Historical Saison Band 91

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DER COLONEL UND DIE SCHÖNE GOUVERNANTE von JULIA JUSTISS
Sie ist impertinent! Am liebsten würde Colonel Hugh Glendenning die Gouvernante Olivia Overton entlassen. Doch das ist unmöglich, denn dann wäre er mit seinen beiden kleinen Mündeln allein. Schlimmer noch: Ein Leben ohne diese verführerische Schönheit, die ihn beharrlich herausfordert, kann er sich nicht mehr vorstellen!

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Einfühlsam gelingt es der schönen Witwe Amelia Durant, adlige Paare zusammenzuführen. Nun allerdings steht sie vor einer schwierigen Aufgabe. Denn die junge Lady, die sie betreut, wird von dem Duke of Stone umworben! Ein arroganter Lebemann, der ihr eigenes Herz vor Jahren stahl – und es immer noch zum Rasen bringt …


  • Erscheinungstag 05.07.2022
  • Bandnummer 91
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511407
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia Justiss, Ann Letherbridge

HISTORICAL SAISON BAND 91

1. Kapitel

Tut mir leid, Miss Overton, Sie haben kein Geld mehr.“

Halb benommen von kaltem Entsetzen, verließ Olivia Overton das Büro und stieg langsam die Treppe hinab. In ihren Ohren gellten immer noch die Worte des Anwalts, die grauenvollen Neuigkeiten.

Auf der Straße zögerte sie. Die Rückkehr in das Haus am Hanover Square würde all die beklemmenden Erinnerungen an jenen Tag vor zwei Wochen wecken. Nichts ahnend war sie heimgekommen und hatte ihre leblose Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer gefunden.

Als würde die tiefe Trauer nicht genügen, um ihr das Herz zu brechen, hatte sie soeben auch noch die unfassbare Tatsache erfahren, dass ihr Zuhause offenbar jemand anderem gehörte. Nein, vorerst konnte sie diese Schwelle nicht überqueren.

Stattdessen wollte sie ihre Freundin Sara Standish besuchen und ihr erzählen, wie drastisch sich ihr Leben plötzlich verändert hatte. In ganz London kannte sie sonst niemanden, der ihre Verzweiflung hätte verstehen können. Bedrückt winkte sie eine Droschke heran – ein Luxus, den sie sich nicht mehr lange würde leisten können – und fuhr zur Upper Brook Street.

„Ich werde Miss Standish sofort zu Ihnen schicken, Miss Overton“, flüsterte der Butler und führte Olivia zu einem kleinen Salon im Hintergrund des Hauses. Vorsichtig spähte er in die Richtung des vorderen Salons, wo Saras Mutter, seit vielen Jahren invalide, vermutlich gerade ihre Freundinnen empfing und sich über den neuesten Tratsch informieren ließ.

Wahrscheinlich werde ich in den nächsten Klatschgeschichten die Hauptrolle spielen, dachte Olivia beklommen.

Habt ihr’s schon gehört? Das Overton-Mädchen hat das ganze Familienvermögen verloren. Welch ein Pech, dass die Ärmste so exzentrisch – und hässlich ist! Deshalb kann sie wohl kaum auf einen rettenden Heiratsantrag hoffen.

Olivia holte tief Luft. Bald würde das Geschwätz der Klatschmäuler des ton ihre geringste Sorge sein. Allzu viel Zeit blieb ihr nicht, um Zukunftspläne zu schmieden, bevor ihr Cousin Sir Roger und die neue Lady Overton nach London reisen und in das Haus am Hanover Square ziehen würden.

Zu rastlos, um Platz zu nehmen, wanderte sie vor dem Kamin auf und ab. Als Sara eintrat und das traurige Gesicht der Besucherin sah, eilte sie zu ihr und zog sie an sich. „Du Ärmste! Fehlt dir deine Mama so sehr?“

Olivia erwiderte die Umarmung, dankbar für das Mitgefühl der guten Freundin, die ihr trostreichen Halt in einer plötzlich chaotischen, bedrohlichen Welt gab. „Wie seltsam …“, sagte sie seufzend, nachdem sie sich auf ein sehr ausladendes Sofa gesetzt hatten. „Jahrelang lebt man mit einer Person zusammen, die sich kaum für einen interessiert und die meiste Zeit ein Ärgernis ist. Und wenn sie nicht mehr da ist, vermisst man sie schmerzlich.“

„Das verstehe ich.“ Sara warf einen kurzen Blick in die Richtung des offiziellen Salons. „Für meine Mutter bin ich ein Ärgernis. Schon vor Jahren hat sie die Verantwortung für mich meiner Tante Patterson anvertraut. Wenigstens hat deine Mama gelegentlich mit dir diniert. Und sie hat dich in die Gesellschaft eingeführt.“

Olivia lächelte gequält. „In eine Gesellschaft, die ich nicht schätze – deren Erwartungen und Regeln ich gar nicht schnell genug entrinnen kann. Oh, wie inständig wünschte ich mir die ganze Zeit, den Heiratsmarkt zu verlassen, ein unabhängiges Leben zu führen! Seit der Schulzeit sehnen wir uns danach – nur zu tun, was wir wichtig finden, unsere politischen Interessen zu verfolgen.“

„Dem Himmel sei Dank, demnächst ist es so weit! Die Saison geht zu Ende, und wir können in unserem Haus in der Judd Street ein neues Leben beginnen. Zumindest musst du nach deinem tragischen Verlust keine Klagen mehr hören, weil du dir mit deinem eigenen Hausstand alle Heiratschancen verdirbst und vom ton geächtet wirst.“

Saras blaue Augen begannen zu strahlen.

„Stell dir das vor! Nie mehr werden wir zu langweiligen Besuchen gezwungen oder auf endlose Bälle oder Partys geschleppt. Also haben wir schon bald genug Zeit, um für Ellie Lattimars Mädchenschule und Lady Lyndlingtons Frauenkomitee zu arbeiten. Vor allem müssen wir Lord Lyndlingtons Reformgesuche im Parlament unterstützen. Oh, das alles ist viel bedeutsamer als fashionable Hüte oder ein neuer Ärmelstil! Das waren gestern Abend auf dem Emerson-Ball die einzigen Themen, die von den Damen erörtert wurden … Ah, da ist unser Tee. Danke, Jameson.“

„Lady Patterson lässt Ihnen ausrichten, sie geselle sich in ein paar Minuten zu Ihnen, Miss“, erklärte der Butler und stellte das Teetablett auf den Tisch.

Sara nickte ihm zu und wandte sich zu Olivia, während er den Salon verließ. Stöhnend verdrehte sie die Augen. „Falls du was Wichtiges zu erzählen hast, sag mir’s, bevor Lady Unheil und Verhängnis erscheint.“

Sogar in Olivias eigenen Ohren klang ihr Gelächter leicht hysterisch. „Leider muss ich dir etwas sehr Wichtiges mitteilen. Heute Morgen besuchte ich Mr. Henson, unseren Familienanwalt, um mein Erbe auf mein Konto für die Miete unseres Hauses in der Judd Street überweisen zu lassen. Da erfuhr ich, dass ich – kein Geld habe.“

„Kein Geld?“, wiederholte Sara verstört. „Ich dachte, seit deinem einundzwanzigsten Geburtstag kannst du von diesem Fonds abheben, so viel du willst, obwohl er immer noch von Treuhändern verwaltet wird. Und das hast du in den letzten zwei Jahren auch regelmäßig getan.“

„Das dachte ich auch.“ Olivias Stimme nahm einen bitteren Klang an. „Aber offenbar haben die Treuhänder mein Erbe in ein Kanalprojekt investiert, das Bankrott ging. Jetzt ist nichts mehr von meinem Geld übrig, und ich besitze nur mehr hundert Pfund auf der London Bank …“

Plötzlich wallte heißer Zorn in ihr auf. Weil sie eine Frau war, hatte man ihr nicht zugetraut, ihr Geld selbst verwalten zu können. Deshalb hatten nach ihrer Volljährigkeit angebliche Experten diese Aufgabe erfüllt, das Vermögen in ein riskantes Projekt gesteckt und verschleudert.

„Das ist – alles?“ Erschrocken schnappte Sara nach Luft. „Hundert Pfund?“

„Alles“, bestätigte Olivia. „Und ums noch schlimmer zu machen, erklärte Mr. Henson, der neue Eigentümer des Hauses am Hanover Square, Sir Roger, wünsche sofort einzuziehen.“

„Oh, Olivia, es tut mir so leid!“, flüsterte Sara, ergriff die Hand ihrer Freundin und drückte sie. „Was wirst du tun?“

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Nur eins weiß ich schon jetzt. So sehr ich’s auch bedaure – ich muss das Judd- Street-Projekt aufgeben.“

„Natürlich kannst du dich vorerst nicht an der Miete beteiligen. Aber ich würde …“

„Nein, Sara. Selbst wenn du dir die Miete ohne meinen Beitrag leisten könntest, werde ich’s dir nicht gestatten. Wir haben besprochen, dass wir das Haus in der Judd Street zu zweit finanzieren wollen.“

„Hmpf!“, murrte die korpulente Lady Patterson auf dem Weg in den kleinen Salon. „Am besten schießt ihr alle beide diesen idiotischen Plan in den Wind und sucht euch passende Ehemänner wie jede vernünftige junge Dame! Und was dich angeht, Missy!“ Grimmig starrte sie Olivia an. „Neulich hörte ich, du hättest Lord Everston abgewiesen. Dummes Mädchen! Weißt du, wie reich er ist?“

„Sicher gibt es einen erstrebenswerteren Lebensinhalt, als einen vermögenden Gemahl zu ergattern und sein Geld auszugeben“, bemerkte Sara.

„Wirst du mir wieder mal diesen Unsinn über gegenseitigen Respekt und intellektuelle Zweisamkeit erzählen?“ Lady Patterson ächzte und sank in einen Lehnstuhl. „Glaub mir, auf die Dauer wirst du ein gesichertes Einkommen und eine fashionable Garderobe wichtiger finden.“

„Wohl kaum“, widersprach Sara.

„Lord Everston ist fast fünfzig“, gab Olivia zu bedenken. „Und er will nur heiraten, weil er eine Frau braucht, die sich um seinen Haushalt und seine sieben Kinder kümmert. Vorzugsweise eine unscheinbare alte Jungfer, die vor lauter Dankbarkeit für einen Ring am Finger seine Spielsucht und seine Affären übersehen würde.“

„Solange er ihr einen sicheren Lebensunterhalt bietet, wird sie gewisse Intimitäten nur zu gern seinen Mätressen überlassen“, meinte Lady Patterson.

„Auf manche Frauen mag das alles zutreffen, Tante“, erwiderte Sara. „Nicht auf uns.“

„Weil ihr völlig verrückte Ansichten habt!“

„Nun sollte ich mich verabschieden“, meinte Olivia seufzend, „und gründlich nachdenken …“

Lady Patterson hob die Brauen. „Stimmt was nicht, wenn ich fragen darf?“

Zögernd wich Olivia dem prüfenden Blick aus. So sehr es ihr auch widerstrebte, ihre private Tragödie noch jemandem außer Sara anzuvertrauen – Lady Patterson war stets freundlich zu ihr gewesen, eine fürsorglichere Anstandsdame als ihre Mutter und keine Klatschbase.

Doch die Neuigkeiten würden sich so oder so bald herumsprechen. Und da Lady Patterson sie in all den Jahren so liebevoll behandelt hatte, wäre sie sicher gekränkt, wenn sie die betrüblichen Tatsachen nicht von Olivia selbst, sondern aus zweiter Hand erfuhr.

„Um es kurz zu machen, Lady Patterson – heute teilte Mr. Henson mir mit, dass ich mittellos bin, denn die Treuhänder meines Fonds haben das Geld anscheinend wegen einer riskanten Investition verloren. Von dem Bankrott wusste er schon seit einigen Wochen, aber bevor er mich informierte, wollte er mir Zeit geben, den Verlust meiner Mutter zu verkraften. Jetzt gehört das Haus am Hanover Square meinem Cousin, Sir Roger. Weil er sofort einziehen will, muss ich überlegen, was ich tun werde.“

Lady Patterson starrte Olivia nachdenklich an, dann nickte sie. „Ich will keine Zeit vergeuden, indem ich betone, wie tragisch das ist oder wie leid es mir tut. Beides ist offenkundig. Falls du meine Meinung hören willst – du solltest an Lord Everston herantreten. Gewiss würde er seinen Heiratsantrag wiederholen. Das wäre zwar nicht die Lösung des Problems, die du dir wünschst. Aber du hättest für den Rest deines Lebens ein beträchtliches Einkommen und eine respektable gesellschaftliche Position – vielleicht sogar eine beneidenswerte, denn du wirst Everston wahrscheinlich überleben.“

„Nachdem ich fünf Jahre lang eine Vernunftehe vermieden habe, soll ich jetzt einen Mann heiraten, den ich weder mag noch wertschätze? In der Hoffnung, er wird möglichst bald den Löffel abgeben und ich kann danach das Leben führen, das mir gefällt? Vorausgesetzt, er ist unter den neuen Umständen überhaupt bereit, mich zu ehelichen, nachdem ich keine Mitgift zu bieten habe.“

„Auf die ist er nicht angewiesen. Und da er auf der aristokratischen Herkunft seiner künftigen Gemahlin besteht, hat er keine allzu große Auswahl. Wegen seines Alters und der sieben Kinder.“

„Das stimmt“, warf Sara ein. „Alle Frauen, die seinen Ansprüchen genügen würden, haben ihn schon abgewiesen.“

„Wenigstens hättest du ein Zuhause und dein eigenes Geld, Olivia“, sagte Lady Patterson. „Da dein Erbe entschwunden ist, musst du das Judd- Street-Projekt so oder so aufgeben. Und es ist besser, du heiratest Everston, statt Sir Roger um Almosen anzubetteln und für immer von seinem Wohlwollen abhängig zu sein. Oder bei irgendwelchen entfernten Verwandten Unterschlupf zu suchen. Da würdest du das Schicksal einer besseren Dienstbotin erleiden.“

„Kann sie nicht zu uns ziehen, Tante?“, fragte Sara.

Bevor Lady Patterson antworten konnte, protestierte Olivia: „O nein, Sara!“ In ihren Augen brannten Tränen. „Das ist sehr lieb von dir, und natürlich danke ich dir für das Angebot. Aber von dir möchte ich ebenso wenig abhängig sein wie von meinen Verwandten.“

„Dann muss es Lord Everston sein“, entschied Lady Patterson. In sanfterem Ton fuhr sie fort: „Ich verstehe deinen Stolz, der dich an diesem Entschluss hindert, Liebes. Leider sehe ich keine anderen Möglichkeiten.“

„Oh, ich schon …“ Plötzlich überschlugen sich Olivias Gedanken. „Statt eine grässliche Ehe zu ertragen, ergreife ich lieber einen Beruf. Als Gouvernante würde ich meine hervorragende Erziehung nutzen. Viel würde ich nicht verdienen. Aber es wäre mein Geld. Das müsste ich keinen Treuhändern überlassen, die es zum Fenster hinauswerfen könnten – keinem Ehemann, der es für seine Gespielinnen ausgeben würde.“

„Bitte, du darfst nichts überstürzen!“, mahnte Sara. „Du solltest wenigstens bei uns wohnen, bis Emma und Lord Theo aus Italien zurückkommen. Zu dritt werden wir das Problem ganz sicher lösen. Wenn du Gouvernante wirst und in irgendeiner hinterwäldlerischen Gegend arbeitest, verlieren wir dich womöglich für immer.“

„Vielleicht finde ich eine Stelle hier in London.“

„In London!“, rief Lady Patterson entsetzt. „Da würdest du dem Freundeskreis deiner Arbeitgeber begegnen, und man würde deinen demütigenden Statusverlust bemerken.“

Olivia seufzte. „Also außerhalb von London.“ Natürlich wäre es unerträglich, von all den Mitgliedern des ton geringschätzig oder mitleidig angestarrt zu werden.

Die Stirn nachdenklich gerunzelt, erkannte sie allmählich die Vorzüge einer Stellung als Gouvernante. Hatte sie nicht immer gewünscht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, unabhängig von einem Vater, Bruder oder Ehemann? Jetzt wurde ihr diese Möglichkeit geboten. Allerdings nicht auf die Weise, die ich mir ausgemalt habe, dachte sie bitter.

„Wenn ich mich recht entsinne, kennen Sie eine Agentur, bei der ich mich um eine solche Position bewerben könnte, Lady Patterson?“, fragte sie. „Und wären Sie so freundlich, mir eine Referenz zu schreiben?“

Die Augen der älteren Lady verengten sich. „Vermutlich habe ich nicht genug Zeit, um mich im Bekanntenkreis umzuhören und herauszufinden, ob jemand eine Gouvernante braucht.“

„Schon morgen könnten Sir Roger und seine Gemahlin auf der Eingangstreppe am Hanover Square stehen.“

Beschwörend legte Sara eine Hand auf Olivias Arm. „Dein Stolz erlaubt dir gewiss, hier bei mir zu bleiben, bis meine Tante eine geeignete Position für dich gefunden hat. Das wird eine kleine Weile dauern, denn wir wollen sichergehen, dass du in einem Haus arbeitest, wo man dich höflich und respektvoll behandelt.“

Obwohl Olivia die Fürsorge ihrer Freundin zu würdigen wusste und erneut zu Tränen gerührt war, schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß, du meinst es gut, Sara. Aber stell dir mal vor, wie es wäre. Bald wird die ganze Londoner Oberschicht von meinem Unglück erfahren. Niemand wird mich einladen, ich müsste mich hier verstecken, einfach nur – existieren, in einem schrecklichen Schwebezustand zwischen dem Leben, das ich immer kannte, und einer düsteren Zukunft. Das wäre zu viel. Für uns beide ist es am besten, wenn wir uns nicht mehr sehen.“

Widerstrebend nickte Sara. Auch in ihren Augen glänzten Tränen. „Ich glaube – ich verstehe, was du meinst. Aber es fällt mir furchtbar schwer, dich zu verlieren.“

Da Olivia die Stimme zu brechen drohte, nahm sie die Freundin wortlos in die Arme. Zitternd klammerten sie sich aneinander. Erst nach einigen Minuten konnten sie ihre Emotionen kontrollieren und ließen sich los.

„Nun werde ich gehen und meine Sachen am Hanover Square packen“, erklärte Olivia und stand auf. „Würden Sie mir den Namen der Agentur nennen, Lady Patterson?“

Sogar Saras barsche Tante hatte Tränen in den Augen. „Den habe ich leider vergessen. Ich werde meine Zofe fragen und dir eine Nachricht schicken. Tut mir so leid, meine Liebe …“ Sie erhob sich, und bevor sie das Zimmer verließ, überraschte sie Olivia mit einer Umarmung. Nur selten ließ sie sich zu solchen Gefühlsbezeugungen hinreißen.

Auch Sara stand auf und begleitete Olivia in die Halle. „Eins musst du mir versprechen. Wenn du einen Arbeitsvertrag unterschreibst – dann nur für sechs Monate. Bisher haben wir drei – du, Emma und ich – immer alle Probleme in den Griff bekommen. Nur weil Emma ihren Lord geheiratet hat, wird sich das nicht ändern. Wenn die beiden von ihrer Europareise zurückkehren, musst auch du nach London kommen, wo immer du sein wirst. Dann werden wir alle zusammen deine Situation erneut überdenken.“

In einem halben Jahr würde Olivia genauso mittellos sein wie jetzt, das wusste sie. Und von Emma würde sie ebenso wenig Almosen annehmen wie von Sara.

Aber da sie die kummervolle Miene der Freundin sah, brachte sie es nicht übers Herz, ihr zu widersprechen. „Also gut, ich unterschreibe nur einen Vertrag für sechs Monate. Und ich komme nach London, wenn Emma und Lord Theo wieder hier sind.“

Sie umarmten sich noch einmal. Dann kämpfte Olivia erneut mit dem Tränen, als der Butler ihr mitteilte, Lady Patterson habe die Familienkutsche vorfahren lassen, die sie heimbringen würde.

Vielleicht meine letzte stilvolle Fahrt …

„Wage es bloß nicht, die Stadt zu verlassen, ohne dich zu verabschieden!“, sagte Sara.

„Sobald ich weiß, was passieren wird, gebe ich dir Bescheid“, versprach Olivia und wandte sich zur Haustür, die der Butler geöffnet hatte.

Erhobenen Hauptes ließ sie ihre Vergangenheit hinter sich und blickte der Zukunft entgegen.

2. Kapitel

Während das sommerliche Tageslicht allmählich verblasste, ging Colonel Hugh Glendenning in die schäbige Bibliothek seines alten Familiensitzes Somers Abbey und setzte sich an den Schreibtisch. Sein Rücken schmerzte vom stundenlangen Ritt zu den Pachtfarmen. Manchmal war er abgestiegen und hatte alten Männern geholfen, Weiden zu kappen und Zweige trockenzulegen. Die wurden für die geflochtenen Körbe gebraucht, neben den Äpfeln die Haupteinnahmequelle des Landguts.

Noch immer hatte die Abbey sich nicht von einem ruinösen Chaos erholt, das Hughs nichtsnutziger älterer Bruder angerichtet hatte. Nach dessen Tod hatte Hugh nun den Besitz übernommen. Bedrückt musterte er die fadenscheinigen Vorhänge, den abgetretenen Teppich. Immerhin hatte er in den letzten anderthalb Jahren den traditionellen Korbhandel wiederbelebt. Und wenn in diesem Jahr eine gute Apfelernte zu erwarten war, würde der Apfelwein das Einkommen verbessern.

Seufzend streckte Hugh seinen Rücken und beschloss gerade, sich vor dem Dinner einen kleinen Brandy zu gönnen, als es an der Tür klopfte und Mansfield erschien, der betagte Butler. „Verzeihen Sie die Störung, Colonel, Mr. und Mrs. Allen möchten Sie sehen.“

„Mr. und Mrs. Allen?“, wiederholte Hugh. „Ich kenne niemanden dieses Namens.“ Womöglich noch mehr Gläubiger, die sein Bruder ihm hinterlassen hatte … „Haben die Leute erklärt, warum sie mich sprechen wollen, Mansfield?“

„Nein, Sir, sie erwähnten nur, sie seien soeben von St. Kitts in der Karibik hierhergereist – und sie müssten eine sehr wichtige, etwas heikle Angelegenheit mit Ihnen erörtern.“

„Wenn sie von dieser Insel gekommen sind, muss es um das Anwesen meines verstorbenen Cousins gehen. Ich dachte, sein Anwalt hätte mich über alles informiert, was ich wissen sollte. Aber ich glaube, ich muss diese Leute empfangen.“

„Sehr wohl, Colonel.“ Während der Butler die Eichentür öffnete, kämpfte er mit dem alten Schloss – zu guter Letzt mit Erfolg, bevor Hugh aufgestanden wäre, um ihm zu helfen.

Ein paar Minuten später führte der Butler eine Frau, einen großen, hageren, sonnengebräunten Mann in die Bibliothek, gefolgt von zwei kleinen Mädchen mit ernsten Gesichtern. „Mr. und Mrs. Allen – und die Kinder.“

Hastig wandte Hugh seinen Blick von den Mädchen ab, als eine qualvolle Erinnerung erwachte – an ein rundes Kindergesicht, helles Gelächter, einen kleinen Sarg, der im ausgetrockneten indischen Erdreich versank …

Dem Schmerz folgte wachsender Zorn. Warum hatte Mansfield ihn nicht über die Kinder informiert, die das Paar begleiteten? Dann hätte er ihm befohlen, die Kleinen in die Küche zu schicken, bevor er die Eltern zu ihm führte.

Irgendwie gelang es ihm, seine Manieren zu wahren, aufzustehen und sich zu verbeugen. „Colonel Glendenning. Mr. und Mrs. Allen – wie mein Butler mir erzählt hat, sind Sie von St. Kitts nach England gefahren. Hoffentlich hatten Sie eine angenehme Reise.“

„Sie hat sehr lange gedauert, war aber erträglich“, erwiderte Allen. „Nun sind wir froh, dass wir wieder daheim in Yorkshire wohnen werden.“

„Also leben Sie nicht auf St. Kitts? Bitte, nehmen Sie doch Platz.“ Hugh deutete auf die Sitzgruppe vor dem Kamin. „Bringen Sie uns Tee, Mansfield, und bitten Sie Mrs. Wallace, heraufzukommen.“ An seine Gäste gerichtet, fügte er hinzu: „Meine Haushälterin wird die Kinder in die Küche begleiten und ihnen Erfrischungen servieren.“

„Das wäre sehr freundlich.“ Mr. Allen umfasste den Arm seiner Frau, ging mit ihr zum Sofa, und die kleinen Mädchen folgten ihnen. „Um Ihre Frage zu beantworten, Sir – in den letzten Jahren war ich der Vorsitzende einer Handelsfirma auf St. Kitts. Weil meine Frau unter heftigem Heimweh litt, gab ich den Posten auf. Sobald ich meine Verpflichtung gegenüber den Kindern erfüllt habe, werden wir zu unserer Familie zurückkehren.“

„Ich verstehe. Und was kann ich für Sie tun, Sir?“, fragte Hugh, nachdem sie sich gesetzt hatten und die Kinder hinter das Sofa getreten waren. „Ich nehme an, Sie kannten meinen verstorbenen Cousin, Robert Glendenning. Hat er Sie ersucht, mir etwas zu überbringen?“

„Sozusagen“, bestätigte Mr. Allen lächelnd. „Aber es war seine Witwe, die mich darum bat. Sie deutete an, Sie würden die Kinder erwarten, Sir.“

Erschrocken starrte Hugh ihn an, von einer bangen Ahnung erfasst. „Die K-Kinder?“, stotterte er. „Welche Kinder?“

„Nur die älteren, Mr. Glendeninngs zwei Töchter aus seiner ersten Ehe. Natürlich wollte die zweite Mrs. Glendenning den Sohn und Erben bei sich behalten. Jedenfalls glaube ich, Sie wurden nur zum Vormund der Mädchen ernannt. Denn Mrs. Glendenning muss ihren Mann veranlasst haben, die Verantwortung für den Sohn ihrem Bruder anzuvertrauen.“

Allen drehte sich zu den Kindern um, die hinter ihm standen.

„Geht zu eurem Vormund, Mädchen, und knickst. Colonel, darf ich Ihnen Miss Elizabeth Glendenning vorstellen, sechs Jahre alt, und Miss Sophie Glendenning, vier Jahre …“

Nein, das darf nicht wahr sein.

Hugh weigerte sich, die Kinder anzuschauen, die sich vor ihm postierten und pflichtbewusst knicksten. Mit schmalen Augen musterte er Mr. Allen. „Der Anwalt meines Cousins teilte mir mit, Robert habe mich zum Vormund der Mädchen bestimmt. Da sie meine nächsten Verwandten sind, fühlte ich mich verpflichtet, diese Aufgabe zu übernehmen und ihr Erbe zu verwalten, bis sie volljährig werden – auf St. Kitts. Dass sie nach England kommen sollen, wurde nie erwähnt.“

Während Mrs. Allen nach Luft schnappte, hob ihr Ehemann ungläubig die Brauen. „Also haben Sie die Kinder nicht erwartet?“

„Allerdings nicht! Wäre ich gefragt worden, hätte ich ihre Reise hierher niemals gestattet.“

„O Gott!“, rief Mr. Allen bestürzt. „Tut mir so leid! Man gab uns zu versehen, alles wäre arrangiert worden.“

„Vermutlich können Sie die Kinder nicht zurückbringen …“

„Auf keinen Fall. Wir werden in Yorkshire bleiben.“

„Und wenn Sie die Mädchen mitnehmen …“ Irritiert suchte Hugh eine Lösung des Problems. „Wie ich mich entsinne, hat mein Cousine eine beträchtliche Summe für ihren Lebensunterhalt hinterlassen. Sicher würden sie sich in einem fremden Land viel wohler bei Menschen fühlen, die sie kennen, als bei einem kinderlosen Witwer.“

Unbehaglich wechselte Mr. Allen einen Blick mit seiner Frau. „Die beiden kennen uns kaum, Colonel. Am Tag unserer Abreise sahen wir uns zum ersten Mal.“

Nur widerstrebend gab Hugh sich geschlagen. „Also müssen die Kinder hierbleiben.“

Sichtlich erleichtert nickte Mr. Allen. „Das wäre am besten.“

In diesem Moment servierte der Butler den Tee. Während Hugh an seinem nippte, wünschte er, die Tasse enthielte Brandy. Wortkarg reagierte er auf Mr. Allens unbeholfenen Versuch, Konversation zu machen, und schmiedete Pläne für seine veränderte Zukunft.

Natürlich würde er sich nicht um die Erziehung seiner Mündel kümmern. Seine Haushälterin musste eine Gouvernante einstellen … Warum war Mrs. Wallace noch nicht in der Bibliothek erschienen? Die Allens würden bald aufbrechen. Nun, er würde es verkraften, ein paar Minuten allein mit den Kindern zu verbringen. Zum Glück waren sie sehr manierlich. Seit Allen sie vorgestellt hatte, standen sie stocksteif und schweigend da.

„Vielen Dank für die Gastfreudschaft, Colonel.“ Mr. Allen stellte seine leere Teetasse ab. „Tut mir wirklich leid, dass wir Ihnen eine unerwünschte Überraschung bereiten mussten. Offenbar ist Mrs. Glendennings Brief mit der Information über die Ankunft der Mädchen verloren gegangen.“

Hugh nahm eher an, die Witwe seines Cousins hatte ihm gar nicht geschrieben, weil sie seine Weigerung befürchtete, die Mädchen aufzunehmen. Plötzlich erwachte sein Mitgefühl. Bei der Geburt des jüngeren Kindes war die Mutter gestorben. Und nun hatten die beiden kurz nach dem Tod des Vaters ihr Heim verlassen müssen.

Als sich die Gäste erhoben, stand auch Hugh auf.

Mrs. Allen kniete nieder und umarmte zuerst das ältere Mädchen, dann das jüngere. „Seid in Zukunft so brav wie auf der Reise.“

„Ja, Madam“, antwortete das größere Kind. „Danke, dass Sie sich um uns gekümmert haben.“

Hugh begleitete die Allens zur Haustür und wünschte ihnen alles Gute für ihre Heimkehr.

Seufzend kehrte er in die Bibliothek zurück und zwang sich zu lächeln. So sehr ihn die unerwartete Belastung auch störte, den beiden Mädchen musste es viel schlechter gehen – reisemüde, verloren und hungrig, wahrscheinlich immer noch voller Trauer um den verstorbenen Vater, aus der vertrauten Umgebung herausgerissen. Wie Pakete waren sie über den Atlantik transportiert und in einem fremden Haus, wo sie nicht willkommen waren, abgeliefert worden.

Wie man sich in einer solchen Situation fühlte, konnte er sich vorstellen.

Er hockte sich vor die Kinder, und trotz seiner Mühe, nicht bedrohlich zu wirken, drückte sich das kleinere Mädchen furchtsam an die Schwester.

„Elizabeth und Sophie, nicht wahr?“, begann er. „Früher kam euer Papa oft hierher, als wir noch kleine Jungs waren, und spielte mit mir. Ich weiß, es ist schwierig für euch, so weit weg von daheim. Aber ich will es euch möglichst angenehm machen.“

Bis ich andere Arrangements treffen kann. Je früher, desto besser.

In Gedanken verfluchte er die immer noch abwesende Haushälterin, bevor er fortfuhr: „Gehen wir in die Küche, da bekommt ihr etwas zu essen. Danach wird euch Mrs. Wallace, meine Haushälterin, zum Kinderzimmer hinaufführen. Dieser Raum wurde nicht mehr benutzt, seit mein Bruder und ich klein waren. Nun werdet ihr zusammen mit Mrs. Wallace für eine gemütliche Einrichtung sorgen müssen.“

Zunächst starrten sie ihn einfach nur an, mit großen blauen Augen in angstvollen Gesichtern.

Dann fragte die Ältere: „Sicher wollen Sie uns auch nicht, oder?“

Und da erinnerte er sich, wie ehrlich Kinder sein konnten. Meistens sprachen sie aus, was sie dachten. Ohne Heuchelei oder Arglist. Und wenn Elizabeth auch recht hatte – er wollte die Lage nicht noch verschlimmern, indem er ihr zustimmte.

„Nun, es ist – ein bisschen schwierig, dass ihr unangemeldet hier aufgetaucht seid. Deshalb konnten wir nichts vorbereiten. Aber das kriegen wir schon irgendwie hin.“

„Madame Julienne wollte uns nicht, Papas neue Frau. Bevor das Baby Richard ankam, war sie nett zu uns. Aber danach …“ Zitternd rang Elizabeth nach Luft. „Als Papa so krank wurde, erlaubte sie ins nicht einmal mehr, ihn zu sehen.“

Wie Hugh sich vage entsann, starb sein Cousin an einem Tropenfieber. „Vielleicht wollte sie verhindern, dass ihr auch krank wurdet.“

„Papa hat uns erzählt, dass Sie sein liebster Cousin waren – und ein tapferer Soldat in Indien. Als Madame Julienne uns wegschickte, sagte sie, sicher würden Sie uns m-m-mögen …“ In Elizabeths Augen glänzten Tränen. Und die kleine Sophie hatte schon vor einiger Zeit lautlos zu weinen begonnen.

Hugh wusste, jetzt hätte er die Mädchen umarmen sollen, falls sie das zulassen würden. Und sie trösten. Aber obwohl er ihre Verzweiflung nachempfand, konnte er sich nicht dazu durchringen.

Und so suchte er nach besänftigenden Worten. „Habt keine Angst. Wie euer Papa gesagt hat, ich war ein Soldat. Also weiß ich, wie ich euch beschützen kann. Hier seid ihr in Sicherheit.“

Sein eigenes Kind hatte er nicht zu schützen vermocht. Aber jetzt lebte er in England, nicht mehr in einem heißen, exotischen Land voller giftiger Pflanzen, Reptilien und gefährlicher Krankheiten, die ein Kind innerhalb weniger Stunden hinwegraffen konnten. Damals hatte er sich gelobt, nie wieder die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Doch nun musste es ihm gelingen, für die Töchter seines Cousins zu sorgen, bis er sie in geeignete weibliche Obhut geben würde.

Endlich erschien Mrs. Wallaces hochgewachsene, stattliche Gestalt in der offenen Tür. „Mansfield hat gesagt, Sie würden mich brauchen?“ Zögernd trat sie ein, ging zu den Kindern, vor denen er immer noch hockte, und musterte sie missbilligend.

Hugh verkniff sich eine scharfe Antwort und stand auf. Wozu er die Haushälterin brauchte, hatte der Butler ihr zweifellos mitgeteilt, außerdem geschildert, was nach der Ankunft des Ehepaars Allen in der Bibliothek geschehen war.

„Mrs. Wallace, ich möchte Ihnen Elizabeth und Sophie Glendenning vorstellen, die Töchter meines verstorbenen Cousins“, begann Hugh. „Eine Zeit lang werden sie bei uns auf Somers Abbey wohnen. Die Kinder haben eine lange Reise hinter sich. Gewiss hätten sie gern eine Suppe und ein Stück Brot, bevor sie schlafen gehen. Gehen Sie bitte mit den beiden in die Küche und geben ihnen etwas zu essen.“

Die Stirn gefurcht, starrte sie ihn an. „Colonel, es gehört nicht zu meinen Aufgaben, für Kinder zu sorgen.“

Am Ende seiner Geduld, herrschte er sie an: „Trotzdem werden Sie es tun, bis ich eine Gouvernante eingestellt habe. Geben Sie ihnen etwas zu essen, sofort! Und danach werden Sie die beiden im Kinderzimmer einquartieren.“

„Also gut!“, murmelte die Haushälterin und knickste. „Kommt mit mir, Mädchen.“

Zaudernd folgten die Kinder ihr aus der Bibliothek, nachdem sie Hugh einen jammervollen Blick zugeworfen hatten. Nur widerstrebend lieferte er sie einer gefühlskalten Person wie Mrs. Wallace aus. Aber da er nur wenige Dienstboten beschäftigte, sah er keine andere Möglichkeit.

Am nächsten Morgen würde er einer Stellenvermittlungsagentur in London schreiben. Glücklicherweise hatte Robert reichlich Geld für die Betreuung seiner Kinder hinterlassen. Und so konnte Hugh eine der besten Gouvernanten engagieren und eine Privatkutsche mieten, die sie möglichst schnell zu seinem Landsitz bringen würde.

Mehr konnte er vorerst nicht unternehmen. Er kehrte zum Schreibtisch zurück und sank erschöpft in den Sessel. Grimmig musterte er seine zitternden Hände. Die verdankte er dem Schmerz, den er erlitten hatte, als eine kaum verheilte Wunde wieder aufgerissen worden war. Niedergeschlagen ergriff er die Brandyflasche und füllte ein Glas.

3. Kapitel

Eine gute Woche später schaute Olivia aus dem Fenster der Kutsche, die ihr künftiger Arbeitgeber ihr geschickt hatte. In abendlichen Schatten sah sie sein Anwesen. Somers Abbey, Somerset, hatte sie auf dem Informationsblatt von der Stellenvermittlungsagentur gelesen. Das Gebäude aus Stein, in nebelhafter Ferne verschleiert, erschien ihr wie eine mittelalterliche Abtei, einer religiösen Gemeinde von einem habgierigen Monarchen entrissen.

Unwillkürlich erschauerte Olivia. Kein besonders einladender Anblick. Aber vielleicht hielten die beiden kleinen Waisenmädchen, die sie betreuen sollte, dieses Gemäuer für ein Märchenschloss, in dem sie interessante Geheimnisse entdeckten.

Olivia hatte sich noch nie mit Kindern befasst. Nun hoffte sie etwas unbehaglich, sie würde mit ihren Schützlingen zurechtkommen.

Während der Kutscher die Fahrt verlangsamte, bezähmte sie ihre flatternden Nerven. Immerhin war sie kein scheues, unsicheres Mädchen, sondern eine wohlerzogene, intelligente, selbstbewusste junge Frau mit erstklassiger Schulbildung. Jahrelang hatte sie den Haushalt ihrer Mutter geführt. Also müsste sie sich auch um zwei kleine Mädchen kümmern können.

Außerdem hatte sie auf einer Vertragsdauer von nur sechs Monaten bestanden. In diesem kurzen Zeitraum würde sie alles ertragen. Sollte sie ihre Arbeit danach nicht mehr verkraften, würde sie nach London zurückkehren. Das hatte sie Sara beim letzten tränenreichen Abschied versprochen. An ihrer Situation würde sich bis dahin nichts ändern. Also würde sie eine neue Stellung suchen müssen.

Auf Somers Abbey würde sie ungefähr so viel verdienen, wie sie früher für ein neues Ballkleid ausgeben hatte, ohne einen Gedanken an die Summe zu verschwenden.

Aber solche Erinnerungen würden ihr ebenso wenig helfen wie der Kummer über den Verlust ihres Heims und die Trennung von ihrer lieben Freundin. Für sie gab es kein Zurück, und so würde sie sich auf die Zukunft konzentrieren.

Als der Wagen direkt vor der Haustür hielt, versuchte sie mit einem tiefen Atemzug, Mut zu fassen und stieg aus.

Ein ältlicher Butler öffnete ihr die Tür, in einer Livree, die genauso fadenscheinig wirkte wie der Teppich am Boden der Eingangshalle. „Miss Overton, nehme ich an?“

„Ja. Würden Sie mich dem Colonel melden? Ich möchte ihm meine Referenzen zeigen, bevor er mich mit den Kindern bekannt macht.“

„Bitte, folgen Sie mir, Miss Overton. Während Sie mit dem Colonel sprechen, wird sich jemand um Ihr Gepäck kümmern.“

Olivia überlegte, ob der Hausherr sie in einem Büro oder Arbeitszimmer empfangen würde. Sicher nicht im offiziellen Salon, der für Gäste reserviert war. Der Butler führte sie in einen offenbar älteren Teil des Hauses mit dunkler Holztäfelung.

Vor einer massiven alten Eichentür blieb er stehen und kämpfte einige Sekunden lang mit dem Schloss, bevor er sie öffnete. „Miss Overton, Colonel.“

Entschlossen bezwang Olivia ihre Nervosität und betrat eine geräumige Bibliothek. Ihr – hoffentlich – künftiger Arbeitgeber stand hinter einem Schreibtisch auf. Von dieser respektvollen Geste ermutigt, musterte sie ihn. Da sie keine Lady war, sondern eine Person, die er eventuell einstellen würde, hätte er sitzen bleiben können.

Hochgewachsen, in strammer militärischer Haltung, bot der blonde, blauäugige Colonel einen eindrucksvollen Anblick. Und er sah viel jünger aus, als sie erwartet hatte. In der Stellenvermittlungsagentur war sie über das Ende seiner militärischen Karriere in Indien informiert worden. Deshalb hatte sie vermutet, er wäre nach England zurückgekehrt, um seinen Ruhestand zu genießen. Obwohl seine sonnengebräunten Züge müde wirkten, schätzte sie ihn auf höchstens Mitte dreißig.

Verspätet merkte Olivia, dass sie ihn anstarrte, riss sich rasch zusammen und knickste. „Guten Abend, Colonel.“

„Miss Overton …“ Kaum merklich neigte er seinen Kopf. „Setzen Sie sich. Das wäre alles, Mansfield.“

Mit einiger Mühe verbarg sie ihre verletzten Gefühle. Sie war kein Gast, dem man Erfrischungen anbot, sondern eine Gouvernante, die ihre Referenzen zu präsentieren hatte. Das wusste sie. Aber der Kontrast zwischen dem warmherzigen Empfang, der ihr bisher in allen anderen vornehmen Häusern bereitet worden war, und dieser kühlen Begrüßung trieb ihr beinahe Tränen in die Augen.

An so etwas musst du dich gewöhnen. Und du wirst dich nicht schon von der ersten Missachtung aus der Fassung bringen lassen.

Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, den der Colonel ihr angeboten hatte, und er nahm wieder dahinter Platz. Dann öffnete sie ihre Aktentasche und reichte ihm die Dokumente, die man in der Agentur für sie zusammengestellt hatte. „Diese Papiere sollten die Informationen bestätigen, die Sie von der Stellenvermittlungsagentur erhalten haben, Sir.“

Nachdem er die Angaben studiert hatte, nickte er. „Wie ich sehe, haben Sie eine Privatschule für junge Damen besucht. Sie können Englisch, Französisch und Italienisch unterrichten, außerdem, Literatur, Mathematik, Geografie und Manieren. Und sie haben ausgezeichnete Empfehlungsschreiben von mehreren Aristokratinnen erhalten.“

Von meinen einstigen Freundinnen. „Ja.“

„Offenbar eignen Sie sich für die Position, die ich zu vergeben habe. Wurden Sie auf die näheren Umstände hingewiesen?“

„In der Agentur hat man mir das Alter der beiden Mädchen mitgeteilt, und dass sie seit Kurzem verwaist sind. Zudem erklärte man mir, Sie seien ihr Vormund, Sir, und würden dringend eine Gouvernante für Ihre Schützlinge brauchen.“

„Nun, die Situation ist etwas komplizierter.“ Er seufzte. „Vor mehreren Monaten schrieb mir mein Cousin, der Besitzer eines Anwesen auf St. Kitts in der Karibik. In diesem Brief bat er mich – seinen einzigen Verwandten – notfalls die Vormundschaft für seine Töchter zu übernehmen. Da er ein junger Mann war, glaubte ich, diese Verantwortung würde mir wohl kaum zufallen. Auch nach seinem verfrühten Tod dachte ich, außer der Verwaltung seines Erbes müsste ich keine weiteren Pflichten erfüllen. Und dann schickte die zweite Gemahlin meines Cousins die zwei Kinder plötzlich nach England, ohne Ankündigung – ohne meine Zustimmung abzuwarten. Vor etwa einer Woche trafen sie hier ein.“

Ungläubig starrte Olivia ihn an. „Und Sie hatten keine Ahnung, was auf Sie zukam?“

„Nicht die leiseste – sonst hätte ich die nötigen Maßnahmen ergriffen. Derzeit ist Somers Abbey kein passendes Zuhause, in dem zwei kleine Mädchen aufwachsen sollten. Diesen Landsitz erbte ich von meinem älteren Bruder, der ihn völlig vernachlässigt hat. In den achtzehn Monaten seit meiner Rückkehr aus Indien, wo ich meinen militärischen Dienst geleistet hatte, bemühte ich mich, das Haus halbwegs renovieren zu lassen. Das war sehr kostspielig, was mich zur Reduktion meines Personals auf das Nötigste zwang. Außer dem Butler beschäftige ich nur eine Köchin, eine Haushälterin und zwei Dienstmädchen.“

„Deshalb müssen Sie möglichst schnell eine Gouvernante engagieren“, bemerkte Olivia.

Der Colonel warf ihr einen scharfen Blick zu. Vielleicht hatte er nicht mit einem Kommentar seiner künftigen Angestellten gerechnet.

„Leider hat sich bisher keine Verwandte bereiterklärt, die Kinder aufzunehmen. Deshalb werden sie vorerst auf Somers Abbey bleiben. Aber ich hoffe, bald eine besser geeignete Unterkunft für sie finden. Also werden Sie möglicherweise nicht das ganze vertraglich vereinbarte halbe Jahr hier verbringen, Miss Overton. Trotzdem bezahle ich Ihnen natürlich die gesamte Summe.“

Danach muss ich mir einfach eine neue Stellung suchen … Olivia nickte. „Dann will ich mein Bestes für die Mädchen tun, während sie hier wohnen. Ich nehme an, ich werde mir die Arbeit mit der Kinderfrau teilen, die sie aus der Karibik nach England begleitet hat.“

„Nein, es gibt keine Kinderfrau. Die beiden wurden von einem Ehepaar zu mir gebracht, das sie erst kurz vor der Reise kennengelernt hatten.“

„Also mussten sie den Atlantik in der Obhut fremder Menschen überqueren?“, fragte Olivia, die Stirn gerunzelt. „Die armen Kleinen! Sicher hatten sie schreckliche Angst. Daheim wurden sie zweifellos von einem Kindermädchen betreut. Warum kam sie nicht mit ihnen hierher?“

Da hob der Colonel die Brauen, und sie merkte, dass sie die Grenzen einer Angestellten erneut überschritten hatte. Die Lippen zusammengepresst, senkte sie den Blick.

„Das weiß ich nicht“, erwiderte er kühl. „Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, nicht wahr, Miss Overton? Die Gouvernanten, die ich in Indien traf, waren eher kleinlaut und zurückhaltend. Niemals pflegten sie, eine eigene Meinung zu äußern.“

„Leider bin ich nicht so kleinlaut und zurückhaltend“, konterte sie kühl. „Nach dem Tod meines Vaters führte ich meiner Mutter den Haushalt, bis sie vor Kurzem starb, und ich bin es gewohnt, Verantwortung zu tragen.“

Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, das sofort wieder erlosch. Dennoch erhellte es die Finsternis in Olivias Seele ein kleines bisschen. Und sie gestand sich ein, dass sie den Colonel trotz seines schmalen, sorgenvollen Gesichts attraktiv fand – ebenso den Eindruck von Kompetenz und absoluter Verlässlichkeit, den er erweckte.

Während sie sich ermahnte, es stünde ihr nicht zu, ihren neuen Arbeitgeber attraktiv zu finden, hörte sie ihn sagen: „Mein Beileid zu Ihrem Verlust.“

Die Kehle verengt, konnte sie nur nicken. Zu schmerzlich beschworen seine Worte herauf, wie viel sie verloren hatte – nicht nur ihre Mutter, auch ihr Zuhause, ihren Status, ihren Freundeskreis, die Zukunft, die sie sich stets ausgemalt hatte.

Indem der Colonel aufstand, bekundete er das Ende des Gesprächs. „Nun wird Mansfield Sie zu ihrem Zimmer führen. Mrs. Wallace, meine Haushälterin, sorgt für Ihr Dinner.“

„Wollen Sie mich nicht mit den Kindern bekannt machen?“ Olivia erhob sich ebenfalls.

„Auch das wird Mrs. Wallace übernehmen, falls die Mädchen dann noch wach sind.“

Das fand sie etwas merkwürdig. „Kommen sie am Abend nicht herunter, um Sie zu sehen, wenn Sie nach Ihrer Tätigkeit auf dem Landgut heimgekehrt sind?“

„Nein. Meistens bin ich erst nach Einbruch der Dunkelheit zurück. Mrs. Wallace findet es wichtig, die Kinder an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen. Und da ich ihnen immer noch fremd bin, müssen sie mich nicht sehen.“

„Aber da Sie ihr einziger Verwandter sind …“

Mit einem vernichtenden Blick brachte er sie zum Schweigen. Obwohl sie dieses Thema hochinteressant fand, verbot sie sich, Fragen zu stellen. Stattdessen wollte sie das Vertrauen ihrer Schützlinge gewinnen, und sie hoffte, die beiden würden ihr verraten, wie sie ihren Vormund einschätzten.

Der Colonel, ein Militär, war an die Gesellschaft raubeiniger und abenteuerlustiger Soldaten gewöhnt. Und wie so viele Männer wusste er wahrscheinlich nicht, mit Kindern umzugehen. Aber der einzige Verwandte zweier kleiner Mädchen, deren ganze Welt eingestürzt war, sollte ihnen etwas einfühlsamer begegnen.

Ein paar Minuten später führte der Butler sie durch ein Labyrinth aus gewundenen Korridoren in einen älteren Trakt des Hauses und eine Treppenflucht hinauf. In einen zugigen Flur öffnete er eine Tür, und Olivia betrat das Zimmer, das sie bewohnen würde. Spartanisch eingerichtet, enthielt es nur ein Bett, ein Nachttischchen, einen Waschtisch mit einer Schüssel und einen Schrank.

Mansfield ließ sie allein und schloss die Tür. Olivia schaute sich um. Wie sie missbilligend feststellte, hatte man es versäumt, hier Staub zu wischen. Obgleich das Personal zweifellos über ihre Ankunft informiert gewesen war … Und das warf gewiss kein günstiges Licht auf die Haushälterin.

Es klopfte an der Tür, dann trug ein Dienstmädchen ein Tablett herein und stellte es auf den Nachttisch. Nun erschien auch eine große, schlanke Frau um die dreißig, ein Spitzenhäubchen auf dem dunklen Haar. An ihrem Hals hing eine Schlüsselkette. „Ihr Dinner, Miss Overton“, erklärte sie ohne den Anflug eines Lächelns und deutete einen Knicks an, ebenso wie Olivia. „Ich bin Mrs. Wallace, die Haushälterin.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Wallace. Werde ich meine neuen Schützlinge noch heute Abend sehen?“

„Nein, die Misses Glendenning haben sich bereits zurückgezogen. Das Kinderzimmer liegt etwas weiter unten in diesem Flur. Mary …“ Mrs. Wallace wies mit dem Kinn auf das Mädchen. „… wird Sie hinführen, wenn sie Ihnen morgen das Frühstück serviert hat. Gute Nacht, Miss Overton.“

„Gute Nacht, Mrs. Wallace – Mary“, erwiderte Olivia und lächelte das Dienstmädchen an, das verwirrt zusammenzuckte – offenbar nicht an freundliche Aufmerksamkeit gewöhnt.

Doch dann lächelte Mary schüchtern zurück, bis sie einen scharfen Blick von ihrer Vorgesetzten auffing und zur Tür hinauseilte. Mrs. Wallace folgte ihr etwas langsamer.

Um das bedrückende abendliche Dunkel zu erhellen, zündete Olivia eine Kerze an und stellte den kleinen Leuchter auf den Nachttisch. In diesem vernachlässigten Haushalt gab es wenigstens Kerzen.

Schaudernd setzte sie sich auf das Bett. Die kahlen Wände aus Stein ringsum kamen ihr genauso kalt wie der Empfang vor, den man ihr hier bereitet hatte. Hoffentlich war das Zimmer der armen Kinder etwas gemütlicher. Dieses alte Haus brauchte sehr viel Licht und eine ermunternde, heitere Atmosphäre. Dafür würde sie sorgen, ganz egal, was der distanzierte Hausherr und seine schroffe Hausdame davon halten mochten.

Und wer heitert mich auf? Müde von der langen Reise, brachte Olivia nicht mehr die Selbstbeherrschung auf, die ihr geholfen hatte, diesen Tag zu überstehen. Trauer und Zukunftsangst öffneten die Tränenschleusen, schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht.

Irgendwann in der Nacht schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Was hatte sie plötzlich geweckt? Sie streifte die wärmende Steppdecke von ihrem Kopf, und da hörte sie es wieder – einen fernen Jammerlaut.

Olivia sträubten sich die Nackenhaare. Spukte es in diesem Gemäuer? Huschten die Geister ermordeter Mönche durch die langen Flure und beklagten den Verlust ihrer von Feinden eroberten Abtei? Die Stimme der Vernunft redete ihr diesen Aberglauben aus – doch das Jammern erklang erneut.

Drang es aus dem Kinderzimmer?

Olivia stieg aus dem Bett, zündete die Kerze an und schlüpfte in ihren Morgenmantel.

Den Kerzenleuchter in der Hand, schlich sie lautlos in den Flur hinaus. Hier ertönte das Klagen etwas lauter, und sie eilte in die Richtung, aus der es kam. Vor einer geschlossenen Tür hielt sie inne. Dahinter musste das Kinderzimmer liegen. Denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr – klar und deutlich hörte sie ein Kind weinen.

Sie klopfte an die Tür, öffnete sie und ging in einen stockdunklen Raum.

Im schwankenden Licht ihrer Kerze sah sie zwei Mädchen auf einem Bett sitzen, offenbar die Schwestern Glendenning. Die größere umarmte die jüngere, deren Schluchzen sofort verstummte, als Olivia näher trat.

Hastig sprang die Ältere aus dem Bett und stellte sich schützend vor die kleine Schwester. „Ich habe geweint! Bitte, schlagen Sie Sophie nicht!“

„Schlagen?“, wiederholte Olivia bestürzt. „Wieso, um Himmels willen, sollte ich sie schlagen?“

„Weil Sophie Sie geweckt hat. Und Mrs. Wallace sagt, wir dürfen nachts niemanden stören. Sie hat nämlich nicht genug Dienstboten für dieses große Haus, und die wenigen brauchen ihren Schlaf. Vor allem den Master dürfen wir nicht stören.“

„Hat sie euch geschlagen, weil ihr jemanden geweckt habt?“

„Ja. Aber Sophie friert so schrecklich, und sie kann nichts dafür, wenn sie weinen muss.“ Die Unterlippe des Mädchens bebte. „Mir ist auch furchtbar kalt …“

„Keine Bange, ich werde euch nicht schlagen.“ Prüfend schaute Olivia sich in dem geräumigen Zimmer um. Zwei kleine Betten standen nebeneinander, eine Kommode, ein Regal und ein Schrank vervollständigten die Einrichtung. Vor den Fenstern schien ein leerer Bereich als Schulraum zu dienen. Ein Tisch fehlte.

Olivia stellte sich vor. „Ich bin Miss Overton, eure neue Gouvernante.“ Dann musterte sie die ältere Schwester. „Du musst Elizabeth sein. Und das ist – Sophie?“ Sie zeigte auf das Mädchen, das immer noch auf dem Bett saß.

„Ja, Madam.“ Elizabeth knickste. „Entschuldigen Sie, dass wir Sie geweckt haben. Also werden Sie uns – nicht schlagen?“

„Ganz sicher nicht.“ Olivia betastete die dünne Baumwolldecke, die auf dem Bett lag. Trotz des milden Wetters Anfang Juni war es innerhalb der dunklen Steinmauern der alten Abtei so kalt wie in einem Eiskeller. Und die Mädchen trugen ziemlich dünne Baumwollhemden. „Kein Wunder, dass ihr friert! Kommt her, ihr beiden!“ Sie öffnete ihren warmen Morgenmantel, setzte sich auf den Bettrand und wies die Kinder an, links und rechts von ihr Platz zu nehmen. Dann legte sie den Mantel um die kleinen Gestalten und schlang die Arme um ihre Schultern. „Habt ihr Mrs. Wallace gesagt, wie kalt euch ist?“

„O ja, Madam“, antwortete das ältere Mädchen. „Schon in der ersten Nacht, als Sophie aufgewacht ist und geweint hat. Aber Mrs. Wallace meinte, jetzt sind wir in England und müssen uns daran gewöhnen.“

„Ihr habt auf einer Insel gelebt, wo es immer warm ist, nicht wahr?“

„Ja, Madam.“ Elizabeth drückte sich noch fester an Olivia. „Und die Sonne scheint ununterbrochen. Hier ist es so düster, und es regnet sehr oft.“

„In eurer Heimat war ich noch nie. Aber ich habe gelesen, wie schön es in der Karibik sein soll. Da gibt es bunte Vögel und wunderbare Blumen. Wenn ich euch gewärmt habe, müsst ihr wieder schlafen. Und morgen erzählt ihr mir alles über eure Insel. Nun will ich sehen, ob ich mehr Decken für euch finde.“

Olivia stand auf und wickelte ihren Morgenmantel um die Kinder. Als sie zur Kommode ging, zitterte sie in ihrem dünnen Leinennachthemd. Erfolglos öffnete sie alle Schubfächer, die nur Sommerkleidung enthielten. Der Schrank war leer.

Wo in diesem Haus die Bettwäsche verwahrt wurde, wusste sie natürlich nicht. Im Dunkeln wollte sie nicht umherirren und danach suchen. Sie kehrte zu den Kindern zurück, zog den Morgenmantel von ihren Schultern und schlüpfte hinein. „Steht auf! Heute Nacht werdet ihr bei mir schlafen. Und morgen rede ich mit Mrs. Wallace. Sicher wird sie euch wärmere Decken geben.“

„Das wird Mrs. Wallace nicht gefallen“, meinte Elizabeth besorgt. „Sie sagt, hier muss alles immer seine Ordnung haben. Wir dürfen nichts anfassen und in keine anderen Räume gehen, nur ins Kinderzimmer.“

„Macht euch keine Sorgen, ich werde das mit Mrs. Wallace klären.“

Wenn diese Frau so großen Wert auf Ordnung legt, hätte sie in meinem Quartier Staub wischen sollen, dachte Olivia, während sie die Mädchen durch den Flur führte. Dieses Versäumnis ließ sich nicht mit Personalmangel entschuldigen.

In ihrem Zimmer half sie den Kindern auf ihr Bett und streckte sich neben ihnen aus. Dann breitete sie die Steppdecke über den beiden und sich selbst aus. Gerührt registrierte sie, dass Sophie den warmen Platz an ihrer Seite einnahm, weil die ältere Schwester energisch darauf bestanden hatte.

„Schlaft jetzt, Mädchen“, sagte sie und blies die Kerze auf dem Nachttisch aus.

„Danke, Miss Overton“, wisperte Elizabeth.

„Gern geschehen, Liebes. Schlaf gut.“

Lächelnd spürte Olivia, wie sich die vierjährige Sophie an sie kuschelte. War es womöglich ihre Bestimmung, auf Somers Abbey zu leben? Hier konnte sie keine Briefe an Parlamentarier schreiben, keine Reformen verlangen, nicht gegen Kinderarbeit kämpfen. Aber sie würde zwei kleinen Geschöpfen beistehen, die viel hilfsbedürftiger und verlorener waren als sie selbst.

Nach dem nächtlichen Zwischenfall wuchs ihre Empörung über den gefühllosen Colonel und seine nachlässige Haushälterin. Am nächsten Morgen würde sie den beiden gehörig die Meinung geigen.

4. Kapitel

Voller Sorge erwachte Elizabeth noch vor Tagesanbruch.

„Miss Overton!“ Aufgeregt rüttelte sie an Olivias Schulter. „Wir müssen in unser Zimmer zurückgehen! Bevor Mrs. Wallace heraufkommt und uns hier findet.“

Olivia zündete die Kerze an. Dann versuchte sie, das verängstigte Kind zu besänftigen, ohne Erfolg. Die barsche Haushälterin musste dem armen Mädchen einen gewaltigen Schrecken eingejagt haben. Und der Hausherr? Ahnte er, was diese Frau seinen Mündeln antat?

Da Olivia die Furcht der beiden nicht noch schüren wollte, nickte sie. „Also gut, ich begleite euch ins Kinderzimmer zurück. Meine Steppdecke nehmen wir mit, damit ihr’s warm habt, bis ich besseres Bettzeug für euch beschaffen konnte.“

„O nein, Mrs. Wallace wird erkennen, dass dies Ihre Decke ist!“, protestierte Elizabeth.

„Ich werde ihr erzählen, dass ich nachts nach euch sah und merkte, wie erbärmlich ihr unter den dünnen Baumwolldecken gefroren habt. Da ich nicht wusste, wo hier das Bettzeug aufbewahrt wird, lieh ich euch meine Decke. Und glaubt mir bitte – ich bin durchaus imstande, mich mit Mrs. Wallace auseinanderzusetzen, sollte sie mir Vorwürfe machen. Kommt jetzt, laufen wir möglichst schnell durch den kalten Korridor!“

Nachdem Olivia die Mädchen im Kinderzimmer zu Bett gebracht und die Steppdecke über die zitternden Gestalten gebreitet hatte, stellte sie den Kerzenleuchter auf die Kommode und inspizierte den Inhalt der Schubladen. Die Unterwäsche und Kleidungsstücke waren von erstklassiger Qualität, allerdings für ein tropisches Klima bestimmt. Nichts bestand aus Wolle oder auch nur Leinen. „Wie ich sehe, braucht ihr dringend warme Sachen, bis der Sommer richtig anfängt.“

„Gibt es in England überhaupt einen Sommer?“, fragte Elizabeth.

„So heiß wie in der Karibik ist er sicher nicht. Aber manchmal genießen wir milde, sonnige Tage. Schlaft noch ein bisschen. Nun gehe ich in mein Zimmer und ziehe mich an. Bevor Mrs. Wallace hier oben auftaucht, komme ich wieder zu euch.“

Kurz nach Sonnenaufgang hörte Olivia leichtfüßige Schritte im Flur. Hastig trat sie aus dem Kinderzimmer, spähte zu ihrer eigenen Tür und beobachtete, wie das Dienstmädchen mit einem Tablett davor innehielt. „Guten Morgen, Mary!“, rief sie. „Bitte, bringen Sie mein Frühstück hierher, ich werde bei Elizabeth und Sophie essen.“

„Wie Sie wünschen, Miss.“ Mary folgte ihr ins Kinderzimmer, stellte das Tablett auf die Kommode und hob verblüfft die Brauen. Offenbar hatte sie die Steppdecke bemerkt, unter der sich die Mädchen aneinanderkuschelten. „In ein paar Minuten komme ich mit dem Frühstück für die beiden.“

„Oh, das wäre nett. Und richten Sie Mrs. Wallace bitte aus, ich möchte möglichst bald mit ihr sprechen.“

„Ja, Miss.“ Mary lächelte nervös. „Auf dem Rückweg kann ich diese Decke in Ihr Zimmer zurücktragen.“

„Danke, nicht nötig. Vorerst bleibt die Decke hier, bis die Kinder warmes Bettzeug bekommen.“

Das Dienstmädchen blinzelte verstört. „Sind Sie sicher?“

„Völlig sicher“, betonte Olivia. Offenbar hatten nicht nur ihre Schützlinge eine Heidenangst vor der strengen Haushälterin. „Darüber will ich mit Mrs. Wallace reden.“

Mary zögerte, als wollte sie noch etwas sagen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Wie Sie meinen, Miss.“

Nachdem das Dienstmädchen den Raum verlassen hatte, wisperte Elizabeth: „O Gott, Miss Wallace wird gar nicht glücklich mit Ihnen sein, Miss Overton.“

„Wahrscheinlich nicht. Aber ich bin mit ihr auch nicht glücklich.“

Wenig später brachte Mary das Frühstückstablett für die Kinder. Während sie Marmeladenbrote verspeisten und heiße Milch tranken, leerte Olivia eine Tasse Kaffee und aß einen Käsetoast. Danach half sie ihren Schützlingen beim Ankleiden.

Bis wieder Schritte im Korridor erklangen, verstrich eine ganze Weile. Offenbar ließ Mrs. Wallace sich Zeit, bevor sie Olivias Bitte um ein Gespräch erfüllte, weil sie die neue Angestellte schon am ersten Tag auf ihren Platz verweisen wollte.

Aber eine Gouvernante nahm in jedem vornehmen Haushalt eine besondere Position ein. Dank ihrer gehobenen Herkunft gehörte sie nicht zu den Dienstboten, die der Haushälterin unterstanden. Das würde Olivia dieser arroganten Frau unmissverständlich klarmachen.

Mrs. Wallace betrat das Kinderzimmer und schaute sich um, ohne die Anwesenden zu begrüßen. Die Brauen zusammengezogen, fixierte sie die Steppdecke. „Miss Overton, warum liegt hier die Bettdecke aus Ihrem Zimmer?“

„Als ich heute Morgen nach den Mädchen sah, froren sie. Da ich nicht wusste, wo hier das Bettzeug verwahrt wird, holte ich meine Steppdecke, damit die beiden sich wärmen können, bis Sie ihnen dickere Decken geben, Madam.“

Anklagend starrte Mrs. Wallace die Mädchen an, und Sophie verschanzte sich angsterfüllt hinter ihrer Schwester.

An Olivia gerichtet, erwiderte die Haushälterin: „Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, befindet sich Somers Abbey in einer – gewissen Notlage. Leider reicht mein Budget nicht für Frivolitäten wie warme Decken. Die Mädchen sind erst vor Kurzem aus der Karibik nach England gereist. Sicher werden Sie sich bald an das kühlere Klima gewöhnen.“

Obwohl Elizabeth ihre kleine Schwester gegen die hartherzige Frau abschirmte, verriet auch ihr Gesicht wachsende Furcht. Im Beisein der beiden Mädchen wollte Olivia eine unangenehme Diskussion vermeiden, und so schlug sie vor: „Würden Sie mich in mein Zimmer begleiten, Mrs. Wallace? Alles Weitere sollten wir unter vier Augen erörtern.“

Die Frau zögerte. Offenbar fühlte sie sich in ihrer Autorität angegriffen. Doch dann nickte sie. „Also gut. Vor den Kindern möchte ich Sie nicht in Verlegenheit bringen, Miss Overton.“

„Ich Sie ebenso wenig. Gehen wir?“

Sobald sie in Olivias Zimmer ankamen, sagte Mrs. Wallace: „Eins müssen Sie von Anfang an zur Kenntnis nehmen, Miss. Für alles, was diesen Haushalt betrifft, bin ich verantwortlich. Nur ich. Und ich werde Ihre Einmischung nicht dulden. Außerdem finde ich es lächerlich, welch ein Aufhebens Sie um zwei Waisenkinder machen.“

„Für das Wohl der beiden Mädchen trage ich die Verantwortung. Deshalb werde ich mich einmischen, wann immer es nötig ist. Ich verlange keine seidenen Steppdecken und Daunenkissen für meine Schützlinge. Nur einfache, dicke Wolldecken, die ihnen helfen würden, das englische Wetter zu verkraften. Immerhin haben sie bisher in den Tropen gelebt.“

„In unserem Kinderzimmer wurden immer nur Baumwolldecken benutzt.“

„Von jetzt an verwenden wir Wolldecken“, konterte Olivia.

Mrs. Wallace musterte sie von oben bis unten. Verächtlich rümpfte sie die Nase. „Ich nehme an, Sie haben in einem vornehmen Haus gewohnt, Miss Overton, bevor sich Ihre Situation – geändert hat. Eigentlich müssten Sie mit einem kurzen Blick erkennen, dass mir das nötige Haushaltsgeld fehlt, um auf Somers Abbey einen kultivierten Stil zu pflegen.“

„Nun, ich glaube, Sie haben genug Personal, das die wenigen bewohnten Räume – zum Beispiel diesen hier – in Ordnung halten könnte.“

„Auf Somers Abbey machen die Dienstboten ihre Zimmer selbst sauber“, erläuterte Mrs. Wallace mit einem dünnen Lächeln.

Die Zähne zusammengebissen, unterdrückte Olivia eine scharfe Antwort. Wenn diese Frau sie einzuschüchtern hoffte oder glaubte, die neuen Gouvernante würde wegen ihres verlorenen Status zu Kreuze kriechen, täuschte sie sich ganz gewaltig. „Wenn Sie mir die erforderlichen Putzmittel zur Verfügung stellen, werde ich in diesem Raum regelmäßig für die Ordnung sorgen, die mir angemessen erscheint. Natürlich brauche ich trotzdem Wolldecken für die Mädchen. Oder soll ich die Angelegenheit mit dem Colonel besprechen?“

„Wegen solcher Banalitäten sollte er nicht behelligt werden …“ Abrupt verstummte die Haushälterin, dann vertiefte sich ihr Lächeln, und sie fuhr fort: „Aber wenn Sie die Sache dermaßen wichtig finden, reden Sie mit ihm. Guten Tag, Miss Overton.“

„Mir ist sie wichtig genug!“, fauchte Olivia, eilte an ihr vorbei aus dem Zimmer und den Korridor entlang. Wider Erwarten fand sie den langen, komplizierten Weg zur Eingangshalle hinab. Dort öffnete sie eine Tür, hinter der sie die Küchenräume vermutete. „Mansfield, wo sind Sie?“, rief sie und stieg eine weitere Treppe hinab. „Sie müssen mich sofort zum Colonel führen!“

Offenbar schwang in ihrer Stimme die achtjährige Leitung eines aristokratischen Haushalts mit. Denn als der Butler aus der Speisekammer trat, wagte er keinen Protest, nicht einmal ein kurzes Zögern. „Bitte folgen Sie mir, Miss Overton.“

Erschöpft sank Hugh in seinen Schreibtischsessel. Den Mund trocken wie Straßenstaub, starrte er die fast leere Brandyflasche an. Hinter seiner Stirn hämmerte es schmerzhaft.

Am letzten Abend hätte er nicht so viel Brandy trinken – und die Nacht nicht auf dem Sofa in der Bibliothek verbringen dürfen. Aber zuvor hatte Mansfield ihn gedrängt, im westlichen Schlafzimmerflügel die Wasserflecken rings um einen Kamin zu begutachten.

Der Weg zu diesem Raum hatte am Kinderzimmer vorbeigeführt. Obwohl er seine Ohren zu verschließen suchte, hörte er eine leise Kinderstimme, die ihn an die blauen Augen seiner Mündel erinnerte – und mit qualvoller Klarheit eine Vision aus der Vergangenheit heraufbeschwor.

Aus dem Kinderzimmer des Hauses im Militärviertel drang die helle Stimme Drews, der mit seiner Ayah schwatzte. Jubelnd sprang der Junge auf, als Hugh vor dem Antritt seines Dienstes in der offenen Tür erschien, rannte zu ihm und ließ sich umarmen …

Verzweifelt wollte er die Vision verscheuchen. Doch sie hatte ihn den ganzen Abend verfolgt, erneut die Schuldgefühle geweckt, die tiefe Trauer.

Die Begegnung mit Miss Overton belastete ihn zusätzlich, denn er fürchtete, sie würde ihm Ärger machen. Im Unterschied zu den Gouvernanten, die er bisher gekannt hatte, war sie weder kleinlaut noch zurückhaltend. Kein bisschen hatte sie gezögert, seine Erklärungen zu unterbrechen oder ihm indiskrete Fragen zu stellen. Vermutlich würde sie alle Schwierigkeiten, die im Kinderzimmer auftauchen mochten, mit ihm besprechen wollen.

Verdammt, deshalb hatte er eine Gouvernante engagiert – damit sie die Mädchen beaufsichtigte und ihn nicht mit Diskussionen über Erziehungsprobleme belästigte …

Ein Klopfen an der Tür dröhnte in seinem Kopf und verstärkte die Schmerzen. Die Finger an seine pochenden Schläfen gepresst, blinzelte er Mansfield an, der unaufgefordert eintrat. „Was ist los?“

„Miss Overton möchte Sie sehen, Colonel.“

Also erfüllten sich die bösen Ahnungen noch früher als erwartet. „Sagen Sie ihr, sie soll später wiederkommen. Und ersuchen Sie die Köchin, sie möge mir einen starken Kaffee bringen lassen.“

Zu seinem Leidwesen marschierte die vermaledeite Person einfach in die Bibliothek und knickste – grazil, jedoch nicht tief genug, um Respekt zu bekunden. „Verzeihen Sie die Störung, Colonel, aber was ich Ihnen mitteilen muss, kann nicht warten.“

„Noch keine vierundzwanzig Stunden sind Sie hier, Miss Overton! Was finden Sie nach dieser kurzen Zeit so wichtig, dass ich es sofort erfahren muss?“

Sie holte tief Luft, setzte zu einer offenbar längeren Erklärung an, dann zögerte sie. Sichtlich angewidert rümpfte sie die Nase und schaute sich in der Bibliothek um, bis ihr Blick die Brandyflasche erreichte. Wahrscheinlich roch der ganze Raum nach Alkohol. „Sind Sie nüchtern genug, um zu verstehen, was ich sage, Sir?“

Entgeistert starrte er sie an. Was erdreistete sich diese Person?

Mansfield zuckte zusammen und eilte zur Tür. Bevor er verschwand, japste er: „Ich hole den Kaffee, Colonel …“

Mit einiger Mühe zügelte Hugh seinen Zorn. „Ich bin durchaus fähig, Ihre Ausführungen zu verstehen, Miss Overton. Aber verstehen Sie, dass Sie mit Ihrem Arbeitgeber reden?“

„Nun, ich weiß, dass ich mich an den Vormund zweier kleiner Mädchen wende, der sich um ihr Wohl kümmern sollte.“

Du hättest dich um sein Wohl kümmern sollen …

Die Erinnerung peinigte ihn aufs Neue.

„Und in welcher Weise vernachlässige ich meine Pflichten?“, stieß er hervor.

„Dazu habe ich später etwas mehr zu sagen. Vorerst geht es um Bettdecken.“

Das erschien ihm so belanglos, dass er glaubte, er hätte sich verhört. „Bettdecken?“, wiederholte er.

„Ja. Die Mädchen müssen sich mit dünnen Baumwolldecken begnügen. Da sie an ein tropisches Klima gewöhnt sind, frieren sie in den kalten englischen Nächten.“

„Ver…“ Hugh unterdrückte einen Fluch. „Um sich über Decken zu beklagen, stürmen Sie so früh am Morgen in meine Bibliothek? Sehe ich wie eine Haushälterin aus? Wenden Sie sich an Mrs. Wallace!“

„Das habe ich getan. Leider weigert sie sich, dem Mangel abzuhelfen. Die Mädchen brauchen Wolldecken – und wärmere Kleidung. Zweifellos werden sie sich an das englische Wetter gewöhnen, allerdings nicht nach einer Woche. In diesem Haus muss es irgendwo warme Decken geben, die man ihnen geben könnte. Weisen Sie Mrs. Wallace an, diese Decken ins Kinderzimmer zu bringen. Falls keine vorhanden sind, muss sie welche kaufen.“

Wagte sie es tatsächlich, ihm die Unzulänglichkeiten dieses Haushalts vorzuhalten? „Nehmen Sie sich in Acht, Miss Overton! Ihre Position gestattet Ihnen nicht, so freimütig mit mir zu sprechen.“

Ihre Wangen röteten sich. Aber ihre Augen schienen Funken zu sprühen. „Wenn Sie drohen, mich zu entlassen, werde ich woanders eine Stellung als Gouvernante finden. Vielleicht bei jemandem, der kleine Kinder nicht so sträflich vernachlässigt!“

Wie konntest du so nachlässig sein …

„Jetzt reicht’s!“, schrie Hugh. Qualvoll intensivierte seine laute Stimme die Kopfschmerzen. „Raus!“

Da Miss Overton zögerte und offensichtlich noch etwas sagen wollte, sprang er hinter seinem Schreibtisch auf. „Raus! Sofort!“

Nachdem sie ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte, raffte sie ihre Röcke und rauschte aus der Bibliothek.

5. Kapitel

Am späten Nachmittag brachte Olivia die Mädchen ins Bett, weil sie sich vor dem Dinner ausruhen sollten. Kurz nachdem sie in ihr Zimmer gegangen war, wo sie Ordnung machen wollte, klopfte Mansfield an die Tür und teilte ihr mit, der Colonel wünsche, sie sofort zu sehen.

Seufzend nickte sie. „Richten Sie ihm bitte aus, ich komme gleich.“

Wahrscheinlich will Colonel Glendenning mich offiziell über meine Entlassung informieren, dachte sie. Nach der feindseligen Auseinandersetzung an diesem Morgen hatte sie die Bibliothek wütend verlassen und beschlossen, für die Kinder die warmen Decken und die nötigen Kleidungsstücke zu kaufen, die Mrs. Wallace offenbar nicht beschaffen konnte. Dann würde sie von sich aus kündigen – falls ihr Arbeitgeber das bis dahin nicht getan hatte.

Aber im Lauf des Tages war ihr Zorn verraucht, von Mitleid verdrängt. Wenn sie Somers Abbey verließ – wer würde für die tapfere kleine Elizabeth und die scheue Sophie sorgen, die bisher kein einziges Wort hervorgebracht hatte?

Sie durfte die Mädchen nicht im Stich lassen, solange der Colonel keine Verwandte oder eine andere Frau gefunden hatte, die sich um die beiden kümmerte.

Deshalb wollte Olivia über ihren Schatten springen, sich bei dem unmöglichen Mann entschuldigen und ihn bitten, sie nicht zu entlassen. Den Kindern zuliebe würde sie sogar – wie hatte er es ausgedrückt? – eine kleinlaute, zurückhaltende Gouvernante sein.

Und so ordnete sie ihr Haar, glättete ihre Röcke, dann ging sie nach unten und betrat die Bibliothek.

Der Colonel nickte ihr zu und stand hinter seinem Schreibtisch auf. „Nehmen Sie bitte Platz, Miss Overton.“

Nun sah er viel besser aus als im frühen Morgenlicht, als er nach seinem übermäßigen nächtlichen Brandygenuss unrasiert, mit trüben Augen, hinter dem Tisch gesessen hatte.

Warum sollte sie sich setzen? Wollte er ihr eine längere Strafpredigt halten, bevor er sie entließ? „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich lieber stehen, Sir.“

Seine Lippen zuckten, als er in seinen Sessel zurücksank. „Sind Sie immer so widerspenstig?“

Verspätet merkte sie, dass sie es versäumte, die gehorsame Angestellte zu mimen, so wie sie es beabsichtigt hatte. „Tut mir leid, Sir, diesen Eindruck wollte ich nicht erwecken.“

„Das nahm ich auch nicht an. Ich habe Sie zu mir gebeten, weil ich Ihnen mitteilen möchte …“

„Darf ich zuerst sprechen, Colonel?“ Ohne seine Erlaubnis abzuwarten, fuhr sie hastig fort: „Ich – ich muss mich für mein dreistes Verhalten heute Morgen entschuldigen. Natürlich stand es mir nicht zu, die Art und Weise zu kritisieren, wie Sie die Vormundschaft für die Töchter Ihres verstorbenen Cousins gestalten – eine Verantwortung, die Sie so großzügig übernommen haben. Es muss ziemlich schwierig für Sie sein, da Sie vollauf mit der Instandsetzung Ihres Landsitzes beschäftigt sind. Zudem hilft Ihnen keine Verwandte, die Kinder zu betreuen. Bedauerlicherweise ließ ich mich von der unglücklichen Situation der Mädchen zu freimütigen, ungebührlichen Äußerungen hinreißen. Hoffentlich verzeihen Sie mir und gestatten, dass ich noch einmal von vorn beginne.“ Obwohl sie nicht wusste, ob sie ihr Wort halten würde, fügte sie hinzu: „So despektierlich werde ich mich nie wieder benehmen, das verspreche ich.“

Einige Sekunden lang starrte er sie an, ohne zu lächeln. „Sind Sie sicher?“

Olivias angeborene Ehrlichkeit kämpfte mit ihrer Entschlossenheit. „Zumindest will ich mich bemühen.“

Nun glaubte sie, den Anflug eines Lächelns zu erkennen. „Wie ich gehört habe, waren Sie heute Vormittag so dreist, freimütig und ungebührlich, meinem Oberstallknecht Befehle zu erteilen. Sie trugen ihm auf, den Wagen vor dem Haus abzustellen, weil Sie mit den Mädchen nach Bristol fahren würden.“

Olivia schluckte. „Ja, Sir. Weil – Mrs. Wallace sich weigert, die notwendigen Sachen für die Kinder zu beschaffen, fuhr ich mit ihnen in die Stadt und kaufte alles. Das Wetter war schön, und ich dachte, wenn sie ihre neue Heimat lieb gewinnen sollen, müssten sie mal was anderes sehen als eine regennasse Wiese durchs Kinderzimmerfenster. Und Sie hatten uns nicht verboten, Somers Abbey zu verlassen, Sir.“

„Nicht ausdrücklich, Miss Overton. Aber es missfällt mir, wenn meine Mündel ohne mein Wissen das Haus verlassen. Außerdem haben Sie keinen Reitknecht mitgenommen – für den Fall, dass auf der Straße etwas passiert wäre.“

„Da Sie nur wenige Dienstboten beschäftigen, wollte ich niemanden von seinen Pflichten abhalten, Colonel. Ich kann sehr gut einen Wagen lenken. Und auf der Straße herrscht dichter Verkehr. Was sollte uns am helllichten Tag zustoßen?“

„Also haben Sie auf eigene Faust diese Ausfahrt mit den Kindern beschlossen?“

Olivias Wangen erhitzten sich. Zu ihrem Besten, wollte sie entgegnen. Aber statt zu protestieren, senkte sie den Blick und schlug einen möglichst sanften Ton an. „Ja, Sir. Tut mir leid.“

„Versprechen Sir mir, in Zukunft auf solche Aktivtäten zu verzichten?“

Eine kleinlaute, zurückhaltende Gouvernante zu sein, fiel ihr viel schwerer, als sie es erwartet hatte. „Auch darum werde ich mich bemühen, Sir.“

Als sie ihn leise lachen hörte, hob sie erstaunt den Kopf. Sie war nicht sicher, was sie am meisten verwirrte – seine plötzliche Heiterkeit oder die Veränderung, die das Gelächter bewirkte, das Funkeln in den blauen Augen des Colonels, die Verwandlung der strengen Miene in ein strahlendes, höchst attraktives Gesicht.

Noch bevor sie sich von ihrer Verblüffung erholte, überraschte er sie erneut. „Nun habe ich Sie lange genug auf die Folter gespannt, Miss Overton. Zweifellos ist es Ihnen sehr schwergefallen, sich zu entschuldigen – insbesondere, weil Sie recht hatten.“

„Ich – ich hatte recht?“, stammelte Olivia fassungslos.

„O ja. Ich bat Sie hierher, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Normalerweise benehme ich mich nicht so flegelhaft. Aber Sie stellten mich in einem ungünstigen Moment zur Rede. Denn ich litt an höllischen Kopfschmerzen – nachdem ich tatsächlich zu viel getrunken hatte. Vermutlich wollten Sie kündigen, weil ich so unhöflich war. Und dann besannen Sie sich und beschlossen, mich mit gemimter Reue milde zu stimmen.

Natürlich bringen Sie’s nicht übers Herz, die Mädchen ihrem bösartigen, achtlosen Vormund auszuliefern.“

„Nicht bösartig – aber achtlos.“

Ein Schatten verdunkelte seine Augen, nur für einen kurzen Moment, sodass sie glaubte, sie hätte sich das eingebildet.

„Selbstverständlich werde ich mich bessern. Nach unserer Konfrontation beruhigte ich mich – mit der Hilfe starken Kaffees und eines nahrhaften Beefsteaks. Als ich mich wieder wie ein Mensch fühlte, ging ich nach oben, inspizierte das Kinderzimmer und fand Ihre Informationen bestätigt, Miss Overton. Was auf den Betten lag, während mein Bruder und ich diesen Raum bewohnt hatten, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls würden diese fadenscheinigen Baumwollfetzen nicht einmal Flöhe wärmen. Die Finanzen von Somers Abbey sind immer noch beklagenswert. Trotzdem können wir uns Wolldecken und neue Kleidung für die Mädchen leisten. Das habe ich Mrs. Wallace bereits mitgeteilt.“

Unwillkürlich musste sie eine Grimasse geschnitten haben, denn er nickte.

„Ja, gewiss, eine schreckliche Person. Ich möchte möglichst wenig mit ihr zu tun haben, und deshalb gehe ich ihr aus dem Weg.“

„Könnte ich das doch auch …“, murmelte Olivia.

Der Colonel runzelte die Stirn. „Fürchten Sie Vergeltungsmaßnahmen, weil Sie sich bei mir beschwerten, nachdem Mrs. Wallace Ihre Wünsche nicht erfüllt hat?“

Da er jetzt auf ihrer Seite stand, fühlte sie sich besser denn je gewappnet, um der barschen Haushälterin gegenüberzutreten. „Sicher werde ich mit ihr fertig.“

Nun deutete er wieder ein Lächeln an, und seine starke maskuline Anziehungskraft wurde ihr erneut bewusst. O Gott, er sollte viel öfter lächeln …

„Daran zweifle ich nicht. Sollte sie Ihnen Schwierigkeiten machen, wenden Sie sich bitte an mich. Ebenso, falls sie sich gegen weitere Anschaffungen für die Mädchen sträubt.“

„Wenn Mrs. Wallace so unausstehlich ist – warum kündigen Sie ihr nicht?“ Zu spät erinnerte sie sich, dass eine solche Frage einer Angestellten nicht zustand.

Aber statt sie zurechtzuweisen, seufzte er. „Da ich möglichst wenige Dienstboten beschäftige und tagsüber meistens unterwegs bin, brauche ich jemanden, der daheim die Aufsicht führt. Keine Ahnung, warum mein Bruder die Frau eingestellt hat … Ihr Lohn ist relativ bescheiden. Sobald sich meine finanzielle Situation bessert, werde ich sie entlassen und durch eine geeignete Person ersetzen.“

„Geben Sie ihr eine fabelhafte Referenz, um das Ärgernis einem anderen Haushalt aufzubürden?“

Vorwurfsvoll starrte er sie an. „Merken Sie eigentlich, wie impertinent Sie sind?“

„Auch ich habe einen Haushalt geleitet. Vielleicht wird Mrs. Wallace sich wohler fühlen, wenn sie in einem großen Haus etwas mehr Dienstboten befehligt.“

„Weil sie dann ihre Position herauskehren könnte.“

„Genau.“

Zu Olivias Verwunderung lachte der Colonel wieder. „So gern wäre ich eine Fliege an der Stallwand gewesen, als Sie den Ponywagen beanspruchten. Was genau haben Sie denn zu meinem Kutscher gesagt?“

Leicht verlegen gestand sie: „Ganz einfach – ich befahl John mit der Stimme einer Hausherrin, den Wagen für die Fahrt nach Bristol anzuspannen.“

„A ja, natürlich! Wenn man Autorität ausstrahlt, erreicht man, was man will. Egal, ob man tatsächlich Autorität besitzt oder auch nicht.“

„Um ehrlich zu sein – anfangs hat John gezögert. Aber als Gouvernante Ihrer Mündel habe ich nun mal eine gewisse Autorität. Und als ich davonfuhr und mein Geschick darin demonstrierte, das Gespann zu lenken, schaute er dem Wagen beruhigt nach.“ Olivia lächelte. „Wahrscheinlich dachte er, falls was Unangenehmes passieren sollte, würde man’s mir anlasten, nicht ihm. Denn Sie hatten ihm nicht verboten, mich abzuweisen.“

„Das dachte er vermutlich.“ Der Colonel schüttelte den Kopf. „Also wirklich, Miss Overton, Sie sind die aufsässigste Angestellte, der ich jemals begegnet bin.“

„Nun, Sir, Sie mögen ein Colonel sein. Aber hier kommandieren Sie kein Regiment, und ich bin nicht Ihr Corporal.“

„Und was sind Sie?“

Forschend sah er sie an, und in diesem Moment knisterte irgendetwas zwischen ihnen – ein Erkennen zweier verwandter Seelen, vereint mit einer starken körperlichen Anziehungskraft, die Olivia warme Wellen durch die Adern sandte. Aufregend, betörend. Und gefährlich …

Autor

Julia Justiss
<p>Julia Justiss wuchs in der Nähe der in der Kolonialzeit gegründeten Stadt Annapolis im US-Bundesstaat Maryland auf. Das geschichtliche Flair und die Nähe des Meeres waren verantwortlich für zwei ihrer lebenslangen Leidenschaften: Seeleute und Geschichte! Bereits im Alter von zwölf Jahren zeigte sie interessierten Touristen das historische Annapolis, das für...
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Ann Lethbridge
Ann Lethbridge wuchs in England auf. Dort machte sie ihren Abschluss in Wirtschaft und Geschichte. Sie hatte schon immer einen Faible für die glamouröse Welt der Regency Ära, wie bei Georgette Heyer beschrieben. Es war diese Liebe, die sie zum Schreiben ihres ersten Regency Romans 2000 brachte. Sie empfand das...
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