Hochzeitsglocken für Schwester Lilly

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Lily könnte nicht glücklicher sein: Die Hochzeit mit Dr. Roger Neilson, dem Mann, den sie über alles liebt, steht kurz bevor. Doch seine Stiefmutter zerstört mit ihren bösen Verdächtigungen ihr Glück. Lily sieht nur einen Ausweg …


  • Erscheinungstag 14.08.2019
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749958
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Unerwartet klingelte es am Sonntagnachmittag. Hatte Roger früher Dienstschluss und seinen Schlüssel vergessen?

Lilly Page lief zur Tür und öffnete.

Vor ihr standen zwei Frauen, eine mittleren Alters, elegant und teuer gekleidet und sehr attraktiv mit ihrem modisch frisierten blonden Haar. Ihre Begleiterin war deutlich älter, genauso schick zurechtgemacht, aber stark geschminkt.

„Sind Sie Lilly?“, fragte die Jüngere, nachdem sie sie kritisch von oben bis unten gemustert hatte.

„Ja.“ Verwundert musterte sie die beiden Frauen.

Sie wirkten wie zwei exotische Vögel, die ihrem Käfig entflohen waren und sich nun in ungewohnter Umgebung wiederfanden. Als Lilly ihnen über die Schultern spähte, sah sie ein schnittiges silbergraues Cabrio am Straßenrand. Der Wagen hatte sicher einen Haufen Geld gekostet und war in diesem ruhigen, von alten Häusern beherrschten Stadtteil im Herzen von Toronto genauso fehl am Platz wie die beiden Besucherinnen.

„Ich bin Marie Neilson“, stellte sie sich vor, „und das ist meine Mutter Anthea. Ich bin Rogers Stiefmutter.“

„Oh“, antwortete Lilly überrascht. „Roger ist leider nicht da, er hat heute Abend Dienstbereitschaft im Krankenhaus. Er hat mir nicht gesagt, dass …“

„Schon gut“, unterbrach Marie Neilson sie. „Wir wissen, dass er arbeitet. Wir wollten mit Ihnen sprechen. Dürfen wir reinkommen?“

„Mit mir?“ Lilly betrachtete ihre Besucherinnen, spürte eine unterschwellige Feindseligkeit. Dann besann sie sich auf ihre Manieren. „Selbstverständlich, bitte.“ Sie trat zurück und zog die Tür weiter auf.

Als sie ins Wohnzimmer voranging, wurde sie das seltsame Gefühl nicht los, dass ihre kleine Welt der Liebe und Geborgenheit, die sie mit Roger teilte, von Eindringlingen bedroht wurde. Ihr Unbehagen verstärkte sich mit jedem Schritt, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Roger und sie liebten sich, was konnte schon passieren?

Er hatte ihr von seiner Familie erzählt. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er vierzehn war, und er war bei seiner Mutter geblieben, verstand sich aber gut mit seinem Vater, der im Ölgeschäft viel Geld verdient hatte. All das ging ihr durch den Kopf, während sie überlegte, warum die beiden Frauen hier waren.

„Möchten Sie etwas trinken?“, bot sie an. „Tee oder einen Saft?“

„Nein, nichts, danke.“ Marie Neilson sah sich um. „Was wir Ihnen zu sagen haben, wird nicht lange dauern.“

Was hatte das zu bedeuten? Lilly wollte sich in ihrem Zuhause nicht von Fremden einschüchtern lassen, aber der verächtliche Tonfall und die unfreundlichen Mienen verursachten ihr Magenschmerzen. Die Art, wie die Frauen mit unverschämter Neugier die Möbel, die Bilder an den Wänden und die gerahmten Fotos betrachteten, zeugte nicht gerade von guter Kinderstube, hätte Lillys Mutter gesagt. Marie und Anthea mochten Geld haben, aber sicher kein Benehmen.

Ihr fiel ein, dass Roger alles darangesetzt hatte, um Medizin studieren zu können, weil er nicht ins Familienunternehmen einsteigen wollte, obwohl sein Vater dies von seinem einzigen Kind erwartet hatte.

„Bitte, nehmen Sie Platz.“ Lilly deutete auf das bequeme Sofa und war froh, dass ihr sparsam möbliertes Haus aus spätviktorianischer Zeit einen besonderen Charme ausstrahlte. Roger und sie hielten nichts von überladener Einrichtung. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wir möchten gleich zur Sache kommen.“ Marie Neilson beugte sich vor und legte die Hände mit den perfekt lackierten roten Nägeln aneinander. „Wir wissen, dass Sie schwanger sind. Roger hat es seinem Vater erzählt … und ich habe es zufällig mit angehört.“

Lilly verschlug es die Sprache. Stumm sah sie die beiden an, suchte nach Worten. Jetzt erinnerte sie sich, dass Roger einmal erwähnt hatte, seine Stiefmutter Marie könne keine Kinder bekommen. Eine Tatsache, die sein Vater sehr bedauere und von der er vor der Hochzeit nichts gewusst hätte. Wie es aussah, hatte Marie, die aus einer wohlhabenden neureichen Familie stammte, ihn nach seiner Scheidung regelrecht umworben.

Maries Vater, ein Bauunternehmer, hatte sehr gut verdient, nachdem er auf die Idee gekommen war, halb verfallene Gewerbegebäude in wenig beliebten Gegenden von Toronto für einen Spottpreis aufzukaufen und in moderne Apartmentwohnungen umzuwandeln. Im kurz danach einsetzenden Immobilienboom wurden sie zu begehrten Objekten, und damit war er ein gemachter Mann geworden.

Roger hatte all das nebenbei erwähnt, und da Lilly sich für Geld nicht besonders interessierte, solange sie ihr Auskommen hatte, maß sie dem keine große Bedeutung bei. Jetzt schien sich da etwas zusammenzubrauen, was sie nicht in der Hand hatte.

„Ja … ich bekomme ein Kind“, sagte sie, bemüht, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen. „Ich weiß allerdings nicht, was …“

„Ihnen ist sicher klar, dass Roger potenziell ein reicher junger Mann ist“, wurde sie wieder unterbrochen, „der nach dem Tod seines Vaters einen Großteil des immensen Familienvermögens erben wird.“

„Nein, das wusste ich nicht. Roger und ich haben nie über das Testament seines Vaters gesprochen, und ich weiß nur, dass sein Vater im Ölgeschäft …“

„Natürlich wissen Sie Bescheid!“ Zum ersten Mal meldete sich die Ältere zu Wort, genauso höhnisch wie ihre Tochter.

„Worum geht es eigentlich?“ Ihr klopfte das Herz im Hals. „Roger ist erwachsen. Er braucht Sie nicht, um seine Angelegenheiten zu regeln, falls es das ist, worauf Sie hinauswollen. Soweit ich weiß, erfreut sich sein Vater bester Gesundheit.“

„Roger ist ein Gentleman, das muss Ihnen von Anfang an bewusst gewesen sein“, zischte Anthea giftig. „Sie haben sich ausgerechnet, dass er Ihnen die Ehe anbieten würde und dann … Bingo! … würde das viele schöne Geld Ihnen gehören.“

Das war’s also. Die beiden dachten, sie wäre absichtlich schwanger geworden, um an Rogers Geld zu kommen. Lilly wurde übel. Wenn Roger nun dasselbe dachte?

Dann stieg Ärger in ihr auf. Niemand hatte das Recht, so mit ihr umzuspringen. „Meinen Sie? Ich habe noch nie Bingo gespielt und kenne die Regeln nicht.“

„Tun Sie bloß nicht so unschuldig!“, fauchte Anthea, puterrot im Gesicht. „Sie wissen genau, was für ein infames Spiel Sie ausgeheckt haben. Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen. Frauen wie Sie kenne ich zur Genüge!“

„Ma, beruhige dich.“ Marie legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm.

Schockiert, fast ängstlich erlebte Lilly ein unangenehmes Déjà-vu. Sie schluckte und hob den Kopf, um sich nichts anmerken zu lassen. „Das würde mir nicht einmal im Traum einfallen“, erklärte sie betont ruhig. „Wie Sie wissen, ist Roger seit langem finanziell unabhängig. Wir haben … über die Schwangerschaft gesprochen und beschlossen, einfach zusammenzuleben … wie bisher.“

„Und wie lange?“, fragte Marie scharf nach. „Mit einem Kind werden Sie irgendwann heiraten.“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Zukunft war bisher kein Thema, und wir sind einfach zufrieden mit dem, was wir jetzt haben. Außerdem geht unser Privatleben niemanden etwas an.“

„Zufrieden mit dem, was wir haben“, äffte Anthea sie nach. „Ist doch wohl klar, dass Sie ein berechnendes kleines Luder sind.“ Sie deutete auf die wenigen Möbel. „Sie haben nichts, aber auch gar nichts, und dann wollen Sie uns weismachen, dass Sie damit zufrieden sind?“

„Uns gefällt es. Wir lieben uns.“

„Liebe? Ha! In Ihrer Lage ist es einfach, von Liebe zu reden. Roger kann jede Frau haben, die er will, er muss nicht bei Ihnen bleiben. Wahrscheinlich wissen Sie genau, wie wenig Sie zu bieten haben, und jetzt, wo Sie schwanger sind, ist Roger ein willkommener Goldesel!“

„Was erlauben Sie sich!“ Lilly stand auf. „Diesen Unsinn höre ich mir nicht länger an. Ich muss Sie bitten zu gehen.“ Die beiden Frauen waren sitzen geblieben, sodass sie sich ihnen gegenüber im Vorteil fühlte. „Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Was interessiert es Sie, wen Roger heiratet? Er ist nicht Ihr Sohn.“

„Oh, eins verspreche ich Ihnen“, begann Marie eisig. „Wenn er Sie heiratet, werden wir dafür sorgen, dass er enterbt wird. Sie sollten unseren Einfluss auf seinen Vater nicht unterschätzen.“

„Na und? Roger braucht von zu Hause keine finanzielle Unterstützung, und ich kann auch selbst für meinen Lebensunterhalt sorgen.“

Aber ihre Stimme zitterte leicht, verriet ihre innere Anspannung. Lilly hatte das bedrückende Gefühl, im falschen Film zu sein. Nie zuvor hatte jemand sie als berechnendes Luder beschimpft.

„Eines Tages wird Roger heiraten“, sagte sie gefasst, obwohl sie die Frauen am liebsten angeschrien und hinausgeworfen hätte. „Wie wollen Sie ihn davon abhalten?“

„Natürlich gehe ich davon aus, dass er heiratet. Aber nicht Sie. Nicht jemanden, der ihn in eine Falle lockt, um an sein Geld zu kommen. Er braucht eine Frau, die ihr eigenes Vermögen mit in die Ehe bringt, eine, die ihm ebenbürtig ist.“

„Finden Sie das nicht ziemlich altmodisch?“

„Denken Sie, was Sie wollen, aber wir erwarten es von ihm.“

„Es liegt nicht in Ihrer Macht. Roger ist alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen.“

„Aber zu jung, um Vater zu werden. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt.“

Lilly ging ein Licht auf. Ungläubig starrte sie die beiden Frauen an, die immer noch einträchtig auf dem Sofa saßen. Marie konnte keine Kinder bekommen und war noch nicht bereit für einen weiteren Neilson-Erben, der das Vermögen, das sie selbst gern hätte, beanspruchen würde.

„Wenn Sie mit Roger Schluss machen, geben wir Ihnen eine halbe Million Dollar.“

„Wie bitte?“ Lilly glaubte, sich verhört zu haben. „Sind Sie verrückt geworden?“

„Eine Million“, sagte Anthea.

„Nein!“, wehrte sie ab. „Sie haben gar nichts begriffen. Wir lieben uns. Mit Geld hat das nichts zu tun.“

„Ich bezweifle, dass er Sie noch lieben wird, wenn sein Erbe für immer verloren ist“, sagte Rogers Stiefmutter.

Die Übelkeit wurde schlimmer, und Lilly wandte sich ab, um zur Tür zu gehen.

Wieder hatte sie dieses Déja-vu-Erlebnis, hörte die Stimme des Jungen, damals in der Schule.

Du bist Abschaum, weißer Abschaum, du lebst in einem Wohnwagen. Nur dumme Leute und Versager wohnen da.

Seit Jahren glaubte sie, über diese Kränkung hinweg zu sein, vor allem, seit sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester erfolgreich abgeschlossen, zusätzlich studiert hatte und ihren Beruf nicht nur kompetent, sondern auch mit Begeisterung ausübte. Doch als sie nun versuchte, die aufdringlichen Frauen loszuwerden, kam die alte Verletzlichkeit wieder hoch. Lächerlich eigentlich, aber auch der Umzug in ein hübsches altes Backsteinhaus in Albertstown, wo sie die letzten Jahre ihrer Kindheit verbrachte, hatte die bitteren Erinnerungen an die Monate im Wohnwagen auf einem heruntergekommenen Campingplatz nicht löschen können.

Und nun war es wieder so, dass jemand sie aufgrund von Äußerlichkeiten verurteilte. Der höhnische Spott jenes Jungen spiegelte sich im Verhalten dieser Frauen wider.

„Verlassen Sie bitte mein Haus“, sagte sie so würdevoll wie möglich. „Und ich gebe Ihnen den guten Rat, Ihre Rechnung nicht ohne den Wirt zu machen. Ich kenne Rogers Eltern und glaube nicht, dass sein Vater sich von zwei Frauen beeinflussen lassen wird, die nicht gerade das Beste für seinen Sohn im Sinn haben. Und falls er doch vorhaben sollte, Roger meinetwegen zu enterben, würde er kommen und es mir persönlich sagen.“ Sie öffnete die Haustür. „Guten Tag.“

Zu ihrer Überraschung kamen die beiden ihrer Aufforderung ohne ein Wort nach. Sie würdigten Lilly keines Blickes und stöckelten nach draußen.

Mit bebenden Fingern drückte sie die Tür zu, drehte den Schlüssel um und legte die Sicherheitskette vor. Dann trat sie ans Fenster und beobachtete, wie sie durch die Gartenpforte verschwanden. Auf einmal erschienen ihr die letzten Minuten wie ein böser Traum, so als hätte sich alles nur in ihrer Fantasie abgespielt. Aber die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, waren echt. Lilly presste die zitternden Hände aneinander, von einer unbeschreiblichen Traurigkeit gepackt.

Es war, als hätte die Begegnung mit Rogers Stiefmutter und ihrer Mutter sie weit zurückgeworfen in eine Zeit, in der sie sich minderwertig und schäbig gefühlt hatte.

Angefangen hatte alles damit, dass ihr geliebter Vater bei einem Auslandseinsatz verwundet worden war. Dass er in der Armee diente, hatte die Familie in einen Zustand chronischer Angst versetzt, und dann war der Ernstfall tatsächlich eingetreten. Es folgte eine zermürbende Wartezeit, in der sie nicht wussten, ob er unter den Toten oder den Verletzten war, dann die Erleichterung … nur verwundet. Man hatte ihn von Afrika direkt in ein deutsches Krankenhaus ausgeflogen.

Ihre Mutter musste gewusst haben, wie es um ihn stand, aber Lilly und ihre Geschwister begriffen das volle Ausmaß seiner Verletzungen erst, als sie ihn am Flughafen sahen, an Krücken, der eine Unterschenkel amputiert. Ihr starker, stattlicher Vater war zu einem gebrochenen Kriegsveteran geworden.

Lilly wurde schlecht, und sie eilte ins Bad, beugte sich mit geschlossenen Augen über die Toilette, versuchte, tief durchzuatmen, bis die Übelkeit abebbte. Zum Glück musste sie sich nicht erbrechen. Sie richtete sich wieder auf, benetzte das Gesicht mit kaltem Wasser. Im Spiegel sah sie, dass sie kreidebleich war.

Ihr Schulkamerad hatte nicht nur sie verspottet, sondern auch ihren Vater, seinen Einsatz, sein Leid. Für den Jungen wäre es egal gewesen, ob ihr Vater tot oder am Leben war, er sah nur, dass sie arm waren und in einem Wohnwagen lebten.

Rastlos ging sie durch die Zimmer, überlegte hin und her, ob sie Roger anrufen und ihm vom Besuch seiner Stiefmutter erzählen sollte.

Vielleicht war ihr erster Eindruck der Richtige gewesen, damals, als sie Roger kennengelernt hatte. Sie hatten gemeinsam in den Operationssälen des großen Lehrkrankenhauses gearbeitet, und Lilly fand gleich, dass sie nicht zu seiner Welt gehörte. Andererseits wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie sich nicht den Mann aussuchen könnte, den sie wollte und von dem sie erwarten durfte, dass er sie liebte und heiraten würde.

Doch vielleicht gab es eine Art Code der Superreichen, in den sie nicht eingeweiht war. Vielleicht musste man sich den Weg in ihre Kreise erkaufen, und sie war eben nicht qualifiziert.

Je länger sie darüber nachdachte, desto klüger erschien es ihr, den hässlichen Zwischenfall zu verschweigen. Außerdem war Roger vielleicht, wenn sie jetzt spontan anrief, mitten in einer Operation und könnte nicht mit ihr sprechen.

Und warum das Ganze an die große Glocke hängen? Die beiden Frauen würden ihr nichts anhaben können, selbst wenn sie wollten. Trotzdem war Lilly noch immer entsetzt, dass sie ihr eine Million Dollar geboten hatten, damit sie sich von Roger trennte.

Sie setzte sich an den Küchentisch, als ihr erneut übel wurde, und stützte den Kopf in die Hände. Die Minuten verstrichen, während sie tief ein- und ausatmete. Nein, sie würde Roger nichts sagen. Sie starrte wie blind vor sich hin. Sicher, so wäre es am besten.

Ihre Gedanken schweiften ab zu dem Moment, als sie ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte. Sie lebten seit einem halben Jahr zusammen, ein zaghafter, noch kühler Frühling löste den Winter ab, und Lilly war eines Morgens schlecht geworden. Dasselbe passierte ihr auch an den folgenden Tagen, an denen Roger zufällig schon früh zum Dienst fuhr, sodass er zuerst nichts davon mitbekam. Andere Symptome stellten sich ein, und Lilly machte einen Schwangerschaftstest. Wie erwartet, war er positiv.

Ihre erste Freude wurde rasch gedämpft, weil sie plötzlich nicht sicher war, wie Roger reagieren würde. In ihrer Leidenschaft, ihrem Glück miteinander waren sie ein bisschen sorglos gewesen. Würde er jetzt sagen, sie hätte ihn in eine Falle gelockt?

Roger erfuhr es, als er nach einem langen Dienstwochenende nach Hause kam. Er hatte vierundzwanzig Stunden ohne Pause durchgearbeitet und schloss am Montagmorgen die Haustür auf, als Lilly schon fast auf dem Weg ins Krankenhaus war. Eigentlich hätten sie sich die Klinke in die Hand gegeben, aber Lilly kam das Frühstück hoch, und sie stürzte noch einmal ins Bad.

„Lilly, ist dir schlecht?“

Sie zuckte zusammen, als sie seine Stimme hörte, richtete sich auf und drehte sich um. Erschrocken stellte sie fest, dass er blass und total erschöpft aussah. Allerdings bot sie selbst bestimmt kein besseres Bild. Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn, und ihr war kalt.

Sie hätte sich gern einen anderen Zeitpunkt ausgesucht, um ihm von der Schwangerschaft zu erzählen.

Ihr floss das Herz über wie jedes Mal, wenn sie ihn anblickte und ihr bewusst wurde, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Im ersten Moment fehlten ihr die Worte, sodass sie ihn nur anschaute. Er war groß, ein athletisch gebauter, attraktiver Mann mit kurzem dunkelblondem Haar. Sein Gesicht war schmal und kantig, der Mund sehr männlich, die Augen von ungewöhnlicher Farbe, eher dunkelgrau als blau.

„Ich … ich habe dich nicht reinkommen hören“, sagte sie bebend. „Ja, mir ist ein bisschen schlecht.“

Er betrat das Badezimmer, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ahnte er, warum ihr übel war. Stumm standen sie einander gegenüber, während Lilly noch mit dem Drang kämpfte, das bisschen Tee und die halbe Scheibe trockenen Toast wieder von sich zu geben, die sie zum Frühstück gehabt hatte.

„Bist du schwanger?“, fragte er ruhig, doch es klang mehr wie eine Feststellung.

Der sachliche Ton ließ sie frösteln. Eigentlich hatte sie gehofft, er würde sie in die Arme nehmen, sie herumwirbeln vor Freude darüber, dass er Vater würde … oder irgendetwas in der Art. Dann ermahnte sie sich. Dies ist das wirkliche Leben, kein Märchen.

„Ja.“ Sie schluckte. „Ich weiß es seit … ungefähr einer Woche.“ Und weil er sie immer noch konsterniert ansah, mit einem harten Gesichtsausdruck, wahrscheinlich weil er sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte, fügte sie leise hinzu: „Es tut mir leid.“ Dann war die Angst mit Händen greifbar. Angst vor Zurückweisung.

Roger schloss die Augen und presste die Handballen auf die Lider. „Ich hatte eine schreckliche Nacht. Entschuldige, wenn ich nicht so reagiere, wie du es vielleicht erwartest. Auf dem Highway hat es einen entsetzlichen Unfall gegeben, in den fünf Fahrzeuge verwickelt waren. Wir haben ununterbrochen um viele Leben gekämpft und mussten einige der Verletzten in die Intensivstation bringen. Einer wird es wahrscheinlich trotzdem nicht schaffen. Unter den Opfern waren Kinder … In Gedanken bin ich immer noch dort … tut mir leid.“

„Du siehst aus, als wenn du gleich umfällst.“ Lilly zwang sich, ruhig zu klingen, auch wenn ihr ganz anders zumute war. „In der Küche steht noch Tee.“ Sie war Unfallschwester in der Chirurgie und konnte sich bildhaft vorstellen, was Roger erlebt hatte.

„Danke. Geht’s dir besser?“ Erst jetzt kam er zu ihr und nahm sie in die Arme. „Es tut mir leid, dass du allein warst, als du dich so elend gefühlt hast. Warum hast du mir nicht eher davon erzählt?“

„Ich wollte den richtigen Zeitpunkt aussuchen“, erklärte sie munter, um ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen. „Wie es aussieht, hat man mir die Wahl abgenommen.“ Nichts war, wie es sein sollte. Ihr war immer noch schlecht, Roger war völlig erledigt und mit seinen Gedanken woanders.

Und schlimmer war das, was er nicht tat. Zwar hielt er sie in den Armen, aber er küsste sie nicht, strich ihr nicht übers Haar und sagte nicht, wie glücklich er wäre, dass sie ein Kind von ihm bekam. Stattdessen wich er ein Stück zurück und sah ihr ernst in die Augen.

„Also, ich weiß nicht genau, was ich sagen soll“, meinte er. „Natürlich möchte ich irgendwann Kinder haben, aber jetzt schon? Dass ich das sage, hilft dir sicher nicht.“

„Entschuldige“, flüsterte sie, entschlossen, sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Mit Gewalt drängte sie die Tränen zurück. Sollte das heißen, dass er keine Kinder mit ihr wollte? Sie brachte es nicht über sich nachzufragen.

„Es ist doch nicht deine Schuld.“ Roger drückte sie wieder an sich. „Ich hätte vorsichtiger sein sollen. Möchtest du nicht lieber zu Hause bleiben und dich ausruhen?“

„Nein, nein, ich gehe zur Arbeit.“

„Was machen wir?“ Er hielt Lilly auf Armeslänge von sich. „Leider kann ich jetzt nicht richtig denken. Lass uns darüber reden, wenn du nach Hause kommst, ja?“

„Gut.“ Sie riss sich zusammen, obwohl sie kurz davor war loszuschluchzen. „Ich … ich möchte das Baby, Roger. Das ist nicht die Frage.“

Er küsste sie sanft auf den Mund. „Entschuldige, wenn ich nicht bei der Sache bin. Ich werde die Bilder von den Unfallopfern wohl nicht so schnell los.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Sie wusste, dass sich hinter seiner ruhigen, kompetenten Arbeitsweise im OP ein starkes Mitgefühl für seine Patienten verbarg. Er litt mit ihnen, obwohl er – wie alle, die im Krankenhaus arbeiteten – gelernt hatte, Mechanismen zu entwickeln, die ihm Distanz zu den schweren Schicksalsschlägen verschafften, mit denen er tagtäglich zu tun hatte. Ärzte und Pflegepersonal mussten sicher sein, dass sie alles in ihrer Macht Stehende taten, um Menschen zu retten, und wenn ein Patient verstarb, dann nur, weil es nicht mehr in ihrer Hand lag, ihn am Leben zu erhalten.

„Ja, wir reden später“, fügte sie hinzu, obwohl sie die Worte kaum herausbrachte. Hatte sie tatsächlich erwartet, dass er vor Freude aus dem Häuschen sein würde?

„Sollen wir heiraten?“

„Oh, nein“, wehrte sie ab. Die Frage hatte emotionslos geklungen, ein sachliches Angebot, mehr nicht. „Ich halte es für keine gute Idee, nur wegen einer Schwangerschaft zu heiraten. Es sollte noch … andere Gründe geben. Aber ich hoffe, du denkst nicht, dass ich es … darauf angelegt habe. Das war wirklich nicht geplant.“

Ein Kind sollte nicht der einzige Heiratsgrund sein. Beide Partner mussten das Gefühl haben, dass es richtig war. Für sie war es so, aber bei Roger konnte sie nicht sicher sein.

„Das habe ich auch nicht angenommen, und ich fühle mich auch nicht … hereingelegt. Es ist nur nicht der optimale Zeitpunkt, schätze ich. Aber vielleicht ist es das nie.“ Roger sah noch immer leicht benommen aus.

Lilly beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Bis nachher“, sagte sie. „Geh schlafen.“ Sie nahm ihre Tasche und die Regenjacke und eilte zur Tür.

Autor

Rebecca Lang
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