließ er sich widerstandslos über die Schwelle ziehen. Mit der Schulter drückte sie die Tür zu und führte ihn durch den Flur in den Salon – darauf bedacht, ihn nicht durch ihr Hinken zu behindern.

„Da wären wir. Am besten setzen Sie sich auf diesen Stuhl dort.“

Er steuerte recht bereitwillig darauf zu. Als er sie anblinzelte, erkannte sie, dass er sehr müde und verletzt und womöglich betrunken sein musste. Oder vielleicht hatte er nur einen schweren Kopf von der gestrigen Nacht.

Sie sind Miss Lytton?“

Nein, nicht betrunken. Er klang vollkommen nüchtern.

Als sie den Kopf zur Seite legte, um ihn genauer anzusehen, fiel ihr etwas aus dem Haar. Sie fing es auf. Es war keine Haarnadel, sondern die Feder, die sie zuvor verlegt hatte.

„Ja, ich bin Eleanor Lytton. Bitte verzeihen Sie mein Aussehen. Ich habe gearbeitet.“

Warum entschuldige ich mich für meine alten Kleider und Tintenflecke? Dieser Mann erscheint hier zu einer unsäglich frühen Stunde, stört mich beim Schreiben, blutet auf meinen besten Teppich … So viel zu meinen Fantasien. Die Realität sieht immer anders aus.

„Bitte warten Sie hier. Ich hole Wasser und Verbandsmaterial.“

Als sie zurückkam, hatte der Earl seinen zerknitterten Mantel ausgezogen und auf den Teppich gelegt. Zu allem Überfluss verschüttete sie auch noch Wasser darauf, während der Earl of Hainford aus seinem Hemd schlüpfte.

Er ist verletzt, ermahnte sie sich. Jetzt ist nicht die Zeit, um sich zu zieren, die Kleider eines Mannes anzufassen – ganz zu schweigen davon, den Mann anzufassen.

„Lassen Sie mich helfen.“

Dass er sich abrupt hinsetzte und ihr gestattete, ihm das Hemd über den Kopf zu ziehen, war wahrscheinlich ein Hinweis auf seine schlechte Verfassung. Beim Anblick der Wunde, die sich vom Hosenbund über den Brustkorb bis zur rechten Achselhöhle zog, schnappte Ellie nach Luft. Die Verletzung war nicht tief, blutete jedoch und sah überaus schmerzhaft aus.

Ellie warf das Hemd beiseite, nahm es wieder auf und schüttelte es aus, bevor sie den Stoff straffte und gegen das Licht hielt.

„Das ist eine Schusswunde.“ Sie hatte noch nie eine gesehen, doch was sonst hätte eine Verletzung wie diese verursachen können?

Er nickte zischend, während er sich mit den Fingerspitzen abtastete.

„Aber in Ihrem Hemd ist kein Loch. Und die Wunde beginnt unterhalb Ihres Hosenbunds, obwohl Ihre Breeches ebenfalls unbeschädigt sind. Wurde auf Sie geschossen, als Sie nackt waren?“

Die Augenbrauen hochgezogen, sah Hainford sie an. Vermutlich verblüffte es ihn, dass eine Dame Breeches und nackt sagen konnte, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen. „Ja. Könnten Sie mir etwas von dem Verbandszeug geben und dann vielleicht hinausgehen, damit ich mich versorgen kann?“

Er gestikulierte an sich herab. Die Kugel hatte vermutlich seinen Hüftknochen gestreift, und es musste extrem schmerzhaft sein, dass seine Hose – auch wenn sie aus Seide war – darüber strich. Sicherlich musste er sie ausziehen, um die Wunde zu verarzten. Vom Earl of Hainford war bereits viel zu viel zu sehen, und Ellie ertappte sich dabei, wie sie erschüttert und neugierig zugleich sein dunkles Brusthaar betrachtete, das in einer schmalen Linie über seinen Bauch verlief …

„Hier.“ Ellie schob die Wasserschüssel und das Verbandszeug in seine Richtung. „Rufen Sie mich, wenn Sie respektabel – ich meine, bereit – sind. Dann bringe ich Ihnen ein sauberes Hemd.“

Sie hatte keine Angst vor dem Anblick von Blut, doch diesem nackten Körper wollte sie sich keineswegs noch weiter nähern – geschweige denn, ihn berühren, auch wenn sie als aufstrebende Romanautorin über solche Dinge Bescheid wissen sollte. Darüber zu schreiben und davon zu träumen war eine Sache, doch sie wahrhaft zu erleben …

Nein.

Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich in dem Versuch, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen, dagegen. Der Mann, den sie manchmal mit Francis gesehen hatte und der der Held ihres zukünftigen Romans und der Störenfried ihrer restlichen Geschichten war, saß in ihrem Salon. Besser gesagt: Er saß halbnackt und verletzt in ihrem Salon.

Wie war es zu der Schussverletzung gekommen? Vielleicht hatte ihn ein betrogener Ehemann in flagranti mit seiner Ehefrau erwischt. Ellie fiel keine andere Erklärung dafür ein, wie es sonst dazu hätte kommen können, dass ein nackter Mann dergestalt verletzt wurde. Hätte er einen Unfall zu Hause gehabt, hätten ihm seine Diener geholfen.

Sie konnte sich die Szene bildlich ausmalen. Eine schreiende Frau im Bett, zerknitterte Laken, Lord Hainford, wie er nackt aus dem Bett hechtet – in ihrer Fantasie schmückte sie die Szene mit zu vielen Details aus – und der wutentbrannte, eine Pistole schwingende Ehemann. Wie unglaublich ernüchternd. Wie hätte sie damit rechnen können, dass der Mann aus ihren Fantasien vor ihrer Haustür stehen und sich als so fehlbar erweisen würde? Ihr Wüstenlord war in Wahrheit ein Ehebrecher mit dickem Kopf.

Wie das Leben so spielt, gingen Träumereien auch nie dann in Erfüllung, wenn man sich von seiner besten Seite hätte zeigen können. Nicht dass meine beste Seite sehr bemerkenswert wäre, dachte Ellie, als sie reumütig in den Spiegel des Flurs schaute. Aber einen Mann wie ihn wollte sie auch gar nicht für sich gewinnen – nicht im wahren Leben.

Ellie machte sich keine Illusionen. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren hatte sie oft genug gehört, dass sie unscheinbar, unbeholfen und „schwierig“ sei, und glaubte mittlerweile daran. Jetzt hinkte sie auch noch. Sie war eine Enttäuschung auf ganzer Linie, denn ihre Mutter mit ihrem dunklen braunen Haar und ihrer zierlichen Figur war wunderschön gewesen. Ellie komme nach der Familie ihres Vaters, hatten ihr die Leute oft mitleidig gesagt.

Ihr bestes Kleid stammte aus der Saison von vor drei Jahren, und ihre Hauben hatte sie so oft neu gestaltet, dass sie eher aus Bändern und Blumen bestanden als aus Stroh. Ihr jährliches Auskommen verwendete sie auf Papier, Tinte und den Mitgliedsbeitrag in der Bibliothek, und ihre Einnahmen von Messrs Broderick & Alleyn schienen vom Haushalt verschluckt zu werden.

Das alles spielte natürlich keine Rolle, weil sie nicht in der Gesellschaft verkehrte und sich ihr Leben größtenteils in ihrem Kopf abspielte. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis bestand aus mehreren ähnlich gesinnten und gekleideten Frauen, dem Pfarrer und dem Bibliothekar. Gesellschaftliche Bestrebungen aufzugeben hatte sich als erholsam herausgestellt … Wenn sie unsichtbar blieb, war sie auf der sicheren Seite.

Francis hingegen hatte ein soziales Leben und ein weitaus größeres Auskommen. Das meiste davon wendete er für seine Klubmitgliedschaften, seinen Schuster und seine Versuche auf, seinen Helden – Lord Hainford – in Bezug auf Kleidung und gesellschaftliche Anlässe nachzuahmen.

Ellie fragte nicht weiter nach, wie jene „gesellschaftlichen Anlässe“ genau aussahen.

Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sich die Tür öffnete, gegen die sie lehnte, sodass sie rückwärts taumelte. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie auf der nackten Brust des besagten edlen Herrn.

Er gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich, als Ellie sich umdrehte und sich – um Gleichgewicht ringend – mit einer Hand an seiner Schulter festhielt und sich mit der anderen auf seiner Brust abstützte. Dabei machte sie die interessante Entdeckung, dass die Brustwarzen eines Mannes hart wurden, wenn man sie berührte.

Sie wich zurück zur Tür, die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Ich werde ein Hemd für Sie holen.“

„Danke, aber das ist nicht nötig. Ich ziehe meines wieder an. Bitte, hören Sie mir zu, Miss Lytton. Ich muss mit Ihnen reden …“

„Wenn Sie ein Hemd ohne Blutflecken anhaben“, erwiderte sie barsch. Sie war furchtbar wütend auf irgendwen – wahrscheinlich auf sich selbst.

Als sie die Treppe zu Francis’ Schlafzimmer hochging, fragte sie sich, welches Anliegen Lord Hainford hierhergeführt hatte. Eine Entschuldigung war sicherlich angebracht, weil er in diesem Zustand zu ihr gekommen war, doch wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, Francis anzutreffen.

Sie nahm ein Hemd aus der Kommode und ging wieder hinunter. Hainford stand auf, als sie eintrat. Von seiner Haut hob sich der weiße Verband ab, über dessen Ränder sich das dunkle Haar kräuselte.

„Hier, das sollte passen.“ Ellie warf dem Earl das Hemd zu und drehte sich um. Zur Sicherheit schloss sie die Augen.

„Ich bin wieder respektabel“, sagte er nach mehreren Minuten, in denen sie das Rascheln der Kleidung und seinen zischenden Atem gehört hatte.

Ellie drehte sich um. Der Earl war wieder bekleidet, das Halstuch locker gebunden, den beschmutzten Mantel über das saubere Hemd gezogen. Sein Hemd lag zusammengeknüllt auf dem Boden, kein Blut war zu sehen. „Danke“, fügte er hinzu. „Ihr Dienstmädchen …“

„Ist noch nicht zurück. Sie müsste gleich hier sein, und dann schicke ich sie zum Arzt.“

Etwas in ihr sträubte sich gegen seine Nähe, doch sie ermahnte sich im Stillen. Er war ein Gentleman und sicherlich vertrauenswürdig. Außerdem war er verletzt, weshalb sie ihm weibliche, mitfühlende Fürsorge entgegenbringen sollte. Zumindest würde das sicherlich der Pfarrer sagen.

Ihre Gefühle waren zwar überaus weiblich, jedoch alles andere als fürsorglich …

„Das ist nicht nötig. Die Wunde hat aufgehört zu bluten. Ich mache mir Sorgen, weil Sie allein mit mir im Haus sind.“

Sie machen sich Sorgen?

„Glauben Sie, ich benötige eine Anstandsdame, Lord Hainford?“ Ellie nutzte die Sessellehne als Stütze und setzte sich vorsichtig hin, bevor sie auf den leeren Sessel deutete. „Oder brauchen Sie vielleicht eine?“ Angriff war immer besser, als Empörung oder Schwäche zu zeigen.

„Nein und nein.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, die Mundwinkel heruntergezogen, während er anscheinend die richtigen Worte suchte. „Ich habe schlimme Nachrichten für Sie, und ich glaube, dass Sie den Beistand einer anderen Frau brauchen werden.“

„Mein Hausmädchen wird bald zurück sein“, erwiderte sie, bis seine Worte endlich zu ihr durchdrangen. „Schlimme Nachrichten?“

Das konnte nur eines bedeuten. Ihre Eltern und ihr Stiefvater waren tot, und ihr war niemand mehr geblieben außer ihr Stiefbruder.

„Francis?“ Ihre Stimme klang ruhig und gefasst.

„Sir Francis … hatte einen Unfall. Im Klub.“ Er setzte sich.

„Ist er verletzt?“

Nein, dann hätte man mich zu ihm gerufen oder er wäre hierhergebracht worden.

Ihre Gedanken waren erstaunlich klar, als wäre das alles nicht echt, sondern nur ein Zeitungsrätsel, das es zu lösen galt. „Er ist tot, nicht wahr? Wie? Haben Sie ihn umgebracht? War es ein Duell?“

Wegen einer Frau?

Etwas anderes fiel ihr nicht ein, denn schließlich war Hainford nackt gewesen, als man auf ihn geschossen hatte.

„Nein. Ich habe ihn nicht erschossen. Es war ein Unfall. Jemand schoss auf mich, und Francis stand hinter mir.“

„Sie hatten nichts an“, sagte sie mit flacher Stimme.

Wahrscheinlich war sie über ihre Arbeit eingeschlafen – das alles kam ihr wie ein schlechter Traum vor. Auf jeden Fall ergab es keinen Sinn.

„Welcher Klub war es?“

War es vielleicht eine nette Umschreibung für ein Bordell? Oder für etwas anderes Rechtswidriges? Sie las Zeitung und war im Bilde darüber, welche Gepflogenheiten gewisse Männer hatten, doch sie wusste nicht, wie sie danach fragen sollte.

„Der Adventurers’ Club in Piccadilly.“

Ein vollkommen angesehener Klub für Gentlemen. Keines dieser Lokale, in denen nur bestimmte Herren mit gewissen Vorlieben verkehrten. Es hätte sie nicht sonderlich überrascht, wenn Francis ein solches Etablissement aufgesucht hätte – wenn auch nur aus Neugier –, aber dieser Mann? Bestimmt nicht. Doch was wusste sie schon?

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, beunruhigte ihn ihr Schweigen. Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu schauen. Sie war sich jedoch nicht sicher, wie sie sich verhalten und was sie fühlen sollte. Vielleicht kam das vom Schreck.

„Ich hole Ihnen einen Brandy. Das sind entsetzliche Nachrichten.“ Er wollte gerade aufstehen, als sich die Tür öffnete.

„Miss Lytton, ich bin zurück. Oh!“ Polly starrte sie an, vollbeladen mit lose verpackten Schachteln. Eine Zwiebel fiel auf den Boden und rollte zu Ellies Füßen.

„Polly, das ist Lord Hainford, und ich glaube, er braucht ein Glas Brandy.“

„Nicht ich.“

Er schien kurz davorzustehen, sie anzufahren. Offenbar reichte es ihm. Sie hätte untröstlich weinen sollen. Dann hätte er ihr ein Taschentuch reichen, ihr die Hand tätscheln und etwas Bedeutungsloses wie „Das wird schon wieder“ sagen können. Sicherlich wäre ihm das angenehmer gewesen.

„Bringen Sie Ihrer Herrin eine Tasse Tee“, wies er Polly an.

„Und Brandy für Lord Hainford. Das könnte Ihnen heute Morgen guttun“, schlug Ellie sanft vor.

Ja, das alles musste ein schlechter Traum sein. Doch konnte man in einem Traum in Ohnmacht fallen? Der Raum begann sich zu drehen …

Sie schloss die Augen und tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. In Ohnmacht zu fallen würde nichts nützen. Als sie die Augen wieder öffnete, war Lord Hainford immer noch da und sah sie stirnrunzelnd an. Das zerknitterte Hemd lag weiterhin vor seinen Füßen. Francis war immer noch nicht nach Hause gekommen.

„Das ist wirklich kein Traum, oder?“

„Nein, leider nicht.“ Nur ein Albtraum.

Erleichtert beobachtete Blake, wie Miss Lyttons Wangen wieder Farbe annahmen. Die Dinge waren schon schlimm genug, ohne dass sie in Ohnmacht fiel. Auch wenn es ungalant war, verspürte er keine große Lust, diese riesige Frau vom Boden aufzuheben.

Er studierte ihr blasses, ovales Gesicht mit unglaublich vielen Sommersprossen. Ihr hellbraunes, völlig verknotetes Haar wurde mehr schlecht als recht von Haarnadeln gehalten. Ihren großen haselnussbraunen Augen mit den dunklen und geweiteten Iris waren wahrscheinlich das Hübscheste an ihr. Ihre Nase war auf jeden Fall etwas zu lang. Außerdem hinkte sie. Doch zumindest gelang es ihr, nicht in Ohnmacht zu fallen.

Als das Mädchen mit einem Teetablett zurückkam, bedeutete er ihr abrupt, der Dame einzuschenken. „Mit Zucker für Ihre Herrin.“

„Kein Zucker für mich.“

„Gegen den Schreck.“ Er entschied sich ebenfalls für einen Tee und trank ihn ohne Zucker, dankbar für das warme Gefühl in seinem leeren, aufgewühlten Magen.

Das Dienstmädchen setzte sich in eine Ecke des Raums, die Hände in den Schoß gelegt. Er konnte ihren bohrenden Blick spüren.

Miss Lytton hob ihre Tasse mit leicht zitternder Hand, nahm einen Schluck und stellte sie wieder klirrend auf den Unterteller, bevor sie ihn ansah.

„Erzählen Sie mir, was passiert ist.“

Zum Glück war sie nicht eine jener zierlichen, kleinen Frauen, die immer sofort in Tränen ausbrechen. Doch passieren konnte es immer noch …

„Ich war letzte Nacht im Adventurers und spielte Karten mit Lord Anterton, Sir Peter Carew und einem Mann namens Crosse. Ich gewann sehr hoch – vor allem gegen Crosse, der weder ein guter Verlierer noch ein Freund von mir ist. Wir haben alle getrunken. Ihr Stiefbruder stieß sehr aufgebracht zu uns und sagte, er wolle sofort mit mir sprechen. Ich hatte eine Glückssträhne und wollte nicht aufhören. Ich sagte ihm, dass wir später zusammen nach Hause laufen und dann reden könnten.“

Miss Lytton biss sich stirnrunzelnd auf die Unterlippe. „Aufgebracht?“

„Oder besorgt. Ich weiß nicht genau. Leider habe ich nicht genau darauf geachtet.“

„Sie waren betrunken“, stellte sie kühl fest.

Es machte ihn fassungslos, dass eine Frau so mit ihm sprach. Da er das Gefühl nicht abschütteln konnte, verantwortlich zu sein, trafen ihn die direkten Worte.

„Ich war angeheitert so wie alle. Wir waren mitten in einem Spiel, in dem ich pausenlos gewann. Lytton hätte wissen müssen, dass es ein schlechter Zeitpunkt war, uns zu unterbrechen. Wir begannen eine neue Runde. Crosse verlor wieder haushoch gegen mich und schrie dann herum, dass ich ein Schwindler sei und Karten in meinen Ärmeln hätte. Dass ich mit Ihrem Stiefbruder geredet hätte, um zu betrügen.“

Jenes rote Gesicht, jener feuchte Mund, jene wütenden, unzusammenhängenden Vorwürfe.

Der Mann hatte die Karten durcheinandergeworfen, Spielmarken durch die Luft fliegen lassen und Weingläser umgestürzt.

„Betrüger! Schwindler!“

Alle hatten ihre Spiele unterbrochen. Leute waren herbeigeeilt, um zu starren.

„Ich sagte ihm, er solle seine Vorwürfe zurücknehmen. Die anderen taten es mir gleich. Er wollte nicht davon abweichen und geriet noch mehr in Rage. Offenbar stand er kurz vor dem Ruin, und die hohen Verluste hatten ihn um den Verstand gebracht. Er wirkte so erbärmlich, dass ich ihn nicht herausfordern wollte. Daher zog ich meinen Mantel aus und drückte ihn ihm in die Arme, damit er selbst nachsehen konnte. Er warf mir weiterhin vor, Karten zu verstecken. Ich zog meine Weste und mein Hemd aus. Als er den Tisch umschubste und schrie, dass ich Asse in meinen Breeches versteckt hätte, zog ich auch meine Hose und alles andere aus. Er hatte mich zur Weißglut gebracht. Francis stand hinter mir und sammelte meine Kleider auf wie ein verwirrter Kammerdiener. Die Menge lachte und spottete über Crosse.“

Er machte eine Pause und versuchte, die Ereignisse des Vorabends in seinem schmerzenden Kopf zu sortieren, um seine Worte mit Bedacht zu wählen.

Alle hatten geglotzt, bevor Anterton lachend auf Blake gezeigt und eine anerkennende Bemerkung gemacht hatte. „Der von Hainford sieht aus wie von einem Bullen.“ Oder war es Maultier gewesen?

Er hatte Crosse ausgelacht.

„Da kannst du nicht mithalten, oder Crosse? Über den Anblick von Hainford würden die Dirnen nicht so lachen wie bei dir gestern im Maison Française, nicht wahr, Crosse?“

„Crosse wühlte in seiner Tasche, ließ etwas fallen und ging auf die Knie, um es aufzuheben. Dann sah ich, dass es eine Pistole war. Er zitterte vor Wut.“

Ich dachte, ich würde sterben – splitternackt an den Folgen eines Kartenspiels.

Als der Sekretär des Klubs aus der Menge heraustrat, kam Blake flüchtig die Frage in den Sinn, ob man sich gegen den Umstand erwehren könnte, auf diese Art und Weise in einem Klub umgebracht zu werden.

Unziemliches Verhalten …

„Crosse drückte ab. Er hielt die Pistole nach oben, weshalb die Kugel an meinen Rippen vorbeistreifte und schließlich Francis traf, der immer noch hinter mir stand.“

Miss Lytton schnappte kurz nach Luft, bevor sie sich eine Hand über den Mund legte. Sie war so bleich, dass sich die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen abhoben.

„Ist er tatsächlich tot?“, stieß sie hervor.

Daran besteht kein Zweifel. So eine Schusswunde kann niemand überleben.

„Es muss schnell gegangen sein. Er wird einen Schlag gegen die Brust gespürt haben, dann nichts.“ Er glaubte, dass es stimmte, oder hoffte es zumindest. Auf jeden Fall war Lytton schon tot gewesen, als sich Blake auf den Boden gekniet und den Kopf des Mannes auf seine Oberschenkel gebettet hatte.

„Wo ist er jetzt?“

Sie war immer noch blass, ihre Stimme fest. Das liegt am Schreck, vermutete er. Allerdings schien sie ohnehin kein aufbrausender Mensch zu sein. Sie hatte sich recht besonnen verhalten, als er blutend auf ihrer Türschwelle erschienen war. Eine ungewöhnliche junge Dame.

„Im Klub. Es war ein Arzt da, eines der Mitglieder. Wir brachten ihn in ein Separee und taten alles, was nötig war.“

Sie hatten ihm die blutüberströmte Kleidung ausgezogen, ihn gewaschen und ihm ein sauberes Nachthemd übergestreift. Auch hatten sie nach einer Frau geschickt, die ihn anständig herrichten würde, bevor seine Familie ihn sah.

„Ich habe seine Uhr, sein Notizbuch und alles Weitere.“

„Ich verstehe“, sagte sie mit tonloser Stimme. Sie war noch bleicher als vorhin, wodurch ihre markanten Wangenknochen hervortraten, ihre lange Nase und ihr kräftiges Kinn jedoch unvorteilhaft betont wurden.

„Er muss natürlich hierhergebracht werden. Können Sie das in die Wege leiten?“

Das könnte und würde er tun. Auch würde er etwas mit jenen blutgetränkten, durchlöcherten Papieren in Lyttons Brusttasche anstellen. Unter keinen Umständen konnte er sie in diesem Zustand zurückgeben.

„Natürlich. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

Die nachlässig gekleidete Frau vor ihm sah ihn aus ihren haselnussbraunen Augen reserviert an.

„Das stimmt wohl. Hätten Sie auf Ihren Freund gehört, der Ihnen offensichtlich etwas Dringliches mitteilen wollte, anstatt betrunken jenen Crosse aufzustacheln, dann wäre Francis jetzt nicht tot, nicht wahr, Mylord?“

2. KAPITEL

Ihre Feindseligkeit hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, wie unschwer zu erkennen war. Ellie vermutete, dass sich Lord Hainford nichts hätte anmerken lassen, wenn er gefasst gewesen wäre und keine Schmerzen gehabt hätte, doch seine Wangen verfärbten sich rot, und er kniff seine blutunterlaufenen grauen Augen zusammen.

„Ja, Miss Lytton, wenn Ihr Bruder nicht in den Klub gekommen wäre, dann wäre er jetzt noch am Leben.“

„Mein Stiefbruder Francis ist … war … der Sohn des zweiten Mannes meiner Mutter, Sir Percival Lytton. Ich nahm seinen Namen an, als sie heirateten.“

An ihren Vater, den Honorable Frederick Trewitt, konnte sie sich kaum erinnern. Er war ein schroffer Mensch gewesen, der gestorben war, als sie acht Jahre alt gewesen war. Die zweite Heirat ihrer Mutter hatte ihnen die benötigte finanzielle Sicherheit gegeben, obwohl Sir Percival zu Beginn wenig Interesse an seiner recht unansehnlichen, ruhigen Stieftochter gezeigt hatte.

Zu Beginn …

Der um drei Jahre ältere Francis hatte sie ignoriert, bis sein Vater und seine Stiefmutter gestorben waren und er eine Haushälterin benötigte.

Sie hatte keine Zuneigung für ihn gehegt und erwartet, dass er sich am Ende wie sein Vater verhalten würde, doch da er ihr weiterhin nichts als Gleichgültigkeit entgegenbrachte, entspannte sie sich nach und nach. Allerdings niemals so sehr, dass sie die Tür ihres Schlafzimmers nicht verriegelt hätte.

Der Nutzen, den sie für ihren Stiefbruder darstellte, verlieh ihr den einzigen gesellschaftlichen Status, der einer wenig attraktiven jungen Frau mit sehr eingeschränkten Mitteln und ohne Kontakte zugänglich war: den einer respektablen, armen Verwandten.

„Sie standen sich natürlich nahe. Das muss Sie zutiefst erschüttern … Ein großer Verlust.“ Der Earl hatte seinen Ärger gezügelt und bediente sich nun offenbar seiner gewöhnlichen Phrasen. „Ich verstehe Ihren Unmut sehr gut.“

„Wenn sich mein Stiefbruder an irgendeinen abgelegenen Ort zurückgezogen und ich ihn nie wieder gesehen hätte, dann hätte ich ihm keine Träne nachgeweint, Mylord. Dennoch betrübt es mich, dass er sein Ende unter so elenden Umständen gefunden hat, nur weil ein anderer ihn auf so selbstsüchtige Art und Weise ignorierte.“

Sie hätte für jeden Mitleid empfunden, der auf diese Weise ums Leben kam – ganz zu schweigen von einem Verwandten.

„Madam, weder der Ort noch die Umstände waren elend, und Lytton war in einem Klub, in dem er sich mit allen möglichen Bekannten hätte unterhalten können, bis ich wieder Zeit für ihn gehabt hätte.“

Hainford erhob sich und sah sie hochmütig an.

„Dass er sich mitten in einen Tumult begab, war allein seine Entscheidung, und das Ergebnis ist ein bedauernswerter Unfall. Wenn Sie keinen bestimmten Bestatter im Sinn haben, werde ich einen für Sie engagieren. Ich werde auch herausfinden, wie der Leichenbeschauer fortfahren will, und Sie darüber informieren. Einen schönen Tag noch.“

Polly beeilte sich, um vor ihm die Haustür zu erreichen, und kam mit einer kleinen rechteckigen Karte in der Hand zurück. „Er hat das dagelassen, Miss Lytton.“

„Leg es bitte auf meinen Schreibtisch. Ich weiß genau, wer er ist.“

Sie hatte es sich zum Anliegen gemacht, mehr über die Identität des Mannes mit den grauen Augen, den Francis vergötterte, in Erfahrung zu bringen. William Blakestone Pencarrow, der dritte Earl Hainford, war achtundzwanzig, besaß Ländereien in Hampshire, Yorkshire und Northamptonshire, ein prachtvolles Londoner Stadthaus am Berkeley Square und einen Stall mit Vollblutpferden.

Er hatte dichtes schwarzes Haar, das elegant geschnitten war, eine markante Nase, die etwas zu groß war, ein vorspringendes Kinn und Augen, die selbst blutunterlaufen schön waren. Seine Schultern waren breit, seine Muskeln – wie Ellie jetzt wusste – stark, und er überragte Francis um Längen.

Für Francis war er wie ein Gott mit einzigartigem Stil, Geschmack und Bildung gewesen, den er möglichst detailgetreu hatte nachahmen wollen – koste es, was es wolle.

Im Großen und Ganzen war Hainford ihr wie der perfekte Held für ihr Buch vorgekommen. Es spielte keine Rolle, dass er sich im wahren Leben als ungeduldig, überheblich, selbstbezogen und schamlos herausgestellt hatte.

Mit der Zeit ließ der Schreck nach. Es fühlte sich merkwürdig erleichternd an, Trauer und Wut zu empfinden und sich an die gesellschaftlichen Rituale in Bezug auf Tod zu halten. Die schwarzen Bänder am Türklopfer, die heruntergezogenen Jalousien, die hastige Ausbesserung der Trauerkleidung, die sie zuletzt beim Tod ihres Stiefvaters getragen hatte. All das nahm Ellies Zeit in Anspruch.

Vom Earl war ein Brief eingetroffen, in dem er sie informierte, dass die Untersuchung am folgenden Tag stattfinden sollte. Es kam Ellie überraschend schnell vor, und sie war dankbar für die Tüchtigkeit des Leichenbeschauers, bis ihr klar wurde, dass es wahrscheinlich an Hainfords Einfluss lag.

Der von ihm ausgewählte Bestatter kam zu Besuch und besprach mit ihr ernst und andächtig die Einzelheiten der Beerdigung.

„Der Earl wollte nicht, dass Sie sich mit belanglosen Kleinigkeiten herumschlagen müssen, Miss Lytton.“

„Wie gütig“, erwiderte Ellie spitz.

Ignoranter, selbstherrlicher, gebieterischer … Oder vielleicht fühlte er sich schuldig, wie es sich gehörte.

Der Tag der Beerdigung rauschte an ihr vorbei, bis sie schließlich Mr. Rampion, den berühmten Anwalt, in Francis’ Arbeitszimmer traf. Er schien sich unwohl zu fühlen, doch vielleicht pflegte er nur selten Umgang mit Frauen. Als sie den Raum betrat, stand er auf – genauso wie der Herr, der neben ihm am Schreibtisch saß.

„Lord Hainford ist auf meine Bitte hier, Miss Lytton. Da ich zuvor mit ihm gesprochen habe, hielt ich es für ratsam.“

Die Lippen zusammengepresst, nahm Ellie Platz und kämpfte ihren Ärger über die Einmischung nieder. Zweifellos würde sich alles aufklären. Vielleicht hatte es etwas mit der Untersuchung zu tun. Sie musste ruhig und sachlich bleiben.

„Sehr gut, Mr. Rampion. Fangen wir an.“

„Das Testament beinhaltet keine Überraschungen“, sagte der Anwalt, der unerklärlicherweise immer noch unglücklich aussah. „Die erbliche Ritterschaft und die Ländereien gehen über auf Sir Francis’ Vetter, Mr. James Lytton, der in Schottland wohnt. Es gibt Nachlässe für die Bediensteten der Familie und den Nachlass des Vermögens an Sie, Miss Lytton. Gemäß dem Testament seines Vaters war Sir Francis, wie Sie wissen, der alleinige Verwalter Ihrer geschäftlichen Unternehmungen.“

„Nun, vermutlich macht es keinen Unterschied, dass ich jetzt keinen Verwalter mehr habe. Ich bin keine wohlhabende Frau, und die Verwaltung meiner Finanzen ist daher nicht schwierig. Mein vierteljährliches Auskommen werde ich wohl wie gewohnt beziehen.“

Mr. Rampion nahm seine Brille ab, putzte sie und setzte sie sich räuspernd wieder auf. „Aus diesem Grund ist Lord Hainford hier. Vielleicht sollten Sie ihr die Unterlagen geben, Mylord …“

Blake zog die Dokumente aus seiner Tasche. Jonathan, sein Sekretär, hatte die Unterlagen gesäubert und das Blut größtenteils entfernt, sodass mit Bleistift gekritzelte Anmerkungen auf dem zerknitterten Papier sichtbar geworden waren. Er hatte jedes Blatt gebügelt, um die zerfetzten Ränder rund um das Einschussloch in der Mitte zu glätten. Auch hatte er abgeschrieben, was er entziffern konnte.

„Diese Notizen steckten in der Brusttasche Ihres Stiefbruders, Miss Lytton.“ Er kam sich wie ein Unmensch vor, weil er so direkt war, doch es machte keinen Sinn, darum herumzureden.

Sie wurde blass, als ihr die Ursache der Beschädigung bewusst wurde, und machte keine Anstalten, die Papiere in die Hand zu nehmen. „Was ist damit?“

„Ich glaube, es ist das, worüber Lytton mit mir reden wollte. Anscheinend hatte er größere Investitionen in ein Kanalprojekt an der Küste von Sussex getätigt. Ich hatte davon gehört – ein vollkommen überzogenes Vorhaben, das mittlerweile in Konkurs gegangen ist. Die Anlage ist wertlos.“

„Warum wollte er ausgerechnet mit Ihnen darüber sprechen, Lord Hainford?“

Im Gegensatz zu ihm hatte sie keine Ahnung, was all das bedeutete. Stattdessen hielt sie sich mit Nebensächlichkeiten auf.

„Er wusste, dass ich erfolgreich in verschiedene Kanalprojekte investiert habe. Ich glaube, Lytton ahnte, dass mit diesem Vorhaben etwas nicht stimmte. Daher wollte er mich nach meiner Meinung fragen.“

„Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn er mit Ihnen gesprochen hätte?“

Miss Lytton beugte sich vor. Als er ihre Frage hörte und ihre Gedanken sich so offensichtlich in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegelten, erkannte Blake, dass er es mit einer intelligenten Frau zu tun hatte, die versuchte, nachzuvollziehen, was geschehen war. Die Neugier belebte ihr Gesicht und beinahe hätte er seine Meinung darüber revidiert, dass sie eine uninteressante, bleichgesichtige Frau war. Beinahe.

„Hätte er am nächsten Morgen verkauft, hätte er einen kleinen Gewinn eingestrichen oder wäre ohne Verluste aus der Sache herausgekommen. Doch am Ende jenes Geschäftstags hatten sich die Dinge geändert.“

„Ich verstehe.“

Aus kühlen Augen sah sie ihn verurteilend an. Sie musste nichts sagen. Wenn er den Spieltisch verlassen und an Ort und Stelle mit ihrem Bruder geredet hätte, wäre Lytton jetzt nicht nur am Leben, sondern hätte auch seine Investition gesichert, indem er am folgenden Tag alles verkauft hätte.

Jetzt konnte Blake nichts anderes mehr tun, als die traurigen Nachrichten zu übermitteln. Anstatt ihn zu verachten, würde sie ihn jetzt hassen.

Der Anwalt kam Blake zuvor. „Ich befürchte, die Dinge stehen noch schlimmer, Miss Lytton. Offenbar hat Sir Francis nicht nur all seine verfügbaren Mittel in das Projekt gesteckt, sondern auch Ihre.“

„Meine? Aber das konnte er gar nicht.“

„Doch“, antwortete Blake. „Und er hat es getan. Ihm oblag die vollkommene Kontrolle über Ihre Finanzen. Zweifellos hielt er es für das Beste.“

Sie nahm einen tiefen, zitternden Atemzug, die Hände fest im Schoß ineinander verschränkt, und Blake wappnete sich gegen ihre Tränen.

„Ich bin ruiniert“, sagte sie mit schwacher Stimme.

Es war weder eine Frage, noch kullerten Tränen.

„Die Investitionen sind fort, und dieses Haus ist gemietet, wie Sie wissen“, sagte Rampion. „Von Ihrem flüssigen Kapital ist nichts mehr übrig. Es gibt nichts, was Sie von Ihrem Stiefbruder erben könnten. Allerdings sind Sie im Besitz von einem Bauernhof in Lancashire. Carndale Farm. Es gehörte zur Mitgift ihrer Mutter, falls Sie sich erinnern, und Sir Francis konnte es nicht anrühren. Es bringt immer noch Pachten ein … jedoch nur zweihundert im Jahr.“

„Lancashire“, flüsterte sie leise und fügte mit kräftigerer Stimme hinzu, „aber es gibt ein Haus?“

Jede andere Dame wäre schon längst außer sich gewesen, dachte Blake, und würde sich nicht die Mühe machen, die Tragweite der Situation zu erfassen. Flüchtig kam ihm der Gedanke, dass es in einem Notfall gut wäre, eine Person wie Eleanor Lytton an seiner Seite zu haben.

„Ja, ein Haus, auch wenn es unbewohnt ist, seit der letzte Mieter vor einem Jahr wegzog. Der Bauernhof selbst – das Land – wird separat verpachtet.“

„Ich verstehe.“ Sie richtete sich entschlossen auf und straffte die Schultern. „Nun, dann müssen die Möbel und Francis’ Besitztümer verkauft werden, um alle Schulden zu begleichen. Hoffentlich wird das auch seine Hinterlassenschaften für die Bediensteten decken. Ich werde so schnell wie möglich nach Lancashire ziehen.“

„Aber, Miss Lytton, eine unverheiratete Frau braucht eine Anstandsdame“, wandte der Anwalt ein.

„Mein Hausmädchen wird mich begleiten. Ich glaube, ihren Lohn kann ich mir leisten“, erwiderte sie gleichgültig. „Das muss reichen. Dass ich keine Anstandsdame habe, wird die Schirmherrinnen von Almack’s wohl kaum interessieren, oder? Vielleicht können wir uns morgen erneut treffen, Mr. Rampion. Könnten Sie mir bis dahin eine Übersicht über die ausstehenden Verpflichtungen und Nachlässe geben?“

Als sie aufstand, erhoben sich die beiden Herren.

„Ich denke, ich muss Sie jetzt verlassen, Gentlemen.“

Mit überraschend eindrucksvoller und würdevoller Haltung hinkte sie aus dem Raum – trotz ihrer ausgebleichten Trauerkleidung und der fürchterlichen Frisur. Leise schloss sie die Tür hinter sich, und in der Stille glaubte Blake ein Schluchzen zu hören, das jedoch abrupt verstummte. Dann vernahm er nichts mehr.

„Verdammt“, sagte Blake und setzte sich, obwohl er ihr am liebsten nachgegangen wäre, um sie zu trösten. Er war jedoch gewiss der letzte Mensch auf Erden, den sie sehen wollte.

Der ältere Herr nahm ebenfalls wieder Platz und sammelte seine Unterlagen zusammen. „Ich befürchte, dass das Leben es nicht gut meint mit verarmten vornehmen Damen – insbesondere jenen, die sich eher durch ihren Charakter als ihr Aussehen auszeichnen, wenn Sie wissen, was ich meine.“

„Warum hinkt Miss Lytton?“

„Sie ist vor drei Jahren schwer gestürzt. Es war ein komplizierter Bruch, weshalb ihr Bein nicht richtig heilte. Ihr Stiefvater erlitt einen Anfall, als er sie fand. Sie wollen bestimmt aufbrechen, oder Mylord? Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, diese Notizen lesbar zu machen. Es liegt wohl viel Arbeit vor mir, wenn ich Miss Lytton morgen das Gesamtbild präsentieren soll.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Sir.“

Blake schüttelte die Hand des Anwalts und machte sich, als er hinausging, auf eine weitere Begegnung mit Miss Lytton gefasst. Doch im Hausflur waren nur herumeilende Hausangestellte zu sehen, und als Blake ins Freie trat, fühlte er sich etwas schuldig und erleichtert zugleich.

„Das sind die letzten Unterlagen Francis Lyttons Tod betreffend.“ Jonathan Wilton, Blakes Sekretär, legte einen Stapel Papiere vor ihn.

Blake ließ die Dokumente liegen und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Mein Gott, was für eine unschöne Angelegenheit. Wie gut, dass der Gerichtsmediziner so entschlossen vor dem Gericht ausgesagt hat, und der Tod als Unfall erklärt wurde. Stell dir vor, man hätte Crosse dafür gehängt. Allem Anschein nach treibt er sich in Somerset herum. Den sehen wir nie wieder.“

Jonathan schnaubte verächtlich. Er war Blakes unehelicher Halbbruder, ein intelligenter, hart arbeitender Mann, der nur wenige Monate jünger war als Blake und ihm sehr ähnlich.

Blake hatte ihn als Bruder anerkannt und hätte noch mehr getan, doch Jon hatte darauf bestanden, den Namen seiner Mutter zu behalten und seinen eigenen Weg zu gehen. Blake hatte ihn jedoch dazu überredet, ihn sein Studium an der Universität zahlen zu lassen. Jon war nach Cambridge gegangen und Blake nach Oxford. Anschließend hatte Jon ihm mit den geschäftlichen Angelegenheiten der Grafschaft geholfen.

In der Öffentlichkeit verhielt sich Jon ihm gegenüber sehr förmlich. Privat behandelten sie sich wie Brüder. „Lytton war ein verdammter Narr“, sagte er jetzt.

„Ich habe keine Ahnung, warum ich ein Vorbild für ihn war oder warum ich das verdient habe.“ Blake hörte auf, mit dem Bericht des Gerichtsmediziners in der Luft zu wedeln. „Er hat meine Geduld strapaziert. Aus diesem Grund war ich an jenem Abend so kurz angebunden, wenn du die Wahrheit wissen willst. Ich wollte nicht, dass er mir im Klub auch noch an den Fersen hängt.“

„Das ist nicht deine Schuld“, erwiderte Jon schulterzuckend, als er die Unterlagen vom Schreibtisch nahm.

„Ich hätte mit ihm reden können, damit er einsieht, wie gedankenlos sein Handeln war.“

Wegen des Vorfalls hatte er sinnlose Schuldgefühle, die er nicht abschütteln konnte. Aufgrund von Miss Lyttons stoischer Haltung in Bezug auf den Todesfall und ihren finanziellen Ruin fühlte er sich noch schlechter. Es gefiel ihm nicht, sich schuldig zu fühlen, und er versuchte, dieses Gefühl nach Möglichkeit zu vermeiden. Meistens gelang es ihm auch, nicht an das letzte Mal zu denken, als er sich schuldig wegen einer Frau gefühlt hatte.

Felicity …

Die Frau, die er ins Unglück gestürzt hatte. Er hatte nicht erkannt, dass er sie liebte, bis es zu spät gewesen war.

Wie üblich schob er die Erinnerung rasch beiseite, um zu verhindern, dass sie irgendwelche Gefühle in ihm auslöste.

Es klopfte an der Tür seines Arbeitszimmers. Blake steckte seine Schreibfeder zurück in den Halter. „Herein.“

„Die Morgenpost, Mylord.“

Der Diener trug ein mit Briefen beladenes Tablett zu Jon, der die Umschläge auf den Schreibtisch legte, einen Stuhl heranzog und begann, sie durchzusehen.

Er brach das Siegel eines Briefes und reichte ihn Blake nach einem kurzen Blick auf die Unterschrift. „Von Miss Lytton.“

Einfaches Papier, schwarze Tinte, eine starke, nicht verschnörkelte Handschrift. Blake las das kurze Schreiben. Dann las er es erneut. Nein, er hatte sich nicht verlesen.

„Verdammt, die Frau will, dass ich sie nach Lancashire fahre!“

„Wie bitte?“ Jon ergriff das Papier, als Blake es in seine Richtung über den Schreibtisch schleuderte. „Sie gibt dir die Schuld an ihrer Notlage … Sie will, dass du ihr deine Kutsche leihst und sie begleitest. Ist sie hübsch?“

„Nein, sie ist nicht hübsch – nicht, dass es einen Unterschied machen würde.“

Das hoffe ich zumindest.

„Eleanor Lytton ist eine unscheinbare Frau, die sich wie eine Vogelscheuche kleidet. Sie sieht so aus, als hätte sie noch nie einen Friseursalon von innen gesehen, und sie hinkt.“ Er dachte einen Moment über sie nach und fügte dann der Gerechtigkeit halber hinzu: „Allerdings ist sie mutig und wirkt ziemlich intelligent – einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie mich für den Tod ihres Stiefbruders verantwortlich macht. Ihr Temperament ist etwas unstet, und sie hat überhaupt kein Taktgefühl. Ich werde sie besuchen und diesem Unsinn ein Ende setzen.“

Blake stand auf und zog an der Klingelschnur. „Lancashire! Sie muss noch verschrobener sein, als ihr Aussehen vermuten lässt. Warum zum Teufel sollte ich ausgerechnet nach Lancashire fahren wollen? Was denkt sie sich?“

„Der Kurort in Blackpool soll sehr gut sein, wenn man über die vielen Arbeiter aus Manchester hinwegsieht, die sich dort aufhalten“, erwiderte Jon grinsend und duckte sich gewohnheitsgemäß, als Blake ein zusammengeknülltes Papier in seine Richtung warf.

3. KAPITEL

Lord Hainford, Miss Lytton“, verkündete Polly. Er ist also gekommen.

Ellie hatte von Anfang an gewusst, dass die Idee ungeheuerlich war. Im Grunde war sie sich sicher gewesen, dass Lord Hainford ihren Brief einfach ins Feuer werfen würde. Doch sie hatte die halbe Nacht wachgelegen und darüber nachgedacht, wie sie mit ihren wenigen Habseligkeiten nach Lancashire gelangen und sich den Umzug leisten sollte, ohne Polly zu entlassen.

Wenn Lord Hainford ihr seine Kutsche lieh, könnte sie genug Geld sparen, um ihr Dienstmädchen zwei weitere Monate zu beschäftigen – Zeit, in der sie womöglich Geld eintreiben und ihr Buch fertigstellen könnte. Mit einem Begleiter wie Lord Hainford würden sie unterwegs mögliche Ärgernisse vermeiden. Sie hatte den Brief geschrieben und abgeschickt, bevor ihr Zweifel kommen konnten.

„Guten Morgen, Mylord. Polly, ich denke, Seine Lordschaft wird sich sicherer fühlen, wenn du dich dorthin setzt.“

„Guten Morgen. Ich fühle mich sicher, danke, Miss Lytton. Verwirrt, ja, aber nicht unsicher.“ Der Earl folgte Ellies Beispiel, nahm Platz und sah sie an, ohne auch nur eine Spur der Belustigung zu zeigen.

Mit seiner maßgeschneiderten dunklen Kleidung, seinem schwarzen Haar und der großen Nase sieht er wie ein stolzer, verärgerter Rabe aus, dachte sie.

Anscheinend verursachte es ihm keine Schmerzen, sich hinzusetzen. Die Schusswunde war also vermutlich gut verheilt.

„Verwirrt?“ Ellie schob die Erinnerung an das Gefühl seines nackten Oberkörpers unter ihrer Handfläche beiseite und verschränkte die Hände sittsam im Schoß.

„Ich bin verwirrt über Ihre Anmerkung bezüglich Lancashire in Ihrem Brief, Miss Lytton.“

Sie hatte recht behalten: Er würde seinen Verpflichtungen nicht nachkommen. Natürlich würde er es gar nicht so sehen. Wahrscheinlich war er sich seiner Verantwortung für Francis’ Verhalten immer noch nicht bewusst. Aber warum war er dann gekommen? Sie hätte ein kurzes Schreiben mit einer Absage oder einfach Schweigen erwartet.

„Mylord …“

„Nennen Sie mich bitte Hainford, Miss Lytton. Ich komme mir wie bei einem Geschäftstreffen vor, wenn Sie mich mit Mylord ansprechen.“

Ich werde nicht rot anlaufen. Und wenn, dann aus Ärger und nicht vor Scham.

„Hainford, mein Bruder hielt große Stücke auf Sie. Er verwendete Unsummen, die er sich kaum leisten konnte, um Ihren Lebensstil und Ihre Garderobe nachzuahmen. Inspiriert von Ihren Geschäften, tätigte er Investitionen, die er sich tatsächlich nicht leisten konnte und zu denen er in moralischer Hinsicht zum Teil nicht berechtigt war. Als er Sie schließlich um Rat bat, wandten Sie sich von ihm ab und ließen Ihren Freund wegen eines Kartenspiels links liegen.“

„Francis war erwachsen und kein Freund, sondern ein Bekannter. Ich gab ihm nie Ratschläge – weder zu seiner Garderobe noch zu seinen Pferden oder Klubs und bestimmt nicht zu seinen Investitionen.“ Er kniff die Augen zusammen. „Möchten Sie vielleicht auf eine ungebührliche Beziehung anspielen, Miss Lytton?“

„Ungebührlich?“

Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, worauf er hinauswollte. Sie konnte nicht umhin, sich darüber zu wundern, dass er so etwas vor einer Dame auch nur andeutete. Vermutlich betrachtete er sie nicht als Dame, was entmutigend war, auch wenn es nicht verwunderlich war.

„Polly, sei so gut und bringe uns Tee.“ Ellie stand auf und schloss beherzt die Tür hinter dem Dienstmädchen. „Nein, ich spiele auf nichts Ungebührliches an, und es ist mehr als unangebracht, dass Sie diese Möglichkeit vor mir überhaupt erwähnen.“

„Ich versuche lediglich, einen Grund für Ihre unverkennbare Feindseligkeit mir gegenüber zu finden, Miss Lytton.“

„Einen Grund? Ich habe keinen. Ich bin auch nicht feindselig, sondern weise nur auf die Tatsachen hin, auf denen mein Missfallen über Ihr Verhalten basiert.“

Angriff. Gib ihm nicht zu erkennen, wie sehr du seine Hilfe willst.

„Warum möchten Sie, dass ich Sie durch das halbe Land begleite, wenn Sie so wenig von mir halten?“

Er klang tatsächlich interessiert, so als wäre sie ein Rätsel, das es zu lösen galt. Die dunklen zusammengezogenen Brauen und der ernste Mund hätten sie nicht beruhigen dürfen, doch dem war so. Er hörte ihr zu.

„Ich bin verarmt dank der Dummheit meines Stiefbruders und dank Ihres Versagens ihm gegenüber als … als Bekannter und Mitglied desselben Klubs. Ich bin gezwungen, nach Lancashire zu ziehen, und mir steht eine lange, kostspielige und anstrengende Reise in der Postkutsche bevor. Als Wiedergutmachung könnten Sie mir zumindest Ihre Kutsche leihen und mich begleiten.“

„Erwarten Sie ernsthaft, dass ich Ja sage?“

Er hatte sich erhoben, als sie aufgestanden war, um die Tür zu schließen, und stand jetzt immer noch groß, dunkel und stirnrunzelnd im Raum. Er nahm viel zu viel Platz ein und schien alle Luft zu verbrauchen.

„Nein, das tue ich nicht“, gestand sie. „Ich dachte, Sie würden den Brief ins Feuer werfen, und bin überrascht, Sie heute Morgen hier zu sehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe die ganze Nacht wachgelegen und überlegt, wie ich nach Carndale gelangen soll. Die Idee ist mir im Morgengrauen gekommen, und ich fühlte mich besser, nachdem ich den Brief geschrieben hatte. Da ich nichts zu verlieren habe, habe ich ihn abgeschickt.“

„Sie sind tatsächlich ein außergewöhnliches Wesen.“

Ellie öffnete den Mund, um ihm die Meinung zu sagen, doch dann sah sie, dass er die Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen hatte. Auch das Stirnrunzeln war verschwunden, als hätte er sie durchschaut.

„Ich bin also nicht nur ein Geschöpf und außergewöhnlich, sondern gebe Ihnen auch Anlass zur Belustigung? Sind Sie zu allen Damen so beleidigend oder nur zu den unansehnlichen und unbedeutenden?“

„Ich befürchte, ich finde es tatsächlich belustigend. Ich komme mir vor wie ein Jagdhund, der von einer Waldmaus angegriffen wird.“

Er rieb sich mit einer Hand über sein Gesicht, als wollte er seine Mimik unter Kontrolle bringen, doch als er wieder aufschaute, zuckte es immer noch gefährlich um seine Mundwinkel.

„Ich wollte nicht beleidigend sein, sondern nur genauso offen sprechen wie Sie.“

Auf ihre Bemerkung über unansehnliche und unbedeutende Damen ging er nicht weiter ein. Wie klug von ihm.

„Sie sind nicht so wie die anderen Damen, die ich kenne. Doch Sie sind – wenn auch entfernt – mit mehreren überaus respektablen und betitelten Familien verwandt. Wurden Sie nicht in die Gesellschaft eingeführt? Was hat Ihre Familie angestellt, dass Sie offenbar keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben?“

„Mit anderen Worten: Warum habe ich keine schönen Kleider, kein schickliches Benehmen und keine Lust, mit den Wimpern zu klimpern und alle Bemerkungen von Gentlemen gutzuheißen?“

„Ja, genau.“

Lord Hainford setzte sich wieder, schlug eines seiner wohlgeformten langen Beine über das andere und lehnte sich zurück. Jetzt lächelte er unverhohlen. Offenbar hielt er ihre unverblümte Art für erfrischend, solange sie ihm nichts vorwarf.

Ihr Anblick, Mylord, ist absolut köstlich, und Ihr Lächeln überaus gefährlich.

„Um es kurz zu machen: Ich habe keine Eltern, kein Geld und kein Bestreben, ein Opfer der Umstände oder eine arme Jungfer zu werden, die am Rockzipfel eines übellaunigen entfernten Verwandten hängt.“

„Eine bündige Zusammenfassung.“ Er hielt seine Fingerspitzen aneinander und betrachtete sie angelegentlich. „Mein Sekretär wird sagen, dass es Irrsinn sei, überhaupt über Ihre Bitte nachzudenken …“

„Aber?“ Ellie hielt den Atem an.

Er wird Ja sagen.

Hainford schaute auf, der Ausdruck in seinen grauen Augen war amüsiert oder resigniert – oder vielleicht ein bisschen von beidem. „Aber ich werde es tun. Ich werde mit Ihnen nach Lancashire kommen.“ Er schaute wieder auf seine Fingerspitzen. „Allerding nur, wenn wir uns dadurch nicht in eine kompromittierende Lage bringen.“

„Polly wird uns begleiten.“

„Ein Dienstmädchen? Das reicht nicht aus.“

„Lord Hainford, glauben Sie ernsthaft, ich verfolge den Plan, mir auf diese Art und Weise einen Ehemann zu angeln?“

Prüfend sah er sie an.

„Denn ich bin nicht auf der Suche nach einem, und selbst wenn, würde es mir mein Stolz verbieten, einen Mann so in die Falle zu locken. Niemand kennt mich in der besseren Gesellschaft. Selbst wenn mich die Hälfte der Schutzherrinnen von Almack’s, ein Dutzend Duchesses und das ganze House of Lords sehen würden, würde mich dennoch keiner erkennen. Ich könnte eine verwitwete entfernte Cousine von Ihnen sein“, fügte sie hinzu. „Eine arme Verwandte, die Sie aufgrund Ihres guten Herzens begleiten.“

Er schnitt eine Grimasse.

Ja, dachte sie, er hat wirklich geglaubt, dass ich ihn an mich binden will. Nach allem, was sie gehört hatte, erfreute er sich bei den Damen einer überaus großen Beliebtheit, und hatte die Ehe bisher geschickt vermieden.

„Ich könnte meinen Trauerschleier tragen und Sie Vetter Blake nennen“, schlug Ellie hilfsbereit vor.

Ihm entschlüpfte ein Lachen – ein widerwilliges, belustigtes Schnauben, als wären seine Befürchtungen jetzt zerschlagen. Als sie es hörte, verschob sich etwas in ihrem Inneren.

„Sie sollten mit dem Schreiben von Gruselgeschichten Ihren Lebensunterhalt verdienen, Miss Lytton. Sie wären darin hervorragend.“

„Glauben Sie?“, fragte sie eifrig. „Oh, ich verstehe, Sie scherzen nur“, fügte sie ernüchtert hinzu, als er den Kopf schüttelte.

„Wollen Sie etwa eine dieser mit Tinte befleckten Blaustrümpfe werden oder eine verwirrte Schriftstellerin, die nur Tränendrücker schreibt?“

Anscheinend hatte er die Feder in ihrem Haar und die Tintenflecke auf ihrer Schürze bei ihrer ersten Begegnung vergessen – diese Hinweise hätten sie verraten können. Andererseits war Lord Hainford damals mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.

„Nein, ich möchte keine verwirrte Schriftstellerin werden“, sagte sie angespannt und schluckte all die anderen Dinge herunter, die ihr auf der Zunge lagen.

Sich über männliche Vorurteile zu ereifern, würde ihr nicht helfen. Hainfords Lektüre beschränkte sich wahrscheinlich auf Parlamentsberichte, Sportzeitungen, seine Investitionen sowie griechische und lateinische Klassiker.

Jenes kleine Gefühl – Anziehungskraft oder was auch immer es war – löste sich in Luft auf. „Wann möchten Sie losfahren?“

„Wie lange brauchen Sie?“, konterte er. „Würden Ihnen sechs Tage reichen?“

„Das wäre perfekt. Danke … Vetter Blake.“

Er stand auf. „Ich werde Sie über die Einzelheiten informieren, Cousine Eleanor.“

„Ellie“, berichtigte sie, sich ebenfalls erhebend.

„Nein, Ellie passt nicht zu dem Charakter, den Sie in diesem kleinen Drama spielen werden. Eleanor ist ernsthaft, ein bisschen schwermütig. Unter Ihrem schwarzen Trauerschleier werden Sie voller Wehmut in die Welt sehen – das Opfer unsäglicher Traurigkeit.“

Und was ist dann Ellie?

Sie wagte nicht zu fragen – er würde es ihr sicherlich in allen nicht gerade schmeichelhaften Einzelheiten schildern.

„Sagen Sie, Vetter Blake, haben Sie die Angewohnheit, die Geistergeschichten von Minerva Press zu lesen oder haben Sie eine natürliche Neigung zu dunklen Geschichten?“

„Letzteres, Cousine Eleanor. Auf jeden Fall letzteres. Dunkle Geheimkammern, Skelette …“ Sein Blick blieb ernst.

„Wollen Sie nicht zum Tee bleiben?“ Sie deutete auf die Tür.

„Nein.“

Er ergriff ihre Hand und führte sie sich an die Lippen. Sie spürte seinen warmen Atem, als er – ohne sie zu berühren – einen Kuss darauf andeutete.

Die Tür wurde geöffnet, und Polly trat ein, ein Teetablett auf die Hüfte gestützt.

„Lord Hainford wollte gerade gehen, Polly. Könntest du das Tablett abstellen und ihn hinausbringen?“

Und mich allein lassen, damit ich mich davon erholen kann, dass ich beinahe einen Handkuss bekommen hätte. Wie soll ich mehrere Tage lang in der Gesellschaft dieses überaus gefährlichen Mannes verbringen?

Ellie stand am Fuß der Treppe und betrachtete alle ihre Habseligkeiten. Eine Truhe voller Kleider und Bücher, eine Hutschachtel mit zwei Hüten, eine Reisetasche für mehrere Nächte, eine tragbare Schreibunterlage und einen anständigen Regenschirm – nicht so etwas Albernes wie einen Sonnenschirm.

Polly hatte beinahe genauso viel Gepäck.

Irgendwo im Obergeschoss hielt sich ein Versteigerer mit Mr. Rampion auf und machte eine Bestandsaufnahme von den Möbeln. Der Anwalt hatte genügend Geld aufgetrieben, um die Hausangestellten auszuzahlen, doch für Ellie war nichts übrig geblieben.

Polly schaute durch eines der Seitenlichter neben der Tür. „Er ist hier, Miss Lytton. Der Earl, meine ich.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte Ellie trocken und verstärkte den Griff um den Regenschirm. Sie fühlte sich wie ein mittelalterlicher Ritter, der sich für den Kampf wappnete.

Was wusste sie über diesen Mann? Obwohl manchmal in den Zeitungen stand, dass er in Begleitung irgendeiner Dame gesehen wurde, war nie von ausschweifenden Festen, Skandalen oder schweren Geldverlusten die Rede. Interessanterweise war er weder verheiratet noch verlobt, obwohl er bereits achtundzwanzig Jahre alt war und an einen Erben denken musste.

Und wenn er lächelte, glaubte Ellie etwas hinter der Belustigung zu sehen – als könnte er sich nicht recht dazu überwinden, ein bestimmtes Gefühl zuzulassen. Zweifellos war es nur Einbildung …

Polly öffnete die Tür einen Spaltbreit, bevor der Pferdeknecht klopfte. „Das muss alles mit“, sagte sie zu dem Mann und machte eine Handbewegung in Richtung des kleinen Gepäckhaufens.

„Das kommt auf die Gepäckkutsche“, entgegnete der Pferdeknecht und Ellie erblickte hinter der schimmernden Reisekutsche des Earls eine zweite, einfachere Karosse. „Gibt es etwas, das Sie bei sich behalten möchten, Miss Lytton?“

„Nein, danke.“ Sie hatte ihren Pompadour, ihr Geld, ihre Notizbücher, einen Bleistift und ein Taschentuch. „Polly, geh nach oben und sag Mr. Rampion, dass wir gleich losfahren.“

Als der Anwalt herunterkam, war Lord Hainford aus der Kutsche ausgestiegen und das Gepäck aufgeladen. Sie schüttelte die Hand des Anwalts, nahm von ihm den Brief mit Informationen zu ihrem neuen Zuhause entgegen und gab ihm die Schlüssel des Londoner Hauses.

Sie hatte dort mehr als fünf Jahre gewohnt und konnte dennoch keine Traurigkeit darüber empfinden, es zu verlassen. Die Gesellschaft ihrer Freundinnen, die Büchereien und die Bibliotheken würde sie vermissen, doch hier war sie nicht mehr als eine bessere Haushälterin – eine arme Verwandte – gewesen. Zumindest würde sie jetzt Herrin ihres eigenen Hauses sein.

Meiner Hütte, trifft es wohl besser.

Der Earl of Hainford wartete vor der Kutsche auf sie. Auf der Treppe hielt sie inne. Die Aussicht, auf derart kleinem Raum mit einem Mann zusammen zu sein, brachte sie zum Stolpern. Sie hielt sich am Geländer fest und hinkte umständlich weiter die Stufen hinab.

Nur Mut, sagte sie zu sich selbst. Sie würde nicht zulassen, dass die Vergangenheit ihre Gegenwart und ihre Zukunft bestimmte. Und dieser Mann war die Brücke zu ihrer Zukunft, wie auch immer diese aussah.

„Miss Lytton, darf ich Ihnen den Sekretär meines Vertrauens, Jonathan Wilton, vorstellen?“

Jon erhob sich gebückt unter dem Dach der Kutsche. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht herausgekommen bin, um Sie zu begrüßen, Miss Lytton. Ich wusste nicht, dass Sie bereits fertig sind.“

Blake bemerkte ihr kurzes Zögern vor dem Händeschütteln und ihre plötzliche Blässe im Gesicht. Dennoch war sie vollkommen gefasst, als sie Jon begrüßte. War sie einfach nicht an die Gesellschaft von Männern gewöhnt? Vermutlich war das der Fall, wenn sie nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war und recht isoliert gelebt hatte. Als sie Platz nahm und Jon zum ersten Mal richtig anschaute, sah Blake ihre Überraschung, die sie zu überspielen versuchte.

„Wir sind Halbbrüder“, sagte er, als er sich neben sie setzte – gegenüber von Jon. Das Dienstmädchen nahm gegenüber ihrer Herrin Platz – ein kleines, abgenutztes Köfferchen auf dem Schoß.

„Es ist zwar allgemein bekannt, doch es wird nicht darüber gesprochen. Entsprechend der üblichen Scheinheiligkeit des ton ist Mr. Wilton als mein Sekretär vollkommen respektabel – im Gegensatz zu Jonathan als meinem unehelichen Bruder.“

„Das kann lustig sein, wenn man bedenkt, wie ähnlich wir uns sind.“ Jonathan, der etwas kleiner war als Blake und braune Haare und blaue Augen hatte, grinste. „Als Gast auf einem Abendessen bin ich im Notfall annehmbar, doch nicht als möglicher Ehemann einer jungen Dame des ton, wenn Sie verstehen.“

„Ja, ich verstehe sehr gut.“ Eleanor Lytton nickte. „Irgendwann wird man alle Welt nur aufgrund ihres Charakters und ihrer Fähigkeiten beurteilen, doch leider ist es bis dahin noch ein langer Weg.“

„Sind Sie eine Radikale, Miss Lytton?“, fragte Blake, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. Es entging ihm nicht, dass sie scheinbar keine Notiz von der Abfahrt nahm und noch nicht einmal einen letzten Blick auf ihr altes Zuhause warf.

„Sollten Sie nicht ‚Cousine Eleanor‘ sagen? Vielleicht bin ich eine Radikale, obwohl ich die Veränderung nicht mit Gewalt herbeiführen würde. Das würde zu vielen Unschuldigen Leid bereiten.“

Blakes Interesse war geweckt. Die Polsterbank in der Kutsche war recht breit, und er rückte näher an Ellie heran, um ihren Gesichtsausdruck zu studieren. Die meisten Damen wären entrüstet gewesen über die Andeutung, dass sie eine politische Meinung haben könnten, und selbst diejenigen, die eine Meinung vertraten, plapperten nur ihren Männern nach.

Radikale Ansichten zu haben, ging über die Grenze des Erlaubten hinaus und wies darauf hin, dass Miss Lytton belesen war und über Politik und Gesellschaft nachdachte. Was war sie doch für eine überaus anstrengende Frau und zugleich erfrischend anders als die anderen Damen, mit denen er verkehrte.

„Ich stimme mit vielem überein, wofür die Radikalen einstehen – sowohl der Änderungsbedarf als auch die damit verbundenen Gefahren“, sagte er und riss seine Gedanken los von der kürzlich erfolgten einvernehmlichen Trennung von Lady Filborough, seiner letzten Geliebten.

Ein wunderschönes Wesen, doch wegen ihrer Vorhersehbarkeit hatte er sich schnell mit ihr gelangweilt. Er wünschte sich keine Geliebte, die sich zur Aufgabe machte, die Tiefen seiner Seele zu erkunden – ganz im Gegenteil –, doch er wollte eine Frau, die sowohl seinen Verstand als auch sein Verlangen anregte.

„Die Leute brauchen Brot in den Bäuchen, bevor ein friedlicher Wandel eingeleitet werden kann.“

„Brot in den Bäuchen und Bücher in den Händen. Bildung ist unerlässlich, finden Sie nicht?“

Ihre Ernsthaftigkeit ist recht charmant, wie Blake nicht umhin kam festzustellen. Sie war so unbefangen und leidenschaftlich. Schade, dass sie nicht gut aussieht, dachte er und zog sich zurück in seine Ecke. Jene Leidenschaft kombiniert mit Schönheit wäre wahrhaft … erotisch. Gott, was für ein eigenartiges Wort in Verbindung mit dieser Frau.

Blake konnte sehen, dass Jon kurz davorstand, seine Meinung über die Bildung der Arbeiterklasse kundzutun. Eine Diskussion über dieses Thema bis nach Lancashire wäre wahrhaft ermüdend.

„Ich hoffe, Sie entschuldigen uns, Cousine Eleanor, doch wir müssen noch die Post von heute Morgen durchsehen.“

„Natürlich.“

Es war, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. Alle Intensität war fort, und übrig blieb nur eine unscheinbare Jungfer, die sich in ihre Ecke drückte.

„Polly, gib mir bitte das Buch aus meinem Koffer. Mein Notizbuch habe ich hier.“

Indem Blake seine Handschuhe fallen ließ, konnte er einen flüchtigen Blick auf den Buchrücken werfen. Landwirtschaftliche Praktiken der Mittelmeerländer. Hoffentlich würde sie nicht versuchen, sie den Landarbeitern von Lancashire aufzudrängen, sonst würde sie schon bald scheitern.

Was ist sie doch für ein seltsames kleines Ding. Wenn auch nicht klein, dachte er, nahm Jon den ersten Brief ab und vertiefte sich in die Einzelheiten eines Konflikts rund um die Grenzen eines Grundstücks, das er kaufen wollte.

4. KAPITEL

Bei der Aussicht, nicht nur mit einem, sondern zwei Gentlemen auf engem Raum zusammen zu sein, wäre Ellie beinahe vor Schreck rückwärts aus der Kutsche gestolpert. Sie war stolz auf sich, weil sie nicht nur standhaft geblieben war, sondern Mr. Wilton gefasst begrüßt hatte. Sicherlich hatte niemand etwas bemerkt.

Verstohlen sah sie von ihrem Buch auf. Noch nie war sie in einer derart eleganten Kutsche gefahren. Die Polsterung hatte tiefe Knöpfe, und es gab breite Sitze, sodass sie neben Blake sitzen konnte, ohne ihn oder seine Kleidung zu berühren. Obwohl sie wusste, dass es unvernünftig war, hatte sie sich davor gefürchtet, in einer geschlossenen Kutsche gegen andere Menschen gedrückt zu werden – oder schlimmer noch zwischen zwei Männern sitzen zu müssen, was auf einer Fahrt mit der Postkutsche sehr leicht hätte passieren können.

Ellie setzte sich ein wenig bequemer hin und legte ihr Notizbuch neben sich. Es war nicht leicht, sich auf den Dattelanbau und Weizenerträge zu konzentrieren, insbesondere weil sie Blake riechen konnte. Es war ein schwer fassbarer Geruch nach gestärkter Wäsche, Rasierwasser und warmer, sauberer Männlichkeit. Er musste es sein, denn Mr. Wilton saß zu weit weg, als dass sie seinen Duft hätte wahrnehmen können. Ellie zuckte innerlich immer wieder ein wenig zusammen, wenn sich die beiden Männer bewegten, sich Papiere reichten oder sich nach vorne beugten, um heruntergefallene Unterlagen vom Boden der Kutsche aufzuheben.

Dieser persönliche Geruch, den Blake in der Luft verbreitete, war sehr provozierend. Nur weil sie Angst davor hatte, von einem Mann berührt zu werden, hieß das nicht, dass sie es sich nicht wünschte. Blake sah blendend aus. Er war stark und männlich, die perfekte Vorlage für ihre Fantasie und ihre Geschichte …

Ellie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Buch. Der Anbau von Datteln war einfach uninteressant. Sie flog über die Seiten. Vielleicht wäre es für den leidlichen Oscar interessanter, sich mit dem Thema Entwässerung zu beschäftigen. Er könnte sogar in einen Bewässerungskanal fallen.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln und nahm ihr Notizbuch auf, um ihre Ideen aufzuschreiben. Schnell wurde daraus eine ganze Szene.

„Wir sind in Bushey“, sagte Blake. „Hier werden die Pferde gewechselt. Möchten Sie für ein paar Minuten aussteigen?“

Beinahe hätte Ellie abgelehnt, so vertieft war sie in die Szene mit Oscar. Er wurde gerade aus einem schlammigen Bewässerungskanal gezogen, und es bereitete ihr außerordentliches Vergnügen, diese Szene zu schreiben.

Dann kam ihr der Gedanke, dass Blake ihr taktvoll zu verstehen geben wollte, dass sie das Damenzimmer aufsuchen könnte. „Danke. Ich würde mir gern etwas die Beine vertreten.“

Polly wirkte recht dankbar, und Mr. Wilton half den beiden, aus der Kutsche zu steigen, und wandte sich genauso diskret wie sein Bruder ab, als sie zum Gasthof gingen.

Als sie zurückkamen stieg Blake aus, um ihnen in die Kutsche zu helfen. „Sie sehen aus, als würden Sie sich über etwas freuen, Cousine Eleanor.“

„Wir haben das Gasthaus bewundert. Überaus edel für einen Zwischenstopp, danke.“

„Danken Sie Jon. Er hat alles organisiert.“

Mr. Wilton schaute von seinen Unterlagen auf und nickte bei dem Kompliment. „Ich habe nur meine Arbeit getan, Miss Lytton.“

„Was genau tut denn der Privatsekretär eines Earls?“, fragte sie. Der Pferdeknecht schloss die Türen und schwang sich hinten auf die Kutsche, als sie den Hof des Gasthofs verließen.

„Ich erledige Lord Hainfords Korrespondenz, plane seine Termine, überprüfe die Zeitung für ihn, organisiere Reisen, erledige seine Buchführung und stelle sicher, dass er auf dem Laufenden bleibt bezüglich seiner Grundstücke und Investitionen. Solche Sachen.“

„Es erweckt den Eindruck, als würden Sie viel mehr tun.“ Ellie schaute auf den Stapel an Notizbüchern, in denen viele kleine Zettel steckten. „Vetter Blake lässt Sie sehr hart arbeiten.“

„Im Gegenzug lässt er mich sehr hart arbeiten“, erwiderte Blake trocken. „Glaubten Sie, Earls würden den ganzen Tag über herumsitzen und lesen?“

„Nein, ich glaubte, sie würden ihre Zeit größtenteils mit Vergnügungen verbringen“, gab sie offen und überrascht zu.

„Das tue ich, wenn es mir gestattet ist zu fliehen.“ Er sah sie vergnügt an. „Ich tue alles, was Sie sich vorstellen, Cousine Eleanor. Alles, was Sie zu jenem verurteilenden Gesichtsausdruck veranlasst. Klubs, Sportveranstaltungen, Besuche bei meinem Schneider, Hutmacher und Schuster. Gesellschaftliche Anlässe, Oper, Theater, Spiele. Ein unablässiger Strom an Ausschweifungen.“

Mr. Wilton schnaubte. „Versuchst du, dich Miss Lytton als untätigen Lebemann zu verkaufen? Also soll ich nicht das Oberhaus, deine Wohltätigkeitsverbände und Termine mit Investoren erwähnen?“

„Das wird nichts ändern, Jon. Meine neue Cousine hält mich bereits für einen nichtsnutzigen Schwerenöter.“

„Ich glaube gern, dass Sie Ihren Verpflichtungen und Ihrer Verantwortung genauso geflissentlich nachkommen wie Ihren Vergnügungen, Vetter Blake. Ich vermute nur, dass Sie an niemanden denken müssen, wenn Sie diesen Beschäftigungen nachgehen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich eigennützig bin?“ Er zog seine dunklen Brauen hoch, was ihn gefährlich aussehen ließ.

Wieso hatte sie sich dazu hinreißen lassen, ihre Gedanken laut auszusprechen? Sie hätte bescheiden, sanft und ruhig sein sollen, damit er ihre Anwesenheit vergaß. Eine Entschuldigung war angebracht, sodass sie sich schnell wieder mit den Details der nordafrikanischen Entwässerungssysteme beschäftigen konnte.

„Wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an, Mylord“, entgegnete Ellie erhobenen Hauptes und ihren gesunden Menschenverstand in den Wind schlagend. „Wie angenehm es sein muss, für nichts und niemanden verantwortlich zu sein.“

Mr. Wilton öffnete den Mund, um wahrscheinlich die Freunde, Angestellten, Pächter und Unterstützer Seiner Lordschaft aufzuzählen.

Mit einer abrupten Handbewegung bedeutete Blake ihm zu schweigen. „So ist es“, stimmte er zu. Sein charmantes Lächeln konnte seine Eiseskälte nicht verbergen.

Hör auf, sagte sie zu sich selbst. Er wird dich beim nächsten Gasthof hinausschmeißen, wenn du ihn weiter so provozierst.

Sie war sich nicht einmal sicher, warum sie es tat –, abgesehen von der Tatsache, dass es seltsam anregend und beinahe aufregend war. Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand. Vielleicht sollte sie anfangen, auch freundlicher zu Oscar zu sein. Vielleicht würde sie ihm heute Abend ein herrliches Bankett bescheren. Was würde es zu essen geben …?

Einer der Reiseführer, den sie gelesen hatte, beinhaltete mehrere Berichte über die Landesküche, und sie stellte eine Auswahl der Gerichte zusammen, die besonders ansprechend klangen. Gebratenes Zicklein, Couscous, exotischer Fisch, kräftiger Käse, Fladenbrote, Granatapfelsaft, Limonade, Honigkuchen …

Ihr Bleistift flog nur so über die Seiten.

Abends hielten sie in Aynho, einem Dorf in Northamptonshire, von dem Ellie noch nie gehört hatte. Die Gebäude in dem kleinen Weiler waren aus Sandstein gebaut, und den Mittelpunkt bildete der überaus edle Gasthof George, den Mr. Wilton für sie ausgesucht hatte.

Ellie wurde in ein großes, sauberes und einladendes Zimmer geführt, das sie mit Polly teilte. Sie hatten ein Bad bestellt, und das warme Wasser würde bald eintreffen, hatte man ihr gesagt. Das Abendessen würden sie um sieben Uhr im privaten Salon einnehmen. Ob Miss Lytton gern eine Tasse Tee hätte?

„Ja, wir beide“, antwortete sie dankbar. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, meinte sie zu Polly, als das Hausmädchen des Gasthofs hinausging, nachdem sie einen sehr großen Badezuber hinter eine Trennwand gestellt hatte.

„Ich mich auch, Miss.“

Kurz darauf öffnete Polly die Tür für eine weitere Angestellte des Gasthofs, die ein Teetablett hineintrug. Sie stellte es auf einem Sofatisch ab, und Ellie und Polly saßen beide da und betrachteten glücklich die appetitlichen Brote und Kuchenstücke.

„Aber das sollten wir nicht. Ich hoffe, dass ich dich auch weiterhin beschäftigen kann, Polly, und dass du bei mir bleiben möchtest, aber ich weiß nicht, was uns in Lancashire erwartet oder wie lange ich mit meinem Geld auskommen werde. Das Haus könnte in Trümmern liegen. Ich habe keine Ahnung.“

„Wir schaffen das schon“, sagte Polly entschieden und biss von einer Brotscheibe ab. „Es liegt auf dem Land. Wir können eine Gemüsegarten anbauen, Hühner halten und vielleicht ein Schwein.“

„Natürlich“, erwiderte Ellie.

Es war ihre Pflicht, ihren Angestellten klare Anweisungen zu geben und sicher aufzutreten, das wusste sie. Dennoch wäre es sehr verlockend gewesen, sich darüber zu beklagen, dass sie letztlich nur Kinderbücher schreiben konnte und nichts von Hühnerhaltung verstand. An Schweine wollte sie erst gar nicht denken.

Ich bin eine gebildete, intelligente Frau. Es gibt Bücher zu diesen Themen. Ich werde das alles lernen, sagte sie sich bestimmt und nahm ein zweites Kuchenstück, um sich Mut zu machen.

Das warme Wasser wurde gebracht, und sie überredete Polly, den großen Zuber mit ihr zu nutzen. Sie mussten beide die Knie anziehen, doch ihr Hausmädchen sollte sich nicht mit dem Waschbecken begnügen, während sie es sich im warmen Wasser gutgehen ließ.

Die Damen des ton würden angesichts eines derart vertraulichen Umgangs vor Entsetzen in Ohnmacht fallen, dessen war sie sich sicher, doch sie war schließlich keine Dame des ton.

„Kann ich Ihnen eine Frage stellen, Miss?“ Pollys Gesicht war gerötet, da sie sich verrenken musste, um sich zwischen den Zehen zu waschen.

„Natürlich, auch wenn ich nicht verspreche zu antworten.“

„Warum mögen Sie Seine Lordschaft nicht? Ich denke, er ist sehr freundlich.“

„Polly!“

„Aber das ist er“, entgegnete die junge Frau nachdrücklich. „Er sieht gut aus, ist reich und hat gute Manieren. Außerdem fährt er uns den ganzen langen Weg mit seiner eleganten Kutsche. Mr. Wilton ist auch nett.“

„Lord Hainford hätte Sir Francis’ Tod verhindern können“, erklärte Ellie kühl. Polly biss sich auf die Unterlippe und fuhr schweigend damit fort, die Seife von ihren Armen zu waschen.

Aber ich sollte ihm verzeihen. Es wäre nur richtig. Er hat versucht, es wiedergutzumachen. Warum ist es so schwierig? Es war ein Unfall, genau wie er gesagt hat.

Für mindestens drei weitere Tage würde sie in sehr engem Kontakt mit Lord Hainford stehen. Ich muss lernen, mit ihm auszukommen, dachte sie.

Als Ellie im privaten Salon mit den beiden Herren am Tisch saß – Polly aß in der Küche –, erkannte sie, warum sie sich Blake gegenüber so ungebührlich benommen hatte. Es ging weder um Francis’ noch um Blakes Charakter.

Sie konnte ihm vergeben, dass er Francis in jener Nacht ignoriert hatte. Das Problem war weder Francis noch Blake, sondern sie selbst.

Sie hatte Angst vor ihm, so wie jede schutzlose Frau sich vor einem Mann fürchten würde. Doch ihr Gefühl ging darüber hinaus. Sie fürchtete sich immer, wenn ein Mann ihr zu nah kam und rechnete immer mit dem Schlimmsten. Das war ihre geheime Angst. Zu verstehen, warum sie so empfand, konnte ihr das beklemmende Gefühl nicht nehmen.

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
Mehr erfahren
Ann Lethbridge
Ann Lethbridge wuchs in England auf. Dort machte sie ihren Abschluss in Wirtschaft und Geschichte. Sie hatte schon immer einen Faible für die glamouröse Welt der Regency Ära, wie bei Georgette Heyer beschrieben. Es war diese Liebe, die sie zum Schreiben ihres ersten Regency Romans 2000 brachte. Sie empfand das...
Mehr erfahren