Historical Saison Band 95

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WIEDERSEHEN UNTER DEM MISTELZWEIG von CHRISTINE MERRILL
Jack Gascoyne hat ihr einst das Herz gebrochen, als er in den Krieg zog. Jetzt ist er wieder da. Darf Lucy es riskieren, ihm zum Christfest eine zweite Chance zu geben?

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  • Erscheinungstag 20.12.2022
  • Bandnummer 95
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511445
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Merrill, Louise Allen, Laura Martin, Nicola Cornick, Sophia James

HISTORICAL SAISION BAND 95

1. Kapitel

Selbst nach sechs Monaten kam es ihm immer noch seltsam vor, wieder daheim zu sein.

Noch seltsamer war es, wieder einen Degen zu führen. Während einer besonders heftigen Schlacht hatte Jack Gascoyne sich eigentlich geschworen, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen, wenn Gott ihn nur bis zum Sonnenuntergang am Leben ließe.

War das bei Navarra gewesen? Oder bei Valencia? Die verschiedenen Schlachten verschwammen in seinem Kopf immer zu einem einzigen wirren, blutigen Strom, wenn er versuchte, sich an eine bestimmte zu erinnern. Aber das war ohnehin bedeutungslos. Er hatte das Versprechen prompt wieder gebrochen und in dem Gemetzel von Waterloo gekämpft.

Jetzt war der Krieg vorbei, und das Florett in seiner Hand wirkte im Vergleich zu seinem Kavalleriesäbel wie ein Spielzeug, leicht und kaum von Nutzen, hätte er damit tatsächlich sein Leben verteidigen müssen.

Doch an so etwas sollte er nicht denken. Er war in der Bond Street in Angelo’s Fechtschule. Und sein Gegner, Frederick Clifton, keine ernstzunehmende Bedrohung. Abgesehen davon, dass er gewachsen war, war Fred noch ebenso ungestählt wie vor fünfzehn Jahren, als sie noch Stöcke als Schwerter benutzt hatten. Hätte Jack sich entschlossen, sein ganzes Können auszuspielen, wäre selbst diese dünne Klinge durch Freds Körper geglitten wie durch Butter.

Es wäre ihm nur recht geschehen. Er hatte Jack eine weit schmerzvollere Wunde zugefügt, als ein Florett es je könnte, und der Stich, den er damals Jacks Herz zufügte, hatte sich in den vergangenen fünf Jahren nicht geschlossen. Die Zeit heilte, entgegen allen Versprechungen, eben nicht alle Wunden. Jene Verletzung war immer noch schmerzhaft frisch und hatte geblutet, hatte alle Liebe aus ihm herausgespült, bis seine Seele kalt und tot gewesen war.

Während Jacks Geist verkümmert war, war Fred noch immer glücklich und gesund und sich der Pein, die er seinem Freund zugefügt hatte, nicht im Geringsten bewusst. Er dachte, sie könnten ganz leicht wieder zurück in ihre Rollen aus Kindertagen schlüpfen und beste Freunde sein, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen, weder vor noch nach dem Krieg.

„Es ist schön, dich wieder hier zu haben“, sagte Fred warm und herzlich.

„Es ist schön, wieder hier zu sein“, erwiderte Jack wie von selbst. Das war es, was alle von ihm hören wollten, aber er fragte sich, ob es auch stimmte. Nach allem, was er erlebt hatte, kam ihm London zur Weihnachtszeit irgendwie unwirklich vor. Es war, als betrachtete er sein altes Leben durch eine dicke Eisschicht.

„Natürlich hatte ich gehofft, dich schon früher wiederzusehen.“ Im Tonfall seines Freundes klang ein leichter Vorwurf durch, eine Erinnerung an vergessene Verpflichtungen. Ehe er fortgegangen war, hatten die Cliftons ihn als Familienmitglied angesehen. Und als Familie sollte man in Kontakt bleiben.

Aber er hatte eine eigene Familie, mit der er sich herumschlagen durfte. „Ich muss mich entschuldigen. Es gab so viel zu tun. Der Besuch bei meinem Bruder …“

Fred nickte und machte einen Ausfallschritt, um die Balance seiner Waffe zu testen, ehe er sich Jack zuwandte, sich verneigte und dabei einen schwungvollen Salut mit seiner Klinge vollzog. „Und wie geht es Sir Robert?“

„Enttäuscht von mir, wie eh und je“, entgegnete Jack, den Salut erwidernd. Man mochte die Beziehung zwischen ihm und seinem älteren Bruder vielleicht nicht als Zerwürfnis bezeichnen, einfach jedoch war sie nie gewesen.

„Kein bisschen Stolz ob der Ehre, die du deiner Uniform gemacht hast? Keine Erleichterung über deine Unversehrtheit?“, fragte Fred überrascht, während sie die Degen zum Kampf hoben.

„Nichts dergleichen“, sagte Jack.

„Lass dich von ihm nicht ärgern. So war er schon immer. Und du hast doch Freunde, die dich innig lieben und dich nur zu gern ihren Lieben vorstellen würden.“

„Du sprichst von deiner Verlobten“, stellte Jack fest.

Fred begann die Runde mit einer direkten, aber leicht zu parierenden Attacke. „Ich teilte dir meine Verlobung brieflich mit. Aber ich erhielt keine Antwort.“ In seinem Ton schwang eine gewisse Gereiztheit mit, wie um Jack erneut an dessen Verpflichtungen zu erinnern.

„Ich wollte dir meine Glückwünsche persönlich überbringen.“ Parieren und kontern. Mit dem Florett war er stark und sicher. Die Konversation dagegen war ein schwacher Schlagabtausch, denn bisher hatte er weder angedeutet, etwas von Freds Heiratsplänen zu wissen, noch Interesse daran bekundet.

„Vielen Dank“, sagte Fred, offenbar abgelenkt, denn es gelang ihm nicht, Jacks Hieb zu parieren, sodass die Klinge seine Schulter streifte. „Miss Forsythe kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen, so oft habe ich von dir gesprochen.“

„Sie ist zweifellos ein ganz reizendes Mädchen.“ Jack biss die Zähne zusammen. Konnte Fred wahrhaftig nicht erkennen, welche Ironie darin lag, gute Wünsche von jenem Mann zu erwarten, dessen Hoffnungen er zunichtegemacht hatte? Er ließ der ersten Attacke eine zweite auf Freds Mitte gezielte folgen und stieß mit voller Wucht zu.

Fred trieb es die Luft aus den Lungen; er straffte die Schultern, um zu Atem zu kommen, ging dann erneut in Fechtstellung und griff an. „Und ich bin überrascht, dass du dich noch nicht nach Lucy erkundigt hast.“

Allein die Erwähnung ihres Namens brachte Jack so sehr aus dem Konzept, dass Fred einen Treffer landen konnte, genau mitten auf die Brust. Wäre ich in den vergangenen fünf Jahren auch nur einmal so unaufmerksam gewesen, hätte ich das nicht überlebt und brauchte mich nicht mehr durch Erinnerung an sie derart erschüttern zu lassen.

„Nun, wie geht es ihr?“, brachte er hervor, und es gelang ihm, dabei zu klingen, als kümmerte ihn die Antwort nicht.

„Im Grunde wie immer. Du wirst es sehen, wenn du Weihnachten mit mir nach Hause kommst.“

Die Eisschicht wurde jäh brüchig, und für einen Moment war alles unerträglich real. Jack bemühte sich um einen ruhigen Tonfall und eine ausdruckslose Miene. „Deine Schwester ist noch bei dir?“

Fred lachte. „Wo sollte sie sonst sein?“

„Ich dachte … vielleicht wäre sie inzwischen verheiratet.“ Er hatte sich sehr bemüht, genau das zu glauben. Etwas musste sie doch für ihn unerreichbar machen, damit er sie sich endgültig aus dem Kopf schlagen konnte. Doch daran, wie sein Blut in Wallung geriet, sobald er an sie dachte, erkannte er, dass weder Zeit noch Entfernung etwas an seinen Gefühlen für sie geändert hatte.

Ihr Bruder lachte erneut und landete einen weiteren Treffer gegen einen Gegner, der plötzlich ohne Abwehr dastand. „Derzeit jedenfalls ist sie noch ungebunden. Was nicht an meinen mangelnden Bemühungen liegt. Ich stellte ihr einige passende Männer vor, doch sie lehnte alle ab. Einer allerdings scheint gerade ihre Zuneigung zu gewinnen. Der örtliche Vikar ist seit einer Weile der Spitzenkandidat.“

„Der Vikar?“ Ein Mann Gottes war genau das, was Jack von Fred erwartet hatte, wenn es darum ging, einen Ehemann für seine Schwester zu suchen. Einen ruhigen, anständigen Mann, vollkommen ungeeignet für das Mädchen, wie Jack es in Erinnerung hatte.

„Sie vertröstet den Burschen schon so lange, dass ich schon fürchtete, sie würde endgültig als alte Jungfer enden. Aber jetzt geht es voran, und ich erwarte zum Dreikönigstag gute Neuigkeiten.“

„Gut zu wissen“, meinte Jack. „Sie war ein entzückendes Mädchen.“

„Das ist sie noch“, korrigierte Fred. „Mir gefällt der Gedanke an eine Doppelhochzeit, aber ich kann die Entscheidung nicht für sie treffen.“

„Nicht mehr“, sagte Jack, froh, dass seine Stimme nicht bitter klang. „Sie ist inzwischen mündig, nicht wahr?“

„Zweiundzwanzig“, entgegnete Fred. „Sie hätte längst einen eigenen Hausstand gründen sollen. Aber sie ist und bleibt das starrsinnigste Geschöpf, das man sich vorstellen kann, und lässt sich zu nichts drängen.“

Jack hatte sie ganz anders in Erinnerung. Sie war wie er selbst gewesen, begierig und ungestüm, und ebenso versessen wie er darauf, Erfahrungen zu machen, die sie nicht machen sollten. Um den Gedanken zu vertreiben, startete er eine neue Attacke, ächzend vor Anstrengung stieß er gewaltig zu, direkt auf den Unterleib, und hätte seinem Freund so gewiss den Garaus gemacht, wäre nicht der sichernde Knopf am Ende der Klinge gewesen.

Fred keuchte seinerseits und ließ kapitulierend das Florett sinken. „Gut gemacht. Hast du das in Portugal gelernt?“

„Spanien“, berichtigte Jack.

„Das musst du mir beibringen. Im Gegenzug biete ich dir das erlesenste Weihnachtsdinner, das im Norden zu finden ist, und dazu einen gut gefüllten Weinkeller. Gutes Essen und gute Gesellschaft. Es soll sein wie zu unserer Jugendzeit.“

„Das klingt hervorragend“, sagte Jack, wunderte sich über den Klang seiner eigenen Stimme. Eigentlich hatte er Fred zum Teufel schicken wollen, falls er einen solchen Vorschlag äußerte. Seine Pläne für den Weihnachtsabend waren weitaus düsterer und einsamer, als Fred sich ausmalen konnte. Aber wenn es noch Hoffnung gab …

Die gibt es nicht, ermahnte er sich. Lucy hatte jemanden gefunden, der sie womöglich glücklich machen würde, und wenn sie auch jetzt noch nicht verheiratet war, würde sie es schon bald sein. Er hatte in den vergangenen fünf Jahren nicht ein Wort von ihr gehört, keine Andeutung, dass sie aufleben lassen wollte, was sie einst miteinander geteilt hatten, oder dass sie wünschte, ihn wiederzusehen, nicht einmal als Besucher zu einem Weihnachtsdinner. Aber wie es schien, war er noch derselbe Narr, der er immer gewesen war, und würde der Versuchung nicht widerstehen können, einen letzten Blick auf die einzige Frau zu werfen, die er jemals lieben würde.

2. Kapitel

Jack Gascoyne ist heimgekehrt.“

Lucy Cliftons Herz hämmerte laut in ihrer Brust, als sie den Namen hörte, der in diesem Haus seit beinahe fünf Jahren nicht mehr ausgesprochen worden war. Sie brachte es, so wie jeden anderen Aspekt ihres Lebens, schnell wieder unter Kontrolle. Ohne ihren Bruder Frederick anzublicken, antwortete sie: „Er blieb nach dem Krieg so lange in Belgien, dass ich mich schon gefragt habe, ob er überhaupt je wiederzukommen gedachte. Geht es ihm gut?“

„Nein“, erwiderte ihr Bruder in einem so düsteren Ton, dass es ihr unmöglich war, weiterhin Desinteresse vorzutäuschen.

Freds knapp Antwort trug nicht dazu bei, ihre Ängste zu lindern. War er noch heil und gesund? War er noch ebenso ansehnlich, wie sie ihn vor Augen hatte, oder würde es leichter sein, ihm zu widerstehen, falls sie ihn wiedersah? Würde er kränkeln, oder würde ihm ein Körperglied fehlen, hätte ihr Bruder dies doch hoffentlich von sich aus erwähnt. Stattdessen lag in seinem Schweigen etwas, das andeutete, als wäre, was immer ihm auch fehlte, weit schlimmer als eine sein Leben beeinträchtigende Verletzung. „Was ist geschehen? Wurde er im Kampf verwundet?“

Fred schüttelte den Kopf. „Soweit ich das beurteilen kann, ist er unversehrt.“ Dann fügte er vorsichtig hinzu: „Aber irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Als ich ihn sah, kam es mir vor, als spräche ich mit einem Fremden.“

„Die Zeit verändert die Menschen“, erinnerte sie ihn und wünschte, sie hätte auch ihre Gefühle verändert.

„Wie auch der Krieg“, fügte ihr Bruder freudlos hinzu.

Was genau ihn dazu gebracht hatte, sie zu vergessen, war kaum von Bedeutung. Er mochte aus etlichen Gründen nicht heimgekehrt sein, hauptsächlich aber wohl, weil er nicht gewollt hatte. Wie schon früher, als sie noch jünger gewesen waren, kehrte er den Problemen, die er verursachte, den Rücken und überließ es anderen, mit dem daraus entstandenen Chaos fertigzuwerden. Einen Moment lang überschattete Wut ihr Mitgefühl, doch die unterdrückte sie rasch wieder.

„Wenn er sich so verändert hat, haben wir ihn vermutlich deshalb so lange nicht gesehen“, meinte sie und fragte sich, ob ihr Bruder den wahren Grund hinter seinem Fortbleiben ahnte. „Er wird andere, neue Freunde gefunden haben, die ihn besser verstehen.“

„Das mag sein. Aber dann vernachlässigen sie ihn oder er sie, denn er ist in einem bedauernswerten Zustand. Aber ich bin sicher, ein Besuch bei uns würde ihn wieder aufmuntern“, erklärte ihr Bruder, als könnte man einen Charakter umkehren, wie man ein Rad drehte.

„Wenn er zufrieden ist, ist es nicht unsere Angelegenheit, den Mann zu wandeln“, sagte sie und spürte den ersten Anflug von Panik bei diesem Gedanken. „Womöglich ist er ganz glücklich so, wie es ist.“ Wie auch sie es war. Es hatte sie viel Mühe gekostet, ihre Seelenruhe wiederzuerlangen, und sie würde sich nicht erneut durch das, was ihr Bruder bestimmt gerade vorschlagen wollte, aus dem Gleichgewicht bringen lassen.

„Glücklich?“ Fred lachte bitter. „Davon ist er weit entfernt. Wenn du ihn gesehen hättest, würdest du ihn nicht so bereitwillig seinem Leid überlassen.“

„Möglicherweise“, meinte sie schulterzuckend. Es war ja nicht so, dass Jack irgendwelche Anstrengungen unternommen hätte zurückzukehren, um ihren Schmerz zu lindern – trotz der Versprechen, die er ihr im Mondlicht gegeben hatte. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr einen Brief dazulassen, um diesen Schlag abzumildern. An dem einen Tag war er noch da gewesen. Am nächsten einfach fort. Und hatte sie einsam und verängstigt zurückgelassen. Wenn das Schicksal ihn für diese Treulosigkeit bestrafte, konnte man es fast Gerechtigkeit nennen.

„Da seine Familie dahingehend nichts unternehmen wird, liegt es bei uns, dass er wieder zu sich findet“, sagte er mit demselben Nachdruck, mit dem er sie damals vor Jack gewarnt hatte, als er bemerkte, dass sie für seinen Freund eine Backfischschwärmerei entwickelt hatte.

„Major Gascoyne ist alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ Für sie selbst galt das seltsamerweise nicht. Obwohl sie längst über zweiundzwanzig war, traf all die wichtigen Entscheidungen in ihrem Leben immer noch ihr Bruder. Meistens folgte sie seinen Ratschlägen. Aber nun wollte er sie in etwas einbeziehen, an dem sie nicht teilhaben wollte.

Er warf ihr einen bedauernden Blick zu. „Diese Hartherzigkeit überrascht mich. Es gab eine Zeit, da wärst du die Erste gewesen, ihn zu verteidigen.“

„Vielleicht habe ich mich ebenso verändert wie er“, erwiderte sie. Sie wollte, dass das stimmte, doch spürte sie, wie ihre Entschlossenheit zu bröckeln begann. Sie hegte Heiratspläne. Hatte Zukunftspläne. Aber mit jedem Wort ihres Bruders glitt ihr all das mehr und mehr durch die Finger.

„Nun, dann schlage ich vor, du veränderst dich noch einmal, zumindest für vierzehn Tage, denn ich habe ihn eingeladen, Weihnachten mit uns zu verbringen.“

Über lange Jahre hatte sie nichts mehr ersehnt als das. Aber nun, da es ihr endlich gelungen war, ihre Hoffnung aufzugeben und ihre kindischen Träume zu begraben, war es das Letzte, was sie wollte. Während der Weihnachtszeit war sie stets melancholisch, vermutlich, weil es die Zeit war, zu der er sie verlassen hatte. Selbst die fortwährenden Aufmerksamkeiten jenes Mannes, den sie zu heiraten gedachte, hatte ihre Stimmung nicht verbessert. Und es war unwahrscheinlich, dass Major Jack Gascoynes Rückkehr daran etwas ändern würde.

Fred ignorierte ihr Schweigen und fuhr fort: „Ich möchte ihm Millicent vorstellen. Und du sähest natürlich gern, dass er Mr.  Thoroughgood gutheißt, ehe ihr den Bund fürs Leben schließt.“

„Seine Meinung wäre die letzte, die ich bei der Auswahl eines Ehemannes erbitten würde“, sagte sie. „Er ist viel zu wild, als dass er in derartigen Angelegenheiten ein guter Ratgeber wäre.“

Fred warf ihr einen sonderbaren Blick zu. „Du hast dich wirklich verändert. Es gab Zeiten, in denen dachtest du, er könnte die Sterne vom Himmel holen.“

„Und dann wurde ich erwachsen“, sagte sie bestimmt und strich sich die Röcke glatt.

„Sei es, wie es mag, Jack gehört an Weihnachten hierher. Er hatte nie eine Familie außer uns, und er sollte die Feiertage nicht allein verbringen müssen.“

„Da hast du recht.“ Sie seufzte und wünschte doch, es wäre anders. Seine Eltern waren tot, und sein einziger Bruder hatte ständig nur an ihm herumgemäkelt. Wenn ihr Bruder recht hatte und es ihm schlecht ging, waren sie die Einzigen, die helfen konnten.

„Ich wusste, du würdest es verstehen.“ Fred stieß seinerseits einen langen, erleichterten Seufzer aus. „Ich schulde ihm dieses Weihnachtsdinner, wenn ich schon sonst nichts tun kann. Er ist mein ältester und bester Freund, aber wir sind nicht als solche auseinandergegangen. Ich habe das oft bereut.“

„Wie kam das denn?“, fragte sie überrascht. Er hatte nie zuvor eine Auseinandersetzung erwähnt. Er war lediglich aus London zurückgekehrt, um zu verkünden, dass Jack ein Offizierspatent erworben habe und auf dem Weg nach Portugal sei. Danach hatte er nie wieder von ihm gesprochen.

„Es war ein dummer Streit.“ Fred wich ihrem Blick aus. „Nichts, um das du dir Gedanken machen musst. Aber ich will nicht, dass er denkt, ich würde es ihm nach all der Zeit noch nachtragen.“

„Wie nobel von dir“, meinte sie kühl. Sie und Jack waren im allerbesten Einvernehmen auseinandergegangen – so hatte sie zumindest gedacht. Bei ihrer letzten Zusammenkunft hielt er sie in seinen Armen und versprach ihr eine rosige Zukunft. Dann war er verschwunden. Sollte es ihm nun schlecht gehen, so bereitete es ihr eine gewisse Genugtuung zu wissen, dass sie nicht als Einzige während der Weihnachtstage litt. Dieses Jahr würde ihnen beiden erbärmlich zumute sein.

Ihr Bruder sah sie missbilligend an. „Sei nicht kindisch, Lucy. Was immer er getan hat, um dich so aufzubringen, du hattest genügend Zeit, darüber hinwegzukommen. Du bist jetzt eine erwachsene Frau und solltest vernünftig genug sein, einen alten Groll nicht zwischen euch stehen zu lassen. Er braucht unsere Hilfe, und wir werden sie ihm zukommen lassen.“

„Natürlich“, entgegnete sie trocken und fragte sich, was genau Fred von dem wusste, was geschehen, ehe Jack in den Krieg zog. Viel konnte es nicht sein, sonst wäre er nicht so grausam gewesen, sie während ihrer letzten Tage als ledige Frau mit dem einzigen Mann zuammenzubringen, den sie jemals lieben würde, dem Mann, der sie verführt hatte und dann geflohen war.

3. Kapitel

Er ist da!“

Als er die Auffahrt von Clifton Manor entlangritt, hörte er bereits, wie Frederick Clifton ihn im Haus ankündigte, noch ehe die Dienstboten das Portal ganz geöffnet hatten. Dann erschien sein Gastgeber in der Tür, als wäre es der Prinzregent höchstpersönlich, der ihn mit einem Besuch beehrte.

Jack hatte beschlossen, auf seine Kutsche zu verzichten und allein nach Clifton Manor zu reiten. Seinem Diener gegenüber hatte er eine Migräne vorgeschoben und behauptet, nach den stickigen Dünsten Londons frische Luft zu benötigen. In Wahrheit hatten die Kopfschmerzen schon eingesetzt, nachdem er mit Fred gesprochen hatte, und waren schlimmer geworden, je näher die Feiertage rückten. Zu reiten erforderte außerdem regelmäßige Pausen, um seinen Wallach zu schonen, was ihm gerade recht war, denn so zögerte er seine unausweichliche Ankunft auf der Party hinaus, an der teilzunehmen er dumm genug war. Meile für Meile betete er, es möge etwas geschehen, das die Zukunft, vor der er sich fürchtete, doch noch von ihm abwendete. Selbst da er nun eingetroffen war, versuchte er, das Unumgängliche weiter aufzuschieben und hielt die Zügel seines Tieres fest, statt sie dem Groom zu reichen, damit er es in den Stall führte.

Vielleicht erschien sie ihm gar nicht mehr so hinreißend, wie er sie in Erinnerung hatte. Oder er fand heraus, dass seine Gefühle für sie nichts weiter waren, als die Erinnerung an das, was hätte sein können. Ein letzter Blick auf sie mochte vielleicht genügen, ihn von der Vergangenheit zu lösen.

Da sie sich in all der Zeit nie darum bemüht hatte, mit ihm in Verbindung zu treten, hatte sie ihn offensichtlich längst vergessen. Oder sie hasste ihn gar wegen der Freiheiten, die er sich in ihrer letzten gemeinsamen Nacht herausgenommen hatte. Wenn sie kurz davor war zu heiraten, hatte sie nicht im Gestern verharrt, genau wie er es vermutet hatte. Doch offenbar musste er die Wahrheit erst sehen, ehe er sie glaubte.

„Trödle nicht länger mit dem Pferd herum, Gascoyne, und komm herein!“ Fred stand immer noch in der offenen Tür und strahlte, als wäre heute schon Weihnachten. Also tat Jack, was von ihm verlangt wurde, und kam ins Haus.

Im ersten Moment war es, wie er es von Dutzenden Weihnachtsfesten aus seiner Jugend kannte. Kaum hatte er die Türschwelle überschritten, erwarteten ihn dort heißes, gewürztes Ale und ein herzlicher Klaps auf den Rücken, willkommen heißende Rufe von Fred und freundliche Nachfragen bezüglich eventueller Reiseprobleme und des Wetters.

Alles war wie immer, nur Jack selbst nicht. Er gehörte nicht mehr hierher. Seine Anwesenheit würde wie ein Pesthauch auf den Festtagen liegen.

Dann hörte er sie.

„Jack.“ Sein Name schlüpfte ihr in atemloser Freude und Erleichterung über die Lippen und klang dabei viel zu sehr wie einst in jener letzten gemeinsamen Nacht. Er wandte sich von ihrem Bruder ab, ließ auf der Suche nach der Quelle dieses Wortes den Blick durch den Raum schweifen und bemühte sich um ein gesellschaftlich akzeptables Maß an Warmherzigkeit. Seine Haltung verriet nichts von der Not, die er wirklich verspürte.

„Lucy?“ Sie stand im Durchgang zum Speisesalon. Durch die hohen Fenster fiel das Tageslicht auf sie und legte einen strahlenden Kranz um ihr goldenes Haar. Einen Augenblick war er wie geblendet. Vielleicht war es auch ihr Lächeln, das ihm den Atem raubte wie damals, als er noch ein Schuljunge gewesen war. Ihr Gesicht war perfekt, war es immer gewesen, mit dem schiefen Lächeln, das wie ein Ausgleich für die ein wenig zu dunklen Schatten unter ihren leuchtend blauen Augen war. Noch immer tummelte sich ein ganzer Schwarm mädchenhafter Sommersprossen auf ihrer Nase mit der leicht himmelwärts gerichteten Spitze. Als Kind hatte ihr das einen schalkhaften Ausdruck verliehen. Jetzt, als Frau, lenkte es die Aufmerksamkeit auf ihre zum Küssen einladenden rosigen Lippen. Aber einzig seiner eigenen Vorstellungskraft schuldete er es, dass er sich fragte, was sich unter ihrem eher schlichten, zweckdienlichen Tageskleid verbarg. Trotz des züchtigen Ausschnitts konnte er sehen, dass aus ihren einst knabenhaften Formen sanfte, reizvolle Rundungen geworden waren.

In zwei großen Schritten hatte er den Raum schon durchquert, ehe er sich entsann, dass sie für ihn niemals mehr sein konnte als der schönste Abschnitt seiner Jugendzeit. Der Mann, der ihrer Hand wert gewesen wäre, war irgendwo auf dem Weg nach Waterloo verschwunden. Noch ehe er sich zurückhalten konnte, hatte er ihr die Hände um die Taille gelegt, sie hochgehoben und erneut und viel liebevoller: „Lucy“, gesagt. Er wirbelte sie herum, sodass sie laut auflachte.

Ganz kurz malte er sich aus, sie an seinen Körper zu pressen und langsam hinabgleiten zu lassen, bis ihrer beider Lippen auf einer Höhe waren und er ihr vielleicht einen Kuss stehlen konnte. Dann gewann seine Vernunft wieder die Oberhand, und er stellte Lucy auf die Füße, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ergriff ihre Hände. „Du bist entzückend wie immer.“

Lachend sank sie in einen Knicks. „Und Sie, Major Gascoyne, sind stattlich wie immer.“ Genau so hatte er sich ihre Begrüßung vorgestellt, und dann doch wieder anders. Er sah keine Anzeichen dafür, dass es ihr hier ernster war als es bei einem anderen alten Freund. Noch ließ es den Gedanken aufkommen, dass sie seinen Verlust ebenso stark empfunden hätte wie er den ihren.

„Sei nicht so förmlich“, murmelte er und fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. „Nenne mich Jack, wie du es immer tatest.“ Er zwang sich zu einem Grinsen, um den Anflug von Verzweiflung, der hinter dieser Bitte steckte, zu überdecken, und fügte hinzu: „Und ich denke, das Wort, dass du gesucht hast, um mich zu beschreiben, lautet schneidig.“

„Unverbesserlich würde es noch eher treffen“, meinte sie lachend und entzog ihm eine Hand, um ihm einen scherzhaften Klaps auf den Arm zu geben. „Frauen sind doch angeblich die Eitlen, nicht ihr Männer.“

Nach ihrer zwanglosen Begrüßung folgte ein Moment der Stille. Vielleicht war ihr lässiges Gebaren echt. Aber wenn er nicht aufpasste, würde er sie einfach bei der Hand nehmen und irgendwohin bringen, wo er ihr sein Herz ausschütten und all die Dinge sagen konnte, die er in Gegenwart ihres übertrieben fürsorglichen Bruders nicht äußern durfte.

Als hätte Fred seine Befangenheit bemerkt, unterbrach er ihn. „Da wir gerade von Frauen reden – hier ist eine, mit der du noch nicht bekannt gemacht wurdest.“

„Deine Verlobte“, ergänzte Jack und wandte sich der Dame zu. Sie hatte die ganze Zeit dort neben Fred gestanden, und er war an ihr vorbeigerauscht, als existierte sie gar nicht.

„Major Gascoyne, darf ich Ihnen Miss Millicent Forsythe vorstellen?“, sagte Fred und schob sie sanft vorwärts, damit sie ihn begrüße.

Jack trat ebenfalls vor, ergriff ihre Hand und neigte sich darüber. Sie war recht hübsch, mit üppigen Rundungen, dunklen Augen und glänzendem braunen Haar. „Miss Forsythe“, sagte er und küsste ihre Hand. „Mit welch wundervollem Weihnachtsgeschenk mich Fred doch beglückt.“ Er wappnete sich innerlich, ehe er einen Blick zurück zu Lucy warf; seine Miene gab nichts von seinen wahren Gefühlen preis. „Lucy und ich spielten als Kinder zusammen. Sie ist wie eine Schwester für mich.“ Abermals schaute er Freds Verlobte an. „Ich hoffe, mit der Zeit werden auch Sie mich wie einen Bruder betrachten.“

Endlich spürte er einen Hauch der Vergangenheit zwischen ihnen, denn er vernahm ein leises Zischen hinter sich – Lucy hatte scharf eingeatmet. Doch als er sich zu ihr umsah, lächelte sie wie zuvor.

„Aber sicher muss dieses Bekanntwerden nicht in einer zugigen Eingangshalle stattfinden“, sagte Fred. „Komm erst einmal richtig herein, Jack. Da draußen braut sich ein Unwetter zusammen, und ich will nicht, dass du dir auf unserer Türschwelle den Tod holst.“

Jack warf einen Blick durchs Portal und hinauf zu dem schiefergrauen Himmel, aus dem die ersten Schneeflocken fielen. „Du hast wahrscheinlich recht. Außerdem nehme ich an, du erwartest noch weitere Gäste.“

„Du bist der erste von vielen“, verkündete Fred. „Das Haus wird voll bis unters Dach sein, wenn erst alle eingetroffen sind. Deine Heimkehr wird angemessen gefeiert werden.“

Jack hatte kein Verlangen danach, der Ehrengast zu sein. Doch es war vermutlich zu seinem Besten, wenn das Haus voller Menschen war. Er und Lucy hatten gerade erst wenige Minuten zusammen verbracht, und schon spürten sie beide die Spannung, die dieses beständige Beisammensein mit sich brachte. Dann wurde Jack klar, dass der nächste Gast, der durch die Tür kam, der Vikar der hiesigen Kirche war.

Da er kein Recht darauf hatte, Lucy Avancen zu machen, konnte er Mr. Thoroughgood eigentlich nicht als Rivalen um ihre Gunst betrachten. Und dennoch begann Eifersucht in ihm zu glimmen, als er diesen blassen, gut aussehenden Mann mit den perfekten Manieren sah. Es hatte etwas Aufgeblasen-Wichtigtuerisches, wie er sogleich zu Lucy schritt, sich tief und respektvoll verneigte und sie nach ihrem Befinden fragte. Dann bot er ihr an, sie, wenn nötig, jederzeit bei der Betreuung der Gäste zu unterstützen, und erinnerte sie nachdrücklich, dass er ihr stets zu Diensten sei. Sein selbstsicheres Lächeln und die ruhige Art waren genau die Attribute, mit denen er die Zustimmung ihres Bruders erhalten würde, wenn es schließlich zum Antrag käme. Mr. Thoroughgood wäre der ideale Ehemann.

Zumindest für die meisten jungen Damen.

Jacks Magen verkrampfte sich. Er wünschte sich zurück aufs Schlachtfeld, wo er einen Gegner mit einem einzigen Schlag wegfegen könnte. Das war kein Gemahl für Lucy. Nicht für seine Lucy. Sie brauchte jemanden mit Elan, jemanden, der sie oft und laut zum Lachen brachte. Jemanden, der sie glücklich machte.

Der Vikar war kein solcher Mann. Ich bin das allerdings auch nicht. Jack war wohl der letzte Mann auf Erden, der einer Frau eine glückliche Zukunft bieten konnte. Also wandte er sich von ihr ab, wie er es schon einmal getan hatte, und begab sich auf die Suche nach seinem Zimmer.

4. Kapitel

Nachdem alle Gäste eingetroffen waren, wurde die Gesellschaft in den Salon verlegt, damit nach der Anreise jedermann entsprechende Erfrischungen zu sich nehmen konnte. Ein üppiges Büfett wartete dort schon. Lucy hatte eine gewaltige Silberschüssel, gefüllt mit Rumpunsch, bereitstellen lassen, daneben Tabletts mit Glühwein und Eierpunsch, jede Menge Fruchtpastetchen, dick geschnittene Kuchenstücke und genug Nüsse und Orangen, um auch das gierigste Kind zufriedenzustellen.

Lucy betrachtete die fröhlichen Menschen um sich herum mit einer dumpfen Befriedigung und wünschte, sie könnte es auch nur ansatzweise so sehr genießen wie all die anderen. Während sie tat, als hörte sie William Thoroughgoods Geplauder zu, hier und da lächelte und nickte, obwohl sie ihm kaum Beachtung schenkte, haftete ihr Blick unablässig an Jack. Sie hätte ihn ignorieren sollen, aber sie konnte nicht anders, als ihn zu beobachten, wie er im Raum umherging und sich höflich mit den anderen Gästen unterhielt.

Noch immer spürte sie die Zornesröte, die ihr bei Jacks Begrüßung ins Gesicht gestiegen war. William gegenüber hatte sie versichert, es läge an der Hitze des Kaminfeuers. Eine Schwester war sie nun also? Er hatte sich entschieden, die schönste Nacht ihres Lebens zu vergessen und so zu tun, als wären sie nur Freunde aus Kindertagen. Sie dagegen hatte jene Nacht in Herz und Sinn bewahrt wie einen kostbaren Diamanten in einer Schatztruhe. Es hatte ihr geholfen, die einsamen Jahre seiner Abwesenheit durchzustehen, und ihr die Hoffnung erhalten, er möge eines Tages zu ihr zurückkehren.

Doch ihm hatte es nichts bedeutet. Der Diamant war die ganze Zeit nur glitzerndes Glas gewesen.

Es wäre sinnlos gewesen, ihm das zu offenbaren oder ihm zu zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte. Auch sonst konnte sie sich niemandem mitteilen, da jene Torheit niemals hätte geschehen dürfen. Die Wahrheit würde ihr Ansehen ruinieren.

Also wartete sie. Gäste kamen und gingen, sie begrüßte sie, sorgte für deren Wohlbefinden und ließ sie von den Bediensteten zu ihrem Gemächern bringen.

Die Stunden vergingen, der Nachmittag verstrich, und der Salon war nahezu leer, abgesehen von Millicent Forsythe, die verloren in einer Ecke stand, nachdem auch die letzte Gruppe Freunde den Raum verlassen hatte, um sich für das Dinner zurechtzumachen.

Ehe Fred sie erneut für sich beanspruchen konnte, ging Lucy zu ihr und streckte ihr die Hände entgegen. „Sie müssen müde sein, Miss Forsythe. Bitte, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Was immer auch geschieht, Sie werden hier immer genauso willkommen sein wie Jack.“ Es hatten warmherzige Worte für ihre zukünftige Schwägerin sein sollen, doch im Grunde hatten sie düster geklungen, als erwartete sie irgendein Unglück.

Millicent starrte sie sichtlich verstört an und wirkte viel zu elend für jemanden, dessen Hochzeit in nur wenigen Wochen stattfand. „Es ist nichts passiert“, sagte sie nachdrücklich. „Rein gar nichts.“

„Natürlich nicht“, entgegnete Lucy. Sie fühlte sich wie eine Närrin, dass sie das Mädchen mit ihrer eigenen finsteren Laune ansteckte. „Ihr Zimmer ist am Ende des Flurs im ersten Stock. Mein Bruder ist in der Empfangshalle, er wird Ihnen gewiss helfen, falls Sie den Weg nicht finden.“

Millicent lächelte nervös. „Er sollte nicht einmal wissen, wo mein Zimmer liegt. Noch sind wir nicht verheiratet.“ Dann warf sie einen flüchtigen, besorgten Blick in Richtung ihres Verlobten.

Aus Erfahrung wusste Lucy, dass es, ohne überhaupt einen Fuß aus dem Erdgeschoss zu setzen, möglich war, in überraschend große Schwierigkeiten zu geraten. „Ich bin sicher, er kann es sich denken“, antwortete sie. „Er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Aber wenn er sich verirrt, kann er so lange an sämtliche Türen klopfen, bis er Ihre Zofe gefunden hat.“

„Aber wenn ich gehe, sind Sie allein mit Major Gascoyne“, meinte das Mädchen mit großen Augen. „Soll ich Ihnen eine Chaperone schicken?“

Lucy biss die Zähne zusammen und presste die Hände flach an den weichen Stoff ihres Rocks. „Das wird nicht nötig sein. Ich schmeichle mir nicht zu glauben, dass er in dieser Weise an mich denkt.“ Sie blickte zu Jack, der am anderen Ende des Raumes am Fenster stand und zusah, wie der Schnee gegen die Scheiben schlug. „Wie er vorhin bereits sagte, ist Major Gascoyne offenbar wie ein Bruder für mich.“ Ehe das Mädchen sie noch weiter ausfragen konnte, schob Lucy es sacht in Freds Richtung.

Als ihr Bruder seine Liebste sah, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, das heller strahlte als jeder Kronleuchter in einem Ballsaal. Dieser Anblick genügte Miss Forsythe, um hinzuschmelzen wie Raureif vor der Sonne und Lucy mit Jack allein zu lassen.

Als sie ihn anschaute, schienen die Jahre zu schwinden und wieder den Jungen zu zeigen, in den sie sich verliebt hatte. Vielleicht waren seine Schultern jetzt breiter, seine Beine muskulöser vom Reiten, und seine Züge hatten das Jungenhafte verloren. Abgesehen von einer dünnen Narbe am Kinn war er unversehrt aus dem Krieg gekommen. Seine Augen waren vom selben klaren Grau, nur ernster als früher, und sein haselnussbraunes Haar war kürzer und im Stil eines Mannes geschnitten, der keine Zeit hatte, sich um Nichtigkeiten wie Modestile zu kümmern.

„Wir sollten uns nichts vormachen“, sagte Jack und riss sie aus ihren Gedanken. „Miss Forsythe hatte recht, wir sollten nicht allein sein.“ Er hatte offenbar gelauscht.

„Ich wüsste nicht, weshalb“, antwortete sie. „Du hast seit dieser heuchlerischen Begrüßung bei deiner Ankunft nicht einmal Anstalten gemacht, mit mir zu sprechen.“

Er ging zur Tür und warf einen Blick in die Halle, um sich zu vergewissern, dass Fred und Millicent nach oben gegangen waren, ehe er sich, streng die Stirn runzelnd, ihr zuwandte. „Du weißt sehr genau, wie riskant das ist. Denk an deinen Ruf.“

„Vermutlich sollte ich selbst auf meine Ehre achten, da du dich darum nie geschert hast“, antwortete sie. Dann tat sie genau das Gegenteil, eilte an ihm vorbei zu den Salontüren und schloss sie, sodass sie beide allein im Raum waren. Wie bei ihrem letzten Zusammensein hier hing das zum Küssen verführende Grün vom Türbogen herab. In jenem Jahr war es ein Arrangement aus Efeu, Mistelzweigen, Äpfeln und bunten Bändern gewesen, das sie eigens mit der Absicht angefertigt hatte, Jack Gascoyne zu einem Kuss zu nötigen.

In jedem Jahr, das auf seine Abwesenheit folgte, hatte sie den Kranz weniger aufwendig gestaltet und es schließlich ganz gelassen, weil sie nicht einmal daran denken wollte, ihn oder sonst jemanden zu küssen. Dieses Jahr hing dort, obwohl das Haus voller Gäste war, bloß ein einsames rotes Band mit einem kleinen Mistelzweig, der gerade so viele Beeren trug, wie sie Finger an einer Hand hatte.

Jack drehte sich langsam zu ihr um, wartete, ob sie wohl wieder das Wort ergriff, und ließ nicht erkennen, ob er ihren Ärger bemerkt hatte. Schließlich sagte er, mehr zu sich selbst: „Ich hätte nicht herkommen sollen. Aber ich konnte die Einladung deines Bruders nicht grundlos ablehnen.“

„Grundlos?“ Sie widerstand der Versuchung, das Wort herauszukreischen, passend für die irre alte Jungfer, die sie, wie ihr Bruder fürchtete, inzwischen geworden war. „Was zwischen uns geschah, ehe du fortgingst, wäre Grund genug, dieses Haus zu meiden.“

„Manch einer würde sagen, es wäre der Grund zurückzukehren.“

„Wärst du früher zurückgekehrt, könnte ich dir vielleicht glauben“, fauchte sie. „Aber herzukommen, nachdem du bereits sechs Monate in London warst, und mich dann Schwester zu nennen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Du hast dir während meiner ganzen Abwesenheit nicht die Mühe gemacht, mit mir in Verbindung zu treten.“

„Weil du mich entehrt hast“, erwiderte sie.

Er fuhr bei diesen Worten so heftig zusammen, dass sie fast glaubte, ihm wäre tatsächlich nicht bewusst, was er getan hatte. Dann gewann er die Fassung zurück. „Du schienst es damals durchaus zu genießen.“

„Weil du mich überlistet hast“, sagte sie errötend. „Alles, was ich von dir wollte, war ein Kuss.“

Und den hatte sie bekommen. Und danach? Es war falsch, ihm allein die Schuld daran zu geben, was sie gemeinsam getan hatten. Sie konnte sich nicht recht erinnern, wie das, was als unschuldiger Kuss unter dem Mistelzweig begonnen hatte, darin hatte enden können, dass er am Boden über ihr lag und sie sich an ihn klammerte und nach mehr verlangte. Er hatte geschworen, sie niemals zu verlassen, wenn sie ihm nur dieses eine kostbare Geschenk machte. Und sie hatte Ja gesagt, ohne einen Moment des Zögerns.

„Was zwischen uns geschah, geschah ohne Vorsatz, das versichere ich dir“, erklärte er mit einem raubtierhaften Grinsen. „Ich war von diesem Ende ebenso überrascht wie du.“

„Welches Ende meinst du?“, fragte sie und verzog verächtlich das Gesicht. „Als du mich verführtest? Oder als du mich verließest?“

Das hast du gedacht?“, fragte er, nun ernsthaft entsetzt über ihre Deutung der Geschehnisse.

„Du hast mir die Jungfräulichkeit genommen und mir versichert, mir würde nichts Schlimmes dadurch geschehen. Dann gingst du fort, und bis zum heutigen Abend hörte und sah ich nie wieder etwas von dir.“

Einen Augenblick war sein Gesichtsausdruck völlig leer. Dann zog er die Brauen in offenkundiger Verwirrung zusammen. „Dein Bruder hat es dir nicht erklärt?“

„Er sagte mir, dass du der Armee beigetreten bist“, entgegnete sie. Ihr brach die Stimme bei der Erinnerung daran. Sie hatte nicht glauben wollen, dass er so grausam sein und gehen würde, ohne sich auch nur von ihr zu verabschieden. Doch als die Zeit verstrich, ohne dass ein Wort von ihm kam, hatte sie dieser Wahrheit ins Auge sehen müssen. „Ich lebte drei Wochen in Angst und Schrecken, vielleicht ein Kind von einem Mann in mir zu tragen, der es nicht als seines anerkennen würde.“

Jetzt blickte er drein, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. Hatte er diesen möglichen Folgen denn keinen einzigen Gedanken gewidmet? Dann hob er eine Hand, als wollte er sie trösten, ließ sie jedoch sinken, als Lucy hastig auswich. „Du musst nicht betroffen sein, keine Sorge“, sagte sie, obwohl die Tatsache ihm inzwischen längst hätte klar sein sollen. „Du hast keine heimlichen Bastarde, wenigstens nicht hier in diesem Land.“ Dann fügte sie hinzu: „Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Natürlich weiß ich nicht, wie viele andere Mädchen du auf ähnlich Art zurückgelassen hast.“

„Ich wollte dich nicht verlassen“, sagte er. „Ich ging zu deinem Bruder, kaum, dass wir uns trennten. Nach dem, was wir getan hatten, dachte ich, eine schnelle Hochzeit wäre vonnöten.“

„Du sagtest ihm, was wir getan hatten?“, fragte sie entsetzt und gekränkt.

„Dann wäre ich nicht mehr am Leben. Er hätte mich nicht einmal gefordert! Er hätte mich erschossen, noch ehe ich meine Bitte um deine Hand vollständig vorgebracht hätte. Und ich hätte es gründlich verdient.“

„Du hast um mich angehalten?“ Jetzt war sie es, die schockiert war.

Er nickte. „Aber ich deutete nicht einmal an, was passiert war. Ich sagte ihm lediglich, dass ich dich liebte, seit wir Kinder waren, und bat um deine Hand.“

„Und er wies dich zurück“, meinte sie, und mit einem Mal wurde ihr alles klar. „Es ist schön, nach all dieser Zeit zu erfahren, dass du deine Pflicht tun wolltest.“

„Es war keine Pflicht“, widersprach er. „Es war …“ Er verstummte, als brächte er es nicht über sich, das Wort ‚Liebe‘ ein zweites Mal auszusprechen. Es war ja auch einerlei. Sie wussten beide, dass es zu spät für ein solches Eingeständnis war.

„Warum du den Antrag machtest, ist unwichtig“, sagte sie brüsk. „Fred hat bis heute nie von einem Treffen mit dir erzählt.“ Nun aber kannte sie wenigstens den Grund für den Streit, über den ihr Bruder neulich gesprochen hatte, und verstand seinen Wunsch, bei Jack etwas gutmachen zu wollen, falls der Krieg bei ihm einen seelischen Schaden zurückgelassen hatte.

„Er sagte, du seist zu jung und ich zu verantwortungslos, um für dich sorgen zu können“, antwortete Jack.

„Ich wäre mit dir weggelaufen, wenn du mich darum gebeten hättest“, erinnerte sie ihn. Aber duchzubrennen hätte ihren Bruder nur bestätigt. Mit der Zeit hatte sie begriffen, dass sie beide damals noch nicht reif genug für eine Ehe gewesen waren. Vermutlich war es nur zu ihrem Besten, dass er sie verlassen hatte. Aber das hatte nichts an ihren damaligen Gefühlen geändert.

„Fred erklärte, ich sei zu wild“, murrte er, wie der trotzige Junge, der er gewesen war. „Was dich betrifft, vertraute er mir einfach nicht.“

„Diese Erkenntnis kam ihm recht spät“, sagte sie auflachend. „Wir kannten uns unser ganzes Leben, und er hatte nie versucht, mich vor dir zu behüten. Ganz im Gegenteil sogar, er fand dein unverschämtes Betragen immer äußerst amüsant.“

„Nicht immer. Augenscheinlich sind solche Dinge, wenn sie den zukünftigen Schwager betreffen, bei Weitem nicht so amüsant wie bei einem Freund.“ Missmutig stieß er seine Stiefelspitze in den Teppichflor, und plötzlich sah sie diese andere Seite von ihm, den gut aussehenden, jungen Schelm, der ihr das Herz gestohlen hatte. Unwillkürlich streckte sie eine Hand nach seinem Ärmel aus, ließ aber auf halbem Wege davon ab, denn ihr fiel ein, wie riskant es war, ihm zu nahe zu kommen.

„Aber weshalb hast du mich ohne eine Erklärung verlassen?“, flüsterte sie.

„Wie, du wusstest gar nichts?“ Er sah sie scharf und verwundert an.

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich gab ihm einen Brief für dich. Als ich keine Antwort erhielt …“ Seine Stimme verlor sich, wie sie zuvor die Berührung unterbrochen hatte.

„Was hattest du geschrieben?“

„Dass ich mir, wenn wir nicht heirateten, in deiner Gegenwart nicht mehr trauen kann.“ Er dachte kurz nach. „Vermutlich nicht die beste Wortwahl in einem Schreiben, das er sicherlich las, kaum dass ich den Raum verlassen hatte. Aber ich erwähnte nicht, was zuvor zwischen uns geschehen war.“ Er räusperte sich. „Ich machte sehr deutlich, dass ich mir selbst, was dich betrifft, nicht trauen kann, sofern wir nicht verheiratet sind, und schrieb, ich gedächte zurückzukehren, wenn du älter wärest und ich mir ein Vermögen erworben hätte, oder zumindest Fred versichern könnte, dass ich erwachsen genug geworden wäre, um deiner wert zu sein.“

Sie hatte den Atem angehalten und entließ ihn jetzt mit einem langsamen Seufzer.

„Ich bat dich, mir zu schreiben, wenn du mich brauchtest“, fuhr er fort und hob bedeutungsvoll die Brauen. „Und selbst wenn nicht, flehte ich dich an, mir zu sagen, dass du auf mich warten würdest.“

„Ich war wütend, weil du ohne ein Wort gegangen warst“, sagte sie.

„Daher hast du mir natürlich nicht geschrieben.“ Er nickte verständnisvoll, doch ohne irgendein Gefühl zu zeigen.

„Aber ich habe gewartet“, erinnerte sie ihn.

„Und ich nicht“, sagte er schroff. „Ich gab die Hoffnung auf.“ Sein Blick sagte ihr, dass die Vergangenheit vergangen und alles zwischen ihnen vorbei war.

Aber das musste nicht sein. Wenn er sie noch wollte … Sie war frei, ebenso wie er. Seit einer Ewigkeit keimte zum ersten Mal Hoffnung in ihr auf, und sie stellte sich eine Zukunft vor, die ganz anders war als jene, die sie bei der planvollen Hochzeit und einem dienstbaren Leben als Frau eines Vikars erwartete.

Es mochte Mr. Thoroughgoods Stolz verletzten, wenn sie sich gegen ihn entschied, doch sein bisheriges Werben um sie schmeckte nach Zweckdienlichkeit, nicht nach Leidenschaft. Sein Herz bliebe gewiss unversehrt, wenn sie diesem Werben ein Ende machte. Und ihres würde vor Erleichterung aufatmen.

Der Mann, der vor ihr stand, schien zum Thema Liebe jedoch nichts weiter zu sagen zu haben. Offenbar musste sie ihm einen Schubs geben. „Diese Geschichten aus der Vergangenheit sind alle sehr erhellend“, sagte sie. „Doch es ist die Gegenwart, um die wir ringen müssen. Und die Zukunft“, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

„In der Tat“, meinte er. „Dein Bruder sagte, du wirst dich mit Mr. Thoroughgood verbinden.“

„So scheint es“, erwiderte sie.

„Ich sprach kurz mit ihm. Er ist ein äußerst ernsthafter und gelehrter Bursche …“

„Ich werde ihm deine Komplimente ausrichten“, sagte sie und betete, dass hinter seinen Worten mehr stecken möge.

„Aber ich glaube nicht, dass er der Richtige für dich ist.“

Das wusste sie selbst. Aber sie hatte so lange auf Jack gewartet, auf Liebe gehofft, bis sich ihre Möglichkeiten stark reduziert hatten. Als die Schlacht um Waterloo vorüber war und absolut nichts auf Jacks Heimkehr hinwies, hatte sie aufgegeben.

Doch nun war er zurück. Sie lächelte, als sie bemerkte, dass sie noch immer unter dem Mistelzweig standen. „Wüsstest du jemanden, der besser zu mir passt?“

Vielleicht war ihre Frage zu offensichtlich, aber sie wollte ein Zeichen von ihm, dass er gekommen war, um die Dinge zwischen ihnen in Ordnung zu bringen, nur benahm er sich viel zu zurückhaltend.

Die Antwort, die sie erhielt, war nicht die, mit der sie gerechnet hatte. „Ich wüsste niemanden, der dir gerecht würde. Doch ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du einen Mann mit Temperament und Sinn für Humor brauchst, jemanden, der diese Eigenschaften an dir zu schätzen weiß. Auf Thoroughgood trifft nichts davon zu.“

„Wie bitte?“ Mehr brachte sie nicht heraus, denn diese Antwort machte sie völlig ratlos.

Er lächelte entschieden und ein wenig verwirrt, als glaubte er, er hätte sich zuvor doch absolut klar ausgedrückt und müsste sich nicht wiederholen. „Ich würde dir meinen Rat nicht anbieten, wenn mir deine Wahl passender erschiene. Aber ich kenne dich schon so lange, dass ich nicht anders kann, als mich um dein zukünftiges Glück zu sorgen. Ich fürchte, als Frau eines Vikars wärst du einfach grässlich und würdest dich damit nur unglücklich machen.“

Verblüfft schüttelte sie den Kopf. „Du kommst nach all der Zeit her und hast nicht mehr zu sagen als das?“

„Wenn du mehr erwartet hast …“, er zog die Brauen zusammen, „… muss ich dich erinnern, dass fünf Jahre vergangen sind. Vieles hat sich verändert.“

„‚Lieb’ ist nicht Liebe, die nicht unwandelbar im Wandel bliebe.‘“ Verwundert legte sie sich eine Hand an die Wange. Unterschied sie sich wahrhaftig so sehr von dem Mädchen, dass er einst begehrt hatte? „Wenn du sie so leicht vergessen konntest, waren deine Gefühle für mich niemals so tief, wie du behauptet hast.“ Ihm damals erlegen zu sein fühlte sich nun noch törichter an.

„Es liegt nicht an dir“, beeilte er sich zu sagen. „Du bist noch ebenso wunderschön wie an jenem Tag, als ich dich verließ, und es ist noch ebenso schwer, dir zu widerstehen. Ich bin es, der sich verändert hat.“

„Das ist nur natürlich.“ Sie lachte. „Du bist jetzt ein Kriegsheld. Wenn ich dem glauben darf, was ich hörte, bist du vermögend und nicht länger von der Gnade deines Bruders abhängig, um deine Rechnungen zu begleichen.“

„Ich habe mich zum Schlechten verändert“, widersprach er. „Höre nicht auf den Unsinn, ich wäre ein Offizier und ein Gentleman. Man kann kein guter Soldat sein und von der Brutalität dieses Berufes unberührt bleiben.“ Er wandte sich ab und starrte ins Feuer, mit einer Hand umklammerte er den Kaminsims, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

„Aber das ist vorbei“, entgegnete sie liebevoll. „Du bist jetzt zu Hause.“

Er lächelte traurig. „Wenn nur ein Ortswechsel ausreichte, um wieder der Mann zu werden, der ich einst war!“

„Die Zeit wird helfen“, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Es wird nichts an dem ändern, was ich getan habe. Und ein Mann, der zu diesen Taten fähig war, ist deiner Zuneigung nicht wert. Wenn du mich nun entschuldigst, ich möchte mich für das Dinner frischmachen.“ Damit verließ er den Salon, schritt unter dem Mistelzweig hindurch, ohne auch nur aufzusehen.

5. Kapitel

Das Dinner bei den Cliftons war noch genau, wie er es aus seiner Kindheit kannte, als dieses Haus ihm als Zuflucht vor der von Launen bestimmten Zuwendung seiner eigenen Familie diente. Damals pflegte er die meisten Sommerferien und Weihnachtsfeste auf dem Nachbaranwesen zu verbringen, das seinem Großvater, Sir Henry Gascoyne, gehörte. Da die Familie sich allerdings nur selten zu einem Besuch bewogen fühlte, war der Aufenthalt dort für ihn eher ein Exil als eine Ferienzeit. Als dann die Cliftons den Nachbarjungen bemerkten, der größtenteils unbeaufsichtigt nebenan lebte, endete seine Einsamkeit. Er wurde quasi ein Ehrenmitglied ihrer Familie, Spielkamerad der Kinder und von deren Eltern wie Bediensteten gleichermaßen verhätschelt.

Heute hatte Fred den Koch offenbar davon in Kenntnis gesetzt, dass Master Gascoyne heimgekehrt war, denn an Jacks Ende der Tafel war ein Hühnerfrikassee mit Pilzen aufgetischt worden, und er nahm sich eine stattliche Portion davon. Das Gericht war viel zu schlicht für ein Weihnachtsmenü, aber seit er einmal erwähnt hatte, dass es seine Leibspeise sei, fand kein Clifton-Dinner ohne dieses Gericht statt.

Heute Abend erschien ihm diese Geste warmherzig, aber unverdient. Er war zu angespannt, um auch nur eine der anderen Köstlichkeiten richtig genießen zu können. Er hatte sein Versprechen Lucy gegenüber gebrochen, die in törichter Treue auf ihn gewartet hatte. Obwohl er geglaubt hatte, es könnte nichts Schlimmeres in seinem Leben geben als den Krieg, war ihm doch nie etwas schwerer gefallen, als an diesem Nachmittag seine Liebste zu begrüßen. Und nie war er grausamer gewesen.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie seit jenem Tag ihres Abschieds noch viel schöner geworden war. Es war so gut gewesen, so ganz natürlich, sie zu küssen, und noch viel besser, ihre Taille zu umfangen. Es war, als hätte er einen verlorenen Teil seiner Seele gefunden. Für einen Augenblick hatte er vergessen, dass er sich distanziert verhalten wollte. Er wollte, dass er der Letzte war, der sie küsste, wie er auch der Erste gewesen war.

Dann hatte er sich von ihr abgewandt, sie Schwester genannt und getan, als wäre es alles völlig unbedeutend. Sie war wütend gewesen, als sie ihn später damit konfrontierte, doch da war noch etwas anderes. Sie hatte einen Grund gesucht, ihm zu vergeben. Hatte sich verhalten, als müsste es doch ganz für ihn leicht sein, sich von seinen Sünden reinzuwaschen und zu ihr zurückzukehren, damit sie wieder das füreinander wären, was sie einmal gewesen waren.

Doch eine Rückkehr zu Lucy war unmöglich. Sie war zu rein, zu gut. Wenn sie erführe, was er im Namen von Land und König getan hatte, würde sie sich angewidert von ihm abwenden. Er würde das Andenken an die Vergangenheit nicht dadurch beschmutzen, dass er versuchte, etwas aufleben zu lassen, das niemals wieder so süß sein konnte wie in seiner Erinnerung.

Nach dem Dinner mischte er sich unter die anderen Gäste und fühlte sich wieder genauso fehl am Platz wie in den vergangenen Monaten in London. In einem Teil des Raumes wurden Scharaden gespielt, in einem anderen hatte sich eine Gruppe um das Pianoforte versammelt und sang fröhliche Weihnachtsweisen. Nichts davon interessierte ihn, auch nicht „Blinde Kuh“ oder „Heiß oder kalt?“ mit Miss Forsythe und den anderen jungen Ladys.

Alles schien entweder zu laut oder zu leise zu sein. Das Gelächter kam ihm gezwungen und unpassend vor. Er wollte sie alle anschreien, ihnen sagen, dass es keinen Grund gab zu feiern, wenn gute Männer gestorben waren, während sie in Sicherheit daheim gesessen hatten.

Aber Sterben und Tod waren das Los eines Soldaten. Das hatte er gewusst, als er in den Krieg zog. Und doch hatte er nicht ahnen können, wie falsch es sich anfühlte, überlebt zu haben. Wahrscheinlich würde er für den Rest seines Lebens durch Schatten und lauten Geräusche aufschrecken, würde mitten in der Nacht aufwachen und einfach nicht wieder einschlafen können, in der festen Überzeugung, am nächsten Morgen erwartete ihn eine Schlacht.

Um seine Nerven zu beruhigen, beschloss er, sich Freds spezieller Tätigkeit anzuschließen: der Ehrenwache an der Schüssel mit dem Punsch. Er stellte sich an die eine Seite des Tisches, während sein Freund die Schöpfkelle bediente und ihnen beiden regelmäßig und großzügig nachschenkte.

Bereits seit Waterloo trank er zu viel, versuchte so, seinen Geist zu betäuben und Frieden zu finden. Aber jemanden so tief ins Glas schauen zu sehen, der kurz davor war zu heiraten, verwunderte ihn, sodass er sich unweigerlich fragte, ob zwischen dem Paar alles in Ordnung war. Die Zeiten allerdings, in denen er Fred derart persönliche Fragen hätte stellen können, waren lange vorbei, also hielt er ihm nur sein leeres Glas hin und schwieg.

Ganz in der Nähe wechselte sich mehrere Kinder beim Snapdragon-Spiel ab, fischten Rosinen aus einer Schüssel mit brennendem Brandy und schrien jedes Mal, wenn sie sich die Finger verbrannten. Eines der jüngeren Mädchen beugte sich zu weit vor, sodass seine Locken über den Flammen baumelten. Jeden Moment konnte es zu einem Unglück kommen, durch das der ganze Abend verdorben sein würde.

Ungefragt lief Jack hinüber und zog das Kind aus dem Gefahrenbereich. Dann erklärte er ihm geduldig, in welche Gefahr es geschwebt hatte, und zeigte ihm, dass man, um bei dem Spiel Erfolg zu haben, gar nicht so nah an die Flammen herantreten musste, indem er sich einen Ärmel hochkrempelte und selbst eine Rosine aus der Schale angelte.

Dann kehrte er zu Fred zurück, der herzlich lächelte, während er sich ein weiteres Glas einschenkte. „Mein Freund, du hast dich wahrhaftig verändert. Erinnerst du dich noch an das Weihnachtsfest, an dem du dich selbst zu tief über die Schüssel gebeugt und dir dabei die Augenbrauen versengt hast?“

„Ja, und die Wange auch“, entgegnete er. „Da ist immer noch eine Stelle, von der mein Kammerdiener schwört, dass dort kein Bart wächst.“

Fred lachte herzhaft bei der Erinnerung, und Jack konnte es ihm nicht übel nehmen, denn als das damals passierte, war er viel zu betrunken gewesen, um den Schmerz überhaupt zu spüren, und hatte selbst gelacht.

„Wenn du nicht so ein verdammtes Glück gehabt hättest, wäre es viel schlimmer gekommen. Aber du hast immer Unfälle überstanden, die andere zum Krüppel gemacht hätten. Weißt du noch, wie du mein Karriol auf die Straße nach Basingstoke umgestürzt hast?“

„Da waren es die Pferde, die Glück hatten“, meinte Jack und verzog bei dem Gedanken das Gesicht. „Du drohtest mir Prügel an, wenn du sie verlieren würdest, aber sie kamen ohne auch nur einen Kratzer im Fell davon.“

„Ich hätte dich auch wegen des ruinierten Wagens verprügelt“, sagte Fred. „Nur hatte ich zu viel damit zu tun, deine Schulter wieder einzurenken.“

„Und dann habe ich mein Innerstes über deinen besten Fahrmantel verteilt“, sagte Jack, und seine Schuldgefühle wandelte sich zu Entsetzen, als er in der Rückschau erkannte, was für ein rücksichtsloser Geselle er zu jener Zeit gewesen war. Kein Wunder, dass Fred ihn nicht einmal anhören wollte, als er um Lucy anhielt. Und die eben erzählten Geschichten waren nicht einmal die schlimmsten.

Freds Miene verdüsterte sich. „Als du sagtest, du würdest dich ändern und ein Vermögen machen, hatte ich kaum Hoffnung, dich je wiederzusehen. Das Glück bleibt einem nicht ewig treu, und du hattest schon mehr Leben verbraucht als ein Dutzend Katzen.“

„Wie sich herausgestellt hat, besaß ich die Gabe, am Leben zu bleiben“, antwortete er.

„Und das Geld hast du nun bei deiner Rückkehr auch in der Tasche.“ Fred nickte anerkennend. „Die Ausbeute auf dem Schlachtfeld muss gut gewesen sein; wie ich hörte, hast du ein ansehnliches Haus am Grosvenor Square erworben.“

„Als ich fortging, hatte ich kaum genug Geld zum Überleben“, meinte Jack. Nachdem seine Eltern und Großeltern gestorben waren, hatte er seinen Bruder um das Geld für das Offizierspatent anbetteln müssen, konnte es ihm aber bereits nach einem Jahr in dreifacher Höhe zurückzahlen.

„Als ich von deiner Rückkehr erfuhr und davon, dass du noch unverheiratet warst …“ Fred machte eine lange Pause, als müsste er erst seine Gedanken sortieren. „Also, ich machte mir Sorgen, ob uns eine ähnliche Auseinandersetzung bevorstehen würde wie jene, von der ich fürchtete, sie hätte unsere Freundschaft beendet.“ Er legte Jack eine Hand auf die Schulter, wie zur Entschuldigung für Worte, die nicht einmal ausgesprochen worden waren. „Ich kann kaum ausdrücken, wie froh ich bin, dass ich mich geirrt haben. Seit du hier bist, sehe ich, wie sehr sich dein Charakter zum Besseren entwickelt hat. Um ehrlich zu sein bist du, im Vergleich zu dem Müßiggänger, der du einmal warst, nun fast zu ernst.“

Jack kippte den Inhalt seines Glases hinunter, als wollte er beweisen, dass ein paar seiner schlechten Angewohnheiten noch vorhanden waren. „Falls das ein Kompliment sein sollte, war es kein besonders nettes.“

Fred zuckte verlegen mit den Schultern. „Es ist nur, dass ich sowohl erfreut als auch besorgt bin. Wenn es etwas gibt, dass dir die Heimkehr erleichtert, musst du nur danach fragen.“

„Mir genügt diese Einladung“, antwortete Jack und wünschte, diese unangenehme Unterhaltung würde nun enden. Tatsächlich allerdings half ihm dieser Ort mit seinen alten Freunden, sich ein bisschen menschlicher zu fühlen.

„Und solltest du mich nach Lucys Zukunft fragen wollen“, fuhr Fred fort, wobei er die Reaktion des Freundes aufmerksam beobachtete, „sollst du wissen, dass meine Antwort heute eine andere wäre als damals.“

Jack sah Fred ausdruckslos an und schwieg.

„Du hattest sie seit jeher sehr gern“, fügte Fred hinzu und machte eine kleine Pause, in der Hoffnung auf eine Bemerkung Jacks. „Und sie ist, zumindest solange Thoroughgood nicht mit der Sprache herausrückt, immer noch frei.“

„Und alt genug, ihre Entscheidungen ohne deine Zustimmung zu treffen“, ergänzte Jack.

„Das ist wahr“, erwiderte Fred. „Aber das ändert nichts daran, dass ich mir Gedanken mache, was aus ihr werden wird.“

„Dann versuche nicht länger, sie statt zum Vikar in meine Richtung zu stoßen“, sagte Jack schroff.

„Ich dachte nicht, dass du sie ablehnen würdest“, entgegnete Fred ungehalten.

„Keineswegs!“, fauchte Jack. „Doch sie sollte nicht an einen Mann gebunden sein, dessen Plan es war, Weihnachten zu feiern, indem er sich eine Kugel in den Schädel jagt.“

„Das hättest du nicht …“, sagte Fred schockiert.

„Wäre ich mir selbst überlassen geblieben, wäre das eine denkbare Möglichkeit gewesen“, sagte Jack und seufzte. „Aus dem Grunde sehe ich mich nicht als geeigneten Ehemann für deine Schwester.“

Er stellte den Punschbecher zur Seite. Er hatte keinen Durst mehr. Als er aufsah, blickte er geradewegs in Lucy Cliftons Augen. Sie stand einige Schritte entfernt, zu weit weg, um etwas zu hören. Sie hätte rufen müssen, um den Lärm und das Lachen der anderen Gäste zu übertönen. Aber Worte waren zwischen ihnen niemals nötig gewesen. Das zumindest hatte auch der Lauf der Zeit nicht verändert.

Er sah sie an und zuckte mit den Schultern, sich noch immer nicht im Klaren darüber, wieso ihr Interesse an ihm noch lebte. Was sah sie in ihm, außer vielleicht den Geist seines alten Ichs?

Sein zweifelnder Blick ließ sie enttäuscht aufseufzen, dann begannen ihre blauen Augen zu funkeln und sie schaute zur Zimmerdecke über ihrem Kopf.

Mistelzweige.

Dieser Kranz war nicht so beeindruckend wie die, an die er von Clifton Hall gewohnt war, doch noch der winzigste Zweig würde dem Zweck dienen, wollte er es wagen, ihr einen Kuss zu stehlen. Lucy war willens, wartete, strahlte förmlich im Kerzenlicht, ihre Augen leuchteten einladend, ihre Wangen glühten, gerötet vom Punsch und dem Weihnachtssingen.

Und entgegen dem, was er eben noch ihrem Bruder gesagt hatte, geriet er in Versuchung. Es war nichts Verwerfliches an einem flüchtigen Küsschen unter alten Freunden. Es wäre der Gipfel der Torheit. Andererseits hatte sie immer das Verlangen in ihm geweckt, die Vorsicht in den Wind zu schlagen.

Aber das war früher gewesen. Er war hergekommen, um sich von ihr zu verabschieden und sich zu versichern, dass es ihr ohne ihn gut ging. Er war nicht hier, um eine Romanze wiederzubeleben, die es niemals hätte geben dürfen.

Er lehnte ihr Angebot mit einem kleinen, strikten Kopfschütteln ab.

Ihre Augen blitzten wieder, dieses Mal vor Ärger. Dann sah sie an ihm vorbei, um die Aufmerksamkeit jenes Mannes zu erregen, den sie zu ehelichen gedachte, und schenkte ihm den gleichen auffordernden Blick.

Mr. Thoroughgood ging zu ihr und nahm ihre Hand, genau wie er es auch vor dem Altar tun würde, dann zog er sie unter dem Mistelzweig fort und flüsterte ihr etwas zu, was sie verlegen erröten ließ.

Jack versuchte verzweifelt von den Lippen des Mannes zu lesen, erkannte jedoch nur ein einzelnes Wort.

Heidentum.

Und seine Lucy, die immer das mutigste, freimütigste Mädchen gewesen war, erlaubte dem Mann, sie aus dem Raum zu geleiten.

Jack wandte sich ab und wieder der Schale mit dem Punsch zu.

6. Kapitel

Am nächsten Morgen fand Lucy ihren Bruder in seinem Arbeitszimmer, die monatlichen Abrechnungen durchsehend. Durch die Art, wie er aufschreckte, als sie die Tür öffnete, wusste sie, dass er sich in Wahrheit vor ihr versteckt hatte. „Wir müssen uns unterhalten“, sagte sie, und er zuckte nicht nur zusammen, sondern errötete auch noch schuldbewusst.

„Ich nehme an, es geht um dich und Gascoyne“, sagte er und straffte die Schultern, um sich für das Schlimmste zu wappnen.

„Unter anderem“, entgegnete sie. „Er sagte mir, was geschah, ehe er nach Portugal aufbrach. Du hast dich in mein Leben eingemischt. Du sagtest mir nichts von seinem Antrag.“

„Ich tat es zu deinem Besten.“ Er lächelte entschuldigend.

„Und doch hattest du kein Recht dazu.“

„Ganz im Gegenteil. Nachdem Vater starb, war es nicht bloß mein Recht, sondern meine Pflicht, mich um eine gute Partie für dich zu bemühen.“

„Das bedeutet nicht, mich nicht nach meinen Wünschen zu fragen“, widersprach sie.

„Ich wusste, was du gesagt hättest“, gab er kopfschüttelnd zurück. „Du bist Jack hinterhergelaufen wie ein Hündchen, kaum dass man dich von der Leine ließ.“

„Ich habe ihn vergöttert.“

„Und im Gegenzug brachte er dir nichts als Ärger ein“, erwiderte er. „Ließ dich über Zäune klettern, um die Äpfel aus dem Obstgarten seines Großvaters zu stehlen.“

„Das kann man kaum stehlen nennen, da sie gewissermaßen ihm gehörten“, meinte sie.

„Brachte dich dazu, im Herrensitz auf einem Hengst zu reiten.“

„Damensättel sind einfach nur unpraktisch“, konterte sie. „Das wüsstest du, wenn du nur einmal versuchtest, einen zu benutzen.“

„Aber das Pferd warf dich ab“, erinnerte er sie.

„Er warf dich ebenfalls ab, und du fandest es nicht bemerkenswert.“

„Du hast dir den Arm gebrochen.“

„Eine unglückliche Landung.“ Sie nickte widerwillig. „Aber der Bruch heilte, und der Arm war so gut wie neu.“

„Und dieses eine Weihnachtsfest“, fügte er hinzu, „gab Jack dir einen ganzen Becher Punsch, von dem Portwein und den Zigarren ganz zu schweigen.“

„Es war nur ein Zug“, sagte sie. „Ich mag keinen Tabak. Aber der Portwein war ausgezeichnet. Ich verstehe nicht, weshalb man Frauen nicht gestattet, ihn zu trinken.“

Er ignorierte ihre durchaus einleuchtenden Argumente. „Bevor er dieses Offizierspatent erwarb, stecktest du ständig in irgendeiner fantastischen Klemme, in die Jack Gascoyne dich mit hineinmanövrierte, und du bist ihm stets bereitwillig gefolgt.“

„Das stimmt“, sagte Lucy lächelnd.

„Ich weiß, du warst in ihn vernarrt. Doch mit siebzehn warst du längst zu alt, um noch sein Spießgeselle zu sein.“

„Aber nicht zu jung, um seine Frau zu werden.“

„Du magst zum Heiraten alt genug gewesen sein, er aber war selbst mit einundzwanzig noch zu jung, um dein Ehemann zu werden. Er hatte mehr Schulden als Geld und lebte von der je nach Laune ausgeteilten Unterstützung einer Familie, die ihm ständig drohte, ihm auch noch das bisschen vorzuenthalten, was sie ihm gaben. Er hätte dich nicht versorgen können. Es war das Beste für dich, dass er in den Krieg zog. Denn so alt, wie du damals warst, konnte man sich nicht länger darauf verlassen, dass er sich dir gegenüber verhielt, wie es einem Gentleman geziemt. Das gab er selbst zu.“

Vielleicht lag etwas in ihrer Miene, das die Wahrheit verriet, denn jetzt sah er sie so durchdringend an, als argwöhnte er langsam, was geschehen war, also startete sie schnell einen Gegenangriff. „Er schrieb mir diesbezüglich einen Brief. Er versprach, zurückzukehren. Doch das Schreiben habe ich nie bekommen.“

Nun sah Fred erneut schuldbewusst drein.

„Fünf Jahre habe ich hinter mich gebracht, mit gebrochenem Herzen, weil ich dachte, er wäre gegangen, ohne sich zu verabschieden.“

„Ich wusste nicht, dass du überhaupt noch ihn dachtest“, sagte Fred.

„Weil du es nicht wissen wolltest“, warf sie ihm vor. „Du hast mich nie gefragt, was ich mir für die Zukunft wünsche. Du warst zu sehr damit beschäftigt, mich mit jemandem wie William Thoroughgood zu verbändeln, um zu bemerken, ob ich glücklich oder unglücklich bin.“

„Der Vikar ist ein guter, aufrechter Mann“, entgegnete ihr Bruder. „Deshalb schlug ich ihm vor, dir den Hof zu machen.“

„Er ist so aufrecht, dass er steif ist wie ein Brett“, fauchte sie. „Gestern erst verbat er mir, unter dem Mistelkranz zu stehen, weil es eine heidnische Pflanze sei, die meine unsterbliche Seele verderben könne.“ Sie verdrehte die Augen.

„Was hast du denn überhaupt darunter getan?“, fragte Fred, ohne den Kern der Sache zu begreifen.

„Ich kann dir sagen, was ich nicht tat“, sagte sie. „Auf den Vikar warten! Und wage es nicht, mir Vorschriften über Mistelzweige zu machen. Unsere Gäste haben den ganzen Tag lang Küsse eingeheimst und verteilt, und du hast kein Wort dagegen gesagt.“

„Die sind nicht meine Schwester“, erklärte er, wie immer bar jeder Logik.

„Und deine Schwester ist keine zwölf mehr“, entgegnete sie. „Und wäre sie es, würde sie dennoch unter dem Mistelzweig stehen und hoffen, bemerkt zu werden. Es ist ein harmloser Spaß, Fred. Ich gedenke nicht, den in die Quartiere der Bediensteten zu verbannen, wie Mr. Thoroughgood vorschlug.“

„Das erscheint mir wahrhaftig etwas zu drastisch“, meinte Fred schließlich.

„Es ist bezeichnend für die Zukunft, die ich hätte, falls ich ihn heiraten würde“, sagte sie.

„Du bist volljährig, Lucy. Deine Zukunft gehört dir. Ich dachte nur …“

„Dass ich mich nach all den Jahren, in denen ich Streiche spielte und mich mit dir und deinen Freunden in der Gegend herumtrieb, in ein bescheidenes Blümchen verwandeln würde, sobald ich heiratsfähig wäre und die Frau eines Pastors werden würde?“

„Es könnte nicht schaden, dir diese Möglichkeit aufzuzeigen, dachte ich“, meinte er schulterzuckend.

„Dann denk bitte in Zukunft lieber gar nicht mehr, wenn Thoroughgood das Beste ist, was du zustande bringen kannst“, empfahl sie. „Ich werde freundlich zu ihm sein, solange er hier ist, dir zuliebe und um seine Gefühle zu schonen. Aber das ist auch alles.“

Fred seufzte theatralisch. „Ich nehme an, du hast dein Herz erneut an Gascoyne gehängt?“

„Es gab nie einen anderen Mann für mich“, erwiderte sie.

„Dann wirst du wahrscheinlich enttäuscht werden“, sagte er. „Als ich ihn ermutigte, sein Anliegen erneut vorzubringen …“

„Das hast du nicht getan!“ Sie zuckte peinlich berührt zusammen.

Fred hob abwehrend die Hände. „Nur um ihm zu sagen, dass es von meiner Seite dieses Mal keinen Widerstand gebe.“

„Wenn er mich wollte, wäre deine Meinung unwichtig“, entgegnete sie düster.

„Es ist nicht so, dass er dich nicht will“, sagte ihr Bruder weich. „Er ist in noch schlechterer Verfassung, als ich mir vorgestellt hatte. Gestern Abend sprach er davon, seinem Leben ein Ende zu setzen.“

Die ganze Zeit über hatte er sich in Lebensgefahr befunden, und sie hatte geglaubt, sie hätte sich daran gewöhnt, in der Angst zu leben, dass täglich die Nachricht von seinem Tod eintreffen könnte. Seine Rückkehr hatte eine gewisse Erleichterung mit sich gebracht, denn er war, wenn auch nicht mit ihr zusammen, so doch wenigstens in Sicherheit. Ihn jetzt, da er so nahe war, vielleicht doch noch zu verlieren, und nicht, weil er sie schlicht zurückwies, sondern auf ganz endgültige Weise – den Gedanken konnte sie nicht ertragen.

Sie würde es nicht zulassen. „So mag er gestern Abend empfunden haben“, sagte sie bestimmt. „Heute Abend könnte die Sache schon ganz anders liegen.“

Heute war Heiligabend, und Jack stellte überrascht fest, dass er, als er sich zum Dinner umkleidete, eine brennende Vorfreude empfand. Er hatte in der Nacht recht ordentlich geschlafen, vielleicht hatte das geholfen, seine Stimmung zu heben. Oder es lag am Schnee, der seit seiner Ankunft stetig und dicht gefallen war. Als er an diesem Morgen aus dem Fenster sah, war die Welt in eine dicke, jungfräulich weiße Decke gehüllt, von keiner Menschenhand berührt.

Vielleicht lag es aber auch an der Aussicht, Lucy wiederzusehen. Selbst wenn er sie nicht haben konnte, war seine düstere Stimmung nicht ganz so finster wie gewöhnlich, wenn er sie in der Nähe wusste. Es war lange her, dass er ohne Furcht nach vorn geblickt hatte, dass freudige Erwartung zu empfinden bei ihm nicht ebenso selten vorkam wie die Sichtung eines Einhorns.

Würde es Roastbeef oder Gans geben? Oder vielleicht Truthahn? Oder alles drei? Würde der Plumpudding bei den Cliftons noch genauso gut sein, wie er ihn in Erinnerung hatte? Würde Fred nun endlich den uralten Portwein öffnen, den dessen Vater für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt hatte?

Ganz zweifellos würde Lucy als Gastgeberin fungieren. Aber gewiss durfte er sich doch fragen, was sie wohl tragen würde?

Die Vorfreude, sie wiederzusehen, war, wie mit jener elektrisch aufgeladenen Apparatur zu spielen, die im Salon seines Großvaters gestanden hatte. Einer drehte die Kurbel, und alle anderen fassten sich an den Händen, hielten den Atem an und warteten nervös auf den Schlag, der durch die Gruppe fließen würde. Der gesunde Menschenverstand riet einem, loszulassen, aber ein viel stärkerer Drang verlangte, durchzuhalten und den Schock zu genießen.

Am heutigen Abend bestand der Schock darin, sie am Platz ihrer Mutter zu sehen, in ein Kleid aus eisblauer Seide gehüllt, das Collier aus dem Familienschmuck um die Kehle gelegt. Es war nichts Ungewöhnliches an ihrem Aufzug, der sich in Stil und Kostbarkeit kaum von dem der Damen unterschied, um deren Gunst er in London geworben hatte, während er versuchte, Lucy zu vergessen.

Aber die alle hatten ihn nicht reizen können, nicht ihre im Kerzenlicht schimmernden Schultern, auch nicht die tiefen Ausschnitte – nie war sein Blick davon angezogen worden. Nun, da er Lucy direkt gegenübersaß, musste er sich zwingen, sie nicht anzustarren, wie ein Verhungernder ein Festmahl mit den Augen verschlingt.

Obwohl er sie in den vergangenen fünf Jahren nicht weniger geliebt hatte, war sie in seiner Erinnerung doch oft als der einstige Backfisch erschienen, hübsch, aber naiv, und daher seines Schutzes bedürftig. Doch die Frau, die an diesem Abend am Tisch saß, war beherrscht, klug und wunderschön. Und schlimmer noch, sie zog ihn auf eine Art an, wie er es nicht erwartet hatte. Er wollte bei ihr sitzen und von ihr hören, was ihm alles in der Zeit seiner Abwesenheit entgangen war und wie sie noch so viel schöner hatte werden können als in seiner Erinnerung.

„Auf mein Wort, dies war das beste Dinner, das wir je hatten“, sagte Fred und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Gut gemacht, Lucy. Gut gemacht.“ Während der letzte Rest des Plumpuddings abgeräumt wurde, klatschte Fred in die Hände und strahlte seine Schwester an, die ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches saß.

Lucy errötete. „Das ist nicht mein Verdienst. Es ist das gleiche Menü wie jedes Jahr, und die ganze Arbeit haben die Köchin und die Küchenmädchen geleistet.“

„Dann ein Hoch auf die Köchin!“, rief er, breit lächelnd, und hob sein Glas in Richtung Küchentrakt. „Vielleicht liegt es an der diesjährigen Gesellschaft und daran, dass wir das Fest ohne die Bedrohung aus Frankreich genießen können. Dank unserem Freund, dem furchtlosen Major Gascoyne.“ Wieder applaudierte er, und dieses Mal galt es Jack.

Jacks Behagen verpuffte angesichts dieser Übertreibung. „Wirklich, Fred. Es ist nicht so, als hätte ich Napoleon eigenhändig erledigt.“

„Da Wellington heute nicht anwesend ist, wirst du den Dank der Nation entgegennehmen müssen“, meinte Fred schulterzuckend. „Ein Toast auf Major Gascoyne.“

„Auf ihn! Auf ihn!“

Nun hoben alle am Tisch ihre Gläser in seine Richtung, und er musste dem Wunsch widerstehen, einfach zu flüchten.

„Jetzt bringst du anstatt mich Jack in Verlegenheit“, sagte Lucy, die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, als hätte sie sein Unbehagen gespürt.

„Ich kann nicht anders“, erwiderte Fred. „Ich bin einfach nur froh, dass er heil zurückgekehrt ist.“ Dann schaute er Jack an. „Es ist schön, dich wieder daheim zu haben, alter Freund.“

„Es ist auch schön, dich zu sehen.“ Was, wie Jack überrascht feststellte, nicht einmal gelogen war. Während er in Portugal war, hatte er den Burschen oft genug verflucht, denn ohne den Anstoß durch Fred wäre er niemals in den Krieg gezogen. Doch jetzt, da er zu Hause war, erkannte er, wie sehr er sich nach dessen Freundschaft gesehnt hatte.

Rasch trank er einen Schluck von seinem Wein, um gegen die Rührseligkeit, die ihn übermannen wollte, anzukämpfen. Vielleicht waren es die üppigen Speisen, der Duft des brennenden Weihnachtsscheits und das frische Immergrün, das zur dunkelsten Zeit des Jahres ins Haus geholt worden war, was einen so empfänglich für derartige Emotionen machte. Es schnürte ihm die Kehle zu, als kämen ihm gleich die Tränen. Das alles hier, diese heimelige Vertrautheit, hatte er während der Zeit auf der Pyrenäenhalbinsel vermisst.

Nach dem Dinner erschienen ihm die Gesellschaftsspiele nicht mehr so lästig wie am Abend zuvor. Wider besseres Wissen versuchte er sich sogar an dem nassen Spiel des Apfelfischens, mühte sich vergeblich, einen mit dem Mund aus dem Wasser zu holen, bis er endlich mit dem Kopf untertauchte, ihn auf den Boden des Bottich niederdrückte und ihn so erwischte. Prustend tauchte er aus dieser Taufe wieder auf, Haar und Kragen durchnässt, und fühlte sich so jung wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

Jemand reichte ihm einen Lappen, damit er sich abtrocknen konnte. Er nahm ihn, ohne hinzusehen, und biss herzhaft in den Apfel, eher er sein Gesicht trocknete und sich die Haare aus den Augen wischte.

„Es ist gemogelt, wenn man den Apfel auf den Boden drückt“, sagte Lucy leise und hakte sich bei ihm unter, um ihn von den anderen wegzuführen. „Man muss ihn an der Oberfläche erwischen.“

„Wirklich?“, fragte er, konnte sein Grinsen jedoch nicht unterdrücken.

„Es heißt Apfelfischen, nicht Apfeltauchen“, erinnerte sie ihn. Als er ihr seinen Blick zuwandte, hielt sie sich eine Hand vor den Mund, um ihr eigenes Lächeln zu verbergen.

„Ich sehe es lieber als ‚Das Glück ist mit den Tüchtigen‘“, erklärte er. „Manchmal ist außergewöhnliche Anstrengung vonnöten, um den Preis zu bekommen.“

„Wie die, in den Krieg zu ziehen, im Bestreben, meine Hand zu gewinnen?“

Das hatte er nun gar nicht gemeint. Er wollte sich ein spielerisches Wortgefecht mit ihr leisten, wie sie es früher gehabt hatten. Aber wieder kam die Gegenwart dazwischen und ruinierte seine Laune.

„Oder zu mogeln, um ein Kinderspiel zu gewinnen“, erwiderte er. „Mach nicht den gleichen Fehler wie dein Bruder, indem du versuchst, mich in eine Art Tugendbold zu verwandeln, Lucy. Glaube mir, ich bin niemandes Held.“ Er wandte sich von ihr ab und ging die Halle hinunter.

„Einstmals warst du mein Held“, sagte sie, ihm folgend.

„Menschen verändern sich“, entgegnete er und versuchte aufs Neue, die Zurückhaltung aufzubringen, die ihm bisher geholfen hatte, sich von ihr fernzuhalten.

„Und manchmal verändern sie sich noch einmal. Heute Abend nimmst du an den Gesellschaftsspielen teil, die du gestern noch verschmäht hast.“ Ehe er sie korrigieren konnte, fügte sie hinzu: „Und du mogelst noch immer, genau wie früher.“

„Es ist ein Wunder, dass du dich mit mir abgibst, wenn doch ihr beide, du und dein Bruder, recht schnell dabei seid, mir zu sagen, was für ein Esel ich war.“

„Es hat solchen Spaß mit dir gemacht, weil du solch einen Hang zu waghalsigen, unbesonnenen Taten hattest“, meinte sie schulterzuckend. „Deinen schlimmsten Angewohnheiten bist du offensichtlich entwachsen, sonst hättest du kaum den Krieg überlebt.“

„Was zeigt, wie wenig du begreifst, vom Krieg und von mir.“ Er strich sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar.

„Dann erkläre es mir“, bat sie sanft, in solch schmeichelndem Ton, dass er sich ihr am liebsten geöffnet hätte wie ein Buch, um zu sehen, ob sie all das Schlimme, das dort geschrieben stand, auslöschen würde oder die Seiten zuschlagen und sich angewidert davon abwenden.

„Ich hätte jene Jahre nicht überlebt, wenn ich meine Natur gezügelt hätte“, gestand er. „Ich gab meinen übelsten Trieben nach. Ich ritt durch die Lande und tötete ungestraft.“

Sie lächelte ihn noch immer an, als fände sie sein schwärzestes Eingeständnis erheiternd. „Dann warst du ein Bandit?“

„Das hätte es durchaus getroffen“, sagte er. „Ich raubte den Feind aus, noch ehe sein Blut getrocknet war. Mein neues Haus ist mit dem Geld erbaut, dass ich in Vitoria den Toten stahl.“

„Nach dem, was man hört, ist das eine gängige Praxis auf den Schlachtfeldern.“

„Ich mordete, und ich stahl“, wiederholte er und schüttelte angewidert den Kopf.

„Auf die Befehle Wellingtons hin“, erinnerte sie ihn. „Ihn hat man deswegen zum Duke gemacht.“

„Das macht es nicht richtiger“, beharrte er. „Ich tat Dinge, die mich der Gesellschaft jeder anständigen jungen Lady unwürdig machen. Du verdienst etwas Besseres.“

„Als du fortgingst, warst du dir deines Wertes bewusst“, sagte sie. „Aber jetzt, da ganz England dich für deine Dienste ehren würde, zweifelst du daran.“

„Weil ich vor dem Krieg ein besserer Mann war“, erklärte er.

Darüber musste sie lachen. „Als du mich verlassen hast, warst du kein Mann. Du warst ein Jüngling. Was das betrifft, glaube ich, hatte mein Bruder recht. Es war vermutlich zu unserem Besten, dass wir nicht heirateten. Ich befürchte, wäre ich nach einer übereilten, stürmischen Nacht mit dir durchgebrannt, hättest du mich sehr unglücklich gemacht.“

Hastig schaute er umher, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hörte, dann zog er sie die Halle entlang in den Salon und schloss die Tür hinter ihnen, um sich vor Lauschern zu schützen. „Pass auf, was du sagst. Man könnte dich hören.“

„Und wieder beweist du, dass du dich mehr um meine Ehre sorgst, als wir es früher taten. Damals trankst du zu viel. Du spieltest. Deine Taschen waren immer leer. Du hast mit deinen Angehörigen gestritten, wenn sie versuchten, dich zu ändern. Du gingst jedes Risiko ein und sporntest mich an, es dir gleichzutun. Du nahmst mir meine Ehre, hier, in genau diesem Raum, ohne daran zu denken, was vielleicht danach käme oder wer uns erwischen könnte.“

„Wenn ich so widerwärtig war, hättest du mich nicht auf zehn Fuß an dich heranlassen dürfen“, erwiderte er indigniert.

„Wie ich schon sagte“, entgegnete sie, und ihre Gesichtszüge wurden weicher. „Ich habe dich geliebt.“

„Damals konnte ich an nichts anderes denken als allein an dich“, sagte er mit einem ähnlich weichen Lächeln.

„Und jetzt?“ Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war ein ermutigendes.

„Ich möchte dich beschützen“, sagte er. „Und das bedeutet, dass ich mich von dir fernhalten sollte.“

„Eines hat sich nicht geändert.“ Sie musterte ihn aufmerksam, als könnte sie in seiner Seele lesen, wenn sie ihm tief in die Augen sah. „Du bist so stur wie immer. Du scheinst zu glauben, jenes harte Leben hätte dich zu einem schlechten Menschen gemacht. Aber du bist ernsthafter als früher. Und achtsamer. Doch ich sehe nichts Unwürdiges an dir, falls es das ist, was du fürchtest. Du dientest deinem Land gut und verdienst, den Frieden zu finden, den du dir wünschst.“ Dann seufzte sie. „Ich bin nur enttäuscht, dass du ihn nicht mit mir gemeinsam willst.“

Ihre Worte beschämten ihn mehr denn je. „Ich sagte mir, dass du während meiner Abwesenheit dein Glück gefunden hättest. Aber ich hatte Angst, mich zu vergewissern – falls das, was wir … was ich tat, deine Chancen zerstört haben könnte.“

„Wäre ich deinetwegen in der Gosse gestorben“, entgegnete sie schmunzelnd, „hätte mein Bruder dich bestimmt davon unterrichtet.“

„Darüber solltest du keine Scherze machen. Stell dir vor, es hätte ein Kind gegeben? Ich war schon fast in Lissabon, als mir überhaupt dieser Gedanke kam. Erst da begriff ich, was für ein Narr ich war, dich zu verlassen.“

Autor

Christine Merrill
<p>Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
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