Historical Saison Band 81

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STÜRMISCHE ROMANZE MIT HINDERNISSEN von DIANE GASTON
Als Captain Lucien Roper nach einem Schiffsunglück Lady Rebecca aus den eisigen Fluten rettet, denkt er nur daran, die anmutige Schönheit in seinen Armen zu wärmen. Noch nie hat eine Frau ihn so betört. Doch ihre Küsse sind nicht nur süß, sondern auch verboten. Denn Lucien weiß, auf seine Meerjungfrau wartet ein anderer …

DER DUKE UND DIE SCHÖNE REBELLIN von LOUISE ALLEN
Duke of Aylsham hält es für einen Fehler, sie geküsst zu haben? Verity ist empört. Als ob sie darauf aus wäre, mit einem intoleranten Lord anzubandeln! Sie spürt genau: Eine unabhängige Frau wie sie passt einfach nicht in sein Weltbild. Aber warum zieht der smarte Aristokrat sie dann so leidenschaftlich in seine Arme?


  • Erscheinungstag 11.05.2021
  • Bandnummer 81
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502955
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Gaston, Louise Allen

HISTORICAL SAISON BAND 81

1. KAPITEL

Juni 1816

Lucien Roper stand an der Reling des Paketschiffs Dun Aengus und sah zu, wie der Hafen von Dublin in der Ferne verschwand. Er atmete die salzige Meeresluft ein und spürte den frischen Wind im Gesicht.

In wenigen Tagen würde er hoffentlich ein eigenes Schiff kommandieren, hätte seine alte Crew zurück und könnte wieder das Leben führen, das ihm schon so viel gegeben hatte: ein Vermögen an Prisengeldern, Anerkennung und Respekt und einen Platz, wo er hingehörte.

Hinter ihm erklang plötzlich das Lachen einer Frau. Der fröhliche Ton war solch ein Gegensatz zu seiner inneren Unruhe, dass er erschrocken herumfuhr. Sie trug einen grauen Umhang mit Kapuze, die leider ihr Gesicht verbarg.

Worüber freute sie sich wohl so?

Das war das Opfer, das ein Leben bei der Marine forderte: Er konnte keiner jungen Dame mit einem fröhlichen Lachen den Hof machen. Er konnte keine Frau heiraten, weil er sie für seine Geliebte, das Meer, doch bald wieder verlassen müsste. Er hatte bei seinen Eltern aus nächster Nähe miterlebt, was passierte, wenn ein Seemann heiratete. Der Mann fuhr aufs Meer und ließ seine Gattin die meiste Zeit allein.

Es war indes lange her, dass er unter der Abwesenheit seines Vaters gelitten hatte. Inzwischen fuhr Lucien selbst schon seit mehr als zwanzig Jahren, seit seinem zwölften Lebensjahr, zur See.

Er konnte es kaum erwarten, wieder dorthin zurückzukehren. Seine geliebte Foxfire war abgewrackt worden, nachdem der Krieg jetzt vorbei war, aber man hatte ihm ein neues Schiff versprochen. Natürlich gab es Dutzende von Kapitänen, denen es ähnlich ging, er jedoch hatte sich einen Platz ganz oben auf der Liste verdient.

Bei diesem frischen Wind würde die Dun Aengus spätestens morgen Nachmittag in Holyhead eintreffen, sodass er schon in wenigen Tagen in London sein würde.

Er betrachtete den Himmel und runzelte die Stirn. Die Überfahrt würde ziemlich rau werden. Vielleicht zu rau. Es wäre besser gewesen, man hätte die Abreise auf morgen verschoben. Andererseits … je eher er England erreichte, desto besser.

Trotzdem …

Er schlenderte hinüber zum Kapitän: „Sieht nach schlechtem Wetter aus.“

Der Kapitän wusste, wer Lucien war – ein hochdekorierter Kapitän und Kriegsheld –, dennoch wirkte er überrascht, dass Lucien ihn ansprach. „Was? Oh, schlechtes Wetter. Ja. Müssen wir durchsegeln.“

Lucien hatte schon vielen Stürmen getrotzt, da würde er es auch mit dem, der gerade aufzog, aufnehmen. Er hätte es allerdings vorgezogen, wenn der Kapitän nicht ganz so zerstreut wirken und sich stattdessen mehr mit dem Wetter und dem Geschehen an Deck beschäftigen würde. Zum Beispiel mit der jungen Frau in dem Umhang, die der Gischt auswich und dabei leicht strauchelte.

„Wäre es nicht besser, wenn man die Passagiere auffordern würde, unter Deck zu bleiben?“, sagte Lucien eher befehlend als fragend.

„Hmm?“

„Die Passagiere“, fuhr Lucien ihn an und deutete auf die Frau, „sollten unter Deck bleiben.“

„Oh?“ Der Kapitän hob die Augenbrauen. „Natürlich. Wollte ich gerade anordnen.“ Er rief einen Matrosen heran und erteilte den Befehl.

Lucien schüttelte den Kopf und marschierte über das Deck. Aus Gewohnheit prüfte er, wie die Seeleute sich auf den Sturm einstellten. Er begutachtete die Segel und Taue, die alle ordnungsgemäß aussahen. Anschließend warf er noch einen Blick auf den Kapitän, der eine Hand auf die Brust presste und leicht abwesend wirkte.

Lucien seufzte. Es war wohl besser, er ging auch nach unten, ehe er noch anfing, selbst Befehle zu erteilen.

Unten im Gang traf er auf zwei Damen, die beide in graue Umhänge gehüllt waren. Welche war die Frau mit dem fröhlichen Lachen? Das Gesicht der einen konnte er nicht sehen, doch die andere war eine Schönheit. Eine vornehm gekleidete Schönheit. Er hätte sie ansprechen können, um herauszufinden, welche von ihnen so bezaubernd gelacht hatte, aber das wäre zu aufdringlich gewesen.

Sie traten beiseite, damit er an ihnen vorbeigehen konnte. Er nickte ihnen zu und meinte: „Die Damen sollten lieber in den Kabinen bleiben. Es herrscht starker Seegang. Sicher wird ein Matrose Ihnen das Essen bringen.“

Zumindest hoffte er das – falls der Kapitän daran dachte, entsprechende Befehle zu erteilen.

Claire Tilson hatte hastig das Gesicht zur Seite gedreht, als der große, dunkelhaarige Gentleman mit den breiten Schultern die Treppe heruntergekommen war. Ihr Herz schlug ihr bereits bis zum Hals, denn die Begegnung mit dieser Lady war schon verstörend genug gewesen. Trotzdem war ihr der Mann bereits an Deck aufgefallen. Aus der Nähe sah er tatsächlich so gut aus, wie sie vermutet hatte. Dichte Brauen über hellbraunen Augen, die wachsam wie die eines Fuchses blickten.

Was war nur los mit ihr? Wieso interessierte sie sich überhaupt für einen Mann? Sie war gerade aus einem Herrenhaus geflüchtet, weil der Mann, der sie für seine drei kleinen Kinder als Gouvernante eingestellt hatte, versucht hatte, sie zu verführen. Direkt vor den Augen seiner Gattin. Er hatte ihr seine unsterbliche Liebe geschworen. Als könnte man einem Mann trauen, der seine Ehefrau so hinterging.

Claire schüttelte sich. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Stattdessen musste sie mit der Lady reden, die neben ihr stand. Mit dieser Frau, die sie gerade erst getroffen hatte.

Und die genauso aussah wie sie.

Dasselbe braune Haar. Dieselben braunen Augen. Das gleiche Gesicht.

Was sagte man zu einer Fremden, die aussah wie eine Zwillingsschwester?

Lady Rebecca Pierce hieß sie.

Claire wartete, bis der gut aussehende Gentleman in einer der Kabinen verschwunden war, und überlegte, ob es ihr zustand, um eine Erklärung zu bitten.

„Wir sollten auf ihn hören“, meinte sie stattdessen. Sie ging zu ihrer Kabinentür und öffnete sie. „Ich bin hier untergebracht.“

Was sie eigentlich sagen wollte, war: Warten Sie. Reden Sie mit mir. Warum sehen Sie genauso aus wie ich? Woher kommen Sie? Sind wir verwandt?

Liebend gern würde sie wieder eine Familie haben.

Aber sie wollte sich der Lady nicht aufdrängen und machte einen Schritt in ihre Kabine.

Lady Rebecca rief sie zurück. „Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Ich bin allein, meine Begleiterin leidet unter Seekrankheit. Kommen Sie doch einfach mit in meine Kabine.“

Claire stimmte zu und folgte Lady Rebecca in die Kabine, die größer als ihre und zudem mit einem schmalen Tisch und zwei Stühlen ausgestattet war. Durch ein winziges Fenster konnte man das Meer sehen. Wie der Gentleman schon gesagt hatte, war die See rau.

Lady Rebecca bat sie, Platz zu nehmen, dann fragte sie: „Wohin reisen Sie, Miss Tilson?“

Claire hätte gedacht, dass sie die offensichtliche Frage stellen würde, die, die ihr selbst unter den Nägeln brannte: Warum sehen wir uns so ähnlich?

„Zu einer Familie im Lake District“, erwiderte sie. „Das heißt, genau genommen ist es keine Familie. Ich soll zwei kleine Mädchen betreuen, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Sie sind jetzt in der Obhut ihres Onkels, dem neuen Viscount Brookmore.“ Und mit ein bisschen Glück war der Viscount nicht häufig zu Hause.

„Wie tragisch.“

Ja. Die kleinen Mädchen waren allein. Claire wusste, wie sich das anfühlte.

Doch sie wollte sich jetzt nicht solchen traurigen Gedanken hingeben, schließlich hoffte sie, dass sich ihr Leben verbessern würde. „Und Sie, Lady Rebecca? Wohin wollen Sie?“

„Nach London.“

„London!“ Claire lächelte. Eine Stadt voller Geschäfte, Paläste, Theater und imposanter Gebäude. Der Tower. Westminster Abbey. Hyde Park. „Wie aufregend. Ich war einmal dort. Es war so … belebend.“

„Belebend. Mag sein“, meinte Lady Rebecca verächtlich.

Claire musterte sie. „Das klingt, als wollten Sie nicht nach London.“

„Stimmt. Ich reise dorthin, um zu heiraten.“

Claire hob eine Augenbraue. „Heiraten?“

Lady Rebecca winkte ab. „Es ist eine arrangierte Ehe. Auf Betreiben meines Bruders.“

Es gab Schlimmeres als eine arrangierte Ehe. „Möchten Sie diesen Mann nicht heiraten?“

„Nein.“ Lady Rebecca richtete sich auf. „Können wir das Thema wechseln?“

Claire blinzelte. Sie hatte sich zu viel herausgenommen. „Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein.“

Lady Rebecca zuckte mit den Schultern. „Vielleicht erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte später.“ Sie beugte sich vor. „Aber jetzt habe ich so viele andere Fragen. Wieso sehen wir einander so ähnlich? Wie kann das sein? Sind wir irgendwie verwandt?“

Es waren dieselben Fragen, die sich auch Claire stellte.

Sie tauschten sich über ihre Stammbäume und Familien aus, doch nichts ließ auf eine Verbindung schließen. Lady Rebecca war die Tochter eines englischen Earls, dessen Grundbesitz in Irland lag, während Claire die Tochter eines englischen Vikars war.

Sie waren beide in England im Internat gewesen. Aufgrund ihrer Ausbildung dort hatte Claire schließlich eine Stelle als Gouvernante in Irland bekommen.

„Wie kann das nur sein?“, wunderte sich Lady Rebecca. „Wir sind nicht verwandt …“

„… sehen aber gleich aus“, beendete Claire den Satz für sie. „Ist das einfach nur ein unglaublicher Zufall?“

Lady Rebecca stand auf und zog Claire zum Spiegel, der an der Wand angeschraubt war.

„Wir sind nicht gleich“, stellte Claire fest. „Schauen Sie nur.“

Claires Vorderzähne standen nicht ganz so weit vor, und ihre Augenbrauen hatten nicht den zarten Schwung wie die von Lady Rebecca, auch standen ihre Augen ein wenig näher beieinander. Trotzdem waren die Unterschiede so gering, dass man sie leicht übersehen konnte.

„Niemand würde es bemerken, solange wir nicht nebeneinanderstehen“, gab sie zu.

„Unsere Kleidung unterscheidet uns.“ Lady Rebecca drehte sich zu Claire herum. „In meinen Sachen würde man Sie für mich halten.“

Claire bewunderte das Reisekleid, das Lady Rebecca trug, genauso wie sie schon deren Umhang bewundert hatte. Er war zwar grau wie ihrer, aber aus sehr viel weicherer Wolle. „Ich kann mir nicht vorstellen, etwas so Schönes zu tragen.“ Sie seufzte.

„Dann müssen Sie sie unbedingt anziehen.“ Lady Rebeccas Augen – die denen von Claire so ähnelten – leuchteten. „Lassen Sie uns während der Überfahrt die Kleider und die Rollen tauschen. Das wird ein großer Spaß! Mal sehen, ob jemand es bemerkt.“

Claire war entsetzt. „Ihre Kleider sind viel zu fein für mich.“

„Unsinn! Ich bin überzeugt, dass die Leute mehr auf die Kleidung als auf alles andere achten. Vielleicht sogar mehr als auf den Charakter eines Menschen. Wie auch immer, ich finde, es ist nichts dabei, ein schlichtes Kleid zu tragen.“

Claires Kleid war definitiv schlicht. Aus tristem braunem Popelin.

Zaghaft berührte sie den Stoff von Rebeccas Reisekleid. „Ich muss gestehen, dass ich schon gern einmal ein solches Kleid tragen würde.“

„Dann sollen Sie das auch!“ Rebecca drehte ihr den Rücken zu. „Knöpfen Sie es auf.“

Sie halfen sich gegenseitig beim Umkleiden. Anschließend band Claire Lady Rebeccas Haare zu einem schlichten Knoten im Nacken zusammen. Es machte sie unerklärlicher Weise traurig, dass die Lady jetzt genauso unscheinbar aussah wie sie.

Dafür war sie umso überraschter, als sie selbst in den Spiegel schaute, nachdem Lady Rebecca ihr die Haare aufgesteckt hatte.

Sie mussten beide lachen, als sie sich begutachteten. Sie hatten wirklich die Rollen getauscht.

Als es klopfte, lächelte Lady Rebecca und meinte: „Machen Sie auf und tun Sie so, als wären Sie ich.“

Sich für eine Lady ausgeben? „Das geht doch nicht!“

Lady Rebecca gab ihr einen kleinen Schubs. „Natürlich geht das.“

Claire richtete sich auf, während Lady Rebecca sich an den Tisch setzte, und nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hatte, öffnete sie die Tür.

Ein Matrose mit einem Tablett in der Hand stand vor ihr. „Erfrischungen, Mylady.“ Unglaublich! Er hielt sie tatsächlich für Lady Rebecca! Das hübsche Kleid gab Claire allerdings auch das Gefühl, eine Lady zu sein. „Vielen Dank.“

Würde er auch glauben, dass Lady Rebecca eine Gouvernante war? Claire deutete zum Tisch. „Miss Tilson leistet mir Gesellschaft. Bringen Sie doch bitte auch ihr Essen her.“

„Sehr gern, Mylady.“ Er brachte das Tablett zum Tisch und kehrte kurz darauf mit zwei weiteren Tabletts zurück. „Ihre Begleiterin, Miss?“

Claire blickte hilfesuchend zu Lady Rebecca, die jedoch den Blick abwandte.

Schließlich antwortete Claire. „Meine … meine Begleiterin hat sich hingelegt. Bitte lassen Sie ihr Tablett einfach hier. Wir kümmern uns darum.“

Der Matrose verneigte sich und stellte die Tabletts ab. „Natürlich Miss.“

Nachdem er gegangen war, legte Claire eine Hand auf ihr pochendes Herz.

„Ich hatte Angst, ihm würde auffallen, wie sehr wir uns ähneln“, gestand Lady Rebecca. „Er muss mich doch bemerkt haben, als er die Tabletts hereinbrachte.“

Der Matrose hatte genauso wenig Notiz von der als Claire verkleideten Lady Rebecca genommen wie der gut aussehende Gentleman auf dem Gang.

Claire wusste wieso. „Eine Gouvernante ist zu unbedeutend, um bemerkt zu werden, Mylady.“

Sie setzte sich zu Lady Rebecca an den Tisch. Während sie aßen, unterhielten sie sich weiter. Schon bald vergaß Claire den Standesunterschied zwischen ihnen und hatte das Gefühl, mit einer Schwester zu reden.

Rebecca ging es anscheinend ähnlich. „Ich finde, wir sollten uns mit unserem Vornamen anreden“, schlug sie vor. „Es erscheint mir viel zu förmlich, wenn ich mein Spiegelbild anders anspreche.“

Claire fühlte sich geschmeichelt. „Wenn Sie es wünschen … Rebecca. Ich bin Claire.“

„Claire!“ Sie strahlte.

Claire fühlte sich ermutigt. „Wollen Sie mir jetzt nicht erzählen, warum Sie nicht heiraten wollen?“

Lady Rebecca – ach nein, Rebecca – wurde ernst. „Eine Frau gibt alles auf, wenn sie heiratet. Jeglichen Besitz, über den sie vielleicht verfügt. Jegliches Recht, das zu tun, was sie möchte. Wenn ich schon alles aufgeben muss, dann sollte es zumindest für einen Mann sein, der mich liebt, der mich respektiert und mich nicht einschränkt.“

Das waren hochtrabende Ansichten. Das Leben erfüllte einem selten die innigsten Wünsche. „Und dieser Mann?“

Rebecca verzog das Gesicht. „Ich habe ihn nur einmal getroffen. Er wollte sich davon überzeugen, dass ich ihm einen Erben liefern kann.“

„Natürlich will er einen Erben. Vor allem, wenn er einen Titel und Güter hat.“

„Hat er.“

„Ist der Herr reich genug, um für Sie zu sorgen?“, hakte Claire nach.

„Es heißt, dass er reich ist“, antwortete Rebecca. „Muss er wohl sein, denn er ist willig, mich zu heiraten, obwohl ich nur eine kleine Mitgift mitbringe.“

Sie sah gar nicht so aus, als hätte sie nur eine kleine Mitgift.

„Verraten Sie mir, wer es ist?“

„Lord Stonecroft.“

Der Name sagte Claire nichts, aber wie sollte sie ihn auch kennen?

„Baron Stonecroft von Gillford.“ Rebecca spie den Namen förmlich aus.

„Ah.“ Jetzt verstand Claire. „Sie hatten sich einen höheren Titel erhofft. Schließlich sind Sie die Tochter eines Earls.“

Rebecca schüttelte den Kopf. „Nein, das ist mir egal.“

„Schien er Ihnen denn grausam zu sein? Haben Sie deshalb Bedenken?“

Rebecca seufzte. „Ich glaube, es gibt nicht wirklich etwas, das gegen ihn spricht. Ich will ihn einfach nur nicht heiraten.“

„Dann weigern Sie sich doch.“ Sicherlich stand ihr diese Entscheidung frei.

Rebecca verdrehte die Augen. „Mein Bruder, nein, mein Halbbruder, sagt, ich wäre eine zu große Last für ihn. Er will nicht länger warten, bis ich einen Gentleman finde, der mir genehm ist. Bisher habe ich all die Männer abgelehnt, die er für mich ausgesucht hat. Jetzt hat er erklärt, dass ich ohne einen Penny dastehen werde, wenn ich Lord Stonecroft nicht heirate.“ Sie errötete. „Ich zweifle nicht daran, dass er es ernst meint.“

Claire wusste, wie es war, wenn man keine Wahl hatte, und fühlte mit Rebecca mit. „Wie traurig. Man sollte meinen, ein Bruder hätte Verständnis. Die Familie sollte einen doch verstehen, oder?“

Rebecca blickte sie neugierig an. „Haben Sie Geschwister? Andere Verwandte?“

Claire spürte einen Kloß im Hals. „Ich bin allein.“

„Meine Eltern sind tot“, sagte Rebecca bedrückt. „Und für meinen Bruder bin ich auch gestorben. Er hat ausdrücklich erklärt, dass er mich nie wiedersehen will.“

Noch etwas, was sie gemeinsam hatte. Sie waren beide auf sich gestellt, hatten beide keine Eltern mehr. Lady Rebecca erzählte, dass ihr Vater vor zwei und ihre Mutter schon vor zehn Jahren gestorben war.

Immerhin hatte sie ihre Mutter kennengelernt. Claires Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, ihr Vater war seit fünf Jahren tot.

Aber Rebecca hatte eine Chance, die sich Claire wohl niemals bieten würde. Die Chance, eine gute Ehe einzugehen. „Ich denke, Sie können sich glücklich schätzen, einen Gentleman zu heiraten, Lady Rebecca … Rebecca. Sie haben kaum Geld, oder? Sie können dadurch nur gewinnen. Sie werden einen eigenen Haushalt haben. Eigene Kinder. Komfort und Sicherheit. Sogar einen gewissen Status in der Gesellschaft.“

Für Claire klang das fantastisch. Sie sehnte sich danach, einen Gemahl zu haben, der sie liebte – natürlich musste es der richtige Mann sein, ein Mann, den sie auch lieben konnte. Sie vermutete, dass sie sogar die Freuden des Ehebetts genießen würde, denn manchmal, wenn sie einen gut aussehenden Mann traf – wie den Gentleman, der sie auf dem Gang angesprochen hatte – fragte sie sich, wie es wohl wäre, wenn er sie umarmen oder küssen würde.

Ob die Männer es spürten, wenn derartige Gefühle in ihr aufstiegen? Sie vermutete es fast, da ihr schon häufig die falschen Männer Beachtung geschenkt hatten.

Wie viel einfacher wäre es, verheiratet zu sein, Sicherheit zu genießen.

Sie wollte das gerade äußern, als ihr auffiel, dass Rebecca verzweifelt wirkte. „Vielleicht ist es gar nicht so schrecklich, Lady Stonecroft zu sein“, versuchte sie sie zu trösten.

Rebecca lächelte höflich. „Vielleicht nicht.“

Claire wechselte das Thema, um Rebecca weiteres Unbehagen zu ersparen. Sie sprachen über ihre Interessen. Welche Bücher sie gern lasen. Welche Theaterstücke sie gesehen hatten. Welche Musik sie mochten.

Zwischendurch sah Claire, verkleidet als Lady Rebecca, nach deren Zofe. Es war unglaublich, dass die Zofe ihre Charade nicht ein einziges Mal bemerkte.

Sie redeten, bis es dunkel wurde, und Claire genoss jede Minute. Schon lange hatte sie keine Freundin mehr gehabt. Doch Rebeccas Augen wurden immer schwerer, und sie musste ein Gähnen unterdrücken.

Claire bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Gesellschaft so lange ausgekostet hatte. Hastig stand sie auf. „Ich sollte in meine Kabine zurückkehren, damit Sie etwas Schlaf bekommen. Ich helfe Ihnen beim Ausziehen, wenn Sie mir aus diesem bezaubernden Kleid helfen.“

Rebecca stand auf und wandte ihr den Rücken zu, damit Claire die Bänder des schlichten Kleides, das sie schon seit Jahren trug, lösen konnte. Es war so herrlich gewesen, einmal etwas Hübsches zu tragen. Frauen, die sich häufig neue Kleider gönnten, war wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie es sich anfühlte, tagein, tagaus dasselbe zu tragen.

Plötzlich drehte Rebecca sich zu ihr herum. „Wollen wir ausprobieren, wie weit wir diese Maskerade treiben können? Sie können heute Nacht ich sein. Schlafen Sie in meinem Nachthemd in diesem Bett. Und ich bleibe weiterhin Miss Tilson.“

Claire wurde blass. „Ich kann nicht zulassen, dass Sie sich in das enge Bett zwängen, das man mir zugewiesen hat!“

„Warum nicht? Für mich ist es ein Abenteuer. Und Sie bekommen diese gemütliche Kabine. Wenn meine Zofe Nolan morgen früh hereinkommt, werden wir sehen, ob sie immer noch glaubt, dass Sie ich sind.“

Sie reichte ihr ihr Nachthemd aus zartem Musselin. „Hier.“

Claire strich über den feinen Stoff. „Wenn Sie es wirklich wünschen.“

„Aber ja doch“, versicherte Rebecca.

Am nächsten Morgen wurde das Wetter zusehends schlechter, und das Schiff schlingerte noch heftiger durch die Wellen als in der Nacht. Claire wurde davon geweckt, dass Rebecca an ihre Tür klopfte. Sie stand auf und hatte Schwierigkeiten, zur Tür zu gelangen, um ihrer neuen Freundin zu öffnen. In ihren Nachthemden und mit offenen Haaren sahen sie einander noch ähnlicher.

„Ich habe nach Nolan gesehen“, berichtete Rebecca. „Ihr geht es heute noch schlechter. Außerdem habe ich den Matrosen getroffen, der uns das Essen bringt. Er sagte, wir müssen unter Deck bleiben.“ Sie hob den Arm. „Ich habe Ihre Tasche mitgebracht.“

Claire hatte sich sauberes Unterzeug, ihre Bürste, einen Kamm sowie ein Stück Seife für die Überfahrt eingepackt. Die kleine Truhe, in der sich ihre restlichen Sachen befanden, war im Laderaum verstaut worden. Das Kleid, das sie gestern Abend getragen hatte, hing über einem Stuhl. Als sie es unschlüssig anschaute, folgte Rebecca ihrem Blick. „Wollen wir nicht mit unserer Charade fortfahren? Es macht solchen Spaß.“

Claire brauchte nicht lange überredet zu werden. Sie genoss es, Rebeccas herrliches Kleid noch einmal überstreifen zu können.

Je weiter der Tag fortschritt, desto mehr vergaßen sie jedoch ihre Verkleidung. Der Sturm wurde immer stärker, und der Matrose, der ihnen das Essen brachte, hatte tiefe Sorgenfalten im Gesicht.

„Da braut sich ein heftiges Unwetter zusammen“, erzählte er ihnen.

Lucien hatte den Großteil des Tages an Deck verbracht, obwohl er gegen die Untätigkeit des Kapitäns nichts ausrichten konnte. Verfluchte Marinedisziplin! Schließlich erkannte er, dass das Schiff jeden Moment sinken konnte. Es gab kaum noch Möglichkeiten, das zu verhindern.

Er rannte zum Kapitän. „Geben Sie den Befehl, das Schiff zu verlassen! Die Passagiere müssen in die Rettungsboote!“ Sie waren schon nahe der englischen Küste; vielleicht schafften es die Boote bis zum Strand.

„Ja, ja.“ Das Gesicht des Mannes war aschfahl. Plötzlich zuckte er vor Schmerz zusammen, griff sich an den Arm und brach zusammen.

„Verdammt!“, rief Lucien. Er befahl einem der Matrosen, sich um den Kapitän zu kümmern und einem anderen, dafür zu sorgen, dass die Rettungsboote bereit waren. Er selbst wollte unter Deck laufen, um die Passagiere aufzufordern, sofort in die Boote zu steigen.

Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Lucien sah, wie ein Blitz in den Mast fuhr und ihn in zwei Teile spaltete, ehe er mit voller Wucht auf das Deck schlug.

Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Lucien rannte die Treppe hinunter und riss die erste Kabinentür auf.

Dort fand er die Lady mit ihrer Begleiterin. Inzwischen hatte er erfahren, dass es sich um Lady Rebecca Pierce handelte, die Schwester des Earls of Keneagle, was ihn überrascht hatte. Von der anderen Frau wusste er nur, dass sie eine Gouvernante war. Aber das war jetzt alles unwichtig.

„Kommen Sie sofort an Deck“, rief er. „Wir müssen runter vom Schiff! Nehmen Sie nichts mit.“

Lady Rebecca sprang auf, doch die Gouvernante missachtete seine Anweisung und griff nach ihrem Retikül. Noch immer hatte er ihr Gesicht nicht gesehen.

„Kommen Sie!“

Als sie zur Treppe eilten, drückte die Gouvernante das Retikül der Lady in die Hand. „Hier. Nehmen Sie das. Ich komme sofort. Ich hole nur schnell Nolan.“

„Miss!“, rief Lucien. „Wir müssen rauf!“

„Ich komme sofort“, rief sie über die Schulter.

„Verdammt!“ Er schob die Lady die Treppe hinauf und ergriff ihren Arm, als sie an Deck traten.

Dort herrschte das totale Chaos. Taue, Segel und zersplittertes Holz lagen wild durcheinander. Und mittendrin der zerborstene Hauptmast.

„Zu den Booten!“, befahl er.

Er zog die Lady über die Trümmer zur Reling. Im selben Moment neigte sich das Schiff zur Seite. Eine riesige Welle, hoch wie ein Berg, türmte sich über ihnen auf.

Himmel hilf. Lucien schlang die Arme um die Frau.

Die Welle ergriff sie und riss sie mit sich in die tosende See.

2. KAPITEL

Lucien hielt die Frau weiter umklammert, als sie zusammen mit Teilen des Mastes, Fässern und anderen Trümmern in die Tiefe gezogen wurden.

Nach fast zwanzig Jahren auf See, in denen er jeglichem Wetter und unzähligen Schlachten getrotzt hatte, wollte er verdammt sein, wenn er bei einer Fahrt über die Irische See ertrinken würde.

Ein großes Stück Holz raste auf sie zu und traf die Lady am Kopf. Leblos hing sie nun in seinen Armen, aber Lucien hielt sie weiter fest. Er kämpfte nicht gegen das Meer an, das sie tiefer und tiefer hinabzog. Wenn sie Glück hatten, würde es sie wieder freigeben und mit der nächsten Welle an die Oberfläche tragen. Seine Lungen brannten, doch er zwang sich zu Geduld und hoffte inständig, dass die Frau nicht zu viel Wasser schluckte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit gab das Meer sie tatsächlich frei. Er schwamm an die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Lady Rebecca rührte sich nicht.

War es schon zu spät?

Lucien widerstand der Panik. Zwei Leben hingen davon ab, dass er ruhig blieb.

Ein Teil des Mastes trieb in ihrer Nähe. Ohne Lady Rebecca loszulassen, schwamm er darauf zu und hievte sie darauf. Er presste seinen Mund auf ihren und beatmete sie – ein Trick, den ihm ein alter Seemann vor Jahren beigebracht hatte. Und tatsächlich, sie begann zu husten und spuckte Wasser, ehe sie etwas Unverständliches murmelte.

Erleichtert atmete er aus. Sie lebte.

Es war vielleicht ganz gut, dass sie weiterhin bewusstlos war, denn sonst hätte sie sich vermutlich gegen ihn gewehrt und er hätte sie nicht halten können.

Aus dem Augenwinkel entdeckte er ein Stück Seil neben sich und griff sofort danach. Damit gelang es ihm, die Lady so an dem Mast festzubinden, dass ihr Kopf über Wasser blieb – was angesichts der tosenden See nicht einfach war.

Wieder zuckte ein Blitz am Himmel. In dessen Licht sah Lucien, wie die Dun Aengus von den Wellen in Richtung Felsküste geschleudert wurde. Er selbst und die Lady wurden jedoch von einer Strömung erfasst, die sie von dem Schiff fort und in etwas ruhigere Gewässer trug. Lucien blickte sich um auf der Suche nach etwas, das ihnen von Nutzen sein könnte. Da war ein kleines Fass. Ein größeres Stück Segel. Mehr Seile. Eine Ladeklappe tauchte auf, groß genug, um ihnen als Floß zu dienen. Rasch schwamm er zu der Klappe, wobei er darauf vertrauen musste, dass die Lady einigermaßen sicher auf dem Mast lag. Nachdem er die Klappe in seine Gewalt gebracht hatte, kostete es ihn erhebliche Anstrengung, Lady Rebecca hinaufzuzerren, was ihm jedoch schließlich gelang. Wenig später konnte er noch ein paar Dinge, die an ihm vorbeischwammen, abfangen und auf das provisorische Floß werfen. Zuletzt zog er sich selbst hinauf.

Der Sturm war weitergezogen, aber die englische Küste war inzwischen nur noch ein schmaler Streifen am Horizont. Also wickelte er die Lady und sich in das Segeltuch. Er zog sie eng an sich, um sie warm zu halten. Sie würden wohl die ganze Nacht auf dem Wasser verbringen müssen.

Lucien bezweifelte, dass irgendjemand nach ihnen suchen würde, doch vielleicht segelte irgendein Schiff nahe genug an ihnen vorbei, um sie zu entdecken.

Er blickte auf die Frau in seinen Armen. Sie war noch immer bewusstlos, atmete aber. Sie hatte ein bezauberndes, anmutiges Gesicht.

Was für eine Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet die Enkelin des Earls of Keneagle gerettet hatte. Jenes Earls, der die Familie seiner Mutter um ihr Vermögen gebracht, sie in die Armut getrieben und ihr Leben für immer verändert hatte.

Was war wohl aus der Gouvernante geworden? Hatte sie überlebt?

Lucien hoffte es.

Im Morgengrauen zeigte sich der Himmel wolkenlos. Luciens Arme schmerzten, weil er Lady Rebecca die ganze Nacht gehalten hatte. Sie hatte sich dagegen gewehrt, war aber nie ganz zu Bewusstsein gekommen. In der Nacht war es bitterkalt gewesen, doch bald würde sie die Sonne wärmen. Zu viel Sonne jedoch konnte gefährlich werden. Immerhin hatten sie ein Stück Segel, das ihnen Schatten spenden konnte.

Lady Rebecca schien zu schlafen. Sie war schon hübsch anzuschauen gewesen, als er sie in ihrem Reisekleid im Gang unter Deck getroffen hatte, aber jetzt, ohne die Locken und mit dem verletzlichen Gesichtsausdruck, fand er sie noch anziehender. War sie die Frau mit dem bezaubernden Lachen? Oder war es die Gouvernante gewesen? Er hoffte, dass sie gerettet worden war, nachdem sie ihr Leben riskiert hatte, um jemand anderem zu helfen. Nichtsdestotrotz hätte er nicht beide Frauen halten können.

Er wandte den Blick ab. Adlige Damen hatten ihn noch nie gereizt, jedenfalls nicht die wenigen, die er bisher getroffen hatte. Sie schienen ihm allzu oberflächlich und albern, nur an ihrem eigenen Vergnügen interessiert. Wie der Rest der Welt lebte, war ihnen egal. Er hatte genug Armut gesehen und würde niemals vergessen, wie hart ein Leben sein konnte. Als Junge hatte er immer wieder die Geschichte gehört, wie der Earl of Keneagle seine Familie um ihr Vermögen gebracht und seiner Mutter die Chance genommen hatte, in die Aristokratie einzuheiraten. Sie hatte sich stattdessen mit seinem Vater begnügen müssen, einem einfachen Kapitän, so wie Lucien einer war. Obwohl sein Vater sich hochgearbeitet hatte und seine Familie gut versorgte, hatte seine Mutter sich auf ein Techtelmechtel mit einem Viscount eingelassen, während sein Vater auf See war – was manchmal Monate oder sogar Jahre am Stück dauern konnte.

Seit seiner Kindheit fühlte sich Lucien schon verantwortlich für seine irischen Verwandten. Sie waren der Grund für seinen Besuch in Irland gewesen. Er hatte seinen Onkeln finanziell unter die Arme gegriffen, wozu er dank der Prisengelder der letzten zwanzig Jahre durchaus in der Lage war. Gott sei Dank lag sein Geld sicher verwahrt bei der Bank Coutts in London und nicht auf dem Grund der Irischen See.

Wo auch er und Lady Rebecca hätten enden können.

Ihm wurden die Augenlider schwer und das Schaukeln ihres improvisierten Floßes lullte ihn ein, bis die Lady sich auf einmal gegen ihn stemmte.

„Nein!“, rief sie. „Nein!“

Sofort war Lucien wieder vollkommen wach und hielt sie fest umklammert. „Halten Sie still“, befahl er. „Bewegen Sie sich nicht.“

Sie riss die Augen auf. „Was? Wo bin ich?“

„Sie sind in Sicherheit, Mylady.“ Sie würde bestimmt gleich in Panik geraten, also hielt er sie weiter fest „Aber wir sind auf offener See.“

„Auf See?“ Ihre Stimme klang schrill, sie wand sich in seinen Armen. „Nein! Lassen Sie mich los!“

„Das kann ich nicht. Erst wenn Sie sich still verhalten.“ Er zwang sich zu einem ruhigen Tonfall. „Sie sind in Sicherheit, wenn Sie sich nicht zu sehr bewegen.“

Die Wellen hoben sie auf und ab, Wasser schwappte auf das Floß. Das Segeltuch, das sie bedeckt hatte, rutschte herunter und Lucien blinzelte gegen die Sonne.

Lady Rebecca sah sich hektisch um, dann rief sie entsetzt: „Nein! Warum bin ich hier?“

„Erinnern Sie sich nicht? Wir waren auf dem Schiff von Dublin nach Holyhead. Es stürmte …“

Sie fasste sich an den Kopf. „Ich war auf einem Schiff? Wo ist es jetzt?“

Es widerstrebte ihm, ihr zu erzählen, dass es an den Klippen zerschellt war und dass vermutlich nicht alle an Bord überlebt hatten. „Wir wurden über Bord gespült.“

„Aber es wird uns jemand finden, nicht wahr?“, fragte sie. „Jemand wird nach uns suchen?“

Eher würde man davon ausgehen, dass sie ertrunken waren. „Viele Schiffe kreuzen in der Irischen See. Die Chancen, dass wir gerettet werden, stehen ganz gut.“ Ungefähr so gut, wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden.

Suchend blickte sie zum Horizont, als würde dort wie von Zauberhand ein Schiff auftauchen.

„Ich kann mich nicht erinnern, auf einem Schiff gewesen zu sein“, sagte sie schließlich.

Vielleicht war das ganz gut so. „Es ist auch besser, wenn Sie nicht daran erinnert werden.“

Mit einem Flackern in den Augen sah sie ihn an. „Sie verstehen mich nicht. Ich erinnere mich nicht nur nicht an das Schiff. Ich erinnere mich an gar nichts.“

„Sie haben einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Da kann es schon mal vorkommen, dass man Gedächtnislücken hat.“ Vielleicht war es eine Art Trauma. Ähnliches hatte er schon von Soldaten gehört. „Versuchen Sie, sich keine Sorgen deswegen zu machen, Mylady“, beruhigte er sie.

„Warum nennen Sie mich Mylady?“

Erstaunt blickte er sie an. „Mir wurde gesagt, Sie seien Lady Rebecca Pierce. Habe ich das falsch verstanden?“

„Lady Rebecca Pierce“, wiederholte sie leise. „Bin ich das?“

Er musterte sie eingehend. „Sie erinnern sich nicht an Ihren Namen?“

„Ich erinnere mich an gar nichts“, rief sie. „Weder an meinen Namen noch warum ich auf einem Schiff war.“

All das war im Moment nicht so wichtig. Sie kämpften hier um ihr Überleben. Sollte der Wind auffrischen und die Wellen wieder stärker werden, waren sie auf ihrem kleinen Floß nicht sicher. Und selbst wenn sie den heutigen Tag überlebten, würden sie auch eine weitere kalte Nacht überstehen? Sie hatten weder Essen noch Trinken. Wie viele Tage konnten sie noch ohne Trinkwasser auskommen?

Nichts davon sagte er jedoch laut. Stattdessen hielt er sie fest umschlungen. „Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen. Es ist wichtig, dass Sie so ruhig wie möglich bleiben.“

Sie lehnte sich an ihn und schwieg. Er ahnte, dass ihr kalt war, und umarmte sie ein wenig fester.

Nach einer Weile fragte sie: „Kenne ich Sie?“

„Wir haben uns kurz auf dem Schiff getroffen. Ich bin Kapitän Lucien Roper. Es gibt keinen Grund, warum Sie mich kennen sollten.“ Abgesehen von der Tatsache, dass ihre Familie die Familie seiner Mutter ruiniert hatte. Aber was nützte es, ihr das zu erzählen? „Ich bin auf dem Weg nach London.“ Wenn ich das hier überlebe.

Sie zuckte zusammen. „Ich frage mich, wohin ich wollte.“

Claire presste ihre Wange gegen die warme Brust des Mannes. Ihr war kalt und sie hatte Kopfschmerzen. Mal ganz davon abgesehen, dass ihre Lage sie in Heidenangst versetzte. Sie trieb mit einem fremden Mann auf dem Meer, einem Mann, der ungeahnte Gefühle in ihr wachrief. Gefühle, die sie nicht benennen konnte.

Würde sie in den Armen eines Mannes sterben, den sie nicht kannte, ohne sich an ihren eigenen Namen zu erinnern?

War sie Lady Rebecca Pierce, so wie er gesagt hatte? Der Name rief nichts in ihr hervor. Ihr Kopf war absolut leer, egal, an was sie dachte.

Nur dieser Mann war da. Sein Oberkörper war fest und warm, sein Verhalten selbstsicher und beherrscht. Er hatte das Segeltuch wieder über ihre Köpfe gezogen, sodass sie nur einen schmalen Streifen Meer sehen konnte. Das unendlich weite Meer.

Würde sie hier sterben? Sie hätte ihm gern die Frage gestellt, fürchtete sich jedoch vor der Antwort.

Waren vielleicht andere Menschen ertrunken? War auf dem Schiff jemand gewesen, den sie kannte? Jemand, den sie gernhatte? Sie versuchte herauszufinden, ob sie eine Art Verbundenheit zu irgendjemandem verspürte, aber da war nur dieser Mann. Nur er schien real.

Vielleicht wusste er es. „War ich allein auf dem Schiff?“

Er zögerte mit seiner Antwort. „Ich habe Sie mit einer anderen Dame gesehen. Sie war mit Ihnen in der Kabine.“

„Wer war das?“ Mutter? Schwester? Hatte sie überlebt?

„Ihren Namen weiß ich nicht“, antwortete er bedauernd.

„War sie mit mir verwandt?“ Sie wollte so gern zu irgendwem gehören.

„Ich glaube nicht“, erwiderte er. „Sie war schlicht gekleidet. Wie ich hörte, war sie eine Gouvernante.“

Eine Gouvernante? Gehörten sie auf irgendeine Weise zusammen?

Gab es jemanden, der sich um sie sorgte? Der nach ihr suchte? Sie verspürte nur ein unendliches Gefühl der Einsamkeit. Sie hob die Arme, um die Finger gegen die Schläfen zu pressen. Dabei bemerkte sie, dass an ihrem einen Handgelenk ein durchnässtes, doch hübsches Retikül aus rotem Samt baumelte.

„Gehört das mir?“

„Ach, ich erinnere mich“, sagte er. „Die Gouvernante hat es Ihnen gegeben, kurz bevor wir die Kabine verließen.“

Wer war sie gewesen? Warum hatte sie ihr das Täschchen gegeben?

Claire versuchte, sich zu erinnern, vergeblich.

Sie schüttelte den Kopf. „Was ist aus ihr geworden?“

„Ich weiß es nicht. Sie ist noch zu einer anderen Kabine gelaufen, um jemanden zu holen. Danach haben wir sie nicht mehr gesehen. Wir sind an Deck gegangen.“ Er stockte. „Dann kam die Welle.“

Die Welle, die sie ins Meer gerissen hatte? Wie konnte sie das vergessen? Wieso konnte sie sich nicht daran erinnern, wer mit ihr auf dem Schiff gewesen war?

Wieso konnte sie sich nicht an ihren eigenen Namen erinnern?

Sie erzitterte und starrte aufs Wasser. Wie leicht es wäre, einfach unterzutauchen in die Leere, die der Leere in ihrem Kopf glich?

Lucien Roper schloss sie noch fester in die Arme und erinnerte sie daran, dass sie jemand war, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte wer.

Und sie wollte leben!

„Wissen Sie irgendetwas über mich?“, fragte sie ihn.

„Sehr wenig. Dass Sie in Dublin an Bord gegangen sind. Ihren Namen. Dass Sie die Schwester des Earls of Keneagle sind.“ Seine Stimme war härter geworden.

Sie hatte Familie? „Kennen Sie den Earl of Keneagle?“

Er versteifte sich. „Er ist ein irischer Adliger, mehr weiß ich nicht.“

„Dann wird jemand nach mir suchen.“ Sie entspannte sich etwas.

„Diese Gewässer werden viel befahren.“

Sehr überzeugend klang er nicht.

Eine Weile schwiegen sie, bis Claire es nicht länger aushielt. Sie brauchte Erinnerungen. Egal welcher Art. „Können Sie mir von sich erzählen, Mr. Roper?“

„Ich bin bei der Marine.“

„Bei der Marine?“ Reden Sie weiter, flehte sie stumm. Im Augenblick bestand ihre Welt nur aus ihm, er war ihre einzige Realität. Er und irgendein Bruder, an den sie keine Erinnerungen hatte. Und eine Gouvernante, in deren Begleitung sie gewesen war.

„Was tun Sie dort?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin Kapitän.“

„Haben Sie ein Schiff?“ Kapitäne hatten Schiffe, soviel wusste sie immerhin noch.

„Im Moment nicht. Ich bin auf dem Weg zur Admiralität, um ein neues Schiff zu übernehmen.“

Wieso wusste sie, was die Marine war, während sie nichts über sich selbst wusste?

Vielleicht, wenn er weitersprach …

„Bekommen Sie Halbsold?“, fragte sie.

Halbsold, dachte Lucien. Offensichtlich wusste Lady Rebecca, was das war.

Er nickte. „Bis ich das Kommando über ein neues Schiff bekomme.“

„Sie hatten ein Schiff? Was ist damit passiert?“

„Der Krieg ist vorbei. Die Marine braucht jetzt nicht mehr so viele Schiffe. Es wurde verkauft.“ Er konnte es nicht ertragen, ihr zu erzählen, dass seine geliebte Foxfire verschrottet werden sollte.

„Ich weiß nicht viel über Schiffe – jedenfalls erinnere ich mich nicht. Ich weiß allerdings, dass der Krieg vorbei ist. Merkwürdig, oder?“

Merkwürdig, dass sie sich an einige Dinge erinnerte und an andere nicht. „In gewisser Weise, ja.“

„Ich … ich kann mich an nichts erinnern, was mit mir selbst zu tun hat.“ Sie sprach leise, doch er hörte den Schmerz in ihrer Stimme. „Können Sie mir mehr von sich erzählen?“, bat sie. „Von der Marine, vielleicht? Ich muss hören, dass es noch mehr gibt als unser kleines Floß hier. Dass es jemanden mit Erinnerungen gibt.“

Sie tat ihm so leid. Die Tatsache, dass sie mitten auf dem Meer trieben, war schon furchteinflößend genug, und dann noch der Verlust des Gedächtnisses … Sie mochte eine verwöhnte Adlige sein, aber im Augenblick wusste sie nicht einmal mehr das. Selbst wenn er es ihr nicht sagte, ahnte sie vermutlich, dass sie hier durchaus sterben konnten.

Wenn es ihr half, dass er von sich erzählte, tat er das gern.

„Mein Vater ist Admiral“, begann Lucien. „Mein Großvater war Admiral und folglich war auch mir die Marine vorbestimmt. Es liegt mir im Blut. Und ich habe mich gut geschlagen.“

„Wie lange sind Sie schon dabei?“

„Einundzwanzig Jahre, seit ich zwölf war. Mit fünfzehn habe ich am Kampf am Nil teilgenommen. Mit zweiundzwanzig war ich bei Trafalgar dabei. Seitdem habe ich in unzähligen Gefechten gegen die französische, amerikanische und dänische Flotte gekämpft – vor allem in der Adria und im Mittelmeer.“

„Sie haben sich im Krieg also als tüchtig erwiesen.“ Ihr Mitgefühl schien echt.

Er blickte zum Horizont. „Ja, aber ich habe auch gute Männer in den Tod geschickt.“ Als er kurz die Augen schloss, sah er die Schlachten vor sich. Er sah, wie sein Steuermann erschossen wurde, wie einer seiner Kadetten Feuer fing. Warum tauchten diese Erinnerungen auf und nicht die von der Eroberung feindlicher Schiffe?

„Haben Sie Prisengelder verdient?“

Da war es. Er hätte wissen müssen, dass sie nach seiner finanziellen Situation fragen würde. Das Vermögen eines Mannes war in adligen Kreisen das Wichtigste.

„Ja.“ Und zwar genug, um sich zur Ruhe setzen zu können, wenn er es wollte – und falls sie jemals die Küste erreichen sollten. Genug, um die Schulden seiner Onkel zu begleichen und ihren finanziellen Schwierigkeiten ein Ende zu bereiten.

„Und jetzt bekommen Sie ein neues Schiff?“

„Das hat man mir gesagt, ja.“

Wenn sie überlebten.

Im Laufe des Tages wärmte die Sonne sie, so wie Lucien es erwartet hatte. Sie trocknete das Segel und den Großteil ihrer Kleidung. Lady Rebecca blieb ruhig, fast schon zu ruhig. Sie war bestimmt genauso hungrig und durstig wie er, aber überraschenderweise beklagte sie sich nicht. Stattdessen stellte sie weitere Fragen über sein Leben, und Lucien erzählte ihr Dinge, die er bisher niemandem erzählt hatte.

Stockend berichtete er ihr von der Einsamkeit als Kind, wenn sein Vater auf See war und seine Mutter ihr Vergnügen bei dem Viscount suchte, ohne sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern. Seine Mutter hatte jedenfalls ganz glücklich gewirkt, als er schließlich zur See fuhr.

Er erzählte Lady Rebecca, wie sich sein Leben danach verändert hatte. Ihm gefielen die klaren Hierarchien in der Marine und die dort herrschende Disziplin. Jeder Mann hatte seinen Platz, seine Pflichten, und zusammen kämpften sie gegen die Feinde und gegen die Urgewalt des Meeres. Er gestand ihr, wie sehr er das Meer liebte.

Lucien teilte mit dieser fremden Frau, worüber er noch mit keinem anderen gesprochen hatte. Was er jedoch verschwieg, war, dass er glücklich wäre, auf See zu sterben und in der Tiefe unterzugehen.

Aber noch nicht jetzt. Er wollte leben. Und er wollte, dass sie lebte.

Auch als die Sonne sich dem Horizont näherte, sprach er weiter, erzählte von den Erlebnissen auf See und den Siegen, die er und seine Männer errungen hatten. Die unbarmherzigen Stürme und blutigen Schlachten erwähnte er nicht.

Lady Rebecca hörte zu und stellte Fragen, die zeigten, dass sie etwas über das Thema wusste, ihr Gedächtnis also nicht ganz verschwunden war.

Kurz überlegte er, ob er ihr von der Verbindung zwischen ihren Familien erzählen sollte, doch wozu? Sie litt ohnehin schon genug, und eine weitere Nacht auf See stand ihnen bevor.

Während er redete, behielt er stets den Horizont im Auge. Seine Jahre auf See hatten seinen Blick geschärft, wofür er dankbar war.

Plötzlich bemerkte er, wie in der Ferne etwas auftauchte und sich ihnen offenbar näherte. Er beobachtete es weiter, ohne es gegenüber der Lady zu erwähnen, denn er wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Schließlich erkannte er, dass es sich um einen Zweimaster handelte, vermutlich ein Fischerboot. Und es sah so aus, als würde es tatsächlich direkt auf sie zusegeln.

Lucien wartete. Auch wenn er wusste, dass die Chancen, von den Fischern übersehen zu werden, immer noch groß waren, schlug sein Herz schneller. Hastig knotete er das Seil an den Riegel der Ladeklappe, auf der sie kauerten. „Halten Sie das fest“, sagte er, „und sitzen Sie still. Dort ist ein Schiff. Ich stehe auf und versuche, auf uns aufmerksam zu machen.“

„Ein Schiff?“

„Wenn wir Glück haben, sehen sie uns.“

Vorsichtig richtete er sich auf und schwenkte das Segeltuch über seinem Kopf. Nach einiger Zeit taten ihm die Arme weh, und einige Male wäre er von den Wellen fast aus dem Gleichgewicht gebracht worden, aber er gab nicht auf.

Der Zweimaster kam immer näher. Als Lucien die Stimmen der Fischer auf dem Schiff hören konnte, begann er zu rufen: „Ahoi! Ahoi!“

Lady Rebecca stimmte ein.

Schließlich antwortete jemand auf dem Schiff. „Ahoi! Wir kommen.“

Lucien setzte sich und schlang die Arme um Lady Rebecca. „Sie haben uns gesehen, Mylady! Wir sind gerettet.“

3. KAPITEL

Es dauerte noch eine Stunde, bis das Schiff nahe genug heran war und man ein Beiboot zu Wasser ließ, doch Claire machte das nichts aus. Sie waren gerettet.

Kurz darauf befanden sie sich sicher auf dem Fischerboot und wurden von einem Mann begrüßt, der sich als Kapitän Molloy vorstellte.

Lucien wandte sich sofort an ihn. „Die Dame braucht Wasser und etwas zu essen.“

Claire war gar nicht bewusst gewesen, wie durstig sie war, bis Lucien es gesagt hatte.

Lucien.

Es war eine formlose, vertraute Anrede, aber schließlich hatte er ihr das Leben gerettet. Und er war der einzige Mensch, an den sie eine Erinnerung besaß.

„Dann kommen Sie mit unter Deck.“ Der Kapitän führte sie zur Treppe. „Auf welchem Schiff waren Sie?“

„Der Dun Aengus“, antwortete Lucien. „Ein Paketschiff von Dublin nach Holyhead.“

Kapitän Molloy brachte sie in eine enge Kabine mit einem Tisch, einer Sitzbank und einer Koje.

Als ein Matrose Wasser brachte, riss Claire ihm den Blechbecher fast aus der Hand.

„Langsam“, warnte Lucien sie. „Sonst bekommt es Ihnen nicht.“ Er beobachtete sie einen Moment, ehe er selbst trank.

„Könnten Sie trockene Sachen für die Dame auftreiben?“, fragte Lucien den Kapitän.

Kapitän Molloy machte einem Matrosen ein Zeichen, der nickte und verschwand. „Wir sind erst seit ein paar Tagen auf See, da sollten sich noch saubere Sachen finden lassen.“ Er nickte Lucien zu. „Für Sie auch?“

„Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet.“ Er trank noch einen kleinen Schluck Wasser. „Sie sind Fischer?“

„Ja. Wir fischen Dorsch und Schellfisch. Ich fürchte, Sie müssen eine Weile mit uns aushalten.“ Der Kapitän sah sie entschuldigend an. „Wir sind noch mindestens drei Wochen im Nordatlantik unterwegs.“

„Drei Wochen?“ Claire schnappte nach Luft. Das schien eine unendlich lange Zeit. Andererseits, was machte es schon aus? Sie wusste nicht, wohin sie gehörte, was das Ziel ihrer Reise gewesen war. Da konnte sie genauso gut auf See bleiben.

„Mylady, ich stelle Ihnen selbstverständlich meine Kabine zur Verfügung.“ Kapitän Molloy blickte zu Lucien. „Für Sie finden wir auch ein Plätzchen.“ Er blickte zur Seite und murmelte: „Auch wenn ich nicht weiß, wo.“

Claire mischte sich ein. „Ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Wäre hier nicht auch genügend Platz für Mr. Roper?“

Es war kein selbstloses Angebot, denn sie fürchtete das Alleinsein. Er war ihre einzige Verbindung zu ihrem vorherigen Leben, ein Leben, an das sie sich nicht erinnern konnte.

„Ich kann doch nicht hier bei Ihnen bleiben“, protestierte Lucien. „Ihr Ruf …“

„Mein Ruf ist hier nicht wirklich von Bedeutung, oder Kapitän Molloy? Niemand wird darüber reden, nicht wahr?“

„Natürlich nicht“, versprach der Kapitän.

Luciens Gesicht wirkte angespannt, schließlich sagte er: „Wie Sie wünschen.“

„Gut, dann ist das geklärt.“ Der Kapitän klatschte in die Hände. „Ich muss wieder an die Arbeit. Essen und Kleidung wird man Ihnen gleich bringen.“

„Danke, Kapitän“, sagte Claire.

Er verbeugte sich, eine Geste des Respekts, die ihr ungewohnt vorkam.

Nachdem er gegangen war, trank sie noch einen Schluck Wasser. Sie musste sich beherrschen, nicht alles auf einmal hinunterzustürzen.

Lucien schaute sie ernst an. „Sind Sie sicher, dass Sie die Kabine mit mir teilen wollen, Mylady?“

„Sie haben uns gerettet, Lucien.“ Es war das Mindeste, was sie tun konnte.

Er nickte, wenn auch widerstrebend.

Claire bemerkte das Retikül, das noch immer an ihrem Handgelenk baumelte. Sie löste die Bänder und legte es auf den Tisch.

„Schauen Sie rein“, meinte Lucien. „Der Inhalt verrät Ihnen vielleicht mehr über Sie, regt vielleicht sogar eine Erinnerung an.“

Auf sie wirkte das Täschchen so fremd wie die Kabine des Kapitäns, trotzdem öffnete sie es und legte den Inhalt auf den Tisch.

Eine kleine Geldbörse mit einigen Münzen. Ein Kamm, ein Etui aus Emaille, in dem sich eine winzige Schere, Nadeln und Haarnadeln befanden. Ein Taschentuch mit Monogramm – R. P. für Rebecca Pierce. „Es kommt mir vor, als hätte ich diese Dinge noch nie gesehen“, sagte sie zitternd.

Lucien kam näher, und sie wünschte, er würde sie festhalten. Sie hatte sich schon so daran gewöhnt.

Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust. „Es ist zu viel passiert. Ihr Gedächtnis wird zurückkehren.“

Im Augenblick war er ihr Gedächtnis.

Kurz darauf brachte ihnen ein Matrose zwei Krüge mit Ale sowie Brot und Käse. Langsam begann sie zu essen. Als ein anderer Seemann ihnen frische Kleidung brachte, blickte Claire an sich hinab. Das hübsche Reisekleid, das sie trug, war ihr genauso fremd wie alles andere. Am Rücken war es mit Knöpfen versehen, daher wandte sie sich an Lucien. „Ich fürchte, ich muss Sie um Hilfe bitten.“ Sie drehte ihm den Rücken zu.

Er stand auf. „Das hätten Sie niemals allein öffnen können. Sind Sie vielleicht mit einer Zofe gereist?“

Über die Schulter blickte sie ihn an und spürte einen Stich ins Herz. „Meinen Sie?“ Sie schluckte. „Ist sie ertrunken?“ War jemand, der sich um ihr Wohlergehen gekümmert hatte, gestorben, und sie erinnerte sich nicht einmal an diese Person?

Lucien legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir sind gerettet worden. Bestimmt haben auch andere überlebt.“

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Sie konnte sich auch nicht erinnern, ob jemals ein anderer Mann sie so … zärtlich berührt hatte.

Er öffnete die Knöpfe und trat zurück. „Ich gehe raus, damit Sie allein sind.“

„Nein!“, rief sie und schämte sich im selben Moment. Doch sie hatte Angst davor, allein zu sein. „Drehen … drehen Sie sich einfach nur um.“

Er gehorchte und sie schlüpfte aus dem Kleid. Dummerweise schaffte sie es nicht, den Knoten an ihrem Korsett zu lösen.

„Lucien, ich brauche noch einmal Ihre Hilfe.“ Sie holte tief Luft. „Mein Korsett. Der Knoten sitzt zu fest.“

Mit gesenktem Blick bemühte er sich, den Knoten zu lösen, wobei seine Finger sie auf noch vertraulichere Art berührten. Da er nur wenige Zentimeter von ihr entfernt stand, beschleunigte sich ihr Atem, ihre Brüste hoben und senkten sich rasch.

Aber er hatte den Knoten schnell gelöst und trat hastig von ihr zurück. „Ich drehe mich wieder um.“

Sie zog das Korsett und auch den Rest ihrer Unterwäsche aus. Obwohl ihr Gedächtnis sie im Stich ließ, hatte sie das Gefühl, zum ersten Mal in Anwesenheit eines Mannes nackt zu sein.

Lucien ballte die Fäuste. Lady Rebecca so nahe zu sein, während sie sich auszog, versetzte ihn in Erregung. Als er hörte, wie nasser Stoff zu Boden glitt, musste er tief durchatmen. Er war sich nur allzu bewusst, dass sie jetzt nackt hinter ihm stand.

Schon die Berührungen beim Lösen des Knotens hatten ihn fast um den Verstand gebracht. Dabei hatte er sie während der vergangenen vierundzwanzig Stunden fast durchgehend im Arm gehalten und war es gewohnt, ihr so nahe zu sein. Aber das hier war etwas anderes, jetzt war er ein Mann, nicht nur ihr Retter. Es war zwar lange her, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war, dennoch überraschte ihn seine heftige Reaktion.

Außerdem gehörte sie zu der Art von Frau, von der er sich am wenigsten erregen lassen wollte – eine verwöhnte Tochter einer reichen Adelsfamilie. Von Kindesbeinen an hatte er gelernt, solche Menschen zu verachten. Davon ganz abgesehen … er war ein Gentleman und hatte nicht vor, ihre missliche Lage auszunutzen.

„Ich bin angezogen“, sagte sie. „Sie können sich wieder umdrehen.“

Sie trug ein weites Hemd und Hosen, wie sie die Seeleute trugen. „Ein bisschen ungewohnt, aber wenigstens frisch. Jetzt muss ich nur noch meine Stiefeletten ausziehen.“

Zum ersten Mal fielen ihm ihre Stiefel auf. Erstaunlicherweise wirkten sie ziemlich abgetragen und gar nicht so vornehm, wie er erwartet hätte.

Sie zog einen aus und hielt ihn hoch. „Auch an die kann ich mich nicht erinnern.“ Sie zuckte mit den Schultern und stellte den Stiefel zur Seite. „Sie sollten sich auch umziehen. Ich verspreche, nicht hinzuschauen.“

Er lächelte. „Helfen Sie mir, wenn ich meine Knöpfe nicht aufbekomme?“

Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. Verlegen wandte sie den Blick ab. „Natürlich, wenn Sie mich brauchen.“

„Es war nur ein Scherz, Mylady“, erwiderte Lucien und stellte fest, dass der rosige Hauch auf ihren Wangen sie noch bezaubernder aussehen ließ.

Sie setzte sich mit dem Rücken zu ihm auf die Bank. Nachdem sie die Stiefel gegen dicke Socken ausgetauscht hatte, begann sie, die Nadeln aus ihrem Haar zu ziehen. Anschließend griff sie nach dem Kamm und kämmte es Strähne für Strähne.

Fasziniert sah Lucien zu, dann drehte er sich schnell um und zog sich ebenfalls trockene Kleidung an. Nachdem er die alten Sachen an Haken an der Wand gehängt hatte, setzte er sich zu ihr an den Tisch.

Lächelnd meinte sie: „Diese Sachen sind erstaunlich bequem, obwohl ich das Gefühl habe, nur ein Nachthemd zu tragen.“ Sie wurde ernst. „Wie kommt es, dass ich mich daran erinnere, wie sich ein Nachthemd anfühlt, aber nicht mehr weiß, dass ich je eins besessen habe?“

Darauf wusste er keine Antwort. „Wenn wir wieder an Land sind, können Sie zu einem Arzt gehen.“

„Himmel, nein, da hätte ich Angst, dass er mich nach Bedlam schickt.“

Die Befürchtung, dass man sie in die berüchtigte Heilanstalt einweisen würde, war nicht ganz unbegründet, doch ihre Familie würde das bestimmt nicht zulassen. Er würde es nicht zulassen.

„Ich bin ganz froh, dass wir noch mindestens drei Wochen hier auf dem Schiff bleiben. Solch eine kleine, überschaubare Welt kann ich bewältigen.“

„Und wer weiß? Vielleicht kehrt währenddessen ja Ihr Erinnerungsvermögen zurück.“

Sie aßen das Brot und den Käse auf und kurz darauf fielen Lady Rebecca die Augen zu. Als ihr Kopf nach unten sackte, wachte sie ruckartig wieder auf.

„Sie sollten zu Bett gehen.“ Lucien stand auf und half ihr in die Koje, wo sie unter die Decke schlüpfte.

„Schlafen Sie“, murmelte er.

Sie griff nach seiner Hand. „Wo schlafen Sie, Lucien? Es gibt hier nur die eine Koje.“

Er versuchte es erneut. „Ich sollte nicht hier bei Ihnen schlafen, Mylady. Es gehört sich nicht.“

„Das ist mir egal.“ Sie umklammerte seine Hand. „Ich … ich habe Angst, allein zu bleiben“, flüsterte sie.

„Na schön“, gab er nach. „Ich bereite mir auf dem Fußboden ein Lager.“

Lucien wartete, bis Lady Rebecca tief und fest schlief, ehe er das Geschirr nahm und nach draußen ging. Nachdem man noch eine Decke für ihn aufgetrieben hatte, ging er zurück in die Kabine, machte sich ein provisorisches Bett auf dem Boden und war nach Sekunden eingeschlafen.

Lady Rebeccas Schreie weckten Lucien mitten in der Nacht.

„Nein! Nein! Lassen Sie mich! Nein!“ Sie schlug wild um sich.

Er tastete sich zur Koje und griff nach ihren Armen. „Wachen Sie auf! Sie haben einen Albtraum.“

Nur langsam beruhigte sie sich und schmiegte sich an ihn. „Lucien! Ich wurde verfolgt, und dann war ich im Wasser, und Sie waren zu weit weg, um mich zu retten.“

Sanft löste er sich von ihr. „Es war nur ein Traum. Wer hat Sie verfolgt?“ Jemand aus ihrer Vergangenheit? Eine solche Erinnerung wünschte er ihr nicht zurück.

„Ich weiß es nicht. Es kam mir vor, als würde mich die Dunkelheit verfolgen.“ Sie erschauderte. „Aber nun ist es wieder gut.“

„Sicher?“

„Oh, ja.“ Ihre Hand zitterte.

Der Albtraum hielt sie noch immer in seinen Fängen. „Ich bleibe noch einen Augenblick bei Ihnen sitzen“, versprach er ihr.

Ihre Hand wirkte so klein und verletzlich in seiner großen.

Im Dunkeln hörte er sie murmeln: „Alles war schwarz, nur Sie konnte ich sehen.“

Er blieb bei ihr, bis ihre Hand sich entspannte und sie wieder ruhig atmete.

Als Claire am nächsten Morgen erwachte, war Lucien nicht da. Hastig, mit pochendem Herzen, setzte sie sich auf.

Sie war allein!

Doch sie erinnerte sich, wo sie sich befand – auf einem Fischerboot – und sie erinnerte sich an Lucien.

Außerdem konnte sie sich daran erinnern, dass er sie aus ihrem schrecklichen Albtraum geweckt hatte und neben ihr sitzen geblieben war. Die Erinnerung daran, dass sie sich ihm an den Hals geworfen hatte, ließ sie erröten.

Obwohl sie sich an nichts aus ihrer Vergangenheit erinnern konnte, war ihr bewusst, dass es sich nicht gehörte, einen Mann so zu umarmen. Selbst wenn er ein perfekter Gentleman war.

Vielleicht war sie eine liederliche Frau? Könnte es sein, dass sie sich bereits kompromittiert hatte und deshalb nicht gezögert hatte, das Zimmer mit ihm zu teilen? Sie war vielleicht eine Lady, aber war es möglich, dass sie alles andere als ladylike war?

Die Tür wurde geöffnet und Lucien kam herein. „Ich habe Ihnen Frühstück mitgebracht.“ Er hielt eine Schüssel mit dampfendem Porridge und einen Becher mit warmem Cider in den Händen.

„Vielen Dank, Lucien. Oh, und es tut mir leid, dass ich Sie heute Nacht geweckt habe.“

„Wie geht es Ihnen heute Morgen?“

Sie lachte kurz auf. „Ich wünschte, ich könnte sagen, ich fühle mich wieder wie ich selbst, doch leider weiß ich nicht, wer ich bin. Immerhin fühle ich mich ausgeruht.“

Er nickte.

„Und Ihnen, Lucien, geht es Ihnen gut?“

Er nickte noch mal. „Sehr gut. Sie sollten sich heute ausruhen. Ich will den Fischern zur Hand gehen. Sie sind nur zu fünft und können Hilfe gebrauchen.“

Damit hatte sie nicht gerechnet, schließlich war er Kapitän der Marine. Wie nett von ihm. Ob er wohl immer zuerst an andere dachte? Unter diesen Umständen durfte sie natürlich nicht verlangen, dass er bei ihr blieb, nur weil sie Angst vor dem Alleinsein hatte.

„Ich verstehe.“ Sie atmete nervös aus. „Ich werde mich irgendwie amüsieren.“

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, sagte er: „Ich werde zwischendurch nach Ihnen sehen, Mylady. Oder dafür sorgen, dass es jemand anderes tut.“

Sie hob das Kinn und nickte. Hoffentlich wirkte sie mutiger, als sie sich fühlte.

Lucien hatte erwartet, dass Lady Rebecca sich beklagen und ihn auffordern würde, bei ihr zu bleiben. Es war offensichtlich, dass sie nicht allein sein wollte. Aber das hatte sie nicht getan. Und warum hatte sie darauf bestanden, dass er bei ihr in der Kabine schlief? Wenn jemand davon erfuhr, wäre ihr Ruf ruiniert. Lag es an ihrem Gedächtnisverlust? Wusste sie nicht mehr, wie wichtig ein guter Leumund für die Tochter eines Earls war?

Auch für ihn stellte die gemeinsame Kabine ein Problem dar. So viel körperliche Nähe regte seine Fantasie an. Er sehnte sich danach, das Bett mit ihr zu teilen, ihre Lippen zu schmecken, ihre nackte Haut an seiner zu spüren. Natürlich durfte er sie auf gar keinen Fall verführen. Das würde bedeuten, ihre ohnehin prekäre Lage noch weiter auszunutzen.

Im Laufe der Jahre hatte er viele adlige Männer getroffen, die sich mit ihren Eroberungen gebrüstet hatten, obwohl sie das Leben junger, ehrbarer Frauen ruiniert hatten. Sogar Luciens Mutter musste für den Viscount Waverland eine reizvolle Eroberung gewesen sein.

Wobei sie sicher alles andere als unwillig gewesen war.

Wie auch immer, Lucien hatte nichts übrig für Aristokraten, die sich als Gentlemen bezeichneten, sich jedoch wie brünstige Tiere verhielten. Auf solch ein Niveau würde er sich nicht begeben.

„Ich weiß nichts über das Fischen“, sagte Lady Rebecca. „Man benutzt Netze, oder?“

„Ja, richtig. Also wissen Sie doch etwas darüber“, meinte er lächelnd.

Sie aß noch einen Löffel Porridge, und Lucien musste den Blick von ihren verführerischen Lippen abwenden. Die Versuchung war zu groß.

„Ich verstehe nicht, warum ich so viele Dinge weiß, mich aber an nichts erinnern kann, was mit mir selbst zusammenhängt.“

„Sehen Sie es als Ermutigung. Wenn Sie sich an solche Sachen erinnern können, dann wird auch Ihr übriges Gedächtnis zurückkehren.“ Nun sah er sie wieder an.

„So langsam gewöhne ich mich daran, nichts zu wissen. Es kommt mir vor, als hätte mein Leben erst auf dem Floß angefangen.“

Er legte eine Hand auf ihre. „Ich glaube fest daran, dass Sie Ihr Erinnerungsvermögen wiedererlangen.“

Schweigend starrte sie ihn an.

Hastig zog er seine Hand zurück und stand auf. „Ich sollte lieber wieder an Deck gehen.“

Ein Anflug von Panik huschte über ihr Gesicht, doch sie zwang sich rasch zu einem Lächeln. „Ja, und ich werde mal schauen, ob unsere alten Sachen geflickt werden müssen. Ich denke, ich kann mich daran erinnern, wie man mit Nadel und Faden umgeht.“

Es überraschte Lucien, dass sie als Erstes an etwas so Praktisches dachte. „Ich komme später vorbei, um nach Ihnen zu schauen, Mylady.“

Als er sich zum Gehen wandte, hielt sie ihn auf. „Warten Sie, Lucien.“

Stellte sie jetzt doch Forderungen an ihn?

„Ich … ich wünschte, Sie würden mich nicht Mylady oder Lady Rebecca nennen. Es fühlt sich für mich einfach nicht richtig an.“

„Aber das sind Sie doch.“

„Was ich meine, ist, dass Sie mich nicht so förmlich anreden sollten. Ich nenne Sie schließlich auch Lucien. Mir ist aufgefallen, dass ich Sie gar nicht gefragt habe, ob Ihnen das recht ist. Stört es Sie? Soll ich Sie lieber Kapitän Roper nennen?“

Dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach, konnte man zwar als herablassend bezeichnen, trotzdem gefiel es ihm irgendwie. „Nein, nennen Sie mich, wie Sie mögen.“

„Würden Sie mich dann auch weniger formell anreden?“

Er legte die Stirn in Falten. „Ich denke nicht.“

Sie wandte den Kopf zur Seite, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten. „Ich verstehe.“

„Lady Rebecca.“ Der Name kam ihm nicht leicht über die Lippen. „Es ist besser, wenn wir ein gewisses Maß an Förmlichkeit bewahren.“ Es half ihm, auf Distanz zu bleiben und die Finger von ihr zu lassen.

„Natürlich. Wenn es das ist, was Sie möchten“, erwiderte sie und lächelte gequält.

4. KAPITEL

Am ersten Tag sah Lucien einige Male nach Lady Rebecca und war überrascht, wie eifrig sie daran arbeitete, ihre Kleidung wieder in Ordnung zu bringen. Sie fand sogar eine Bürste, mit der sie versuchte, das Salz und den Seetang abzubekommen.

Als sie fertig war, hielt sie ihr Kleid und seine Jacke hoch. „Sieht immer noch so aus wie nach einem Schiffsuntergang.“ Sie seufzte.

„Immerhin kann man es wieder anziehen.“ Sie hatte ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Am zweiten Tag hatte Lucien ein schlechtes Gewissen, weil sie so gar nichts zu tun hatte.

„Ich finde schon etwas, womit ich mich beschäftigen kann“, versicherte sie ihm.

Am späten Vormittag blickte er von seiner Arbeit auf und stellte fest, dass sie sich an Deck gewagt hatte und nun neben Kapitän Molloy stand. „Wobei kann ich helfen?“, fragte sie ihn.

„Sie wollen helfen, Mylady?“ Der Kapitän lachte. „Wir finden etwas für Sie.“

Kurz darauf sollte sie den Seeleuten Wasser bringen und dem Koch in der Kombüse zur Hand gehen.

Gegen Ende des Tages, als sie das Deck geschrubbt und die Fischreste beseitigt hatte, ging Lucien zu ihr. „Sie müssen nicht arbeiten.“ Ernst sah er sie an. Welche Lady schrubbte schon Fischinnereien vom Deck? „Schon gar nicht eine solche Arbeit erledigen.“

Sie hielt inne. „Ich helfe gern. Es gefällt mir, mich als Teil der Mannschaft zu fühlen.“

Und schon schnell wurde sie Teil der Besatzung. Die Seeleute begannen, sich auf sie zu verlassen. Ihr Anblick an Deck wurde zur Gewohnheit. Und nachts schliefen sie und Lucien tief und fest, erschöpft von ihrem Tagewerk.

Claire genoss die tägliche Arbeit. Der Zweimaster wurde zu ihrer Welt, eine Welt, die ihr im Gedächtnis blieb, genau wie die Gesichter und die Namen der Männer.

Der Mittelpunkt dieser Welt war nach wie vor Lucien. Es war seine Anwesenheit, die ihr Sicherheit gab; er war ihr Anker. Im Laufe der Zeit wuchs ihm, wie auch den anderen Seeleuten, ein Bart, der ihn aussehen ließ wie ein Pirat.

Sie beobachtete, wie er dabei half, die Netze einzuholen und den Fisch abzuladen. Stumm betete sie um seine Sicherheit, wenn er den hohen Mast emporkletterte, um Segel zu setzen.

Nachts, in der Dunkelheit der Kabine, musste sie jedoch oft daran denken, dass sie sich an ihr Leben vor dem Schiffsunglück nicht erinnern konnte. Es half, dass Lucien da war. Er weckte in ihr eine Sehnsucht, die sie nicht wirklich verstand. Sie wollte seine starken Arme um sich spüren, seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht, das Schlagen seines Herzens.

Sie sehnte sich danach, in seinen Armen Erfüllung zu finden.

Ihre anderen Träume waren nichts weiter als unzusammenhängende Bilder, die sie am Morgen fast wieder vergessen hatte. Daher freute sie sich auf jeden neuen Tag, denn tagsüber war sie beschäftigt und mit Menschen zusammen, die sie inzwischen gut kannte.

In der dritten Woche waren die Frachträume gefüllt mit Fässern voller Fisch. Kapitän Molloy nahm Kurs auf Irland, ein Land, in dem Claire schon einmal gewesen war, an das sie dennoch keine Erinnerung hatte. Noch heute würden sie in einem irischen Hafen anlegen.

Mit Luciens Hilfe zog sie ihr geflicktes Kleid an und faltete die Sachen, die man ihr geliehen hatte, zusammen. „Die werde ich vermissen“, sagte sie. „Sie sind so viel bequemer als das Kleid und das Korsett.“

Er lächelte. „Ich bin froh, das Zeug los zu sein“, erwiderte er und legte die schmutzige Kleidung, die nach Fisch und Schweiß stank, zur Seite.

Plötzlich brannten Tränen in Claires Augen. „Ich werde das Leben hier an Bord vermissen. Wahrscheinlich, weil es mir so vertraut geworden ist. Wer weiß, was jetzt kommt.“

Lucien schaute sie voller Mitgefühl an. „Sie haben ein Schiffsunglück überstanden und drei Wochen auf einem Fischerboot. Sie werden auch alle anderen Hürden nehmen.“

Claire war sich da nicht so sicher. „Vermutlich haben Sie recht. Ich sollte mich zusammenreißen.“ Am meisten Angst hatte sie davor, ihn zu verlieren. Doch sie war ihm schon lange genug zur Last gefallen. Er würde in sein Leben zurückkehren, ein neues Schiff bekommen und wieder zur See fahren.

Von Deck erklang ein lauter Ruf: „Land in Sicht!“

„Wir sollten hochgehen“, meinte Lucien und klang angespannt.

Sie nickte und griff nach dem Retikül, ihrem einzigen Besitz.

Kurz darauf standen sie an der Reling und sahen zu, wie die schmale Linie am Horizont sich langsam in die irische Küste verwandelte.

„Wo werden wir anlegen?“ Claires Herz schlug schneller. „Würden irgendwelche Erinnerungen zurückkehren, sobald sie an Land waren?“

„In Bray.“

„Ein Fischerdorf, oder?“

„Sie kennen es?“ Er hob fragend die Augenbraue.

Sie blickte zur Küste hinüber. „Ich kenne den Namen, aber ich weiß nicht, woher.“

Während der vergangenen Wochen hatte sie Lucien immer wieder über sein Leben ausgefragt, jedoch hatte sie ihn nie gefragt, was geschehen würde, wenn sie an Land waren. An diesem Thema hatte sie nicht zu rühren gewagt; zu ungewiss war ihre Zukunft.

„Ich nehme an, dass Sie nach London weiter wollen, wo Ihr neues Schiff auf Sie wartet?“ Sie starrte weiter auf den Streifen Land vor ihnen, um ihn nicht anschauen zu müssen. Sie fürchtete, dass sie sonst in Tränen ausbrechen würde. „Fahren Sie wieder mit einem Paketboot von Dublin aus?“

Er würde sie verlassen und genauso unerreichbar sein wie ihre Vergangenheit.

Einen Moment lang schwieg er. „Ich bringe Sie erst einmal zu Ihrem Bruder.“

„Nein, Lucien. Das könnte ich niemals von Ihnen verlangen. Ich schaffe das sicherlich auch allein.“ Irgendwie.

„Auf keinen Fall lasse ich Sie allein“, widersprach Lucien. Er hatte zwar kein Interesse daran, den Earl of Keneagle zu treffen, trotzdem konnte er Lady Rebecca nicht sich selbst überlassen. Natürlich könnte sie selbst einen Brief an ihren Bruder schreiben und zu ihm fahren. Am Ende würde sie dann vor einem fremden Mann stehen und nicht wissen, ob es ihr Bruder war oder jemand anderes. Nein, das konnte er nicht zulassen.

„Wir werden zusammen nach Dublin fahren und Ihrem Bruder eine Nachricht zukommen lassen“, bestimmte er. „Dort kann ich auch zur Bank gehen, damit wir ein paar Dinge einkaufen können, die wir benötigen.“

Sie hob ihr Retikül. „Ich habe ein wenig Geld. Vielleicht besitze ich noch weitere Mittel, um Ihnen Ihre Ausgaben zurückzuzahlen.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich kann es mir leisten.“ Wofür sonst brauchte er sein Geld denn schon?

Nur wenig später legte der Zweimaster im Hafen an, und sie verabschiedeten sich von Kapitän Molloy und seiner Mannschaft. Zu Luciens Überraschung umarmte Lady Rebecca jeden einzelnen Fischer, obwohl die Männer nach drei Wochen auf See, genau wie er, nach Schweiß und Fisch rochen.

Kapitän Molloy zeigte zum Ort. „Gehen Sie die Straße hoch, dort finden Sie das Gasthaus. Es gehört meinem Cousin Niall Molloy. Grüßen Sie ihn von mir. Er wird sich um Sie kümmern.“

Lucien schüttelte dem Kapitän die Hand. „Wir sind Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet.“

Molloy winkte ab. „Ach, das war doch nichts. Sie haben es mehr als wieder wettgemacht. Alle beide.“

Dennoch würde Kapitän Molloy und jeder seiner Männer ein großzügiges Geschenk von Lucien erhalten, sobald er es einrichten konnte.

Er stieg über die Reling, sprang auf den Kai und drehte sich um, um Rebecca zu helfen. Sie sprang und landete direkt in seinen Armen – und fühlte sich dort viel zu gut.

Als sie sich auf den Weg zum Gasthaus machten, sagte sie: „Ich werde die Fischer vermissen.“

„Immerhin werden Sie bald ein Zimmer für sich allein haben“, versuchte Lucien sie aufzumuntern.

Sie seufzte. „Das wird sich bestimmt merkwürdig anfühlen.“

Als sie das Gasthaus betraten, trafen sie den Wirt im Schankraum.

„Niall Molloy?“, fragte Lucien.

„Das bin ich, ja.“

„Wir kommen vom Schiff Ihres Cousins“, erklärte Lucien. „Wir wurden von ihm auf See gerettet, nachdem die Dun Aengus untergegangen war.“

„Sie waren auf der Dun Aengus? Wir haben davon gehört. Und Finn hat Sie aufgelesen? Ehrlich? Mein Cousin. Verrückt. Wie lange waren sie schon da draußen, bis Finn Sie entdeckt hat?“

„Er fand uns am zweiten Tag“, erwiderte Lucien.

„Das war sicherlich lange genug.“ Der Wirt wischte sich die Hände ab.

Lady Rebecca mischte sich ein. „Können Sie uns etwas über das Schiffsunglück sagen? Sind … sind viele ertrunken?“

Molloy senkte den Kopf. „Ja, leider sehr viele, soweit ich gehört habe. Ein Dutzend hat vielleicht überlebt.“ Er lächelte. „Ein Dutzend und Sie beide.“

Er wurde wieder ernst. „So traurig es ist, aber das Meer gibt und das Meer nimmt.“ Dann klatschte er in die Hände. „Sie brauchen ein Zimmer? Was kann ich noch für Sie tun?“

„Zwei Zimmer“, korrigierte ihn Lucien. „Aber zuerst einmal etwas Gutes zu essen.“

Der Wirt lachte. „Finns Essen ist nicht unbedingt abwechslungsreich, was? Ich garantiere Ihnen, wir kriegen das besser hin.“

Er deutete auf einen Tisch, der etwas abseits stand, und servierte ihnen große Krüge mit Ale und einen Lammeintopf.

Die anderen Männer im Schankraum bedachten sie mit neugierigen Blicken.

„Sehe ich nicht angemessen aus?“, fragte Rebecca nervös. „Sie starren mich so an.“

Lucien warf den Männern einen düsteren Blick zu und antwortete: „Vermutlich liegt es daran, dass Sie so hübsch sind.“

Rebecca hob ruckartig den Kopf. „Hübsch?“

„Sie sind eine Schönheit“, sagte er. „Wussten Sie das nicht?“

Sie errötete. „Ich … ich habe seit dem Schiffsunglück in keinen Spiegel mehr geschaut. Ich weiß nicht, wie ich aussehe.“ Sie ließ den Löffel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Der Gastwirt kam aus der Küche. „Hört auf, euch wie Torfköppe zu benehmen, Jungs. Lasst die Lady in Ruhe essen.“

„Man wird ja wohl mal hinschauen dürfen“, brummte einer der Männer.

„Du kannst draußen weiter essen, wenn du dich nicht benehmen kannst“, knurrte Niall Molloy.

Rebecca senkte den Blick. „Ich verursache einen Aufruhr.“

„Ach, das ist doch nur harmloses Geplänkel“, versicherte Lucien ihr. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie nicht wissen konnte, wie sie aussah. War es möglich, dass sie auch daran keinerlei Erinnerung hatte?

Sie legte den Löffel beiseite und verschränkte die Hände im Schoß.

Lucien legte den Rest Brot auf den Tisch. „Wollen Sie jetzt Ihr Zimmer sehen?“ Bestimmt wollte sie schnell den neugierigen Blicken entkommen und sich im Spiegel betrachten.

Entschlossen stand sie auf. „Ja.“

„Meine Frau bringt Sie zu Ihren Zimmern“, erklärte der Wirt.

Eine Frau mit flammend rotem Haar trat im Flur zu ihnen. „Ich bin Mrs. Molloy. Mein Mann hat mir erzählt, dass Ihr Schiff untergegangen ist und Finn Sie gerettet hat. Da haben Sie viel Glück gehabt.“ Sie brachte sie in den ersten Stock und zeigte ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer, bevor sie ihnen die Schlüssel überreichte.

Claire bemerkte sofort den Spiegel über der Kommode.

„Soll ich nachher kommen und Ihnen beim Auskleiden helfen?“, fragte Mrs. Molloy.

„Das wäre nett“, antwortete Claire und wandte den Blick vom Spiegel ab.

„Gibt es sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?“

„Ich wüsste nicht …“, begann Claire.

Lucien unterbrach sie. „Ein Bad? Könnten wir beide ein Bad nehmen?“

„Natürlich! Nach allem, was Sie durchgemacht haben, kann ich mir vorstellen, dass Sie baden möchten. Soll ich auch Ihre Kleidung waschen?“

„Ich bin nicht sicher, ob die noch zu retten ist“, meinte Lucien.

„Dann müssen wir etwas anderes finden, was Sie anziehen können, nicht wahr?“ Sie tätschelte seinen Arm und ging.

Claire konnte den Blick nicht vom Spiegel abwenden, zögerte aber, sich davorzustellen.

Lucien ergriff ihren Arm. „Warten hilft nicht.“ Er ging mit ihr zum Spiegel.

Seine Berührung gab ihr Mut. Sie hob den Kopf und schaute hinein.

„Was sehen Sie?“

Sie lachte erleichtert. „Mich! Ich hatte Angst, ich würde eine Fremde sehen, doch ich sehe aus wie ich. Das gleiche braune Haar, die gleichen Augen, die gleiche, nicht gerade elegante Nase, der gleiche Mund.“

Aber war sie wirklich hübsch? Wenn ja, gefiel es ihr nicht, dass die Männer sie deswegen anstarrten.

Nur wenn Lucien sie anschaute, war es anders. Dass er sie für schön hielt, fand sie wunderbar.

Er stand mit undurchdringlicher Miene hinter ihr. Er sah so gut aus. Groß, mit breiten Schultern, das Haar und der Bart so dunkel wie die Nacht, und die Augen so braun und wachsam wie die eines Fuchses.

„Wie gut, dass Sie nach einem Bad gefragt haben, Lucien. Allein die Vorstellung ist schon herrlich!“ Sie erinnerte sich daran, wie schön es war, im warmen Wasser zu liegen, sich einzuseifen und hinterher wieder sauber zu fühlen. Leider konnte sie sich weder an eine Zeit noch einen Ort erinnern, an dem sie je ein Bad genommen hatte.

Der Badezuber stand in einem Raum nahe der Küche, damit das Wasser nicht so weit getragen werden musste und heiß blieb. Lucien ließ Lady Rebecca den Vortritt, während er sich auf die Suche nach Niall Molloy machte – hauptsächlich, um sich von gewissen Gedanken abzulenken, Gedanken an Rebecca, wie sie nackt in der Wanne lag und die Seife über ihre Haut gleiten ließ.

„Molloy“, sagte er, als er den Wirt im Schankraum antraf. „Ich brauche Ihre Unterstützung. Wir haben nichts dabei. Wo kann ich das Nötigste kaufen?“ Er hatte noch ein paar Münzen in der Tasche, genügend, um das zu besorgen, was sie brauchten.

„Da gehen Sie am besten zu Bradys Laden.“ Der Wirt erklärte ihm den Weg dorthin.

Autor

Louise Allen
<p>Louise Allen lebt mit ihrem Mann – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.</p>
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Diane Gaston
<p>Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten. In ihrer Kindheit...
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