Hochzeitsglocken in Cornwall

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"Ich verlasse Penhally. Mich hält hier nichts mehr!" Kates Abschiedsbrief ist wie ein Schlag ins Gesicht für Dr. Nick Roberts. Die Frau, die er über alles liebt, lässt ihn einfach im Stich! Doch da gerät Kates Sohn in Gefahr, und nur Nick kann ihn retten …


  • Erscheinungstag 29.07.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718046
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Oh, Dr. Roberts, ich habe hier etwas für Sie. Von Kate.“

Nick blieb am Empfang stehen und nahm verblüfft den verschlossenen Briefumschlag, den Sue ihm reichte. Merkwürdig …

„Ist sie schon weg?“

„Nein, aber auf dem Sprung. Sie wollte Jem von der Freizeit abholen. Soll ich sie suchen?“

„Danke, nicht nötig.“ Er warf wieder einen Blick auf den Brief, nickte den Patienten im Wartebereich zu, als er an ihnen vorbei in sein Sprechzimmer ging, und schloss die Tür hinter sich. Während er sich in seinen Schreibtischsessel fallen ließ, schlitzte er mit dem Zeigefinger den Umschlag auf.

Er enthielt ein einziges Blatt Papier, beschrieben mit ihrer eleganten, energischen Handschrift. Nick entfaltete es und begann zu lesen.

Lieber Nick,

Chloe und allen anderen Kollegen und Freunden werde ich meine Entscheidung in den nächsten Tagen mitteilen, aber Du sollst als Erster erfahren, dass ich beschlossen habe, Penhally Bay zu verlassen. An den Primary Care Trust habe ich bereits geschrieben und gekündigt. Ich verkaufe mein Haus, und Jem und ich ziehen im Laufe des Sommers in die Nähe meiner Mutter in Bristol um, sodass er das neue Schuljahr direkt dort beginnen kann.

Ich werde die Praxis und alle, die hier arbeiten, sehr vermissen, aber für uns wird es Zeit, ein neues Leben anzufangen. Hier gibt es nichts mehr für uns.

Dir möchte ich für all die Unterstützung und Freundlichkeit danken, die Du mir im Laufe der Jahre geschenkt hast.

Leb wohl,

Deine Kate

Wie vor den Kopf geschlagen las er den Brief ein zweites Mal. Verdammt, sie kann nicht einfach gehen! Aufgebracht schob Nick seinen Sessel zurück, stand auf und marschierte zum Fenster. Er presste die Hand auf das kalte Glas. Ein stürmischer Wind war plötzlich aufgekommen, und mit ihm ging ein heftiger Aprilschauer nieder. Die Tropfen prasselten auf Autodächer, und überall rannten Leute, um vor dem Unwetter Schutz zu suchen.

Auch Kate. Sie riss die Wagentür auf, und als sie auf den Fahrersitz schlüpfte, hob sie den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, hielten sich einen Moment fest, verschleiert vom Regen, dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und schlug die Tür zu. Gleich darauf flammten die Scheinwerfer auf, und Kate fuhr davon.

Nick merkte erst jetzt, dass er die Luft angehalten hatte, und atmete bebend aus. Abrupt wandte er sich vom Fenster ab, um nicht frustriert die Faust durch die Scheibe zu stoßen. Kates Brief lag auf dem Schreibtisch, schien ihn zu verspotten, und er griff danach, knüllte ihn zusammen und schleuderte ihn Richtung Papierkorb. Der Papierball fiel daneben, und Nick hob ihn leise fluchend auf. Warum will sie gehen? Ausgerechnet jetzt, wo ich dachte, eine Chance …

Es klopfte an der Tür, und Doris Trefussis steckte lächelnd den Kopf ins Zimmer.

„Tee für Sie, Dr. R.“, verkündete sie munter und stellte ein Tablett auf den Tisch. „Und ein paar von Hazels Ingwerkeksen.“

„Danke, Doris“, sagte er knapp und hielt den Atem an, bis sie wieder verschwunden war. Er würde dran ersticken, wenn er jetzt etwas essen müsste! Nick ließ sich in seinen Sessel fallen und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann strich er den zerknitterten Brief glatt und las ihn noch einmal.

Es ergab einfach keinen Sinn.

Vielleicht half der Tee, einen klaren Kopf zu bekommen.

Nick nahm den Becher, trank einen Schluck und sah aus dem Fenster. Es herrschte Stillwasser, der Zeitpunkt des Wechsels zwischen Flut und Ebbe, und von den Windböen getroffen schwangen die Boote im Hafen hin und her. Er kannte das Gefühl. Seit Annabels Tod vor fünf Jahren war er wie eins dieser Boote, verankert im Leben und doch hierhin und dorthin geschleudert … zutiefst unsicher, was seine Zukunft betraf.

Eine Zeit lang hatte er geglaubt, dass Kate heiraten würde, aber dann gab es Gerüchte, dass es zwischen ihr und Rob Werrick aus war. Nick sah seine Chance: Kate und er beide verwitwet, der Rivale aus dem Rennen, vielleicht könnten sie jetzt … Und nun das, aus heiterem Himmel. Er hätte nie gedacht, dass Kate Penhally Bay – und ihn – für immer verlassen würde.

Sie durfte nicht gehen. Ausgeschlossen. Sie war hier geboren, aufgewachsen, hatte ihr ganzes Leben hier verbracht. Nick kannte sie, seit sie zwölf war, und hatte sich drei Jahre später das erste Mal mit ihr verabredet. Da war er siebzehn gewesen. Mit achtzehn war er zum Studium fortgegangen, fest entschlossen, danach wieder zu ihr zurückzukommen. Aber dann war er Annabel begegnet, und alles hatte sich geändert.

Bis auf Kate. Sie war dieselbe geblieben, herzlich, humorvoll und freundlich. Nur in ihren sanften braunen Augen meinte er manchmal einen vorwurfsvollen Ausdruck und leise Enttäuschung zu lesen. Vielleicht bildete er es sich aber auch nur ein, denn jedes Mal, wenn sie ihn ansah, empfand er Schuldgefühle.

Nick schloss die Augen. Ja, in den vergangenen mehr als dreißig Jahren gab es weiß Gott genug, dessen er sich schuldig gemacht hatte.

Er faltete den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche. Vielleicht sollte er heute Abend zu ihr gehen und versuchen, ihr das Ganze auszureden. Nein, wozu, dachte er grimmig. Kate hatte sich entschieden, und wahrscheinlich war es für alle das Beste.

Aber ich werde sie vermissen. Freundliche, kluge Kate, die immer für ihn da gewesen war. Kate, die zuverlässig und kompetent jahrelang seine Praxis gemanagt hatte, bevor sie in ihren Beruf als Hebamme zurückging, geschätzt und geliebt von den werdenden Müttern, die sie betreute.

Kate, in die er sich vor so vielen Jahren verliebt hatte.

Er hatte sie geliebt und wieder verloren. Aus eigener Dummheit. Nur bei dem Gedanken daran fühlte sich seine Brust an wie in einen Schraubstock gezwängt. Nick versuchte, sich vorzustellen, wie es ohne sie wäre … in der Praxis, in seinem Leben. Es gelang ihm nicht. Nein, sie durfte nicht gehen. Das konnte er nicht zulassen.

Hier gibt es nichts mehr für uns.

Nur einen emotional gestörten alten Esel wie mich, dachte er. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie gehen zu lassen, mehr stand nicht in seiner Macht. Die Sache mit Würde und Anstand über die Bühne zu bringen, das war das Einzige, was er tun konnte.

Nick stellte den Becher ab, marschierte zur Tür und riss sie auf. „Mr. Pengelly, bitte!“

Er versuchte sich zu konzentrieren, als der Patient ihm seine Beschwerden beschrieb, aber der Brief schien ein Loch in seine Tasche zu brennen und ging ihm nicht aus dem Sinn.

„Da ist aber was los.“ Mr. Pengelly deutete mit seinem feisten Doppelkinn zum Fenster.

„Hmm?“ Nick tauchte aus seinen Gedanken auf, und da hörte er es auch, das Heulen der Sirenen, das den rauschenden Regen übertönte, Oliver Fawkners schnelle Schritte, als er zu seinem Wagen direkt vor Nicks Fenster rannte, einstieg und vom Parkplatz raste. Oliver hatte heute Notdienst und war wohl von der Rettungsleitstelle verständigt worden, dass dringend ein Arzt gebraucht wurde.

„Die Sirenen“, antwortete Mr. Pengelly überflüssigerweise.

„Ja“, sagte Nick und blendete das Geschehen draußen aus, während er seinen Patienten untersuchte. Er maß den Blutdruck, horchte ihm die Brust ab und bat ihn, sich auf die Waage zu stellen. Mr. Pengelly war der perfekte Kandidat für einen Herzinfarkt. Leider hatten sämtliche Ratschläge, die Nick ihm in den vergangenen Jahren gegeben hatte, nichts gefruchtet.

Das Sirenengeheul hielt an. Muss ein schwerer Unfall sein, dachte er flüchtig und sah seinen Patienten eindringlich an. „Mr. Pengelly, ich denke, wir sollten uns noch einmal über Ihre Lebensweise unterhalten. Sie sind stark übergewichtig, treiben keinen Sport, nehmen Ihre Medikamente nicht regelmäßig, und dann kommen Sie zu mir und klagen über Schmerzen in der Brust. Wenn Sie selbst nichts unternehmen, ist ein Herzinfarkt vorprogrammiert. Wir müssen Ihren Cholesterinwert noch einmal überprüfen. Er war schon beim letzten Mal zu hoch, und Sie rauchen immer noch, oder?“

„Aber weniger, Doc.“

„Wie viele am Tag?“

Er zögerte. „Nur noch zwanzig.“

Nur? „Das sind zwanzig zu viel, Mr. Pengelly. Lassen Sie sich vorn einen Termin geben für morgens, nüchtern zum Cholesterintest, und zwar so bald wie möglich. Das Ergebnis besprechen wir dann. Bis dahin sollten Sie für mehr Bewegung sorgen und sich auf jeden Fall für einen Raucherentwöhnungskurs anmelden …“

„Da muss es ordentlich gekracht haben. Hören Sie den Rettungshubschrauber?“

Während Mr. Pengelly wieder zum Fenster zeigte, klingelte das Telefon, und Nick griff stirnrunzelnd nach dem Hörer, ungehalten darüber, dass der Patient ihm anscheinend nicht zuhörte.

„Entschuldigen Sie mich einen Moment … Roberts.“

„Hier ist Sue. Tut mir leid, dass ich störe, aber Oliver hat gerade angerufen. Kate hatte einen Unfall, und Jem wird gerade per Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Oliver meinte, Sie sollten lieber hinfahren.“

Nick hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihm wegsackte. „Was ist passiert? Wie schlimm …?“

„Kopf- und Beckenverletzungen, hat Oliver gesagt. Ihm war ziemlich wichtig, dass Sie ins St. Piran fahren, Nick. Kate braucht Sie. Ach ja, und Sie möchten ihr ausrichten, dass er sich um den Hund kümmert. Sie soll sich keine Sorgen machen.“

Nick murmelte ein Danke und legte auf. „Mr. Pengelly … es tut mir leid, aber ich werde im Krankenhaus gebraucht. Denken Sie an den Termin, und wir sprechen uns wieder, sobald das Laborergebnis da ist.“

„Okay, Doc, mache ich … essen Sie die Kekse da nicht?“

Der Mann war ein hoffnungsloser Fall. „Bedienen Sie sich“, knurrte Nick, stand auf und eilte zum Empfang.

„Mr. Pengelly braucht einen Termin für einen Cholesterintest, nüchtern, so schnell wie möglich, mit anschließender Besprechung der Werte“, sagte er zu Sue. „Ich fahre ins Krankenhaus. Können Sie Sam bitten, meine Sprechstunde zu übernehmen?“

Er wartete ihre Antwort nicht ab und hielt sich auch nicht damit auf, seinen Mantel zu holen, sondern marschierte mit langen Schritten zur Tür und in den strömenden Regen hinaus.

Die Fahrt zum St. Piran brachte ihn fast um.

Sein Magen war ein einziger Knoten, Adrenalin schoss durch seine Adern, und sein medizinischer Sachverstand bombardierte ihn mit Hiobsbotschaften, eine schlimmer als die andere. Nick stellte sich vor, was bei diesem Unfall alles passiert sein konnte, welche Folgen es haben könnte, und ihm war nur noch schlecht.

Er tippte Bens Nummer in die Freisprechanlage. Sein Schwiegersohn war leitender Chefarzt der Notaufnahme, und Nick wollte ihn vorwarnen. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad, während er darauf wartete, dass Ben an sein Handy ging.

„Wir erwarten sie jeden Moment, Nick“, kam Ben gleich zur Sache. „Ich höre den Helikopter, wir gehen gleich raus. Fahr vorsichtig, wir treffen uns in der Notaufnahme.“

„Okay. Und, Ben … sieh dir Kate mal an, bitte. Oder lass es einen Kollegen machen. Sie saß bei Jem im Wagen, ich weiß nicht, ob sie verletzt ist. Sag ihr, dass ich unterwegs bin.“

„Natürlich. Ich muss los, bis nachher.“

Die Leitung war tot. Nick arbeitete sich durch den Verkehr und erreichte schließlich das St. Piran, stellte den Wagen davor ab und lief ins Gebäude. Wahrscheinlich würde er ihn mit einer Parkkralle am Reifen wiederfinden, aber darüber konnte er sich später Gedanken machen.

Ben hatte jemanden geschickt, der ihn vorn erwartete und direkt zum Schockraum führte. Als die Tür aufschwang, blieb Nick wie erstarrt stehen. Erinnerungen überfielen ihn, Gefühle bedrängten ihn. Ich kann das nicht, dachte er wie gelähmt. Nicht hier, nicht in diesem Raum …

Du musst. Er registrierte die hektische Betriebsamkeit, hörte Ben Anweisungen geben, die das Team schnell und routiniert befolgte, wie eine gut geölte Maschine. Eine Maschine, von der das Leben des Jungen abhing?

Dieselbe Maschine und derselbe Mann, die um Annabels Leben gekämpft … und verloren hatten?

Großer Gott.

Sie schnitten Jem die Kleidung vom Leib, schoben den durchnässten Stoff beiseite, um sich seine Verletzungen genauer anzusehen. Die ganze Zeit sprachen sie beruhigend mit ihm, und Nick zog sich das Herz zusammen, als er Jem da so liegen sah, schmal und blass. Sein Sohn …

Bitte, lass ihn nicht sterben. Bitte …

„Okay, Kreuzprobe für zehn Einheiten, und holen Sie fünf Einheiten 0 negativ und ein paar Blutkonserven. Wir müssen ihn röntgen, das volle Programm, angefangen mit Kopf, Wirbelsäule und Becken. Was ist mit Schmerzmitteln?“, fragte Ben. „Wie viel hat er schon?“

„Drei Milligramm Morphin intravenös, aber sein Blutdruck fällt. Sollen wir …“

Die Stimmen traten in den Hintergrund, während Nick zwei Dinge gestochen scharf wahrnahm. Das eine war Jems kleiner Kopf in der HWS-Schiene, das Gesicht, das unter der Sauerstoffmaske fast zu verschwinden schien, voller Schrammen und Prellungen. Das andere war Kate, der die regennasse Kleidung am Leib klebte. Sie stand ein paar Schritte abseits, mit angstvollem Blick, und ließ ihren Jungen nicht aus den Augen.

Nick ging zu ihr, und sie packte aufschluchzend seine Hand. Er drückte sie, wollte Kate in die Arme nehmen und ihr versichern, dass alles gut werden würde. Aber wie konnte er ihr das versprechen, wenn er selbst nicht sicher war? Vielleicht wollte sie auch nicht von ihm getröstet werden, glaubte ihm vielleicht sowieso nicht?

Abgesehen davon bezweifelte er, dass er überhaupt ein Wort herausbringen würde. Seine Zunge fühlte sich an wie am Gaumen festgeklebt.

Er nahm sich zusammen, konzentrierte sich auf die Fakten. „Habt ihr schon die FAST-Untersuchung gemacht?“

Ben schüttelte den Kopf. „Nein, aber das kommt jetzt.“

„Fast?“, murmelte Kate.

„Ultraschall“, erklärte Ben. „Zeigt uns, womit wir es zu tun haben.“

Zum Beispiel freie Flüssigkeit im Bauchraum, Blut, meistens von gerissenen Arterien, Knochensplitter … Übelkeit stieg wieder in ihm auf, und Nick fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht.

Der Röntgenassistent bereitete die Untersuchung vor, und Ben glitt mit dem Schallkopf über Jems schmalen, leicht geschwollenen Bauch. Nick starrte auf den Bildschirm und zuckte zusammen. Freie Flüssigkeit in Mengen. Verdammt.

Man reichte ihnen Bleischürzen. Ben schien sich gedacht zu haben, dass sie den Traumaraum nicht verlassen würden. Als die Röntgenbilder kurz darauf auf dem Computermonitor erschienen, holte Nick scharf Luft.

Selbst aus der Entfernung konnte er die Frakturen an Jems linker Hüfte sehen, die gesplitterten, verschobenen Beckenknochen.

„Okay, das muss erst gerichtet werden“, entschied Ben. „Ist das Ortho-Team frei?“

„Nein. Sie machen sich gerade fertig, damit sie ihn dann übernehmen können“, erwiderte die verantwortliche Schwester. „Soll ich Josh holen?“

„Ja, bitte … und verständigen Sie den Anästhesisten, sagen Sie ihm, es ist dringend.“

„Wer ist Josh?“, fragte Kate, noch immer kreidebleich.

„Josh O’Hara, ein neuer Kollege“, sagte Ben. „Er ist klasse, ich kenne ihn seit Jahren. Traumaspezialist, mit solchen Sachen hat er Erfahrung. Wir müssen das Becken erst stabilisieren, bevor wir Jem bewegen, und dann muss er sofort nach oben in den OP, wenn wir die Blutungen hier nicht stoppen können. Dafür brauchen wir eine Unterschrift von dir, Kate. Warum unterzeichnest du nicht das Formular und holst dir einen Tee …“

„Blutdruck fällt“, vermeldete eine Schwester.

Ben runzelte die Stirn und beugte sich über den Jungen. „Hey, Jem, bleib bei uns, komm schon, du schaffst das. Geben wir ihm 250 Milligramm 0 negativ. Kate, du weißt nicht zufällig seine Blutgruppe?“

Mit verzweifelter Miene schüttelte sie den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Ich bin 0 positiv.“

„Die Ergebnisse sind da“, sagte jemand. „Er ist B negativ.“

B negativ? Das Rauschen in Nicks Ohren wurde stärker.

Ben fluchte leise. „Verdammt. Wir haben unsere Vorräte heute Morgen aufgebraucht. Ich weiß nicht, ob sie schon wieder aufgefüllt wurden.“ Er warf Nick einen bekümmerten Blick zu.

Der schluckte. „Ich habe B negativ“, sagte er. Verschwunden waren in diesem Moment auch die letzten Spuren eines Zweifels. „Jack auch. Wir sind beide Blutspender.“

Ben verlor keine Zeit. „Gut. Ruf Jack an und frag ihn, ob er heute spenden kann. Danach regeln wir alles Weitere mit der Hämatologie. Das verschafft uns zwei Einheiten. Und während der OP können wir sein Blut aus dem Bauchraum absaugen, es entsprechend aufbereiten und ihm wieder zuführen. Wenn nötig, geben wir ihm zusätzlich 0 negativ, aber sobald der Fixateur externe dran ist, sollte die Blutung aufhören.“

Oder auch nicht. „Ich spende zwei Einheiten“, erklärte Nick und sah, wie Kate sich ihm zuwandte, den Atem anhielt. Nein, er würde es nicht sagen. Nicht laut, vor allen Leuten.

Hinter ihnen flog die Tür auf, Nick drehte sich um und sah direkt in Jacks Augen.

„Kate, Dad … hi. Was ist los?“, fragte er. „Ich war draußen in einem der Untersuchungszimmer, und eine Schwester sagte, Jem sei hier.“

„Ist er“, sagte Nick nur.

Jack warf einen Blick auf die Röntgenbilder, zuckte zusammen und musterte das Kind auf der Rollliege. „Oh, verflucht“, sagte er leise. „Armer Kleiner. Was hat er?“, wandte er sich an seinen Schwager.

„Beckenfraktur auf jeden Fall, vielleicht Bauch- und Kopfverletzungen. Gut, dass du da bist, wir wollten dich sowieso anrufen. Wir sind knapp mit B negativ. Wann hast du zuletzt gespendet?“

„Warte … vor drei Monaten? Nein, kurz vor Weihnachten, also sind es fast vier.“ Jack seufzte und blickte auf seine Armbanduhr. „Ich habe gleich eine wichtige Besprechung und bin schon spät dran. Könnt ihr mich rufen, wenn ihr mich wirklich braucht?“

„Wir brauchen dich.“ Nick senkte die Stimme. „Er ist dein Bruder, Jack.“

Ungläubig starrte sein Ältester ihn an. „Jeremiah? Kates Sohn? Er ist …?“

„Auch mein Sohn“, sprach er zum ersten Mal die Wahrheit aus, die er so lange vor sich her geschoben hatte. Nick spürte, wie Kate seine Hand drückte.

Die Worte hingen in der Luft, und Jacks Gesicht wurde ausdruckslos. „Na, dann sollten wir mal die Ärmel hochrollen“, meinte er nach einer langen Pause.

Nick merkte erst jetzt, dass er die Luft angehalten hatte, und atmete mit einem erleichterten Seufzer aus. „Danke.“

Jack wandte sich ihm zu, ein eisiger Blick in den blauen Augen. „Du brauchst dich nicht zu bedanken“, sagte er tonlos. „Ich tue es nicht für dich.“ Er drehte sich zu Ben um. „Gib mir fünf Minuten, ich muss ein paar Anrufe erledigen.“

„Kein Problem, wir behelfen uns erst mal mit 0 negativ.“

Jack nickte knapp und marschierte aus dem Schockraum, wobei er mit ausgestreckter Hand wütend die Tür nach draußen aufstieß. Nick schloss die Augen. Er hatte gewusst, dass es eines Tages herauskommen würde, und er hatte auch nicht damit gerechnet, dass es leicht werden würde. Aber so … während Jeremiahs Leben am seidenen Faden hing …?

„Hallo zusammen, was haben wir denn hier?“

Herein kam ein großer, verwegen gut aussehender Mann mit einem charmanten irischen Akzent. Er beugte sich über Jeremiah und lächelte freundlich. „Hallo, Jem, ich bin Josh. Ich sehe mir nur schnell deine Röntgenaufnahmen an, und dann schicke ich dich schlafen, damit ich dein Becken richten kann, okay? Wenn du wieder aufwachst, wirst du weniger Schmerzen haben.“

Jem stieß einen kläglichen Laut aus, den man als Zustimmung deuten konnte, und Kate schluchzte leise auf.

Nick drückte wieder ihre Hand. „Es wird alles gut“, versicherte er nicht nur ihr, sondern auch sich selbst. „Ganz bestimmt“, fügte er hinzu und hoffte inständig, dass es keine Lüge war.

Josh sah auf und blickte sie an. „Sie sind die Eltern?“

Beide nickten, und Nicks Herz hämmerte. Was für eine Ironie des Schicksals …

„Okay. Sie müssen eine Einverständniserklärung unterschreiben, und dann sollten Sie sich in den Angehörigenraum bringen lassen und dort einen Tee trinken.“

„Ich will keinen Tee, ich will hier bei meinem Sohn bleiben!“, widersprach Kate heftig. „Ich bin Hebamme, Sie brauchen mich nicht in Watte zu packen.“

„Aber wir wollen Sie auch nicht vom Fußboden aufsammeln. Außerdem ist es eine sterile Prozedur. Sie können bleiben, bis die Narkose wirkt, dann müssen Sie gehen, tut mir leid.“

Nick legte ihr den Arm um die verkrampften Schultern und drückte sie sanft. „Er hat recht“, sagte er, obwohl er drauf und dran war, mit dem jungen Arzt zu diskutieren, damit sie doch bleiben konnten. „Du solltest nicht dabei sein. Und du musst dich noch durchchecken lassen.“

„Mir geht’s gut.“

„Das wissen wir nicht genau. Nick hat recht, du musst dein Genick überprüfen lassen“, mischte sich Ben ein. „Und deine Füße. Du warst eingeklemmt. Erst kümmern wir uns um Jem, und wenn er im OP ist, sehe ich mir dich mal an, ja? Bis dahin solltest du etwas Warmes trinken und ein paar Kekse essen. Du stehst noch unter Schock.“

Als der Anästhesist eintraf, hatte sie das Formular unterschrieben. Kate hielt die Hand ihres Sohnes und redete liebevoll mit ihm, bis die Narkose ihn in einen tiefen Schlaf versetzte. Dann führte Nick sie nach draußen, den Flur entlang zum Warteraum für die Angehörigen.

„Ich bringe Ihnen gleich einen Tee“, versprach die zierliche Krankenschwester mit einem reizenden Lächeln. „Wie trinken Sie ihn?“

„Heiß und süß, so muss er doch sein, oder?“, fragte Kate bebend und versuchte, das Lächeln zu erwidern.

Nick brachte kein Wort hervor. Das letzte Mal, als er in diesem Zimmer gestanden hatte, war Annabel kurz zuvor gestorben, und jetzt durchlebte er wieder die schrecklichen Minuten wie vor fast genau fünf Jahren. Schmerz, Verzweiflung, Schuldgefühle, alles strömte wie eine erstickende Flut auf ihn ein. Mit dem Aufbau seiner Praxis beschäftigt, hatte er nicht gemerkt, wie krank Annabel gewesen war. Und sie hatte es ihm nicht gezeigt, wollte ihm nicht zur Last fallen. Bis es zu spät war.

Sie starb an einem Blinddarmdurchbruch, und Ben hatte sie nicht retten können.

2. KAPITEL

Kate umklammerte die Teetasse mit beiden Händen und zwang sich, ein paar Schlucke zu trinken.

„Ich hasse gezuckerten Tee“, sagte sie. Sie sah auf, versuchte zu lächeln und tapfer zu sein. Doch seine Miene war verschlossen, ausdruckslos, und Kate spürte, wie die Angst mit eisiger Hand wieder nach ihr griff.

„Nick? Er wird es schaffen.“ Er muss, dachte sie, verzweifelt bemüht, nicht zusammenzubrechen. Ben war zuversichtlich gewesen und Josh auch.

„Nick?“

Er atmete tief durch und drehte ihr den Kopf zu. „Entschuldige, ich war meilenweit weg.“

Meilenweit weg? Während die Ärzte versuchten, bei seinem Sohn die lebensbedrohlichen Blutungen zu stoppen? Wo zum Teufel war Nick mit seinen Gedanken? Und dieser Ausdruck in seinen Augen …

Er sah sich im Zimmer um. „Ich war seit Jahren nicht hier. Hat sich nichts verändert. Immer noch dieselben hässlichen Vorhänge.“

Und da begriff sie. Dieses Zimmer erinnerte ihn an Annabels tragischen Tod. „Oh, Nick, es tut mir so leid“, sagte sie mitfühlend.

„Schon gut. Es ist fünf Jahre her“, wehrte er ab. „Wichtiger ist, wie geht es dir? Was meinte Ben mit deinen Füßen? Wo warst du eingeklemmt?“

„Nicht schlimm, nur zwischen den Pedalen. Mir geht es gut.“

Nick schien davon nicht überzeugt, denn er kam zu ihr herüber, setzte sich neben sie und blickte ihr forschend in die Augen. „Wie ist es passiert?“

„Er war mit seiner Klasse auf einer Freizeit gewesen, und ich wollte ihn von der Schule abholen. Es war meine Schuld … ich habe auf der anderen Straßenseite gehalten, ihn angerufen, er kam rausgelaufen und ist eingestiegen, und dann bin ich auf die Fahrspur zurück. Ich konnte kaum etwas sehen, es regnete in Strömen, aber ich habe auch kein Scheinwerferlicht gesehen. Und ich weiß noch, wie ich dachte, nur ein Idiot wird bei diesem Wetter ohne Licht fahren, also muss die Straße frei sein. Im nächsten Moment gab es einen gewaltigen Schlag, und wir rammten seitwärts einen Wagen, die Airbags gingen auf und …“

Sie verstummte und senkte den Kopf.

Einen Moment später war alles vorbei gewesen. Sie hatte nichts tun, nichts mehr ändern können. Doch für den Rest ihres Lebens würde sie diese wenigen Sekunden nicht vergessen. Wie in Zeitlupe spielten sie sich auch jetzt wieder vor ihrem inneren Auge ab. Sie hörte das metallische Knirschen, den Aufschrei ihres Kindes und den dumpfen Knall, bevor sich der Airbag in ihr Gesicht presste.

„Ach, Kate“, sagte er leise, und sie sah auf, in seine tiefgründigen dunkelbraunen Augen, die seine Gefühle sonst so gut verbargen. Aber nicht jetzt. Kate las Mitgefühl und noch etwas in ihnen, das sie nicht benennen konnte. „Es tut mir so leid“, fuhr er fort. „Es muss furchtbar gewesen sein.“

Autor

Caroline Anderson
<p>Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills &amp; Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.</p>
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