Historical Saison Band 77

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WEIHNACHTSKÜSSE AUF BANFORD HALL von ANNE HERRIES

Nur ein Kuss - danach ist Robert Moorcroft aus Selinas Leben verschwunden. Bis sie als Haushälterin nach Banford Hall geht und er sich als Hausherr entpuppt! Kaum entzündet er das Weihnachtsscheit im Kamin, entflammt ungewollt auch Selinas Herz …

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FEST DER LIEBE FÜR LADY JULIET von LAURIE BENSON

Lady Juliet hat keine Wahl: Obwohl Lord Montague ihre Liebe verriet, muss sie kurz vor Weihnachten seinen Heiratsantrag annehmen. Aber bloß, um ihren Ruf zu retten! Nicht, weil sie sich bei süßem Zimtsternduft heimlich wieder nach ihm verzehrt …


  • Erscheinungstag 27.10.2020
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749699
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Herries, Carla Kelly, Louise Allen, Laurie Benson

HISTORICAL SAISON BAND 77

PROLOG

Sommer 1810, Bath

Als Selina Searles, gerade sechzehn Jahre alt und voller Unschuld, sich im Saal des Kurhauses umschaute, breitete sich ein wohliges Prickeln in ihrem Körper aus.

Der Ball hatte erst vor Kurzem begonnen, und im Saal drängten sich bereits die Gäste. Selina war aufgeregt und gleichzeitig überglücklich, denn dies war ihr erster Ball. Sie war noch zu jung, um schon in dieser Saison in London zu debütieren, doch hier in Bath gönnte ihre Mutter ihr die Freude. Welch ein Glück, dass sie sich gerade in diesen Wochen in dem Kurort aufhielten, wo Mama ihre schwere Erkältung auskurieren wollte.

Natürlich war Selina noch einmal eindringlich auf die Gepflogenheiten der guten Gesellschaft hingewiesen worden, und sie hatte sich fest vorgenommen, alle Regeln der Höflichkeit und des Anstands einzuhalten.

Nun saß sie auf einem goldfarbenen Stuhl und wippte mit dem Fuß zum Takt der Musik, während sie geduldig darauf wartete, zum Tanz gebeten zu werden. Sie war ausgesprochen hübsch, hatte sanfte braune Augen und dunkles Haar, das teils in weichen Locken ihr Gesicht umspielte, teils an ihrem Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt war. Jedoch waren es die Lebhaftigkeit und die Lebensfreude, die in ihren Augen glitzerten, die sie aus der Menge der weiblichen Gäste hervorhob. Ein solches Mädchen blieb nicht lange unbemerkt, und so dauerte es kaum fünf Minuten, ehe der erste Herr, der sich als Lord March vorstellte, sie zum Tanz aufforderte.

Er blieb nicht der Einzige, sodass Selina bald geradezu belagert war und es auf ihrer Tanzkarte keinen freien Platz mehr gab. Einen solch umwerfenden Erfolg hatte Selina nicht erwartet.

Der Abend war schon zur Hälfte vergangen, als ihr ein gutaussehender Gentleman in scharlachroter Uniform auffiel. Ihr war, als flammten hundert Kerzen auf, seine Gegenwart schien den ganzen Saal zu erhellen. Er war sofort der Mittelpunkt einer Gruppe junger Leute, deren Gelächter zu Selina herüberschallte. Tatsächlich war er der ansehnlichste Mann im Saal und sichtlich beliebt und umschwärmt. Nach einer Weile schien er Selinas Interesse zu bemerken; ihre Blicke begegneten sich flüchtig. Ein unbekanntes, doch äußerst angenehmes Gefühl durchflutete sie. Obwohl sie es besser wusste, konnte sie ihren Blick einfach nicht von ihm abwenden.

Zwischen ihnen schien sich ein unsichtbares Band zu spannen. Als er sich bei seinen Freunden entschuldigte und sich durch die Menschenmasse einen Weg zu Selina bahnte, begann ihr Puls zu rasen. Ihr Mund fühlte sich plötzlich ganz trocken an, und ihr Herz schlug laut wie eine Trommel. Er kam. Er würde sie um einen Tanz bitten, aber ihre Karte war voll. Was sollte sie tun? Als sie ihm in die Augen schaute, war ihr, als würde sie darin ertrinken. Ihr stockte der Atem.

„Captain Moorcroft zu Ihren Diensten, Prinzessin“, sagte er mit kühnem Blick. Sehr selbstbewusst und geschmeidig verneigte er sich vor ihr, nahm ihr die Karte aus der Hand und strich den Namen Lord Marchs durch, der ihr nächster Tanzpartner sein sollte. „March wird es mir nicht abschlagen, sonst fordere ich ihn zum Duell.“

„Ich bin keine Prinzessin, und das hätten Sie nicht tun dürfen“, tadelte Selina, doch sie lachte dabei. Als er ihre Hand beiläufig berührt hatte, hatte ihr Herz vor Freude einen Sprung gemacht. Sie genoss diese seltsame, nie gekannte Erregung, die sie in seiner Nähe spürte. Mit einem Mal kam sie sich sehr verwegen vor, ein unbeschreibliches Glücksgefühl erfasste sie. „Mein Name ist Selina Searles.“

„Robert Moorcroft, meine süße Miss Selina“, antwortete er mit einer Stimme, die gleichzeitig rau und verheißungsvoll war. All die von ihrer Mutter angemahnte Vorsicht war vergessen. „Sie gehören mir“, fuhr er fort, „und wenn das jemand hier bezweifeln will, mag er mich fordern. Mein Engel!“

Damit nahm er sie bei der Hand und führte sie auf die Tanzfläche. Als er sie im Takt der Musik herumwirbelte, vergaß sie auch die letzte der mütterlichen Warnungen. Ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren, und sie wünschte, der Tanz würde ewig währen. Doch schließlich verstummte die Musik, und Captain Moorcroft führte sie zum Rand der Tanzfläche, wo schon ihr nächster Partner auf sie wartete.

Welch eine Enttäuschung! Robert Moorcroft schaute sie noch einen Moment eindringlich an, dann entfernte er sich. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, ihre Tanzkarte wäre leer und sie könnte mit ihm die ganze Nacht hindurchtanzen. Leider galten mehr als drei Tänze mit demselben Partner als unschicklich.

Als der nächste Tanz endete und ihr Partner sich bei ihr bedankte, wurde ihr bewusst, dass sie ihm kaum Beachtung geschenkt und die ganze Zeit nur nach dem jungen Captain Ausschau gehalten hatte. Während sie auf ihren nächsten Tanzpartner wartete, sah sie sich nach ihrer Mutter um. Plötzlich berührte sie jemand am Arm. Rasch wandte sie sich um und blickte in Robert Moorcrofts lächelndes Gesicht.

„Hendricks tritt mir seinen Tanz ab“, erklärte er und zog sie in seine Arme, da gerade zum nächsten Walzer aufgespielt wurde.

Selina war zu aufgewühlt, um ihn abzuweisen. Es war ein Traum, beim Tanzen in seinen Armen zu liegen. Es war, als würde sie in den blauen Sommerhimmel fliegen. Seine linke Hand hielt ihre rechte, seine rechte ruhte auf ihrem Schulterblatt, ihre Bewegungen schienen eins zu sein. Sie wünschte sich nichts anderes, als ihr Leben lang so mit ihm dahinzuschweben. Nicht in ihren romantischsten Träumen hatte sie sich solche Gefühle vorgestellt. Ihre einzige Sehnsucht war, dass es nie, nie enden würden.

Als die Musik verklang, gab er ihre Hand nicht frei, sondern schritt zielstrebig zu den Türen, die auf die Terrasse führten. Selina folgte ihm nur zu gern.

„Sie sind erhitzt“, stellte er mit einem Lächeln, das ihr Herz zum Stolpern brachte, fest. „Schlendern wir ein wenig durch den Park, bis Sie sich wieder imstande sehen zu tanzen.“

Selina wusste, sie sollte diesen Vorschlag ablehnen – mit einem fremden Herrn im Dunkeln allein zu sein, gehörte zu den Dingen, die ihre Mutter als äußerst ungehörig bezeichnet hatte –, aber ihr fehlten die Worte. Außerdem wollte sie selbst es ja unbedingt. Nie in ihrem Leben hatte sie so empfunden. Ihr ganzes Ich verlangte, sie möge den Augenblick genießen, er werde vielleicht nie wiederkommen. Draußen führte der Captain sie fort von den Lichtern des Ballsaals zu einer abgeschiedenen Stelle in der Nähe von ein paar Rosenbüschen. Deren schwerer, betäubender Duft würde ihr auf ewig in Erinnerung bleiben, wusste Selina.

„Sie sind so schön, dass es mir Tränen entlockt“, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. „Nie zuvor sah ich ein so liebliches Geschöpf wie Sie, mein Engel – meine Selina. Ich bete dich an. Du hast mein Herz erobert!“

„Oh …“ Selina war verwirrt. Dies war eindeutig Flirten, und ihre Mutter hatte ihr gesagt, sie dürfe nicht flirten. Aber ich tat doch nichts, als mich der Freude hinzugeben, mit ihm zu tanzen. „Sie … Sie sollten nicht …“

Ehe sie mehr sagen konnte, neigte er sich zu ihr, umfing sie mit einem Arm und zog sie näher an sich. Sie spürte den festen Griff seiner Hand an ihrer Taille, spürte seinen harten, kraftvollen Körper. Gleich darauf lag sein Mund kühl und weich auf dem ihren, zuerst sanft, dann mit zunehmendem Druck, bis sie als Antwort darauf die Lippen öffnete. Seine Zunge glitt in ihren Mund und strich über die ihre. Ein unbeschreiblich köstliches Gefühl perlte durch ihren Körper.

„Was soll ich nicht?“, hauchte er, als er von ihrem Mund abließ und seine Lippen über ihren Hals strichen. Selina erbebte unter den verwirrenden Empfindungen, die von ihr Besitz ergriffen. Jede Vernunft und jeder Gedanke daran, was richtig oder falsch war, verflüchtigte sich. Wie konnte ein so herrliches Gefühl falsch sein?

Es war das Schönste, was ihr je widerfahren war – und das Gefährlichste. Denn sie spürte, dass sie ihren Ruf riskierte, wenn sie nicht achtgab. Trotzdem hielt dieser Augenblick sie gefangen, sodass sie nicht fähig war, den Captain abzuweisen.

„Sollte ich dich nicht küssen, oder …?“ Seine Hand lag auf ihren Brüsten, liebkoste ihre Rundungen durch die dünne Seide des Kleides. Wenige Sekunden später hatte er den Stoff mit einer einzigen Bewegung fortgeschoben, und seine Lippen schlossen sich um eine rosige Spitze und saugten zart daran.

Es war so schockierend, dass sie erstarrte. Gleichzeitig schoss heißes Begehren durch ihre Adern und sie stöhnte leise auf. Einen Moment war sie vor Lust wie berauscht, dann aber erinnerte sie sich an die Mahnungen ihrer Mutter. Hastig riss sie sich von ihm los und ordnete ihr Kleid. Was hatte sie getan? Einem Mann solche Freiheiten zu gestatten – zu vergessen, dass sie eine Dame war, wie konnte sie nur? –, doch in seinen Armen war sie so glückselig, dass alles um sie herum bedeutungslos war.

„Sie vergessen sich, Sir. Ich bin erst sechzehn und … wir dürften gar nicht hier draußen sein.“ Als sie sich abwandte, ergriff er ihr Handgelenk und zog sie zu sich herum. „Bitte lassen Sie mich“, flehte sie. „Sir, Sie werden meinen Ruf zerstören.“ Was habe ich getan? dachte sie. Plötzlich zitterte sie vor Angst.

„Ich werde wiederkommen, dich zu mir holen!“, versprach er feierlich, und in seinen Augen brannte ein helles, silbernes Licht. „Vergiss mich nie, Selina Searles. Ich habe dir mein Zeichen aufgedrückt. Ich bete dich an, und eines Tages werde ich kommen und dich holen. Du wirst mein sein. Warte auf mich.“

„Das dürfen Sie nicht sagen; Sie meinen es ja gar nicht ernst!“, rief sie und riss sich von ihm los. Sie floh zurück ins helle Licht des Ballsaals und blieb erst hinter der Tür der Damengarderobe stehen. Hastig spritzte sie sich ein wenig Wasser ins Gesicht und rückte vor dem Spiegel ihr Kleid wieder ordentlich zurecht.

Er hat seine Worte nicht ernst gemeint. Natürlich nicht – ich habe den Brandy auf seiner Zunge geschmeckt. Zweifellos ist er angetrunken, und morgen früh hat er alles, was er gesagt und getan hat, vergessen.

Selina aber würde es nicht vergessen.

In einer Hinsicht hatte er die Wahrheit gesagt. Captain Robert Moorcroft hatte ihr sein Zeichen aufgedrückt, und sie würde nie, nie wieder die Gleiche sein.

1. KAPITEL

Spätherbst 1817, Bedfordshire

Was sollen wir nur tun, Selina?“ Ängstlich sah Amy ihre ältere Schwester an und bemühte sich, ihre Tränen zu unterdrücken. „Mamas Krankheit, die so schnell voranschritt, und nun ihr plötzlicher Tod … wie sollen wir zurechtkommen?“

Kaum sechs Monate zuvor hatte sich der Vater der Mädchen das Leben genommen, nachdem er sein gesamtes Vermögen am Kartentisch verspielt hatte. Nun blieb ihnen nicht einmal mehr die Leibrente der Mutter, die schon spärlich genug gewesen war. Dabei mussten sie noch für ihre Schwester Millicent sorgen, die erst zwölf Jahre alt war.

Zwar gab es eine Summe Geldes, die ihnen einst von ihrer Großmutter mütterlicherseits vermacht worden war, und außerdem den wenigen Schmuck, der ihrer Mutter gehört hatte, doch beides belief sich nur auf einen geringen Betrag.

Haus und Grund waren Fideikommiss, sodass das gesamte Familienvermögen an ein einziges Familienmitglied, nämlich den letzten männlichen Erben, fiel. Cousin Joshua, der Erbe, zeigte zwar gespieltes Verständnis für ihre Lage, erwies sich in der Praxis jedoch als wenig bereitwillig, den drei Schwestern zu helfen. Er war nämlich davon ausgegangen, dass Selina ihn heiraten werde. Als sie ihn abwies – denn er war ihr geradezu widerwärtig –, entpuppte er sich als rachsüchtig. Unter dem Vorwand, der Besitz müsse schnellstens gründlich renoviert werden, verweigerte er ihnen sogar, die Wochen bis nach Weihnachten im Haus wohnen zu bleiben.

„Es sähe natürlich anders aus, wenn Mama noch lebte“, sagte Selina. Wir würden im Frühjahr zur Saison nach London fahren und du würdest gewiss einen passenden Gemahl finden. So aber …,“ Selina unterbrach sich, ehe sie fortfuhr. „Alles Weinen nützt nichts, Amy. An eine Saison ist nicht mehr zu denken. Wir müssen sehen, dass wir irgendwo unterkommen, vielleicht ein kleines Cottage mieten – für einen Kauf wird es nicht reichen –, und du musst dich um Millie kümmern, während ich … ich sehe mich nach einer Stelle als Gesellschafterin um.“

„Oh, nein, Selina! Irgendeine launische Alte, um die man herumtanzen muss? Nein, du musst einen reichen Mann heiraten und uns auf diese Weise retten. Du bist so schön, das wird dir nicht schwerfallen!“

„Findest du es richtig, jemanden nur um des Geldes willen zu heiraten? Man sollte doch zumindest ein wenig Zuneigung für seinen Ehegatten empfinden.“

„Wenn man es sich leisten kann“, meinte Amy pragmatisch.

„Ich würde ja heiraten, wenn ich jemanden fände, mit dem ich mir ein gemeinsames Leben vorstellen könnte. Aber Cousin Joshua? Mit dem würdest du auch nicht leben wollen!“

„Nein!“ Amy zog eine Grimasse. „Trotzdem, es ist ein Jammer, denn auf Mamas Konto ist ja kaum etwas übrig, wie du sagtest.“

„Nun, bald werden wir mehr wissen.“ Selina schaute auf die prächtige Kaminuhr. „Mr. Breck wird bald hier sein.“ Mr. Breck war der Anwalt der Familie. „Er wird uns sagen, wie viel uns zum Leben bleibt.“

Erneut begann Amy zu weinen.

„Wenn wir nur ein paar Sachen verkaufen könnten … Diese Uhr da sicher ist einiges wert, das würde uns ein paar Monate über Wasser halten.“

Vor Schreck stockten Amys Tränen. „Die kannst du nicht verkaufen! Die hatte Mama besonders gern.“

Das wusste Selina auch. Sie seufzte. „Ich möchte Mamas Sachen gern behalten, aber wenn wir nicht genug Geld zum Leben haben …“

In diesem Augenblick kündete der Butler das Eintreffen des Anwalts an.

„Also, wenigstens erfahren wir nun die Wahrheit“, seufzte Selina. Als der Besucher eintrat, sank ihr jedoch das Herz, denn sie sah an seiner Miene, dass er schlechte Nachrichten brachte. Sie reichte ihm zur Begrüßung beide Hände. Wie schwer ihr das Herz auch war, ihre Manieren würde sie nicht vergessen. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, sich an einem so kalten Tag hier herauszuwagen, Sir.“

„Ja, es ist kalt für die Jahreszeit. Allerdings sind es bis Weihnachten ja auch kaum noch zwei Monate. Miss Searles, ich muss Ihnen gleich sagen, ich habe in die Angelegenheiten Ihrer Frau Mutter Einblick genommen und es sieht nicht gut aus. Aber ich denke, eines Ihrer Probleme konnte ich zumindest vorübergehend lösen.“

„Oh … bitte erklären Sie doch“, bat Selina. „Sir, kommen Sie ans Feuer. Sie waren unserer Mutter ein so guter Freund, wir wollen nicht auf Förmlichkeiten beharren.“

Mr. Breck lüpfte seine Rockschöße und ließ sich in einem großen Sessel vor dem Kamin nieder.

„Wie Sie alle wissen“, begann er, „hatte Ihr Vater verfügt, dass Ihre Mutter das Haus zu ihren Lebzeiten nutzen durfte. Leider reichte sein Kapital nicht, um sich aus dem Fideikommiss auszukaufen. Seinen gesamten persönlichen Landbesitz hatte er längst verkauft, um seine Schulden zu begleichen.“

„Ja, das erklärte Mama uns nach seinem Tod“, bestätigte Selina. „Sie hatte jedoch, über ihre Leibrente hinaus, ein wenig eigenes Geld, nicht wahr?“

„Ja, in der Tat. Zudem hatte eine Tante ihr eine gewisse Summe hinterlassen, doch inzwischen ist fast alles verbraucht. Immerhin konnte ich einen kleinen Teil davon gut anlegen, der wird Ihnen zweihundert Pfund pro Jahr einbringen. An Kapital, über das Sie im Moment frei verfügen können, bleiben Ihnen allerdings nur fünfundsiebzig Pfund. Natürlich gibt es da noch den Schmuck Ihrer Frau Mutter und die Möbelstücke, die ihr persönlich gehörten. Das mag bei einem Verkauf tausend Pfund einbringen.“

„Wir werden uns wohl ein neues Heim suchen müssen, denn unser Cousin wird uns nicht behilflich sein. Außerdem möchten wir unabhängig bleiben“, sagte Selina.

„Das hoffte ich für Sie.“ Der Anwalt sah recht erfreut drein. „Sehen Sie, ich habe mir die Freiheit genommen, etwas für Sie zu arrangieren. Wenn es Ihnen recht ist?“

„Was auch immer Sie in die Wege geleitet haben!“, rief Selina erfreut. „In Grenzen natürlich“, korrigierte sie sich rasch.

„Nun, ich habe einen Klienten, einen alten Gentleman, einen Earl, der ein großes Anwesen besitzt. Er ist erkrankt und geht zum Wohle seiner Gesundheit nach Südeuropa. Sein Nachkomme lebt zurzeit in Italien und ist nicht bereit, sich um den Besitz zu kümmern. Daher wurde mir freie Hand gelassen, eine Lösung für die Verwaltung des Anwesens zu finden. Der Erbe – der Neffe des alten Herrn – wünscht allerdings nicht, das Herrenhaus zu vermieten, daher möchte ich eine Haushälterin einsetzen.“

„Bieten Sie mir diesen Posten?“, fragte Selina überrascht.

„Nun, ja, sozusagen. Ich dachte mir, Sie und Ihre Schwestern könnten dort wohnen und die Dienstboten, die Sie behalten wollen, mitnehmen. Ich würde deren Lohn zahlen und Ihnen eine kleine Aufwandsentschädigung – sagen wir dreihundert Pfund im Jahr.“

„Ich denke, das könnte die perfekte Lösung sein“, antwortete Selina sehr erleichtert. „Doch kann ich unmöglich ein Gehalt annehmen, Mr. Breck. Es wäre jedoch akzeptabel, dass Sie uns erlauben, dort zu wohnen – quasi als Mieter Ihres Klienten –, und wir im Gegenzug das Haus in Ordnung halten. Ich würde Ihnen auch bei der Verwaltung des Besitzes helfen, denn wie Sie wissen, unterstützte ich schon meinen Vater bei dieser Arbeit. Ich kann die Bücher führen und die Instandhaltung eines Besitzes beaufsichtigen – und sollten Sie einen fähigen Verwalter haben, so kann ich mit ihm zusammenarbeiten und Ihnen Bericht erstatten.“

„Nun, das ist nicht ganz das, was ich beabsichtigt hatte, aber so könnte es gehen. Dennoch bestehe ich darauf, die Löhne für die dort angestellten Dienstboten zu zahlen. Das Haus ist groß, Sie würden es sich nicht leisten können, genügend Dienerschaft zu halten, wenn ich nicht etwas dazugebe – im Namen meines Klienten natürlich. Zurzeit gibt es dort nur zwei Männer für den Außenbereich und einen betagten Butler. Sie würden noch mindestens zwei Hausmädchen und eine Köchin benötigen.“

„Nun, Mamas Zofe, unser Hausmädchen und die Köchin möchten unbedingt bei uns bleiben; sie wollen sogar ohne Lohn, nur für Kost und Logis arbeiten, ebenso wie Papas Stallknecht Jeremiah, die treue Seele. Selbstverständlich werden sie Lohn bekommen, aber das soll meine Sache sein, Mr. Breck, selbst wenn ich dafür Mamas Perlen verkaufen müsste.“

„Ach, Selina, du liebst diese Perlen so sehr“, rief Amy unter Tränen.

„Das stimmt, trotzdem wäre es für uns ein Ausweg. Siehst du das nicht? Wir könnten behaglich leben und gälten trotz unserer geringen Mittel immer noch als Ladies. Sicherlich können wir hier und da Gäste bewirten oder Nachbarn einladen. Eine von uns mag vielleicht sogar …“

„Cousin Joshua sagte, wir könnten unmöglich von zweihundert Pfund im Jahr leben“, warf Amy ängstlich ein. „Und dass kein Gentleman eine Frau ohne Mitgift und mit zwei Schwestern am Schürzenband heiraten würde. Er will nichts mehr mit uns zu tun haben, wenn wir versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen. Wir sollen bloß nicht zu ihm gerannt kommen, wenn es schiefgeht.“

„Davon kann nicht die Rede sein!“ Mr. Breck klang ärgerlich. „In solch einem Falle würden Sie, Miss Searles, sich an mich wenden. Im Übrigen ist Ihr Cousin gut betucht. Es hätte ihm nicht wehgetan, Sie hier weiterhin als seine Mieter wohnen zu lassen.“

„Er hat seit Langem die alberne Vorstellung, wir beide würden heiraten. Nun versucht er, auf diese Weise die Ehe zu erzwingen – aber das kommt um nichts auf der Welt infrage.“

„Auch Ihre Mutter hatte nicht darauf gehofft“, erwiderte der Anwalt. „Sie glaubte an eine vorteilhafte Partie für Sie, Miss Searles, wenn Sie die Gelegenheit hätten, an einer Saison in London teilzunehmen … Sie würden mir wohl nicht gestatten, Ihnen das Geld dafür auszulegen?“

„Sie sind sehr gütig, Sir“, sagte Selina mit Wärme, „doch das kann ich nicht annehmen. Wir mögen arm sein, aber noch haben wir unseren Stolz.“

„Genau diese Haltung habe ich befürchtet. Wenn Sie wenigstens ein Entgelt für Ihre Tätigkeit als Hausdame annehmen würden, könnten Sie damit vielleicht Amy eine Saison finanzieren.“

„Nein“, wehrte Amy ab, „Selina soll meinetwegen keine Schuldgefühle haben. Außerdem ist sie die Schönheit der Familie, ihre Chancen sind viel besser. Und ich bin überzeugt, dass noch irgendetwas Wunderbares geschehen wird. Bevor Sie kamen, wussten wir nicht wohin, und nun haben wir bereits ein neues Zuhause – zumindest vorläufig.“

Mr. Breck lächelte zustimmend. „Es heißt Banford Hall. Ein sehr alter Landsitz, geradezu der Welt entrückt, könnte man sagen, aber sehr schön, finde ich. Er ist seit Jahrhunderten im Familienbesitz und stammt teilweise aus dem Mittelalter.“

„Wie aufregend!“, rief Amy begeistert. „Ich kann es kaum erwarten! Sie haben sich so sehr für uns eingesetzt, Sir!“

„Oh nein, meine Liebe.“ Doch Mr. Breck schaute geradezu lächerlich zufrieden drein, sodass Selina still in sich hineinlächelte. Amy behauptete immer, sie, Selina, sei die Schönste von ihnen, aber ihre jüngere Schwester war selbst eine sehr bezaubernde, wenn nicht gar faszinierende junge Frau, die zweifellos vorteilhaft heiraten würde, wenn sie nur die Chance dazu bekäme.

„Tatsächlich passte es mir hervorragend, Sie als Familie dort untergebracht zu sehen, anstatt für dieses Anwesen einen professionellen Hauswärter einzusetzen. Diese Leute sind nicht immer zuverlässig, wenn der Eigentümer abwesend ist.“

„Wir werden das Haus gut instand halten, darauf können Sie sich verlassen. Sollte ich Reparaturen für notwendig halten, kann ich mich bezüglich der Kosten sicher an Sie wenden, Sir?“

„Gewiss, gewiss. Seine Lordschaft – der Neffe meines Klienten – betonte das ausdrücklich. Er wünscht, dass alles seine Ordnung hat und anständig geregelt wird, besonders bezüglich der Pächter. Er denkt anscheinend, dass sein Onkel sich erholen und wieder heimkehren werde. Das glaube ich persönlich allerdings nicht, denn um seine Gesundheit steht es nicht gut. Ich denke, er wird seine letzten Tage dort im Süden verbringen.“

„Nun, sollte er heimkehren, wird er sein Haus bestens gepflegt vorfinden. Falls er mit unserer Arbeit zufrieden ist, wird er uns vielleicht ein ständiges Heim anbieten – mit mir als Hausdame.“

„Würden Sie das in Betracht ziehen?“

„Wenn ich sonst nur die Wahl hätte, unseren Cousin um Hilfe zu bitten.“ Selina schauderte leicht. „Ich ziehe es vor, unabhängig zu bleiben – außer ich fände jemanden, den ich ehelichen möchte. Ganz verzweifelt sind wir noch nicht. Da ist auch noch Mamas Schmuck. Er mag fünftausend Pfund wert sein.“ Sie brach ab, als sie den Gesichtsausdruck des Anwalts bemerkte. „Überschätze ich den Wert?“

„Der Schmuck wurde zum größten Teil von Ihrem Vater zur Begleichung seiner Schulden verkauft, Miss Searles. Was Sie haben, sind lediglich Kopien. Ich glaube, ein Paar Diamantohrringe ist noch da und natürlich die Perlen, die Sie erwähnten.“

Entsetzt sahen die beiden Mädchen sich an. Selina erholte sich als Erste.

„Dann besitzen wir noch weniger als gedacht. Du, Amy, hast die Ohrringe, Milly hat ein goldenes Armband, und ich habe die Perlen. Wenn die anderen Stücke auch Kopien sind, so sehen sie doch echt genug aus, um sie etwa auf einem Ball zu tragen. Trotz allem sind wir nicht gänzlich mittellos, aber wir müssen gut haushalten.“

„Ich dachte, das alles wäre Ihnen bekannt“, äußerte Mr. Breck ein wenig fassungslos. „Es tut mir leid, Ihnen nur schlechte Neuigkeiten zu bringen.“

„Dass es so schlimm steht, wussten wir nicht. Ich hatte mich zwar gewundert, warum Mama nicht schon vor Jahren etwas verkaufte, um die Reparaturen am Dach im Westflügel in Auftrag zu geben … Zumindest haben wir ihre Möbel und ihre Kleider … oder ist das alles auch schon verpfändet?“

„Keineswegs“, versicherte Mr. Breck herzlich. „Alles, was der persönliche Besitz Ihrer Mutter war, dürfen Sie beim Auszug mitnehmen.“

„Seien Sie gewiss, dass wir nichts mitnehmen, was Cousin Joshua zusteht.“

„Ich möchte Papas Duellpistolen haben“, warf Amy ein. „Er brachte mir bei, damit zu schießen, und ich habe eine Schwäche dafür.“

„Wie gesagt, Sie können über alles verfügen, was nicht der gesetzlichen Erbfolge unterliegt, also über jegliche persönliche Habe.“

„Dann werden wir so verfahren“, beschloss Selina. „Ich werde eine Frachtkutsche mieten, um unsere Besitztümer fortzuschaffen. Auf keinen Fall will ich etwas behalten, was von Rechts wegen unserem Cousin zusteht.“

„Die Reitpferde gehören uns“, meinte Amy, „nicht jedoch die Kutsche mit dem Gespann. Also werden wir für die Reise zu unserem neuen Heim einen Wagen mieten müssen – und Jeremiah kann die Reitpferde hinbringen.“

„Daran dachte ich auch schon“, erklärte Mr. Breck. „Pferd und Wagen können wahrscheinlich günstig erworben werden – ich werde mich erkundigen. Vielleicht ist es zunächst besser, etwas zu mieten. Ich werde Sie bald auf Banford Hall besuchen, um zu sehen, wie Sie sich eingelebt haben.“

„Zumindest haben wir dafür Zeit genug, ehe Weihnachten vor der Tür steht. Sir, Ihr Besuch hat uns sehr geholfen“, sagte Selina. „Wollen Sie bitte zum Dinner bleiben, Sir?“

„Es wäre mir eine Freude. Dennoch ist es schicklicher, mich im Gasthof einzumieten, nun, da Ihre liebe Frau Mutter nicht mehr unter uns weilt.“

„Ja, gewiss.“ Selina kämpfte gegen die Tränen an, denn Weinen nützte nichts. Ihre Schwestern verließen sich darauf, dass sie für sie sorgte. Es würde schwer genug sein, von hier fortzuziehen und ihre Freunde zurückzulassen. Ihre jüngste Schwester war sowieso schon sehr durcheinander.

„Mama hat nun ihren Frieden. Sie würde nicht wollen, dass wir uns vor Trauer um sie vergraben. Sie liebte uns so sehr und würde sich wünschen, dass wir glücklich sind. Und darauf will ich hinarbeiten. Ich werde mein Bestes tun, um meinen Schwestern ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Ich weiß, ich spreche auch für meine Schwestern, wenn ich sage, dass Sie, Sir, uns mit Ihrer Familie willkommen sind. Vielleicht werden wir sogar ein paar Gäste haben – bestimmt werden wir in der Nachbarschaft von Banford Hall Bekanntschaften schließen –, doch es wäre uns eine besondere Ehre, wenn auch Sie kämen.“

„Also, das ist zu freundlich von Ihnen, Miss Selina.“ Der Anwalt strahlte geradezu. „Ich werde Sie wissen lassen, welche Pläne Mrs. Breck hat – aber Ihre Einladung ehrt mich sehr.“

„Mr. Breck ist sehr gütig“, stellte Amy fest, nachdem der Anwalt gegangen war. „Ohne seinen Hinweis hätte ich nicht gewagt, die Pistolen zu behalten. Da sind ja noch einige andere Dinge, die Papa als sein Eigentum betrachtete. Möglicherweise können wir, falls nötig, das ein oder andere verkaufen.“

„Amy, nimm bitte nur nichts von großem Wert an dich oder etwas, das Cousin Joshua als zum Erbe gehörig ansehen könnte. Das würde uns nur seinen Zorn einbringen. Selbst wenn er nicht direkt die Rückgabe verlangte, würde er es uns bestimmt unter die Nase reiben“, warnte Selina.

„Er ist ein solches Scheusal“, rief Amy aus tiefstem Herzen. „Dieses Bild in Papas Arbeitszimmer …“

„Liebes, gerate nicht in Versuchung. Ich weiß, welches du meinst; es ist sehr wertvoll, aber es gehört zum Familienerbe. Cousin Joshua würde es merken – und ich habe wirklich keine Lust, mir seine Vorträge erneut anzuhören.“

„Ach …“ Amy seufzte. „Es ist so schwer, all das zurückzulassen, was bisher zu unserem Leben gehörte.“

„Sei dankbar für das, was wir haben. Ich werde nun zu Bett gehen, es war ein langer Tag. Morgen beginnen wir zu packen. Ich habe nicht vor, irgendetwas hierzulassen, das uns gehört – und ich möchte in drei Tagen für den Umzug bereit sein.“

„Und wenn der Neffe des Earls beschließt, schon früher aus Italien nach Banford Hall zurückzukehren?“

Selina runzelte die Stirn. „Beten wir, dass das nicht passiert. Ansonsten müssten wir Mr. Breck bitten, uns bei der Suche nach einem kleinen Cottage zur Miete zu helfen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass man mir auf Banford Hall die Stelle als Hausdame auf Dauer anbietet. Das allerdings würde ich nur als letzten verzweifelten Ausweg annehmen. Aber nun geh packen, Liebes, falls du noch nicht zu müde bist.“

„Was ist mit den Büchern?“, fragte Amy. „Die gehören wohl zur Bibliothek?“

„Alle, außer Mamas persönlichen.“

Selina sagte nichts weiter; bestimmt würde Millicent, wie auch sie selbst, einige Bücher für sich beanspruchen. In Gedanken versunken, begab sie sich in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Den ganzen Tag war sie den Tränen nahe gewesen, dabei hatte sie sich bemüht, sie um ihrer Schwestern willen zurückzuhalten. Die Aussicht, ihr Zuhause verlassen zu müssen, brach ihr fast das Herz, auch wenn sie es sich vor dem Anwalt nicht hatte anmerken lassen wollen. Natürlich ging sie ein großes Risiko ein, indem sie Mr. Brecks Angebot annahm. Hier im eigenen Haus, inmitten ihrer eigenen Besitztümer und der Dienerschaft, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte, war sie sehr gut zurechtgekommen. Sie hatte die Zügel in die Hand genommen, als ihr Vater starb und ihre Mutter langsam dahinsiechte. Mit nur einer Handvoll Dienstboten – von denen sie einige gar nicht kannte – Herrin über ein altehrwürdiges Anwesen zu sein, war eine ganz andere Sache.

Selina hob den Kopf. Ihre Miene zeigte Stolz und Entschlossenheit, obwohl in ihren Augen die zurückgehaltenen Tränen glänzten. Sie würde es schaffen!

Sie würde es einrichten, dass Amy im nächsten Jahr die Saison in London verbringen konnte. Mit ein wenig Glück würde ihre attraktive Schwester vorteilhaft heiraten und damit wären ihrer aller Probleme gelöst. Wenn sie klug haushaltete und vielleicht eine der Freundinnen ihrer Mutter ihnen gefällig wäre, würde sie Amy diese Chance bieten können. Doch es wäre zu viel verlangt, das Gleiche für sich selbst zu erhoffen.

Nein, sie musste ihre Träume von einem Mann, den sie lieben und respektieren konnte, aufgeben. Obwohl – wenn ein annehmbarer Witwer um sie anhielte, würde sie seine Hand vielleicht akzeptieren. Sie verlangte nicht mehr, als dass er einen freundlichen Charakter hätte und nicht ein so aufgeblasener, selbstgefälliger Kerl wäre wie ihr Cousin.

Beim Gedanken an Joshua musste sie unwillkürlich lächeln. Er war sich so sicher gewesen, dass sie klein beigeben und ihn heiraten würde!

Nur wusste sie, dass er, wenn er nur konnte, es ihr irgendwie heimzahlen würde.

2. KAPITEL

Mein Onkel ist tot?“ Robert Moorcroft blickte von seinem Weinglas auf, in das er gedankenvoll gestarrt hatte, und sah seinen Sekretär grimmig an. „Nein, verdammt! Wenn ich ihn recht verstanden habe, hat er sich noch mindestens ein Jahr ausgerechnet, wenn nicht gar mehr. Eben darum ging er doch aus England fort und ließ sich in wärmeren Gefilden nieder.“

„Er hatte sich eine hässliche Erkältung geholt“, erklärte Henry Norton. „Bestimmt war er noch von den Anstrengungen der Reise geschwächt, und das Unwetter, in das er geriet, hat ihn völlig durchnässt. Du weißt, er war krank, Robert. Die Wahrscheinlichkeit, dass er plötzlich sterben könnte, war nie auszuschließen.“

„Armer Teufel. Er hatte sich noch ein paar Monate Ruhe und Frieden erhofft – weit weg von diesem riesigen alten Gemäuer. Die letzten Jahre müssen eine Qual für ihn gewesen sein. Zuerst stirbt ihm die Gattin und dann zwei seiner drei Söhne – alle an der gleichen Krankheit.“

„Vermutlich eine ererbte Anfälligkeit. Kränkelte deine Tante nicht schon immer?“

„Ja, so kam es mir vor.“ Robert nickte betrübt. „Und in diesem zugigen alten Haus zu leben, war wohl nicht gerade hilfreich.“

„Was ist mit dem dritten Sohn geschehen?“, fragte Nor.

„Cousin John, der älteste, kam bei einem Unfall ums Leben.“

„Wie tragisch! Aber warum hast du eine solche Abneigung gegen das Anwesen?“

„Ich habe dort die schlimmsten zwei Jahre meines Lebens verbracht. Onkel William in Trauer um seine Gemahlin und seine Söhne – und mein Vater war gerade bei einem Kutschenunfall zu Tode gekommen. Meine Mutter war ja bei meiner Geburt gestorben, und die Familie meines Onkels stand mir näher als meine eigene. Nach dem Tod meiner Mutter hatte sich mein Vater ganz in sich selbst zurückzogen und vergessen, dass er überhaupt einen Sohn hatte. In jenem Jahr wurde ich nach dem College nach Banford Hall geschickt. Die Atmosphäre dort war absolut bedrückend. Ich wollte bloß so schnell wie möglich entkommen, und das gelang mir. Nach dem Leben in der Armee, das so ganz anders war, schwor ich mir, nie wieder dorthin zurückzukehren.“

„Nun, jetzt bist du der Earl.“ Henry schenkte seinem Freund ein herzliches Lächeln. Obwohl er zum Landadel gehörte und in Devon eigene Ländereien besaß, hatte er, nachdem er kriegsverletzt aus der Armee ausgeschieden war, die Stellung als Roberts Sekretär angenommen. Vielleicht versteckte er sich auf diese Weise vor der Gesellschaft – in seinem Fall wegen seiner körperlichen Gebrechen. Roberts Wunden waren psychischer Art; man sah sie zwar nicht, sie waren jedoch ebenso schmerzhaft und lähmend wie Henrys.

„Du bist es dem alten Mann schuldig, deine Pflicht zu tun – und wenn du nur so lange bleibst, bis du den Besitz verkauft und die betagten Dienstboten aufs Altenteil gesetzt hast. Du bist der Letzte der Linie.“

Robert ächzte. „Erinnere mich nicht daran, Nor.“ Er benutzte die Abkürzung des Namens aus ihrer gemeinsamen Armeezeit. „Wahrscheinlich hast du wie immer recht. Ich wies diesen Rechtsanwalt an, eine Haushälterin einzustellen. Wenn wir also in zwei Wochen hier abreisen, sollte das Haus in einem guten Zustand sein – meinst du nicht auch?“

„Ich bezweifele, dass die Person in der kurzen Zeit viel verändern kann. Einen Monat solltest du ihr schon zugestehen. Außerdem hast du hier noch etwas zu regeln. Falls du vorhast, die Contessa um ihre Hand zu bitten?“

Robert runzelte die Stirn. „Die süße Adelaide. Eine Schönheit ist sie ja! Ich könnte es schlimmer treffen. Außerdem sollte ich wohl an einen Erben denken – aber nicht wegen dieses verfluchten Hauses. Wenn ich mich wieder in England niederlasse, werde ich es abreißen und einen ganz modernen Bau errichten lassen – oder das Ganze einfach verkaufen.“

„Findest du nicht, dass das ein Jammer wäre? Immerhin ist es seit Jahrhunderten euer Familiensitz. Spendiere dem Haus lieber eine Modernisierung, renoviere es … lass meinetwegen, wenn nötig, das Dach reparieren.“

„Warum sollte ich Geld zum Fenster hinauswerfen?“, fragte Robert und gähnte. „Das Haus saugte meinem Onkel die Lebenskraft aus … oder zumindest trug es dazu bei, dass er langsam dahinsiechte. Ich habe von mütterlicher Seite ein schönes Vermögen geerbt, warum sollte ich das an solch ein Gemäuer verschwenden?“

Henry zuckte die Achseln. „Es liegt ganz bei dir, mein Freund. An deiner Stelle würde ich es wieder zu einem schönen Zuhause machen wollen. Aber wenn es für dich nur mit dunklen Erinnerungen verbunden ist …“

„Und was ist mit dir?“, erkundigte sich Robert. „Du hast mich hierher begleitet, weil wir beide nach der letzten Schlacht in Frankreich den Gedanken an eine Heimkehr nach England nicht ertragen konnten. Zu viele Freunde verloren … zu viel Tod, zu viel Leid. Das Wetter hier gefällt uns, Nor. Meinst du, du könntest die Kälte daheim aushalten?“

„Mein Bein schmerzt noch immer“, gab Henry zu, dann tippte er an die lange, schrundige Narbe auf seiner Wange. „Das hier tut gar nicht weh, es ist nur hässlich, wenn es inzwischen auch besser aussieht als am Anfang. Ich habe nicht mehr die Hoffnung, eine Frau zu finden, die mich heiraten will. Wer könnte mich lieben, so wie ich jetzt aussehe?“

„Bist ein hässlicher Vogel“, antwortete Robert beiläufig, „aber ich liebe dich um deiner selbst willen, Nor – und jedes Mädchen, das nur ein bisschen Verstand hat, würde deinen Wert erkennen, wenn du ihm die Gelegenheit dazu gäbest.“

Henry lächelte schief. „Danke, zu gütig, Mylord. Ich würde das jedoch keinem Mädchen zumuten wollen, insbesondere nicht, wenn es aus Not gezwungen wäre zu heiraten. Nein, ich halte es ganz gut als dein Sekretär aus – bis ich dich langweile. Dann kehre ich heim nach Devon.“

„Na, dann wirst du mich dein Leben lang am Hals haben.“ Robert grinste. „Deine Narben kann man sehen, Nor – meine sind unsichtbar und doch mindestens genauso scheußlich. Nur du warst fähig, mich durch diese letzten Jahre zu bringen. Ohne dich wäre ich wahnsinnig geworden, glaube ich.“

„Wir brauchen uns gegenseitig“, stimmte Henry lächelnd zu. „Also, fahren wir nach England oder nicht?“

„Ja, wir fahren, allerdings erst in einigen Wochen. Ich bin mir wegen der reizenden Adelaide nicht sicher. Sie betrachtet sich bereits als meine Gemahlin – aber wird sie mich ertragen können, wenn ich meine Albträume habe? Ich werde es mir überlegen und ihr dann vielleicht einen Antrag machen.“

„Gut. Und was ist nun mit dieser anderen Sache?“

„Du meinst, ob mein Onkel zu Recht den Verdacht hegte, dass er betrogen wurde?“ Robert zog die Brauen zusammen. „Wenn ich sowieso Nachforschungen veranlassen will, kann ich auch gleich damit beginnen. Schreib an meinen Anwalt in England, er soll jemanden darauf ansetzen. Ich kann nicht nachvollziehen, warum irgendjemand meinem Onkel schaden wollte. Er war ein großzügiger, anständiger Pachtherr.“

„Vielleicht ist irgendeine dubiose Rachefantasie der Grund? Jemand, der entlassen wurde, ein bestrafter Wilderer oder ein längst vergangenes Unrecht?“

„Ja, Rache wäre ein Motiv.“ Robert ergriff sein Glas und leerte es. „Erinnere mich, dass ich, bevor wir abreisen, von diesem Wein hier ein paar Kisten nach England schaffen lasse. Ich bezweifle, dass mein Onkel irgendetwas Genießbares in seinen Kellern hat.“ Er stand auf und fuhr sich mit den langen, schlanken Fingern durch das dunkle Haar. Er war ein gutaussehender Mann, kraftvoll und sehnig, mit einem Gesicht, das nur allzu oft seine Gefühle widerspiegelte. „Ich reite hinüber und besuche Adelaide. Du willst wohl nicht mitkommen? Weißt du, Miss Bartlett ist auch sehr hübsch, und bestimmt will sie nicht ihr ganzes Leben lang Adelaides arme Verwandte bleiben.“

„Das mag ja sein, aber Miss Bartlett erschaudert jedes Mal, wenn sie mich sieht. Nein, danke, Robert, Ich bleibe hier und schreibe deine Briefe – und kümmere mich darum, den besagten Wein nach England verschiffen zu lassen, besonders, wenn wir eine Zeitlang dort leben wollen.“

„Ich überlasse das alles dir, Nor.“ Robert lachte leise. „Ich bin einfach faul. Was täte ich ohne dich?“

„Ein bisschen schneller zum Teufel gehen als ohnehin schon“, meinte sein Freund und schnaubte amüsiert.

Robert Moorcroft, neuerdings Earl Banford, schüttelte den Kopf und verließ die Villa, die schon zwei Jahre, seit Napoleons Niederlage bei Waterloo, sein Heim war. Offensichtlich konnte er sich hier nicht auf ewig verkriechen. Ungeachtet seiner persönlichen Vorbehalte war er Nachfahre eines alten Adelsgeschlechts und würde irgendwann für einen Erben sorgen müssen. Einzig zweifelhaft daran war, ob er das in jenem zugigen alten Gemäuer tun oder sich ein neues Haus errichten sollte …

„Ach, du meine Güte!“, rief Amy, als die Kutsche vor dem Haus hielt, das sie während der letzten zehn Minuten immer wieder einmal vom Wagenfenster aus erspäht hatten. „Diese Türme und die schmalen Fenster … Es sieht aus wie in dem Roman ‚Udolpho‘ … ganz romantisch.“

„Es ist groß“, sagte ihre praktischer veranlagte Schwester ein wenig beunruhigt.

Dass das Haus mit seinen alten Mauern aus blassgrauem Stein so groß war, hatte sie wirklich nicht erwartet. Es wirkte einschüchternd und ein wenig bedrohlich. Unzählige Fenster mit rautenförmiger Bleiverglasung funkelten im Licht der spätherbstlichen Sonne wie Diamanten.

„Um ein solches Haus gebührend instand zu halten, braucht man eine ganze Armee von Dienstboten.“

„Mr. Breck sagte ja, dass die Familie nur einen Flügel nutzte. Die anderen beiden wurden schon vor Jahren verschlossen – und dieses Gartenhäuschen in Form eines Turms ist sogar baufällig.“

„Woher weißt du das, Millie?“, fragte Selina. „Hast du an der Tür gelauscht?“

„Nein, ich las den Brief, den Mr. Breck dir schickte – in dem steht, wo die Schlüssel sind und was du sonst noch so wissen musst.“

„Ach so?“ Selina schaute sie tadelnd an. „Du hast herumgeschnüffelt!“

„Ohne das erfährt man doch nie etwas“, antwortete Millicent sichtlich zufrieden mit sich selbst. „Ich mag ja erst zwölf sein – im Dezember dreizehn –, aber ich bin alt genug, um die meisten Dinge zu verstehen. Du solltest mich nicht wie ein Kind behandeln, Selina.“

„Nein, wohl nicht. Du bist alt genug, um bestimmte Dinge zu begreifen, Miss – weswegen ich auch so ungehalten war, als ich dich dabei ertappte, wie du dieses alte Buch – du weißt schon, das ‚Stundenbuch‘– einpacken wolltest. Es stammt aus dem Mittelalter und ist viel zu kostbar, als dass man hoffen könnte, Cousin Joshua würde sein Fehlen nicht bemerken.“

Millie vergaß, dass sie eine junge Dame war. „Er ist ein gemeiner Kerl!“, rief sie. „Warum sollte er es bekommen? Papa versprach mir, es mir zu meinem sechzehnten Geburtstag zu schenken.“

„Nun, das er hätte nicht versprechen dürfen“, erklärte Amy. „Jeder weiß, das Buch gehört in die Erbmasse, Millie. Wir dürfen nur persönliche Habe mitnehmen – und das Buch ist beinah tausend Guineen wert. Wenn wir etwas so Kostbares mitnähmen, würde Cousin Joshua uns zu Recht aufs Dach steigen. Ich musste auch das Bild im Arbeitszimmer zurücklassen, obwohl ich es so sehr mag.“

„Es ist einfach ungerecht …“ Millie biss sich auf die Unterlippe, dann musterte sie das Haus. „Es sieht unheimlich aus. Ich wette, da gibt es Gespenster.“

„Papa sagte uns immer, es gibt keine Gespenster – also nicht diese Ketten rasselnden Gerippe jedenfalls –, sondern nur unglückliche Seelen, die an ein Haus gebunden sind.“

„Ich hoffe, dass es hier Gespenster gibt“, meinte Amy, während sie den Schlag der Kutsche öffnete, noch ehe der Postillion dies tun konnte. „Ich kann es gar nicht abwarten, das Haus von innen zu sehen.“

Als sie aus der Kutsche sprang und zur Freitreppe eilte, öffneten sich die großen Eingangstüren. Ein recht betagter Mann in schwarzem Anzug kam die Stufen hinab, um sie zu begrüßen. Ihm folgten eine Frau gleichen Alters und zwei weitere Dienstboten, die für Arbeiten außerhalb des Hauses zuständig zu sein schienen.

Inzwischen waren auch die anderen beiden Kutschen angekommen – die zweite kleinere Kutsche, mit der Selinas Dienstboten gereist waren, und der Lastkarren mit all ihren Besitztümern. Als alle drei Mädchen ausgestiegen waren, folgten ihnen die drei Bediensteten wie eine Art Ehrengarde, die jederzeit bereit wäre, sie zu verteidigen.

„Miss Searles?“ Der Butler trat vor. Sein Blick huschte kurz zu den Frauen, die hinter Selina standen. „Ich hatte Sie früher erwartet.“

„An der letzten Poststation gab es eine kleine Verzögerung“, erklärte Selina lächelnd. „Sie müssen Trent sein. Ich bin so erleichtert, dass Sie Ihre Stellung nicht aufgegeben haben. Ich bin mir sicher, Sie werden uns eine unschätzbare Hilfe sein.“

„Nun, Ma’am …“ Trent schmolz unter ihrem warmen Lächeln dahin. „Ich hielt es dem neuen Earl gegenüber für meine Pflicht. Falls er sich entschließt heimzukehren, wird er jemanden brauchen, der sich der alten Zeiten erinnert, damit die alten Traditionen nicht verloren gehen.“

„Nun, gewiss, so wie wir auch“, erwiderte Selina unbefangen, „denn bis dahin ist dies auch unser Heim, und wir möchten alles so handhaben, wie es sich gehört. Und eben das werden Sie uns sagen können, Trent. Wenn wir auch vielleicht manches ändern müssen. Ich habe nur wenige Dienstboten, wie Sie sehen. Mein Reitknecht bringt unsere Pferde her, doch wir werden eine Kalesche besorgen müssen.“

„Da steht wohl eine brauchbare in der Remise, Ma’am – und die Kutschpferde, über die der Earl nicht zu verfügen wünschte, sind auch noch hier. Der Enkel meines Bruders hilft seit einiger Zeit in den Ställen aus, während wir abwarteten, wie es mit dem Anwesen weitergehen würde.“

„Nun, das wäre hilfreich – allerdings weiß ich nicht, ob wir das ausnutzen sollten.“

„Eine Mietpartei darf alle vorhandene Einrichtungen nutzen, Ma’am.“

„Nun, wir werden sehen“, antwortete Selina. „Unsere Habe ist dort hinten. Ich sehe, es gibt hier zwei kräftige Männer. Ob sie bitte den Lastkarren abladen könnten?“

„Gewiss, Madam, das ist ihre Aufgabe. Ihre Koffer werden sie zuerst hinaufbringen, und dann wünschen Sie sicher, sie anzuweisen, wohin Ihr Mobiliar soll.“

„Das meiste gehört in unsere persönlichen Räume. Es sind nur etwa ein Dutzend Teile – dazu Porzellan, Gläser, Silber und Leinenzeug. Da ist ein Spinett und ein Nähtischchen, außerdem ein Sekretär, der im Salon untergebracht werden sollte …“

„Es gibt mehrere Salons. Wenn Sie erlauben, Ma’am, führe ich Sie herum, damit Sie entscheiden können, welchen Sie als Ihren privaten nutzen möchten.“

„Sie sind sehr freundlich, Trent. Ich befürchtete, Sie würde gegen uns eingenommen sein, weil wir nicht zur Familie gehören“, sagte Selina sanft.

Der alte Mann schaute betrübt drein. „Wir haben unsere Herrschaften verloren, es gibt nur noch den neuen Earl. Bis er sich entschließt, zu heiraten und das Haus wieder zum Leben zu erwecken, werden wir froh sein, eine Familie wie die Ihre bei uns zu haben.“

„Danke, Trent. Darf ich Sie Miss Amy Searles und Miss Millicent – für uns alle Millie – vorstellen?“

„Wirklich sehr erfreut, meine jungen Damen“, begrüßte Trent sie, dann wandte er sich der älteren Dame zu, die hinter ihm stand. „Dies ist Miss Barnes. Sie hat hier als Kinderfrau gearbeitet, deshalb nennen wir sie alle nur Nanny. Da sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte, und hier von Nutzen war, ist sie auf Banford Hall geblieben. Nanny ist geschickt in der Zubereitung von Kräuteraufgüssen und Ähnlichem – und sie kann auch sehr gut dabei helfen, die Zimmer in Ordnung zu halten. Sie verlangt nicht mehr als Kost und Logis.“

„Oh, ich denke, Mr. Breck wird Ihnen allen ein Gehalt zahlen“, erklärte Selina. „Ich werde selbstverständlich mit ihm darüber sprechen. In nächster Zeit werden wir mit einer kleinen Gruppe Bediensteter auskommen, doch Mr. Breck mag im gegebenen Fall erwägen, weitere Leute einzustellen – besonders für die Arbeiten außerhalb des Hauses.“

„Der alte Earl benutzte nur wenige Räume, Ma’am.“ Da Trent diese Anrede beibehielt, fand er offensichtlich, er müsse ihr als Haushaltsvorstand formell den Status einer älteren Frau zugestehen. „Sollten Sie in größerem Rahmen Gesellschaften geben wollen, würden Sie ebenfalls noch weiteres Personal benötigen – wenn Sie mir die Anregung erlauben.“

„Wie Sie wissen, sind wir in Trauer um meine Mutter“, erwiderte Selina zurückhaltend. „Wir werden noch eine ganze Weile nicht in Gesellschaft gehen.“ Eine von Trents Formulierungen war ihr aufgefallen, und sie runzelte die Stirn. „Sie erwähnten den neuen Earl. Ist der alte denn verschieden? Unseres Wissens erwartete man, dass er noch Monate, wenn nicht gar Jahre leben würde, da er sich gerade in einem bekömmlicheren Klima niedergelassen hatte.“

„Leider ist er vor wenigen Tagen verstorben. Bei einem Spaziergang geriet er in ein Unwetter und wurde sehr durchnässt. Als Folge bekam er eine schwere Erkältung, die sich zu einer Lungenentzündung entwickelte und ihn jäh dahinraffte.“

„Das ist sehr bedauerlich.“ Selina blieb fast das Herz stehen. „Sie haben vermutlich noch nicht gehört, wann der neue Earl heimzukehren beabsichtigt?“

„Wir vermuten, dass er zurzeit nicht daran denkt, da er Ihnen das Haus überlassen hat, Ma’am“, sagte Trent, während er ihnen voran ins Haus ging. „Wünschen Sie, dass Nanny Ihnen den Tee im hinteren Salon serviert? Er wird von der Abendsonne erhellt, und wir haben dort schon den Kamin angezündet. Ihre Dienstboten werden sich erst einmal zurechtfinden müssen, ehe sie mit ihrer Arbeit beginnen, nehme ich an.“

„Bereitet das Ihnen nicht zu viele Umstände, Nanny?“ Fragend schaute Selina die ältere Frau an, die bisher nur bei der Begrüßung schüchtern den Kopf geneigt, sie jedoch ängstlich betrachtet hatte.

„Aber nein, Ma’am“, antwortete Nanny und wandte sich gleich darauf an Trent. „Wenn die jungen Damen Ihnen in den Salon folgen wollen, Trent, sorge ich für eine Stärkung. Später“, sie wandte sich nun an Selina, „wenn Ihr Gepäck hinauf in Ihre Zimmer gebracht wurde, führen wir auch Sie hinauf.“

„Ich würde gern das Haus erkunden“, meinte Amy aufgeregt. „Sagen Sie, Mr. Trent, gibt es eine mittelalterliche Galerie und ein Priesterversteck? Und ich hoffe, in einem der Türme spukt es!“

„Eine Galerie gibt es in der Großen Halle, Miss“, Trent lächelte nachsichtig, „und sogar zwei Verstecke, doch ich fürchte, keine Gespenster. Wir haben kein Skelett im Wandschrank, obwohl die Familie in den letzten Jahren wirklich viel Unglück ertragen musste.“

„Wollen Sie mir das Anwesen zeigen?“, bat Amy. „Ich kann es gar nicht erwarten!“

„Sehr gern. Den Zierturm im Park müssen wir allerdings auslassen, Miss“, erklärte Trent. „Das Mauerwerk bröckelt. Es ist dort äußerst gefährlich, daher ist der Zutritt auch verboten. Alles andere können Sie jedoch gern erkunden.“

„Bitte, Amy, nicht jetzt sofort“, wandte Selina ein. „Wir müssen Jane und Betty Zeit lassen, unsere Habe zu verstauen. Im Moment sind alle zu beschäftigt, um uns herumzuführen. Und ich möchte nicht, dass du dich gleich am ersten Abend verläufst.“

„Ach, Unsinn, ich würde mich nicht verlaufen. Aber wenn du wünschst, dass ich bei euch bleibe, bis alles fertig ist, muss ich eben warten.“

„Ich habe Hunger“, mischte Millicent sich ein. „Ob es wohl Kuchen gibt?“

„Ich bin überzeugt, dass Nanny heute Morgen gebacken hat“, äußerte Trent. „Sie kocht auch für uns, seit der Earl abreiste und sich die meisten Bediensteten eine bessere Stellung suchten – und wer könnte es ihnen unter diesen Umständen verdenken? Während der letzten drei Jahre war das Haus wie tot.“ Erschrocken und verlegen über seine eigenen Worte fuhr er fort: „Tut mir leid, Ma’am, ich vergaß einen Moment, dass auch Sie in Trauer sind.“

„Ja, so ist es“, bestätigte Selina. „Doch denken Sie nicht, dass wir in unseren Kummer sinken, denn unsere Mutter würde es schlimm finden, wenn wir mit langen Gesichtern umhergingen. Sie wollte uns immer glücklich sehen, und sie würde wollen, dass wir aus unserer Lage das Beste machen. Wir werden die Trauerzeit noch bis Weihnachten einhalten, dann haben wir vor, eine kleine Gesellschaft zu geben. Nichtsdestotrotz werden wir unsere Nachbarn auch jetzt schon empfangen, falls sie vorsprechen wollen. Und wir würden auch schon bald kleinere Dinnereinladungen annehmen. Zu bestimmten Gelegenheiten würden wir selbst ebenfalls ein oder zwei Gäste zum Dinner bitten, doch keine wie immer geartete Party veranstalten – nicht vor Weihnachten.“

„Das ist jedenfalls viel mehr als das, was wir bisher gewohnt waren“, sagte Trent sichtlich erleichtert. „Wir könnten weitere Hilfskräfte aus dem Dorf engagieren, falls nötig, Ma’am.“

„Wir sind daran gewöhnt, unsere Zimmer selbst in Ordnung zu halten; wenigstens Amy und ich bemühen uns.“ Selina hob mit Blick auf die jüngste Schwester eine zarte Braue. „Ich versuche, Millie ein wenig mehr Sorgfalt bezüglich ihrer Sachen zu lehren, aber manchmal verzweifele ich daran.“

Da Trent den scherzhaften Unterton erkannte, nickte er lächelnd. Er führt seine neue Herrschaft in einen hübschen Salon, von dem aus man den hinteren Rasen und den Rosengarten überblickte. Anschließend begab er sich auf die Suche nach Nanny und der versprochenen Stärkung.

„Was sollen wir nur tun, wenn der neue Earl heimkehrt?“, fragte Amy leise, als der Butler fort war. „Er wies Mr. Breck an, eine Haushälterin einzustellen und nicht das Haus einem zahlenden Mieter zu überlassen.“

„Wir sind keine Mieter, sondern halten das Haus in Ordnung“, erklärte Selina entschieden. „Ich wünsche keine Vergütung, dennoch beabsichtige ich, das Haus ordentlich zu führen und wieder zum Leben zu erwecken. Wir halten unsere Zimmer sauber. Du, Amy, kümmerst dich um den Blumenschmuck für die von uns benutzten Räume, und Millie wird beim Aufräumen und Staubwischen helfen. Ich habe vor, den Bestand des Leinenzeugs und sonstiger Haushaltsgegenstände aufzulisten, und werde die Möbel in unserem Trakt mit Bienenwachs polieren. Das wurde seit Ewigkeiten nicht gemacht. Unsere Köchin wird wie immer ihr Regiment in der Küche führen, und Jane kümmert sich um unsere Garderobe. Betty wird die restliche Hausarbeit übernehmen und in der Küche helfen. Für die Wäsche brauchen wir vielleicht Unterstützung aus dem Dorf, aber wenn wir alle unseren Teil beitragen, sehe ich keinen Grund, warum wir Banford Hall nicht wieder zu seinem alten Glanz verhelfen sollten.“

„Amy lässt immer alles herumliegen“, murrte Millicent. „Ich sehe nicht ein, warum ich ihre Sachen aufräumen soll.“

„Du kannst das Liegenlassen viel besser als ich“, widersprach Amy. „Außerdem kümmere ich mich um die Blumen – und das dauert endlos lange.“

„Wenn ihr wollt, könnt ihr tauschen“, schlug Selina vor. „Aber ich kann nicht alles selbst machen, also müsst ihr mit anfassen. Ich werde mich auch um die Gutsverwaltung kümmern und den Haushalt organisieren, außerdem unsere Abrechnungen machen und Vorräte bei den Händlern im Ort bestellen. Bitte streite nicht herum, Millie. Ich finde, was uns bevorsteht, ohnehin schon beängstigend genug.“

Millie sah unsicher drein. „Tut mir leid. Es ist nur alles so neu und … so grässlich ohne Mama. Es würde mir alles nichts ausmachen, wenn sie bei uns wäre …“

„Weine nicht, Liebes“, bat Selina. Auch ihr wurde die Kehle eng. „Ich weiß, wie es dir geht, aber … es ist ein Glück, dass uns diese Gelegenheit beschert wurde, selbst wenn es nur für wenige Monate sein wird. Das gibt uns Zeit zu überlegen, wo wir uns niederlassen wollen, wenn der Earl heimkehrt.“

„Ich werde nicht weinen.“ Millie unterdrückte ein Schniefen. „Warum muss Cousin Joshua auch so gemein sein!“

„Es ist sein gutes Recht, unser altes Haus instand setzen zu lassen. Es hätte schon früher gemacht werden müssen. Ehrlich gesagt liegt die Schuld bei Papa. Anstatt sein Geld in London zu verspielen, hätte er daheim bleiben und sich um seinen Besitz kümmern sollen.“

„Ich werde nie verstehen, wie es dazu kam!“ In Amys Augen blitzte unterdrückter Zorn. „Papa hat vorher nie übermäßig gespielt. Ich denke, er wurde betrogen.“

„Warum hat er überhaupt gespielt?“, fragte Millie.

„Weil er wusste, dass wir Geld brauchten“, erklärte Selina geduldig wie schon viele Male zuvor. „Es gab zwei schlechte Ernten hintereinander, und dann war da diese Seuche, die unser Vieh befiel – und dann entschloss Vater sich zu einer Investition, die ihm ein paar tausend Pfund einbringen sollte, um die Verluste zu überbrücken.“

„Stattdessen verlor er alles und er …“ Amy schluckte schwer. „Ich werde ihm nie vergeben, dass er Mama das antat. Sie liebte ihn so sehr, und dass er auf diese Weise starb, brach ihr das Herz.“

„Uns allen brach es das Herz“, sagte Selina und streckte ihren Schwestern die Arme entgegen. „Kommt her, meine Lieben! Wir haben einander, und dafür können wir uns glücklich schätzen. Wir mögen arm sein, aber wir haben immer noch unseren Stolz und unsere gegenseitige Liebe. Solange das besteht, werden wir alles schaffen.“

„Du beschämst uns.“ Amy wischte sich die Tränen ab. „Du trägst die größte Last – da sich auch noch Lord Markham von dir abwandte, nachdem Papa … Nein, wir wollen nicht mehr daran denken. Millie, wir müssen Selina nach Kräften unterstützen. Die Arbeit wird uns am Morgen nur etwa eine Stunde kosten, anschließend können wir tun, was uns beliebt. Ich kann es gar nicht abwarten, das Haus und seine Geschichte zu erforschen. Meinst du, es gibt hier eine Bibliothek und eine Niederschrift der Familiengeschichte?“

Selina nickte und drückte ihre Schwestern eine nach der anderen zärtlich. „So ist es richtig, Amy. Wir müssen alle etwas finden, das uns Freude bereitet. Wir werden uns hier sicher bald zu Hause fühlen, wenn wir erst unsere eigene Habe in unseren Räumen verteilt haben. Und bis Weihnachten ist es nicht mehr lange. Dann geben wir eine kleine Gesellschaft, mit Geschenken und dem Weihnachtsschmuck, den wir von daheim mitgenommen haben – und wir fertigen neuen an.“

In der Halle hüstelte jemand, gleich darauf öffnete sich die Tür. Nanny trat ein, gefolgt von Trent, der mit einem großen Tablett beladen war, das er auf einem Tisch neben Selinas Sessel abstellte. Nanny trug eine Etagere, auf der Kuchen, Kleingebäck und süße Törtchen angerichtet waren, deren Herstellung deutlich mehr als nur wenige Minuten in Anspruch genommen hatte. Sie musste also vor Eintreffen der neuen Bewohner mehrere Stunden damit zugebracht haben.

„Das sieht köstlich aus“, lobte Selina. „Nanny, das muss Ihnen sehr viel Arbeit bereitet haben. Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie uns so freundlich willkommen heißen.“

„Ich hatte Hilfe, Ma’am“, antwortete Nanny ein wenig verlegen. „Sadie ist ein wenig anders. Niemand im Dorf will ihr Arbeit geben, aber zu mir kommt sie. Ich half ihr, als sie Hilfe brauchte, und auch unsere frühere Köchin lehrte sie einiges. Sie macht ganz wunderbares Gebäck … und verlangt dafür nicht mehr als ein paar Pence und eine Mahlzeit.“

Selina seufzte stumm, da sie ihr mageres Kapital schwinden sah. Wenn das so weiterging, würde sie Mr. Breck doch um Unterstützung bei den Dienstbotengehältern bitten müssen, aber Nannys Bemerkung ließ ihr kaum eine Wahl.

„Ich sehe schon, da hat jemand sehr viel geleistet“, stellte sie anerkennend fest. „Richten Sie Sadie meinen Dank aus. Lebt sie hier im Haus?“

„Oh, nein, Miss. Die ist ungebärdig und tut, was sie will. Sie kann ein Schatz sein, dann wieder streift sie irgendwo in den Wäldern umher.“

„Ah, ja. Nun, wenigstens ist Sie Ihnen keine Last.“

„Bei mir benimmt sie sich mustergültig … nur nicht immer bei anderen Leuten, wenn Sie mich verstehen.“

Eben das fürchtete Selina. Dieses wilde Mädchen schien eher eine Bürde als eine Hilfe zu sein, trotzdem wollte sie es nicht abweisen, solange es keinen Ärger machte. Vorsichtig kostete sie von dem Kuchen, erwartete beinah schon einen Schabernack, doch er war tatsächlich köstlich.

„Sehr gut“, lobte sie. „Ich glaube, meine Köchin könnte es nicht besser.“

„Ich werde ihr sagen, dass es Ihnen schmeckt.“ Nanny lächelte erfreut. „Wissen Sie, Ma’am, sie ist wie eine Tochter für mich – trotz ihrer Fehler.“

„Nun, ich erwarte, dass Sie ein Auge auf sie haben“, antwortete Selina. „Derweil will ich ihr einen Shilling pro Woche geben und die Mahlzeiten – genügt das? Wenn Sie meinen, es müsse mehr sein, werde ich Mr. Breck darauf ansprechen.“

„Oh, bitte, nein, Ma’am. Der alte Earl wies mich an, sie hinauszuwerfen. Er fand, sie stiftete Unruhe, und so würde auch Mr. Breck entscheiden. Ein Shilling und eine Mahlzeit werden genügen.“

„Dann will ich ihr erlauben herzukommen, vorausgesetzt, sie macht keinen Ärger“, erklärte Selina. „Sie haben sie offensichtlich gern, und ich möchte niemanden betrüben. Es gibt schon genug Unglück in der Welt.“

Sie selbst hatte bereits ihren Teil davon erfahren – besonders die Enttäuschung, die sie mit sechzehn Jahren erlebt hatte, als ihre erste Liebe unerfüllt blieb und nichts als bittersüße Erinnerungen zurückließ.

Nanny nickte zustimmend. „Das sage ich auch immer.“ In diesem Moment wusste Selina, sie hatte ihre erste Probe in dem neuen Haushalt mit Bravour bestanden. Wie viele wohl noch folgen, bis ich endgültig akzeptiert werde? fragte sie sich. Nun, wahrscheinlich würde sie es nur zu bald herausfinden.

„Die Bibliothek ist wunderbar“, schwärmte Millicent am nächsten Morgen, als Selina ihre Schwestern in demselben Salon antraf, in dem sie bereits den Abend verbracht hatten.

Es duftete nach Lavendel, und Selina wurde bewusst, dass die beiden sich mächtig ins Zeug gelegt und die schönen alten Möbelstücke auf Hochglanz gebracht hatten. Alles war aufgeräumt: Der Nähtisch aus dem Besitz ihrer Mutter stand neben dem bequemen Sessel, der ebenfalls aus ihrem früheren Haushalt stammte, und das zierliche Spinett ihrer Mutter war vor das Fenster gerückt worden. Auf dem Kaminsims prangten die silbernen Kerzenleuchter und die hübsche versilberte Uhr im französischen Stil, die ihre Mutter in guten Zeiten angeschafft hatte. Fast war es wie früher. Selina spürte einen Kloß in der Kehle.

„Ah, ihr wart fleißig. Alles sieht aus wie … in Mamas Salon.“

„Außer, dass es zu ordentlich ist. Bei uns lagen immer Bücher und Nähzeug herum“, meinte Millie.

Selina nickte lächelnd, denn die beiden hatten wirklich fleißig gearbeitet, um sie zu unterstützen. „Gibt es eine gute Auswahl an Büchern … also Bücher, die ihr interessant findet?“

„Oh, ja.“ Millie seufzte zufrieden, denn sie war eine begeisterte Leserin. „Es gibt Romane und Dramen und Gedichtbände und auch Bücher über historische Themen – sogar ein wundervolles Bestiarium mit großartigen, kolorierten Zeichnungen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Tiere und Fabelwesen sich dort tummeln.“

„Dann werden dir Papas Bücher zum Glück nicht so sehr fehlen. Es fiel mir schwer, dir zu erklären, dass du deine Lieblingsbücher zurücklassen musstest.“

Millie schüttelte kurz den Kopf und schaute dann fort. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, was Selina ein wenig verwunderte. Sie vergaß ihre Beobachtung jedoch gleich wieder, da Amy hingerissen von den Ahnentafeln und Familienporträts zu sprechen begann, die sie in der Galerie entdeckt hatte.

„Trent hat mir auch die beiden Priesterverstecke gezeigt. Sie sind, ebenso wie die alte Galerie, im Westflügel, der nicht mehr benutzt wird – obwohl das möglich wäre, denn die Räume sind alle in Ordnung. Die Möbel stecken unter Staubhüllen, was ein bisschen gespenstisch wirkt, aber mit ein wenig Anstrengung könnte das alles wieder wie neu aussehen.“

„Vielleicht könnten wir den Flügel für die Weihnachtstage öffnen“, meinte Selina. „Wenn ich die Schränke, Truhen und Haushaltsbücher durchgesehen habe, werde ich mich darum kümmern. Ich hatte Mr. Breck ja auch versprochen, mir einen Überblick über die Verwaltung des Anwesens zu verschaffen. Mr. Breck hat einen Verwalter als Aufsicht über die Pächter eingestellt und zwei Gärtner für den Park. Nach dem, was ich bisher gesehen habe, sind zwei jedoch zu wenig. Ich beabsichtige, alles genau zu inspizieren, damit ich Mr. Breck bis zum Ende der Woche einen Bericht schicken kann.“

„Nach dem Lunch musst du dir wenigstens unseren Flügel anschauen“, sagte Amy gerade, als der Gong ertönte. „Ah, das klingt, als wäre es schon so weit. Mr. Trent bot sich an, uns zu bedienen, aber ich habe nur ein einfaches Buffet herrichten lassen und ihm mitgeteilt, dass wir uns selbst auflegen.“

„Ganz richtig. Ich denke, er hat ohnehin genug zu tun.“

„Es ist ein richtiges Abenteuer, alles selbst zu machen“, stellte Millie überraschend fest, als sie in den kleinen Speisesalon gingen. „Ich dachte, es würde grässlich sein, aber eigentlich macht es Spaß.“

„Ganz richtig“, pflichtete ihr Selina bei. „Wir können unser Leben ganz nach unserem Geschmack einrichten. Wir brauchen kein Haus voller Diener und jede Menge Geld, um zufrieden zu sein.“

„Nur hätte ich zu Weihnachten gern ein neues Kleid“, warf Millie ein. „Mama sagte, ich bekäme Kleider mit einem anderen Schnitt, wenn ich dreizehn würde – was in der Woche vor Weihnachten ist.“

„Wir vergessen es nicht “, antwortete Amy gereizt, „dafür sorgst du schon hinreichend!“

„Bitte streitet nicht“, bat Selina. „Neue Kleider können wir uns schon noch ab und zu leisten, Millie. Es wird nur nicht immer die feinste Seide sein, und vielleicht wir müssen sie selbst nähen.“

„Ich kann nicht nähen!“, rief Millie entsetzt. „Sag bitte nicht, dass ich mir mein Kleid selbst nähen muss, Selina!“

„Amy und ich werden das machen“, versprach Selina. „Trotzdem musst du endlich ein paar einfache Stiche lernen. Ich wünschte, es gäbe Möglichkeiten, selbst Geld zu verdienen, ohne dafür von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Aber leider würde Amy jede Chance auf eine gute Heirat verlieren, wenn sie eine Stelle als Gesellschafterin annähme. Vielleicht solltest du im Frühjahr eine Saison in Bath mitmachen, Amy. Es ist nicht so teuer wie in London. Deine Garderobe würden wir irgendwie zusammenbringen. Das hängt davon ab, wie viel der Verkauf der Perlen einbringt. Nur weiß ich nicht, ob wir alle fahren können. Hinzu kommt, dass ich hier zu tun habe. Bestimmt würde eine von Mamas Freundinnen dich aufnehmen, sofern wir nicht erwarten, dass sie die Kosten trägt. Wenn du dann einen reichen Gatten fändest, könnte er dir und Millie ein angemessenes Heim bieten. Mir sollte es gelingen, eine Stelle als Gesellschafterin oder Gouvernante zu finden …“

„Aber nein!“, widersprach Amy. „Wenn du eine solche Möglichkeit bekämst, fändest du bestimmt auch einen vermögenden Ehemann.“

Selina schwieg. Sie war sich gar nicht sicher, ob sie heiraten wollte. Sie fand ihre gegenwärtige Stellung mehr als befriedigend und wäre mit der Position einer Haushälterin auf einem Besitz wie diesem zufrieden gewesen.

Die jährlichen dreihundert Pfund, die Mr. Breck ihr für diesen Posten geboten hatte, hätten all ihre finanziellen Probleme gelöst. Doch es war natürlich unmöglich, dass die Schwester zweier junger Damen, die sich in der Gesellschaft etablieren wollten, als bezahlte Haushälterin arbeitete. Kein einziger Gentleman würde noch Interesse am Amy oder Millie zeigen. Wenn die beiden jedoch untergebracht waren, würde sie selbst ganz unabhängig leben können, ohne die Sorge, das Leben ihrer Schwestern zu beeinträchtigen.

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr kam sie zu der Überzeugung, dass sie zufrieden wäre, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Das wäre ihr jedenfalls lieber, als sich an einen Mann zu binden, den sie nicht liebte, nur um ein Heim zu haben. Oder war sie nur so töricht, weil sie einen lang gehegten Traum einfach nicht vergessen konnte?

Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild eines jungen Soldaten, und sie musste unwillkürlich lächeln. Er hatte ihr an jenem Abend einen Vorgeschmack auf so überwältigende Gefühle gegeben, dass sie seinem Zauber vollkommen erlegen war. Sie wusste, kein Mann würde sich jemals daran messen können. Er hatte ihr Herz im Sturm erobert, und sie hatte ihm Freiheiten gestattet, wie eine anständige junge Dame es niemals tun dürfte. War sie deshalb liederlich und verdorben?

Er hatte gesagt, er werde eines Tages zurückkehren und sie für sich einfordern. Was bedeutete das? Meinte er eine Heirat? Oder …? Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen. Oder hielt er mich für lasterhaft, weil ich mich von meinen Gefühlen hinreißen ließ? Manchmal war Selina entsetzt, wenn sie sich daran erinnert, was er getan hatte. Aber dann fiel ihr ein, wie süß die Berührung seiner Lippen gewesen war, und sie konnte sich jener köstlichen Gefühle einfach nicht schämen.

Nein, ich werde nicht mit meinen Gedanken in der Vergangenheit verharren. Es ist an der Zeit, an meine Zukunft zu denken. Als Erstes musste sie dafür sorgen, dass Amy und Millie ein gesichertes, angemessenes Zuhause fanden. Darauf musste sie hinarbeiten, so gut sie konnte.

3. KAPITEL

Du scherzt!“ Henry Norton betrachtete seinen Freund ehrlich erstaunt. „Sie hat dich abgewiesen? Hat sie den Verstand verloren oder hast du sie beleidigt?“

Robert lächelte schief. „Du kennst mich zu gut, Nor. Natürlich war ich zu ehrlich und direkt. Ich sagte ihr, es ginge mir nicht um Liebe, wobei ich ihr allerdings versicherte, dass ich sie durchaus begehrenswert finde und gern mit ihr zusammen bin – als Gefährtin und als Mutter meiner Kinder.“

„Dann wundert mich gar nichts! Dass du überhaupt heil davongekommen bist! Was ist nur in dich gefahren, der Lady das zu sagen? Du hättest wissen müssen, dass sie wütend wird. Der schönen Adelaide liegt ein ganzes Heer von Männern zu Füßen.“

„Na, sollen sie es bei ihr versuchen, viel Glück dabei! Schön ist sie, doch auch sehr launenhaft“, sagte Robert, während er sich missmutig an die Wange fasste. „Ich bin übrigens nicht ganz heil davongekommen. Glaub mir, die Lady kann zuschlagen!“

„Du hast es dir verdient“, meinte Henry gefühllos. „Wenn du gewollt hättest, dass sie dir ihr Jawort gibt, hättest du – aber natürlich, du wolltest es ja nicht.“ Er nickte wissend, als er Roberts Gesichtsausdruck sah. „Nicht wahr, du hast aus Pflichtgefühl um sie angehalten, weil du monatelang so unverschämt mit ihr geflirtet hattest.“

„Zugegeben, ich hielt es für meine Pflicht, denn ich hatte die Dame versehentlich glauben lassen, ich würde ihr einen Antrag machen.“ Robert seufzte schwer. „Das war nicht schön von mir. Ich weiß, sie hat alles, was die meisten Männer von einer Gattin verlangen, doch sie ist nichts für mich.“

„Du liebe Güte, was suchst du? Eine Heilige?“

„Nein …“ Robert lachte halbherzig. „Wäre es zu viel verlangt, dass die Dame mich lieben soll – oder mir wenigstens herzlich zugetan ist? Ich weiß, ich bin nicht der einfachste Mensch. Meine Albträume würden jeder jungen Frau Angst einjagen. Ich dachte, Adelaide wünscht sich vielleicht eine Vernunftehe, da sie schon einmal verheiratet war. Anscheinend verlangt sie jedoch völlige Ergebenheit, und die kann ich ihr nicht versprechen. Ich weiß nicht, ob ich jemals einer Frau mein ganzes Selbst geben kann. Ich habe zu viel gesehen, Nor – zu viele Tränen geweint. Mein Herz zerbrach auf den Schlachtfeldern in Spanien. Ich weiß nicht recht, ob ich je wieder Liebe empfinden kann.“

Henry nickte. Genau das galt auch für ihn. Der Tod so vieler Freunde hatte tiefe, vielleicht niemals verheilende Wunden geschlagen. Robert allerdings hatte noch schwerer gelitten. Henry war damals dabei gewesen, als sein Freund Juanita in den Armen gehalten hatte. Er hatte ihr, die von entsetzlichen Schmerzen schier zerrissen wurde, die ganze lange Nacht hindurch beigestanden. Eine schöne junge Frau so schwer verletzt zu sehen, war etwas, das kein Mann vergessen konnte. Geschändet, geschlagen und zum Sterben liegengelassen, hatte sie noch lange genug gelebt, um ihre Peiniger zu benennen, ehe sie in Roberts Armen starb. Und begangen worden war jene Tat von einem Trupp abtrünniger Soldaten – englischer Soldaten.

Manchmal wünschte Henry, sie wäre gestorben, bevor Robert und er sie fanden. Vielleicht hätte sich Robert dann davon erholt. Doch jenes Erlebnis hatte ihn tief gezeichnet und ihm schreckliche Albträume beschert. Diese Träume quälten ihn bis heute, noch nach zwei Jahren der Erholung, die er in der Wärme und Ruhe der Toskana verbracht hatte.

„Nun, da es keinen Grund mehr gibt, hier länger zu verweilen, sollten wir vielleicht nach England zurückkehren.“

„Ja, das denke ich auch. Hast du Mr. Breck geschrieben, dass ich noch vor Weihnachten kommen will?“

„Das habe ich ihm mitgeteilt. Aber du hast nicht vor, sofort Banford Hall aufzusuchen?“

„Das hat noch eine Weile Zeit. Wir reisen zuerst nach London; Breck soll das Stadthaus herrichten lassen. Dort bleiben wir ein, zwei Wochen. Du weißt, dass ich meinen eigenen kleinen Besitz verkaufte, als ich beschloss, hier in Italien zu leben. Der Verkaufserlös wurde angelegt. Ich werde in London klären, wie es mit meinem Vermögen steht, doch ich denke, es wird mehr als ausreichend sein. Wie schon gesagt, Nor, ich glaube nicht, dass ich in diesem Mausoleum von Haus wohnen kann. Es muss wohl abgerissen werden, wenn ich auf dem Besitz leben soll. Oder vielleicht verkaufe ich es einfach.“

„Das werde ich Breck so mitteilen. Wann sollen wir aufbrechen – nächsten Monat?“

„Warum nicht früher? Machen wir einen kurzen Abstecher nach Paris und reisen dann rechtzeitig für die Weihnachtsvorbereitungen nach England?“

Zufrieden schaute Selina sich um. Sie und ihre Schwestern hatten während der letzten drei Tage zusammen mit Jane und Betty die Versäumnisse von Jahren beseitigt. Nun waren alle Räume, die sie nutzen wollten, wieder in gutem Zustand: die Möbel poliert, die Teppiche ausgeklopft, das Silber geputzt und die wundervolle Prachttreppe – ein mit kunstvollen Schnitzereien versehenes Relikt aus dem Mittelalter – gründlich gereinigt, sodass die dunkle Eiche, vom dicken Staub befreit, sanft schimmerte.

„Das sieht doch viel besser aus, Miss Selina.“ Betty nickte zufrieden. „Hab noch nie in meinem Leben so oft geniest! War das alles staubig! Ich glaube, der Salon wurde seit Jahren nicht genutzt.“

„Ja, wir haben viel verändert.“ Selina freute sich, denn sie hatten in den unbenutzten Flügeln des Hauses unter Staubhüllen verborgen ein paar sehr schöne Möbel aus Walnussholz entdeckt – nützliche Stücke wie Sekretäre, Tischchen und zierliche Stühle und Sessel sowie ein bequemes Sofa –, die die Ausstattung der Räume nun sehr hübsch ergänzten. Dafür hatten sie die schweren, hässlichen Möbel in eins der unbenutzten Zimmer bringen lassen. „Alles hier war so schwer und düster, dafür all diese schönen Sachen ungenutzt …“

„Der neue Earl wird hoffentlich nichts dagegen haben“, meinte Betty zweifelnd. „Wissen Sie, Miss, manche Leute mögen gar keine Veränderungen.“

„Nun, er ist nicht hier“, erwiderte Selina lakonisch. „Wenn ihm etwas am Heim seines Onkels läge, wäre er sofort hergekommen und hätte sich angesehen, was dringend erledigt werden muss. Außerdem habe ich ja nur die Zimmer, die wir bewohnen, gemütlich hergerichtet.“

„Sie haben sie wirklich Ihrem Stil angepasst“, stellte Betty anerkennend fest. „Jetzt gehe ich besser hinunter in die Küche. Die Köchin bereitet die Puddings und Kuchen für Weihnachten zu und braucht Hilfe.“

„Ich dachte, Sadie hilft ihr?“

„Die?“ Betty schnaubte verächtlich. „Die kommt und geht, wie es ihr passt. Sie werden sehen, die bringt mehr Ärger als Nutzen. Sie werden noch bereuen, dass Sie ihr erlaubt haben zu bleiben.“

„Was stellt sie denn an?“

„Sie kennen mich, ich tratsche nichts weiter – aber sie gibt sich mit James, dem Gärtner, ab. Ein Mädchen wie die … Na, raten Sie, der ist nur hinter einem her …“ Errötend brach Betty ab. „Hätt ich nicht sagen sollen, Miss Selina.“

„In der Tat! Ich werde sie nicht wegschicken, außer sie verursacht Probleme. Nanny mag sie und hält sie im Zaum. Trotzdem werde ich Nanny wegen des Gärtners einen Tipp geben, damit sie Sadie zur Vorsicht mahnt.“

Das Mädchen schien den Searles aus dem Weg zu gehen; Selina hatte kaum etwas von ihm gesehen. Es hatte nur ein- oder zweimal durchs Fenster gespäht, als Selina gerade mit der Köchin sprach. Wenn Nanny es nicht erwähnt hätte, wäre ihr wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, dass das junge Ding hier war.

Dieses schöne, ungebärdige Mädchen, das nicht wirklich zum Haushalt gehörte, bereitete Selina Kopfzerbrechen. Sadie tat, was ihr gefiel. Wie die Köchin berichtet hatte, neigte sie dazu, mitten in einer Arbeit einfach wegzugehen und mit der Vorstellung, genau da wieder weitermachen zu können, einen Tag später erneut aufzutauchen. Selina war sich nicht sicher, ob Sadie ein eher schlichtes Gemüt hatte oder nur wild und widerspenstig war. Zumindest war sie noch nicht unangenehm aufgefallen.

Tatsächlich verlief bisher alles sehr reibungslos. Inzwischen hatten einige Besucher vorgesprochen – der Vikar und ein paar der allernächsten Nachbarn –, und Selina überlegte schon, ob sie einen jour fixe einführen sollte, an dem die Damen der Umgebung auf eine kleine Erfrischung vorbeikämen. Beim sonntäglichen Kirchgang hatte sie weitere Nachbarn getroffen. Alle wirkten freundlich und nur mäßig neugierig auf die neue Familie in Banford Hall. Es waren auch schon zwei Herren zu Pferde hergekommen, die sich erkundigten, ob sie irgendwie behilflich sein könnten. Beide waren gut situierte Landadelige, jedoch mit rustikalen Manieren und weniger Feingefühl, als Selina und ihre Schwestern es von ihren früheren Freunden gewohnt waren. Beide Gentlemen waren nicht ganz das, was Selina sich als Verehrer für ihre Schwestern wünschte.

„Miss Searles …“

Selina wurde von dem Butler aus ihren Gedanken gerissen. „Was gibt es, Trent?“

„Eben kam ein Brief mit dem Vermerk ‚dringend‘. Ich dachte, ich gebe ihn Ihnen sogleich.“

„Dringend?“ Überrascht nahm Selina den schmalen Umschlag entgegen und musterte die Schrift. „Von Mr. Breck …“ Hastig öffnete sie ihn und keuchte. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Ja, es ist wichtig, Trent. Danke, dass Sie ihn gleich herbrachten. Wissen Sie zufällig, wo Miss Amy ist?“

„Im kleinen Salon, Ma’am. Soll ich sie herbitten?“

„Nein, danke. Ich gehe selbst.“

Während der Butler ihr verwirrt hinterherschaute, eilte sie den Flur entlang zu dem Salon, den sie zu ihrem privaten Gebrauch ausgewählt hatten. Zum Glück fand sie Amy, die mit einer Näharbeit beschäftigt war, dort. Millie hielt sich natürlich in der von ihr innig geliebten Bibliothek auf, wo man sie fast nur noch fand.

„Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll“, sagte Selina und reichte Amy den Brief. „Mr. Breck schreibt, wir sollen vorerst hierbleiben, aber ich bin mir nicht sicher, wie das funktionieren soll.“

Amy las und sah bestürzt zu ihr auf. „Der Earl wird jeden Augenblick in England erwartet? Ach, Selina, nachdem wir so viel Mühe in das alles hier gesteckt haben – und wo wir gerade dabei sind, Freunde zu finden!“

„Offensichtlich will der Earl vorerst nicht hier leben. Er wird sich anscheinend in London niederlassen – und er überlegt wohl, das Haus abzureißen und einen Neubau zu errichten.“

„Wie kann er nur?“, fragte Amy entsetzt. „Das Haus ist so wunderschön und hat eine lange Geschichte.“

„Aber es ist auch zugig, und wenn man alle Räume nutzen würde, bräuchte man viel mehr Dienstboten. Wir legen auch selbst Hand an, Amy. Betty allein würde das nie schaffen.“ Betrübt musterte Selina ihre Hände. „Wenn wir Besuch empfangen, werde ich Spitzenhandschuhe tragen müssen; meine Hände sehen schrecklich aus.“

„Und nun kommt der Mann und nimmt uns alles weg, macht unsere ganzen Anstrengungen zunichte“, rief Amy zornig. „Das ist so ungerecht!“

„Das Leben ist oft ungerecht.“ Selina seufzte. „Erinnerst du dich, wie Mama mich vor sieben Jahren mit nach Bath nahm, weil sie dort wegen ihrer Erkältung eine Trinkkur machen musste? Ich war gerade sechzehn.“

„Ja, als du zurückkamst, warst du sehr viel stiller als vorher.“ Amy runzelte die Stirn. „Was hat das denn mit … entschuldige, bitte erzähl weiter.“

„Da war ein Mann, ein Captain der Armee. Er sah sehr gut aus und sollte in wenigen Tagen nach Spanien segeln. Er und seine Freunde besuchten den Ball, an dem auch Mama und ich teilnahmen. Meine Tanzkarte war schon voll, als er eintraf, aber er … er setzte sich einfach darüber hinweg. Und dann begann er mit mir zu flirten. Es war wie im Traum, Amy. Was er alles zu mir sagte … ich sei ein Engel, so schön, dass es ihm Tränen in die Augen treibe. Dann führte er mich in den Garten und küsste mich, sagte, er würde mich anbeten und eines Tages zu mir zurückkehren. Ich weiß nicht genau, was er damit meinte. Was ich aber glaube, ist … er war ein bisschen angeheitert. Denn am nächsten Tag, als ich Mama zum Trinkbrunnen begleitete, ging er an mir vorbei, ohne mich auch nur anzusehen. Ich vermute, er hatte wirklich nur geflirtet …“

„Wie furchtbar gemein von ihm!“ Amy war empört. „Und was geschah danach? Hast du ihm gesagt, er habe nicht wie ein Gentleman gehandelt?“

„Dazu gab es gar keine Gelegenheit. Von einer Dame, die wir besuchten, hörte ich, dass Robert Moorcroft – so hieß er – und seine Kameraden sich nach Spanien eingeschifft hatten, wo sie sich Lord Wellington – damals noch Wellesley – anschlossen und gegen Napoleon kämpften.“

„Also hatte er sich vor seinem Aufbruch in den Krieg einen Schwips angetrunken und nur zum Spaß mit dir geflirtet?“ Amy schaute düster drein. „Ich wäre böse auf ihn gewesen.“

„Nein, ich war ihm nicht böse.“ Selina lächelte. „Ich war jung und töricht. Ich hätte gar nicht mit ihm in den Garten gehen dürfen. Mama hatte mich gemahnt, dass ich den Herren keine Freiheiten gestatten dürfe … Aber ich mochte ihn so sehr, und es erschien mir alles so romantisch. Ich war ganz und gar hingerissen und vergaß Mamas Warnungen. Heute weiß ich natürlich, dass es nur eine Tändelei war – trotzdem habe ich ihn nie vergessen können.“

„Willst du deswegen nicht um des Geldes willen heiraten?“

„Das ist gut möglich. Ich will nicht sagen, dass er mir das Herz brach. So war es nicht – aber er verdarb mich für andere Männer. Ich kann einfach keinen anderen in demselben Licht sehen.“

„Ist er der Grund, dass du diese Stelle hier angenommen hast?“, fragte Amy.

„Gewissermaßen. Da ich nicht den Wunsch habe zu heiraten, dachte ich, es wäre ein Ausweg aus unseren finanziellen Schwierigkeiten. Doch wenn der Earl zurückkehrt und meine Dienste nicht mehr benötigt …“

Amy seufzte. „Was sollen wir tun? Du hattest ja überlegt, die Nachbarn am Heiligen Abend zu einer Gesellschaft einzuladen. Sind wir dann noch hier, oder müssen wir uns sofort nach einem neuen Zuhause umsehen?“

„Mr. Breck besteht darauf, dass wir vorerst hierbleiben. Er wird mit dem Earl sprechen, sobald er ihn in London trifft, und ihn fragen, ob wir bleiben können, bis das Haus abgerissen werden soll.“

„Wer will das Haus abreißen?“, fragte Millie, die in diesem Augenblick hereinkam. Sie hielt ein Buch in der Hand, in das sie offensichtlich vertieft gewesen war. „Was flüstert ihr da? Warum erfahre ich nie etwas?“

„Der neue Earl kehrt nach England zurück. Er beabsichtigt, vorerst in London zu wohnen, will aber offenbar dieses Haus abreißen und an seiner Stelle ein neues bauen lassen.“

„Das kann er nicht machen!“, empörte sich Millie. „Ich hasse ihn! Gerade habe ich mich eingewöhnt. Es gefällt mir hier! Männer sind grässlich. Ich wünschte, sie zögen alle in den Krieg und kämen nicht mehr zurück! Dann könnten wir leben, wie es uns gefällt!“

„Millie! Das ist sehr hässlich!“, tadelte Selina sie. „Vorerst kümmert sich der Earl nicht um uns, also können wir zunächst weitermachen wie bisher. Nächste Woche besucht uns Mr. Breck, um sich anzusehen, was wir inzwischen geschafft haben, und um einige Dinge zu kontrollieren, auf die ich ihn hingewiesen habe. Bis dahin weiß er vielleicht mehr über die Absichten des Earls. Falls er uns ein paar Monate Zeit lässt, werden wir sicher ein hübsches Cottage finden.“

„Das ist doch nicht dasselbe, wie in diesem wunderschönen alten Haus zu leben!“ Millie stiegen Tränen in die Augen. „Wir werden nur wenige Bücher haben, und hier gibt es so viele, die ich lesen will.“

„Nun, vielleicht hat der Earl ja noch gar keine Lust, sich mit Banford Hall zu beschäftigen“, versuchte Selina sie zu trösten. „Hätte ich so etwas geahnt, wäre ich nicht hierher gezogen. Dabei schien es so ideal für uns! Ein paar Monate Aufschub und Amy hätte vielleicht einen Gemahl gefunden, und ich … nun, für mich hätte sich vielleicht auch etwas ergeben.“

„Sorge dich nicht, liebste Selina.“ Amys Augen blitzten. „Bis Weihnachten habe ich einen Bräutigam gefunden, pass nur auf! Wir müssen nur ein paar Dinnergesellschaften geben und alle annehmbaren Herren mit ihren Müttern und Schwestern einladen.“ Sie lächelte zuversichtlich. „Es mag vielleicht nicht auf einen Earl oder Lord hinauslaufen, doch gegen einen Sir hätte ich auch nichts einzuwenden – oder auch einen einfachen Mister, wenn er reich genug ist.“

„Nein, unseretwegen darfst du nicht überstürzt heiraten“, warf Selina rasch ein. „Bitte versprich mir das, Liebes. Ich will, dass du glücklich wirst. Millie und ich werden, wenn es sein muss, wunderbar in einem Cottage leben können, aber du musst vorteilhaft heiraten. Du bist wie geschaffen dafür, in der Gesellschaft zu glänzen, meine Liebe. Ich werde nicht zulassen, dass du dich für uns aufopferst.“

„Es wäre kein Opfer, wenn der Mann mir bieten könnte, was ich mir wünsche – und euch beiden ein anständiges Zuhause gäbe.“

„Aber du verkehrst gern in besseren Kreisen, und du sehnst dich danach, eine Saison mitzumachen. Nein, Amy, was auch passiert, du wirst dich nicht für uns opfern! Vergiss nicht, du bist noch keine zwanzig, und ich bin dein Vormund. Ich werde es nicht erlauben!“

„Du würdest es mir jedoch sicher nicht verweigern, wenn ich wirklich den Wunsch habe zu heiraten?“

„Nicht, wenn du den Gentleman liebst und er eine passende Partie ist“, antwortete Selina entschieden. „Gebt noch nicht auf, meine Lieben. Wir verdanken unseren Aufenthalt hier Mr. Breck. Sollten wir tatsächlich ausziehen müssen, wird er uns bestimmt wieder beistehen. Wir machen erst einmal weiter wie bisher.“

„Meine Anweisungen an Sie waren, einen Hauswart einzustellen, Sir“, stellte Robert klar. Da er um einiges größer war als der Anwalt, blitzte er ihn von oben verärgert an. „Mein Onkel wollte keine Mieter und ich auch nicht.“

„Sie sagten jedoch, Sie würden in den nächsten Jahren nicht heimkehren, Mylord. Daher dachte ich, es wäre nicht von Nachteil, die Misses Searles in Banford Hall wohnen zu lassen – besonders, da die jungen Damen in einer verzweifelten Lage waren. Zudem geben sie sich mit Ihrem Anwesen viel Mühe, das versichere ich Ihnen. Die älteste Miss Searles ist eine ausgezeichnete Wirtschafterin und hatte bereits ihrem Vater geholfen, den Familienbesitz zu verwalten.“

„Dann ist sie eine ledige, nicht mehr ganz junge Dame, nehme ich an.“

„Das würde ich nicht sagen, Sir – wenn sie auch keine sehr junge Dame ist. Anfang zwanzig, vermute ich. Miss Amy ist noch nicht zwanzig und die jüngste von ihnen wird in Kürze dreizehn.“ Mr. Breck blickte Robert ein wenig ängstlich an. „Ich beabsichtigte, sie morgen aufzusuchen und die Angelegenheit zu besprechen. Ich habe bereits ein anderes Haus gefunden, das für die drei passend wäre. Allerdings steht es erst in der zweiten Januarwoche zur Verfügung. Wenn Ihre Pläne es gestatten, die drei bis dahin in Banford Hall wohnen zu lassen …“

Roberts Züge verhärteten sich. „Sie sagten, die Dame handelt als unbezahlte Haushälterin?“

„Das Arrangement hielt ich für annehmbar, Mylord. Obwohl ich Miss Searles einen Ausgleich anbot, weigerte sie sich, Lohn in barer Münze anzunehmen. Sie fand es für eine Lady unangemessen. Sehen Sie, sie brauchte rasch eine Unterkunft, und das Haus stand leer. Sie zog mit ihren Schwestern und Dienstboten ein, und sie hat mir nun sehr nützliche Berichte geschickt. Sie fand bezüglich der Pächter zweier Gehöfte schon einiges heraus, dem ich, wie sie meint, meine Aufmerksamkeit widmen sollte.“

„Wahrhaftig? Was mag das sein? Ich hätte kaum gedacht, dass eine junge ledige Dame fähig wäre, etwas aufzudecken, das meinem Verwalter entgangen ist.“

„Es ging um einen Pflichtbeitrag, der der Kirche zusteht, der aber versehentlich dem Gut zugeschlagen wurde, dort jedoch nicht in den Abrechnungen erscheint. Außerdem fehlt ein Pachtvertrag für ein Stück Land. Die Pächter durften trotzdem bleiben. Wenn nun aber keine Pacht gezahlt wird, könnten sie laut Gesetz das Land in ein paar Jahren für sich beanspruchen. Ich habe die Aufsetzung eines neuen Pachtvertrags in die Wege geleitet. Dafür können Sie der jungen Dame danken.“

„Bemerkenswert. Man fragt sich, wie der Angestellte meines Onkels eine solche Sache übersehen konnte – außer er hätte Gründe dafür.“

„Ganz Ihrer Meinung, Sir. Miss Searles vermutet, es bestehe da eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Verwalter und dem Pächter. Der Verwalter kündigte sehr plötzlich, als Ihr Onkel ihm mitteilte, dass Sie die Verantwortung über den Besitz übernehmen würden. Ich denke, was Miss Searles entdeckt hat, könnte nur die Spitze des Eisbergs sein, Mylord. Ich vermute, Ihr Onkel wurde schon über mehrere Jahre betrogen.“

„In diesem Fall muss ich Banford Hall früher als geplant aufsuchen. Ich muss herausfinden, was da vor sich geht.“

„Wünschen Sie, dass Miss Searles mit ihrer Familie auszieht?“

„Nein, natürlich nicht. Ich bin kein Unmensch, mein Herz ist nicht aus Stein. Ich denke, das Haus ist geräumig genug, um es eine Weile miteinander zu teilen. Suchen Sie die Damen auf, wie Sie es geplant hatten, Mr. Breck. Richten Sie Miss Searles aus, dass ich heute in acht Tagen dort eintreffen werde. Sie kann aus dem Dorf zusätzliche Bedienstete einstellen und den Westflügel herrichten. Da ziehe ich mit Henry Norton und Jobis ein. Jobis war in der Armee mein Bursche und sorgt für mich genauso gut, wie ein Kammerdiener es täte – außer, wie ich zugeben muss, wenn es um den Glanz meiner Stiefel, geht. In der Stadt habe ich vorübergehend einen Kammerdiener, den ich allerdings nicht mit aufs Land nehmen will. Im Augenblick brauche ich da einzig Henry, Jobis und meine Reitknechte.“

„Wie Sie wünschen, Mylord.“

Nachdenklich sah Robert zum Fenster der Kanzlei hinaus auf die geschäftigen Londoner Straßen. Zu seiner Verwunderung hatte er sie nach der Wärme und Schönheit Italiens schmutzig und nicht sonderlich einladend gefunden.

„Ehe ich daran denken kann, das Haus abzureißen, muss ich Entwürfe zeichnen lassen. Wenn Sie mir einen guten Architekten beschaffen könnten, werde ich ihn nach Banford Hall bitten – vielleicht über Weihnachten. Er soll mir einen Kostenvoranschlag für einen Neubau erstellen.“

„Sehr wohl, Mylord. Es ist großzügig von Ihnen, meine Klientin vorerst im Haus wohnen zu lassen. Ich werde die Damen darüber informieren, dass sie bleiben können, bis ihr neues Heim frei wird – somit können sie die Weihnachtszeit noch in Banford Hall verbringen. Miss Searles will wohl für ihre Nachbarn eine kleine Gesellschaft geben.“

„Da ich noch in Trauer bin, darf es keine aufwendige Sache werden, aber ich sehe keinen Grund, auf eine kleine Party zu verzichten, obwohl – sagten Sie nicht, die Damen seien ebenfalls in Trauer?“

„Ja, Mylord. Sie wünschen jedoch, die Nachbarn kennenzulernen.“

„Die nicht mehr sehr lange ihre Nachbarn sein werden.“

„Allzu weit ziehen sie nicht fort. Die Bleibe, die ich für sie fand, ist ein großes Gutshaus kaum zehn Meilen von Ihrem Anwesen entfernt. Der Besitzer hat sich im Ausland niedergelassen und vermietet vorerst für die Dauer von fünf Jahren – sofern Miss Searles einverstanden ist.“

„Dann mag sie nach ihren Wünschen verfahren.“ Wieder runzelte Robert die Stirn. „Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich erinnere mich nicht, die Dame je getroffen zu haben.“

„Ihr Vater war Lord Richard Searles, ihre Mutter stammt von den Seymours aus Devon. Sie gehörten zum Landadel und kamen, glaube ich, nur selten nach London. Lady Searles war häufig krank. Trotz der Trinkkur, der sie sich vor einigen Jahren in Bath unterzog, verschlechterte sich ihre Gesundheit, sodass sie danach nicht mehr reiste. Ihr Gemahl fuhr manchmal nach London. Hier hatte er indes wenig Glück … verlor sein ganzes Vermögen an den Spieltischen.“

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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