Hope's Crossing: Wo Träume wohnen

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Der vierte Band von RaeAnne Thaynes bewegender "Hope’s Crossing"-Serie: Alexandra will nur eine Affäre, als sie Sam trifft. Doch das Schicksal hat andere Pläne …

Eine feste Beziehung kommt für Alexandra nicht infrage, zu oft im Leben wurde sie enttäuscht. Ihre langen Arbeitstage als Köchin im Skiresort von Hope’s Crossing würzt sie ab und zu durch eine kurze, ungefährliche Affäre mit einem Gast, mehr nicht. Bis sie ihren Traumjob als Chefköchin des neuen Luxusrestaurants ergattert und dabei Sam Delgado trifft. Auf den ersten Blick passt der Bauleiter aus Denver perfekt in ihr Beuteschema: Er ist groß, stark, gut aussehend und nur vorübergehend in der Stadt. Doch dann entpuppt er sich wider Erwarten als treusorgender Singledad, der ein neues Zuhause für sich und seinen Sohn sucht. Plötzlich muss Alex fürchten, dass Sam mehr von ihr will, als sie zu geben bereit ist …


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494161
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

RaeAnne Thayne

Hope’s Crossing – Wo Träume wohnen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ralph Sander

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Currant Creek Valley

Copyright © 2013 by RaeAnne Thayne

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; © Jared Thayne

ISBN eBook 978-3-95649-416-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Alexandra McKnight öffnete die Tür zu ihrem Restaurant und hielt gebannt den Atem an.

Sie war schon jetzt richtig verliebt in diesen Wirklichkeit gewordenen Traum und wollte ihren engsten Freundinnen zeigen, welches fantastische Potenzial sich hier bieten würde, wenn erst mal die Sägeböcke und Gerüste verschwunden und alle Wände fertig gestrichen waren.

Die Mitglieder ihres Buchclubs folgten ihr nach. Alle waren ein wenig außer Atem, da der Weg vom Buchladen ihrer Schwester Maura im Stadtzentrum von Hope’s Crossing über die Main Street hierher ein paar Steigungen aufwies. Wenigstens hatten sie für diesen Spaziergang einen angenehm sonnigen Apriltag mit nur vereinzelten Wolken am Himmel erwischt.

Als Erste betrat Claire McKnight die neuen Räume, Alex’ beste Freundin und mittlerweile auch ihre Schwägerin. Sie ging an dem neuen doppelseitigen Kamin aus Flusssteinen vorbei, der künftig den Empfangsbereich vom Speisesaal im Erdgeschoss trennte.

Claire sah sich um, betrachtete die von allem Putz befreiten Ziegelsteinmauern und den original Holzboden, dann fiel ihr Blick auf die Rutschstange, die hinaufreichte bis in den ersten Stock der ehemaligen Feuerwache, wo sich ein weiterer Speisesaal befand – nämlich genau dort, wo früher die Feuerwehrleute geschlafen hatten, als Hope’s Crossing noch eine raue Bergbaustadt gewesen war.

„Was für ein fantastisches Gebäude“, rief Claire begeistert. „Ich muss zugeben, ich war ziemlich beunruhigt, als du mir erzählt hast, dass Brodie und Jack diese Sache ausgeheckt hatten. Ich meine, die Feuerwache war schon seit einer Ewigkeit ein richtiger Schandfleck in der Stadt. Ich fand immer, man hätte sie schon vor Jahren abreißen sollen. Aber wenn ich sie jetzt in renoviertem Zustand sehe, kommen mir tausend Ideen, was man noch alles aus der Wache machen könnte.“

„Ja, ich weiß.“ Alex lächelte Claire strahlend an und sah zu ihren anderen Freundinnen und einigen Verwandten, die sich inzwischen eingefunden hatten.

„Die Tore für die Feuerwehrwagen durch große gläserne Schiebetüren zu ersetzen war ein echter Geniestreich“, warf Charlotte Caine voller Freude ein. „Diese Aussicht auf Woodrose Mountain und das Stadtzentrum! Von hier kann man wirklich alles überblicken.“

„Ganz genau. Und im Sommer können wir die Glastüren zur Seite schieben und das Ganze in eine einzige große Terrasse verwandeln.“

„Oh, Darling, das ist einfach fantastisch“, sagte ihre Mutter Mary Ella und drückte ihr die Hand. Alex war froh darüber, dass sie alle für eine erste Führung durch das künftige Restaurant hierhergebracht hatte. Das spontan angesetzte Picknick erfüllte bei dieser Gelegenheit dann auch gleich den kulinarischen Teil des Ausflugs, der unter dem Motto Schmökern und Schlemmen stand.

„Brodie ist vom Brazen so sehr angetan“, meldete sich Evie Thorne zu Wort und strich eine lange blonde Haarsträhne hinters Ohr. „Es gab schon lange kein Projekt mehr, das bei ihm so eine Begeisterung geweckt hat.“

„Jack hat mit seinem Design hervorragende Arbeit geleistet“, stellte Mary Ella fest, während sie sich alles genau ansah.

„Natürlich hat er das, sonst wäre er ja nicht Jackson Lange.“ Die Ehefrau des fraglichen Jackson lächelte zufrieden. Alex hätte nicht geglaubt, ihre ältere Schwester je wieder so zu erleben, nachdem sie zwei Jahre lang die Hölle auf Erden durchgemacht hatte. Sie hatte Jack sehr viel zu verdanken, dabei war die kreative architektonische Genialität, die in dieses Gebäude eingeflossen war, noch das Wenigste gewesen.

„Ich bin tatsächlich mit Freundinnen und Schwestern gesegnet“, sagte Alex an die Frauen gewandt, die ihr so viel bedeuteten, „die nicht nur jede für sich brillant und talentiert sind, sondern die auch genug Geschmack haben, um genau den richtigen Mann zu heiraten … damit mir so was erspart bleibt.“

Wie nicht anders zu erwarten, brachte sie mit ihrer Bemerkung jeden im Raum zum Lachen, nur nicht ihre Mutter. Alex entging nicht das besorgte Aufblitzen in ihren Augen, das trotz der modischen Brille mit den sehr kleinen Gläsern deutlich zu sehen gewesen war.

Wie üblich ignorierte sie diese Reaktion, da sie sich nicht von den Kommentaren ihrer Mutter die Laune verderben lassen wollte – erst recht nicht jetzt, nachdem sie mit unendlicher Erleichterung gehört hatte, wie begeistert sich alle zeigten, obwohl das Restaurant von seiner Fertigstellung noch weit entfernt war.

„Danke, dass ihr für euer Mittagessen alle hügelaufwärts marschiert seid. Zur Belohnung dürft ihr vor allen anderen zum ersten Mal hier im Brazen zu Mittag essen. Ich habe für uns alle ein Lunchpaket zusammengestellt, das mir angemessen erschien, wenn ich an die berüchtigte Picknick-Szene in unserem Buch des Monats denke.“

„Ich finde immer noch, wir hätten Stolz und Vorurteil nehmen sollen, nicht Emma. Mr Darcy hat weitaus mehr Sex-Appeal als Mr Knightley“, beharrte Brodies Mutter Katherine mit einem unübersehbaren Glanz in ihren Augen.

„Das haben wir doch schon vor zwei Jahren gelesen, weißt du das nicht mehr?“, gab Mary Ella zurück. „Alex hatte damals diese fantastische Weiße Suppe und den Trifle zubereitet.“

„Ich will nur hoffen, dass du keine Taubenpastete und kein kaltes Lammfleisch in diesem Korb mit hierhergeschleppt hast“, warnte Alex’ älteste Schwester Angie sie.

„Wie kannst du dich daran erinnern, woraus das Picknick in Emma bestand?“, wunderte sich Charlotte und musste lachen.

Angie grinste sie triumphierend an. „Bei mir dreht sich immer alles ums Essen. Das solltest du inzwischen aber eigentlich wissen.“

„Es gibt weder Taube noch Lamm, sondern langweiliges kaltes Brathähnchen mit Kartoffelsalat, und dazu etwas Obst. Aber eine Pastete gibt es auch. Und noch ein paar andere Dinge.“

Sie öffnete den großen Korb, holte die Decke heraus und breitete sie auf dem Holzboden aus. „Leider haben wir noch keine Tische und Stühle. Bestellt ist das zwar alles, aber die Lieferung erfolgt erst in ein paar Wochen. Wem es auf dem Boden zu ungemütlich ist, kann sich auf die Treppe setzen. Katherine, Mom, Ruth, ihr könnt ja die Kaminumrandung als Sitzgelegenheit nutzen, die ist noch etwas höher als die Stufen.“

„Das ist perfekt“, erklärte Katherine Thorne.

Alex stellte den Stapel Teller mitten auf die Decke, und in den darauffolgenden Minuten waren die Mitglieder des Buchclubs damit beschäftigt, sich von den herzhaften Köstlichkeiten zu bedienen.

Natürlich war es eine völlig verrückte Idee gewesen, sie alle zum Picknick hierher mitzunehmen. In Mauras Buchhandlung Dog-Eared Books & Brew hätten sie es viel bequemer gehabt, doch Alex hatte ihnen unbedingt zeigen wollen, was für Fortschritte ihr Restaurant machte.

„Du bist doch sicher aufgeregt, dein eigenes Restaurant zu eröffnen“, sagte Janie Hamilton mit vollem Mund zu ihr. Sie gehörte zu den neueren Mitgliedern des Buchclubs.

„Ich kann es kaum erwarten“, antwortete Alex, verschwieg aber die Tatsache, dass die Angst, die diese Aussicht gleichzeitig bei ihr auslöste, fast etwas Lähmendes hatte.

Ein eigenes Restaurant war ihr großer Traum gewesen, seit sie die Kochschule besucht hatte. Jetzt rückte der Tag der Eröffnung näher und näher, und der Traum würde bald Wirklichkeit werden. Unter die Vorfreude mischte sich aber auch die Furcht davor, dass sie womöglich gar nicht die gute und kreative Köchin war, die das Brazen brauchte, um sich in der vielseitigen Gastronomieszene von Hope’s Crossing einen Namen zu machen.

„Soweit ich das beurteilen kann, fehlt eigentlich nur noch eine Kleinigkeit“, sagte Angie plötzlich.

„So? Was denn?“, wollte Mary Ella wissen.

Alex’ Schwester sah sich noch einmal demonstrativ um, dann antwortete sie: „Vielleicht muss ich ja zum Augenarzt, aber … ich sehe hier nirgendwo eine Küche.“

„Oh weh, du hast recht“, rief Janie. „Es gibt keine Küche!“

„Was sagt denn dein Mann dazu, der brillante Architekt?“, zog Katherine prompt Maura auf. „Er hat tatsächlich das Wichtigste überhaupt vergessen.“

„Ja, ja, ich weiß“, warf Alex ein und spürte, wie sich ihre Unruhe steigerte. Sie brauchte wirklich dringend eine Küche. „Die ist unterwegs. Laut Brodie dauert es noch drei Wochen. In der Familie des Bauunternehmers, der bislang den größten Teil der Umbauarbeiten erledigt hat, gab es einen medizinischen Notfall. Brodie musste jemand Neuen anheuern, damit der Rest erledigt werden kann.“

„Sam Delgado“, ergänzte Evie. „Er hat schon an mehreren Projekten in der Nähe von Denver mit Brodie zusammengearbeitet. Ich bin ihm ein paar Mal begegnet, er ist wirklich nett.“

„Mir ist egal, wie nett er ist. Ich will nur, dass er endlich den Hintern hochbekommt und die Küche fertigstellt, damit ich anfangen kann, Vorräte zu kaufen und mir einen Termin für die Eröffnung zu überlegen.“

Diese Ungewissheit war nur eine von vielen Sorgen, die sie in mancher Nacht um den Schlaf brachten. Nachdem sie jahrelang als stellvertretende Küchenchefin gearbeitet hatte, bekam sie nun endlich die Gelegenheit, selbstständig ihr Können unter Beweis zu stellen. Als Eigentümer und Bauherr des Restaurants gab Brodie ihr diese Chance, und sie konnte sich einen Patzer einfach nicht erlauben.

Alles würde gut ausgehen, hielt sie sich besänftigend vor Augen. Sie konnte auf jahrelange Erfahrung zurückgreifen, sie war talentiert, und sie wusste, was harte Arbeit bedeutete. Was brauchte sie da sonst noch?

„Ich habe mal irgendwo gelesen, dass neun von zehn neu eröffneten Restaurants noch im ersten Jahr wieder schließen“, sagte Ruth Tatum und tupfte mit einer Serviette ihre Mundwinkel ab.

„Mom“, ermahnte Claire sie.

„Was denn? Ich hab’s gelesen.“

Alex war solche Bemerkungen von Ruth gewöhnt, schließlich war sie praktisch gemeinsam mit Claire aufgewachsen. Dennoch schmerzte sie der Pessimismus, der in diesen Worten mitschwang. „Das stimmt so aber nicht“, stellte sie schnell richtig. „Tatsächlich gilt das im ersten Jahr für eins von vier Restaurants, und am Ende des dritten Jahrs sind es nicht ganz drei von fünf, die wieder schließen müssen.“

Noch eine Sorge mehr, die ihr nachts den Schlaf raubte. Wie sollte sie all den Menschen, die an sie geglaubt hatten, noch ins Gesicht sehen können, falls sie mit dem Brazen Schiffbruch erlitt?

„Dieses Restaurant wird eines von denen sein, die nicht nach einem oder drei Jahren wieder geschlossen werden“, verkündete Mary Ella ganz loyal. „Vorausgesetzt, deine Küche wird geliefert, und du musst nicht alles im Hinterhof auf einem Holzkohlegrill zubereiten.“

Alex seufzte leise. „Im Augenblick müsst ihr einfach eure Fantasie spielen lassen und euch eine Küche vorstellen. Ihr könnt mir glauben, wenn ich euch sage, dass es fantastisch werden wird. Ich habe mir die Pläne gemeinsam mit Jack und Brodie angesehen. Außerdem kennt jeder von euch die Küchen, die Brodie in anderen Restaurants der Stadt eingerichtet hat. Da könnt ihr euch sicher ausmalen, dass meine auch auf dem neuesten Stand der Technik sein wird.“

„Und wann werden wir dann das erste Mal hier essen können?“, erkundigte sich Maura.

„Das macht ihr doch gerade“, gab sie grinsend zurück. „Nämlich einen köstlichen Spinatsalat, wenn ich mich mal selbst loben darf.“

Ihre Schwester verzog den Mund. „Das habe ich damit nicht gemeint, Alexandra. Ich wollte wissen, für wann die Eröffnung geplant ist.“

Entschlossen ignorierte sie das nervöse Magenkribbeln. „Ende Mai, aber noch vor dem Memorial-Day-Wochenende. Bevor mit der Sommersaison die Touristen herkommen, wollen wir noch Zeit genug haben, um die Macken zu beseitigen, die sich erst zeigen, wenn die Küche in Betrieb ist.“

„Dann bleibt dir aber nicht mehr viel Zeit, wenn diese Firma erst noch drei Wochen braucht, um die Küche fertigzustellen“, machte Ruth ihr klar, die wieder mal nicht anders konnte, als das Negative hervorzuheben.

„Ja, ich weiß. Dieser Mann will am Wochenende kommen. Ich kann’s kaum erwarten, dass er endlich anfängt.“

„Er wird kommen“, versicherte Evie ihr. „Und ich verspreche dir, du wirst von seiner Arbeit begeistert sein.“

Alex konnte es noch immer nicht fassen, dass ihrem Restaurant nach wie vor das Allerwichtigste fehlte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das Unternehmen eigentlich mit der Küche anfangen müssen und sich erst danach um alles andere kümmern sollen.

„Keine Sorge, es wird großartig werden“, sprach auch Claire ihr Mut zu. „Jeder weiß, was für eine exzellente Köchin du bist. Die Leute werden von hier bis zum Silver Strike Canyon anstehen, um in deinem Restaurant einen Platz zu bekommen.“

Sie mochte Claires unerschütterliche Zuversicht, aber sie musste jeder von Claires Äußerungen mit einer gewissen Skepsis begegnen. Claire hätte sich vermutlich lieber die Zunge abgebissen, anstatt irgendetwas zu sagen, womit sie Alex die Tour vermasselt hätte.

„Danke, Schatz.“

Erleichtert stellte sie fest, dass das Thema Restaurant damit offenbar erledigt war, da sich die Unterhaltung auf den eigentlichen Grund für ihr Zusammensein verlagerte: das Buch, das sie in diesem Monat gelesen hatten. Sie diskutierten über Fehlpaarungen, über Emmas starke und manchmal unsympathische Persönlichkeit, die sie zu einer für Jane Austen untypischen Romanheldin machte.

Als die Diskussion sich nach einer Weile vom Buch zum neuesten Klatsch aus der Stadt verlagerte, waren die meisten Mitglieder des Buchclubs beim Dessert angelangt.

„Charlotte, wie geht es deinem Bruder?“, fragte Mary Ella, als kurzzeitig Schweigen herrschte.

Charlotte legte einen der zuckerfreien Kekse zur Seite, die Alex speziell für sie gebacken hatte. Nachdem die Besitzerin des Süßwarenladens im Verlauf des letzten Jahres fast vierzig Kilo abgenommen hatte, achtete sie sehr genau auf jeden Bissen, den sie zu sich nahm. „Er kehrt endlich heim.“

„Tatsächlich? Davon habe ich noch gar nichts mitbekommen“, freute sich Katherine. „Das sind ja wunderbare Neuigkeiten.“

Im Gegensatz zu Katherine machte Charlotte nicht den Eindruck, dass sie dieser Aussage zustimmen wollte, dennoch rang sie sich zu einem Lächeln durch. „Offiziell wurde er schon vor ein paar Monaten aus dem Militärkrankenhaus entlassen, aber er ist noch eine Weile für eine Reha in der Gegend geblieben. Dad wird sich freuen, ihn wieder bei sich zu haben.“

Amüsiert nahm Alex zur Kenntnis, wie Katherine ein wenig irritiert reagierte, als Charlotte ihren Vater Dermot Caine erwähnte, dem das Center of Hope Café in der Stadt gehörte. Die beiden verband, dass einer für den anderen schwärmte, doch bislang hatte keiner von ihnen den ersten Schritt gewagt.

Sie wusste, Dermot würde gut für seinen Sohn kochen, dennoch nahm sie sich vor, Dylan Caine auf ihre inoffizielle Liste mit Empfängern von Essenslieferungen zu setzen. Im Café gab es gutbürgerliche Küche, doch ein Kriegsheld wie Dylan hatte es verdient, hin und wieder mit einem Gourmetgericht verwöhnt zu werden.

„Wir müssen ihm mit einem Barbecue einen großen Empfang bereiten“, sagte Mary Ella.

Sofort schüttelte Charlotte energisch den Kopf und widersprach: „Das würde ihm überhaupt nicht gefallen. Er ist nicht mehr der Dylan, den ihr alle in Erinnerung habt. Wahrscheinlich wird er kaum ein paar Worte mit irgendeinem von uns reden wollen.“

Charlottes Familie war so groß wie die von Alex, aber sie war das einzige Mädchen in einem Haus voller Jungs gewesen, während Alex vier Schwestern und nur einen Bruder aufzubieten hatte, nämlich Riley, der inzwischen der Ehemann von Claire war.

„Ich glaube, ich muss zurück in meinen Buchladen“, sagte Maura plötzlich. „Jack hat Henry heute Nachmittag bei sich im Büro, und er dürfte inzwischen für seinen Mittagsschlaf bereit sein.“

„Wer? Jack oder Henry?“, fragte Mary Ella lächelnd.

„Eigentlich sogar beide.“

Mauras Adoptivsohn war mit seinen zehn Monaten das süßeste Kind, das Alex kannte, aber mittlerweile machte er jede Menge Arbeit.

„Ich muss auch los“, meldete sich Claire zu Wort. „Wir haben Hannah vorübergehend das String Fever überlassen, aber sie ist ein so gutherziger Mensch, dass ich Angst haben muss, dass sie die Hälfte des Inventars einfach verschenken könnte.“

Alex musste sich eine ironische Erwiderung verkneifen. Ausgerechnet Claire sorgte sich um die Gutherzigkeit einer Freundin, dabei war doch gerade sie für ihre grenzenlose Großzügigkeit bekannt.

„Ich finde dein Restaurant einfach toll, Alex“, sagte sie.

„Ich auch“, stimmte Maura ihr zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Alex kamen fast die Tränen, als sie sah, wie glücklich ihre Schwester war, während es vor einer Weile noch so ausgesehen hatte, als würde Maura nie wieder fröhlich sein können.

„Zur Eröffnung werden wir alle da sein. Versuch gar nicht erst, uns fernzuhalten“, warnte Katherine sie lachend.

Ihre Freundinnen sammelten ihre Sachen zusammen, und Alex sah ihnen nach, wie sie hügelabwärts in Richtung Stadtmitte gingen. Ihre Mutter brach als Letzte auf und hüllte sie bei ihrer Umarmung mit dem vertrauten Geruch nach Blumen und Weichspüler ein.

„Ich liebe es hier, Darling“, sagte Mary Ella. „Es ist so schön, dich wieder glücklich zu erleben.“

Alex löste sich aus der Umarmung. „Was soll denn das heißen? Ich bin immer glücklich.“

„Wirklich?“

Heute war sie einfach nicht in der Stimmung, um sich mit den sorgenvollen Bemerkungen ihrer Mutter auseinanderzusetzen. „Ja, ich bin glücklich. Ich strahle vor Glück. Warum sollte ich nicht glücklich sein?“

Verärgerung blitzte in den grünen Augen auf, die alle Kinder von Mary Ella geerbt hatten. „Das Restaurant wird ganz wunderbar werden. Ich … ich hoffe nur, es gibt dir auch alles, was du haben willst.“

„Das wird es“, erwiderte sie entschieden.

„Du weißt, ich bin um dich besorgt.“

„Weil ich nicht glücklich verheiratet bin wie alle anderen und weil ich nicht am laufenden Band Enkelkinder für dich in die Welt setze, wolltest du doch sagen.“ Alex hatte es flapsig klingen lassen wollen, aber es kam ihr vor, als hätte sie in einem gereizten Tonfall geantwortet.

Mary Ellas Miene nahm einen härteren Zug an. „Das habe ich damit nicht gemeint.“

Sie wollte jetzt nicht mit ihrer Mutter über dieses Thema reden, schon gar nicht nach dem so angenehm verlaufenen Treffen des Buchclubs. Sie bewunderte Mary Ella dafür, dass sie vor vielen Jahren ihr in Scherben liegendes Leben in den Griff bekommen und nach vorn geschaut hatte. Bei manchen Themen war bei ihr allerdings ein ausgeprägter Tunnelblick festzustellen.

„Bist du dir ganz sicher? Es sind nur noch Lila und ich übrig, nachdem Riley und Maura den Sprung in die Ehe gewagt haben, und Lila ist in Kalifornien so weit von dir entfernt, dass du dich nicht in ihr Leben einmischen kannst.“

„Ich mische mich ein?“, fragte Mary Ella. Ihr Tonfall war zwar sanft, aber ihre Augen blitzten ungehalten auf.

Alex wusste, es war ihrer Mutter gegenüber nicht fair. „Nein“, räumte sie schließlich ein. „Aber ich weiß, du hättest es gern, wenn es einen Mann in meinem Leben geben würde.“

„Nur, wenn du das wirklich willst. Mich stört es nicht, wenn du nicht heiraten willst, Alex. Ich war die letzten zwanzig Jahre allein, und ich dachte, für den Rest meines Lebens bleibt das auch so. Ich hätte niemals erwartet, dass auf einmal Harry Lange hereinplatzen könnte.“

Es war gut, dass Harry ihre Mutter glücklich machte, auch wenn Alex nicht so genau wusste, wieso sie so empfand. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie über das Liebesleben ihrer Mutter diskutieren wollte.

„Du kannst aufhören, dir Sorgen um mich zu machen, Mom. Ich habe fast alles, was ich will.“

„Fast?“

Sie machte eine ausholende Geste. „Mir fehlt nur noch, dass Brazen wie eine Bombe einschlägt.“

Mary Ella schien nicht überzeugt zu sein, aber sie sagte weiter nichts, während sie die Jacke anzog, die sie während des Picknicks abgelegt hatte. „Ich erlebe dich nur sehr ungern so … so rastlos.“

Die Formulierung hätte nicht treffender sein können. Tatsächlich konnte sie sich auf kaum eine Sache konzentrieren, dazu kochte sie noch wie eine Verrückte, um neue Rezepte auszuprobieren, und sie schlief in letzter Zeit nicht gut. Zwar redete sie sich ein, dass lediglich ihre Nerven verrücktspielten, weil die Eröffnung ihres Restaurants zum Greifen nah war, doch gleichzeitig nagte eine unterschwellige Angst an ihr, es könnte einen anderen Grund geben.

Seit ihrer Rückkehr in die Staaten war sie lange Zeit auf der Suche nach etwas gewesen, aber sie war zu der Überzeugung gelangt, dass es sich dabei lediglich um Vorfreude auf diese Phase ihres Lebens gehandelt hatte, in der sie ihr eigenes Restaurant betreiben würde. Aber was, wenn das Brazen gar nicht diese Leere in ihrem Inneren füllen würde?

„Ich bin rundum zufrieden mit meinem Leben. Alles läuft so, wie ich es will.“

Mary Ella beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Wenn das wirklich so ist, werde ich aufhören, mir Sorgen um dich zu machen.“

„Eher verzichtest du auf die Luft zum Atmen, bevor du aufhörst, dir Sorgen um deine Kinder zu machen.“

Wie von Alex beabsichtigt, begann ihre Mutter zu lächeln. „Da ist es schon gut, dass ich so viele Kinder habe, die alle etwas von meiner Liebe abhaben wollen, nicht wahr? Stell dir vor, du wärst ein Einzelkind.“

„Dann würde ich wahrscheinlich wahnsinnig vor Liebe.“

Das Lachen ihrer Mutter begleitete sie bis zur Tür, die Alex von innen abschloss, nachdem Mary Ella gegangen war. Dann kehrte sie in den Raum zurück, der – hoffentlich – schon bald ihre Traumküche beherbergen würde.

Die Küche befand sich auf der von der Straße abgewandten Seite, denn von der Aussicht auf die Stadt sollten natürlich die Gäste profitieren. Aber Jack hatte in diesem Raum ein paar Fenster einbauen lassen, die ihr einen wunderschönen Blick auf die älteren Häuser von Hope’s Crossing weiter hügelaufwärts sowie auf die dahintergelegenen Berge erlaubte.

Das hier gehörte ihr, ihr allein. Sie war schon jetzt in dieses Restaurant verliebt.

Nach jahrelangem Planen und Träumen war die Arbeit inzwischen so weit gediehen, dass ihr Traum bald Wirklichkeit werden würde.

Seit ihrer Rückkehr aus Europa hatte sie viele Jahre lang in anderen Restaurants als stellvertretende Chefköchin gearbeitet. Hier und da war ihr sogar anschließend die Position der Chefköchin angeboten worden, aber nie hatte es sich für sie richtig angefühlt. Mal hatte sie sich gesagt, dass sie für diese Verantwortung noch nicht bereit war, mal waren ihr die Eigentümer nicht sympathisch genug gewesen, um auf lange Sicht eng mit ihnen zusammenarbeiten zu können, und manchmal hatte sie einfach nur Angst vor dem Posten gehabt.

Als dann Brodie Thorne ihr seine Pläne für die alte Feuerwache gezeigt hatte, war ihr instinktiv klar geworden, dass ihre Zeit gekommen war. Sie kannte Brodie ihr ganzes Leben lang und vertraute ihm bedingungslos, nicht nur als geschicktem Geschäftsmann, der auf die erfolgreiche Leitung etlicher Restaurants zurückblicken konnte, sondern vor allem als Mensch.

Die Sterne waren in die richtige Konstellation eingetreten, und für Alex gab es keine weiteren Ausflüchte mehr.

Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie es in ihrem Restaurant von Gästen wimmelte, während sie in der Küche stand und ihren Mitarbeitern Anweisungen erteilte, umgeben von den köstlichsten Aromen, während sie hören konnte, wie die Gäste im Speisesaal mit ihren Gläsern anstießen und sich angeregt unterhielten.

Plötzlich drang durch die Hintertür ein Schwall wüster Flüche bis zu ihr in die Küche.

Alex wurde aus ihrem Tagtraum gerissen und machte die Augen auf. Jemand war hier, hier in ihrem Restaurant. Ein Mann, der, nach seiner Wortwahl zu urteilen, ziemlich ungehalten war. Konnte das wahr sein? Da glaubte doch tatsächlich jemand, er könnte am helllichten Tag hier einbrechen und Baugeräte und Werkzeuge stehlen!

Das hast du dir wohl so gedacht, du Mistkerl, ging es ihr durch den Kopf.

Sie griff nach einer dicken Holzlatte – dem Nächstbesten, was als Waffe dienen konnte – und schlich zur Ecke. Der Korridor führte vom Speisesaal zu den Toiletten sowie zu einem kleineren Saal, den sie für Feierlichkeiten an Gruppen vermieten wollte.

Ihr Herz pochte laut, als sie mit dem Kantholz in den Händen einsatzbereit um die Ecke spähte. Die Nachmittagssonne fiel durch die Fenster und nahm ihr ein wenig die Sicht, sodass sie den Eindringling nur als große, muskulöse Gestalt mit kurzen dunklen Haaren wahrnahm, die eindeutig etwas Bedrohliches ausstrahlte.

Der Mann hatte bereits eine Stichsäge an sich genommen, die er in der einen Hand hielt, während er mit der anderen einen komplett bestückten Werkzeuggürtel trug. Der verfluchte Dieb! Sie würde sich auf keinen Fall von diesem Kerl ausrauben lassen, auch wenn die Sachen eigentlich dem Unternehmer gehörten, dem sie diese nervenaufreibende Verzögerung zu verdanken hatte.

Sie war so wütend, dass sie sich keine Gedanken darüber machen konnte, wie klug oder unklug es war, sich einem Mann in den Weg zu stellen, der ihr körperlich zweifellos überlegen war und ihr sowohl mit der Säge als auch mit dem Werkzeuggürtel ernste Verletzungen zufügen konnte. Aber es war ihr Restaurant, und sie hatte einfach zu viel in dieses Projekt gesteckt. Kein Idiot sollte hier einfach reinspazieren und sich an fremdem Eigentum zu schaffen machen.

Ihre Hände, mit denen sie das Kantholz umfasste, fühlten sich auf einmal schweißnass an, dennoch machte sie ein paar Schritte nach vorn und rief: „Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken.“

Der Mann wirbelte abrupt herum und sah noch erschreckender aus, als sie es erwartet hatte. Außerdem war er für jemanden, der nichts Gutes beabsichtigte, überraschend glatt rasiert.

„Dumme Gedanken?“, wiederholte er mit rauer Stimme, die zu seinem ganzen Erscheinungsbild passte.

„Sie haben sich die falsche Baustelle zum Plündern ausgesucht, Freundchen. Mein Bruder ist zufällig der Polizeichef.“

Er legte den Kopf schräg und zog eine Braue hoch. „Ist das wahr?“

„Sie können mir ruhig glauben. Und jetzt legen Sie alles wieder an seinen Platz und verschwinden auf Nimmerwiedersehen, sonst werde ich ihn alarmieren.“

„Das wollen Sie doch eigentlich gar nicht tun.“

Sein Tonfall machte sie nur noch wütender. Als stellvertretende Chefköchin hatte sie genügend Erfahrung mit aufbrausenden, herablassenden Männern gemacht, die der Meinung gewesen waren, sie könnten sie mit ihrem Auftreten einschüchtern. Sie war es leid, so behandelt zu werden, was ein weiterer Grund war, wieso sie es nicht erwarten konnte, ihr eigenes Restaurant zu eröffnen.

Es ärgerte sie zusätzlich, dass seine Bemerkung auch noch zutraf. Sie wollte Riley tatsächlich nicht anrufen und um Hilfe bitten. Ihr Grundsatz war es schon immer gewesen, ihre Angelegenheiten nach Möglichkeit selbst zu regeln und nicht die Familie hineinzuziehen.

Natürlich würde sie das diesem Kerl nicht anvertrauen. Stattdessen hielt sie das Kantholz – das sich immer schwerer anfühlte – mit einer Hand fest und zog ihr Handy aus der Tasche. In diesem Fall würde sie das tun, was nötig war, und wenn es bedeutete, ihren Bruder anzurufen. Sie blätterte im Namensregister, bis sie Riley gefunden hatte. Dann hielt sie inne und bewegte den Daumen dicht über die Anruftaste. „Ich zähle bis drei, und dann sind Sie von hier verschwunden“, sagte sie energisch, wobei ihr nicht entging, dass sie sich eigentlich anhörte wie aus einem schlechten Krimi entsprungen.

Er schien diese Meinung zu teilen. „Sie werden sich nur lächerlich machen, wenn Sie jetzt die Kavallerie anfordern. Ich mache hier nichts Ungesetzliches.“

„Witzig“, gab sie zurück. „Das ist genau die Antwort, die ich von einem Verbrecher erwarten würde.“

„Ich bin kein Verbrecher.“

„Tja, und das ist dann genau die nächste Antwort, die ich erwarten würde.“

Er lachte auf eine raue Art, die sich ihren Weg durch sie hindurch zu bahnen schien. Das konnte nur an ihren Nerven liegen, sagte sie sich. Um dagegen anzukämpfen, hielt sie das Holz etwas fester umklammert.

Der Mann sah ein wenig zu alt aus für die Sorte Einbrecher, die in ein Haus eindrang, sich das Nächstbeste schnappte und dann schon wieder die Flucht antrat. Er war eher in ihrem Alter, vielleicht ein bisschen älter. Eine Tätowierung auf dem Bizeps lugte unter dem Ärmel eines ausgefransten T-Shirts hervor, das jeden einzelnen Muskel deutlich erkennen ließ.

Insgesamt sah er für einen Verbrecher eigentlich sehr gut aus, auch wenn er sich von einer Frau mit Kantholz und Handy nicht bedroht zu fühlen schien.

„Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?“

Alex sah ihn ungläubig an. Er besaß auch noch die Frechheit, so mit ihr zu reden? „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Sie sind derjenige, der hier nichts zu suchen hat.“

„Ach ja? Und warum habe ich dann das hier?“ Aus der Hosentasche zog er einen Schlüssel, der auf den ersten Blick genauso aussah wie der, mit dem sie vorhin die Eingangstür abgeschlossen hatte.

„Halten Sie mich für so dumm, dass ich auf einen solchen Trick reinfallen würde? Vielleicht ist das da der Schlüssel für den Schuppen, in dem das Säurefass steht, in das Sie alle Ihre Opfer eintauchen, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.“

Er zog verwundert die Brauen zusammen und lächelte sie weiter sehr amüsiert an. „Wow. Da hat wohl jemand zu viele Horrorfilme gesehen, wie?“

Zugegeben, ihm zu unterstellen, er sei ein Serienmörder, war etwas zu viel des Guten, aber sie würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen. „Was ich damit sagen will, ist, dass ich weder weiß, wer Sie sind, noch, was Sie in meinem Restaurant zu suchen haben.“

„Ihr Restaurant? Seltsam, das ist doch Brodie Thornes Restaurant.“

Das Kantholz fing an, ihr aus der Hand zu rutschen, also nahm sie den Arm runter, um es mit einem Ende auf dem Boden abzustützen. Gleichzeitig begann sie sich zu fragen, ob ihr womöglich ein winziger Fehler unterlaufen sein könnte.

„Ja, genau genommen ist das richtig.“ Es war tatsächlich Brodies Restaurant, wenn man danach ging, wer für alle Rechnungen aufkam und wer das gesamte Risiko auf sich nahm. „Aber ich bin seine Chefköchin.“

Der Kerl begann noch breiter zu lächeln, und ihr Magenkribbeln wurde gleichzeitig heftiger. Oh je.

„Hier scheint ein kleines Missverständnis vorzuliegen. Sie müssen Alexandra McKnight sein.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Kann schon sein.“

„Brodie hat mir von Ihnen erzählt, aber irgendwie habe ich Sie mir älter vorgestellt.“

Sie verzog das Gesicht. Dieses Jahr wurde sie siebenunddreißig, und das kam ihr manchmal steinalt vor. „Okay, jetzt wissen wir beide, wer ich bin. Aber wer zum Teufel sind Sie?“

„Oh, tut mir leid.“ Dass dieser so rau und bedrohlich aussehende Mann ein so charmantes Lächeln aufsetzen konnte, kam für Alex völlig unerwartet. „Ich bin Sam Delgado, ich bin hier, um Ihre Küche einzubauen.“

Es dauerte ein wenig, aber dann waren seine Worte zu ihr durchgedrungen, und sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. Sie war eine Idiotin, die man besser nicht unter die Leute ließ.

Dieser Mann sollte in aberwitzig kurzer Zeit ihre Küche fertigstellen, und sie hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ihm zu unterstellen, er wolle die Werkzeuge stehlen, die ihm vermutlich sogar gehörten.

Wenn sie wollte, dass in dieser Küche perfekte Arbeitsbedingungen herrschten, musste sie eng mit dem Handwerker zusammenarbeiten, den Brodie für sie ausgesucht hatte. Wie sollte das nach so einem misslungenen ersten Zusammentreffen noch möglich sein?

Sie lehnte das Kantholz an die Wand und wandte sich Sam Delgado mit einem hoffentlich zerknirschten Gesichtsausdruck zu. „Hoppla.“

Zu ihrer großen Erleichterung schien er nicht verärgert zu sein, obwohl er allen Grund gehabt hätte, zumindest ein wenig verstimmt zu sein. „Sehen Sie? Jetzt sind Sie doch bestimmt froh, dass Sie nicht die Polizei geholt haben.“

„Jeder andere hätte an meiner Stelle genauso reagiert. Sie müssen auch zugeben, dass Sie ziemlich bedrohlich aussehen, Sam Delgado. Das muss wohl an Ihrem Tattoo liegen.“

„Wenn Sie mich erst besser kennengelernt haben, werden Sie sehen, dass ich so harmlos bin wie ein Kätzchen.“

„Das möchte ich bezweifeln.“

„Warten Sie’s nur ab.“

Sie wusste nur zu gut, dass seine Worte bei ihr nicht diese leichte Gänsehaut auslösen sollten. Aber wenigstens nahm er es ihr nicht übel, dass sie ihn beinahe mit einer Holzlatte niedergestreckt hätte. Das musste sie ihm hoch anrechnen. „Ich habe nicht vor dem Wochenende mit Ihnen gerechnet. Brodie sagte, vorher könnten Sie nicht mit der Arbeit anfangen.“

„Ich bin in Denver mit einem anderen Auftrag früher als geplant fertig geworden, und da dachte ich mir, ich komme schon mal her und kundschafte die Lage aus, bevor meine Crew morgen hier eintrifft.“

Die Art, wie er redete, sein Haarschnitt und das, was sie von seinem Tattoo sehen konnte, erinnerten sie an Brodies Anmerkung, dass Sam Delgado so wie Charlottes Bruder Dylan bei der Army früher zu den Special Forces gehört hatte. „Nun, dann herzlich willkommen in Hope’s Crossing, Sam Delgado. Ich kann Ihnen versprechen, dass nicht jeder in der Stadt Sie mit einem Kantholz begrüßen wird.“

Er duftete gut, wie sie gegen ihren Willen bemerkte. Nach Wind und Sonnenschein, dazu sehr sexy und sehr männlich. Es war völlig idiotisch von ihr, davon überhaupt Notiz zu nehmen!

„Ich nehme Ihnen das nicht übel, dass Sie vorsichtig waren. Jede Frau reagiert mit einem gewissen Argwohn, wenn auf einmal ein Fremder in ihr Territorium vordringt. Aber es ist ja nichts passiert.“ Er legte die Stichsäge und den Werkzeuggürtel auf den Boden. „Brodie hat davon gesprochen, Sie hätten ganz bestimmte Vorstellungen von Ihrer Küche. Ich bin froh, dass ich jetzt hier bin, damit wir durchsprechen können, was Sie haben wollen. Hätten Sie Zeit?“

„Sie meinen … jetzt?“

„Klar, warum nicht?“, gab er achselzuckend zurück.

Sie konnte sich verschiedene Gründe vorstellen, die dagegensprachen, allen voran ihr Herzschlag, der noch immer nicht auf ein normales Tempo zurückgegangen war. „Ähm … ja, gut. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo das alles montiert werden soll.“

„Ich hole nur noch schnell die Pläne“, sagte er und zeigte auf die hintere Tür.

Als er wieder bei ihr war, rollte er die Zeichnungen aus, und Alex verbrachte die nächsten Minuten damit, ihm zu beschreiben, was sie von ihrer Küche erwartete. Außerdem zeigte sie ihm das Design, das sie und Brodie sich bereits überlegt hatten. Es freute sie umso mehr, als Sam ein paar Gegenvorschläge machte, die die Arbeitsabläufe und die Laufwege verbesserten.

„Sind Sie sich sicher, dass Sie das alles hinkriegen, wenn die Eröffnung in etwa einem Monat stattfinden soll?“, wollte sie wissen.

„Es wird eng werden, da will ich Ihnen nichts vormachen. Aber meine Jungs sind so einer Herausforderung gewachsen, sonst hätte ich diesen Auftrag auch nicht angenommen.“

„Ich bewundere es, wenn ein Mann von dem überzeugt ist, was er sagt“, erklärte sie. Dabei war das längst nicht das Einzige, was sie bewunderte, wenn es um Sam Delgado ging, doch sie rief sich innerlich rasch zur Ordnung. So wenig, wie sie über den Mann wusste, konnte es trotz allem sein, dass er irgendwo einen Lagerraum hatte, in dem er die abgetrennten Köpfe seiner Opfer aufbewahrte.

Andererseits vertraute Brodie diesem Mann, dass er seinen Auftrag rechtzeitig erledigen würde. Diese Tatsache hatte für Alex große Bedeutung, da sie wusste, er hätte Sam das Projekt nicht übertragen, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass dieser den gesetzten Termin auch einhielt.

Es war das gleiche Vertrauen, das er auch ihr entgegenbrachte, indem er ihr die Chance gab, Chefköchin dieses Restaurants zu sein. Und ganz nebenbei war Brodie auch noch der Ehemann einer ihrer engsten Freundinnen.

Wen störte schon ein kleiner, harmloser Flirt? Sam Delgado war vielleicht genau das richtige Gegenmittel für diese Rastlosigkeit, von der ihre Mutter gesprochen hatte. Sie war schon seit Monaten nicht mehr mit einem Mann ausgegangen, der letzte war Oliver gewesen, dieser wirklich witzige Schweizer Skilehrer, der mitten in der Saison in die Alpen zurückgekehrt war.

Sam war sogar ihr Typ – groß, gut aussehend und nicht länger als ein paar Wochen in der Stadt. Er würde Hope’s Crossing verlassen, sobald die Arbeiten am Restaurant abgeschlossen waren. Warum sollte sie also nicht mit ihm eine schöne Zeit verbringen, solange er hier war? Wichtig war doch, dass sie ihn damit nicht von seiner Arbeit abhielt, um den Termin für die Eröffnung nicht in Gefahr zu bringen.

„Sieht alles klar und deutlich aus“, fand Sam und rollte die Baupläne wieder zusammen, die er aus seinem Pick-up geholt hatte. „Da die einzelnen Elemente alle schon vorhanden sind, geht es ja nur noch darum, alles dorthin zu stellen, wo es hin soll. Ihren Eröffnungstermin Mitte Mai sollten Sie damit halten können.“

„Ich werde Sie beim Wort nehmen, Mr Delgado“, sagte sie.

„Sobald meine Crew morgen eingetroffen ist, können wir loslegen.“

„Wie viele Leute sind das?“

„Mit mir zusammen vier. Wir arbeiten schon seit vielen Jahren zusammen.“

„Hat jeder von Ihnen eine Unterkunft?“, erkundigte sie sich.

„Brodie hat Zimmer in einem Hotel am Stadtrand reserviert. Nichts Besonderes, aber für den Moment reicht das.“

„Okay, gut“, sagte Alex. „Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas brauchen.“

„Danke, werde ich machen.“

Jetzt oder nie! Sie nahm ihren Mut zusammen und preschte vor: „Ich sehe keinen Ring an Ihren Fingern. Gibt es keine Mrs Delgado?“

Viele Männer verzichteten darauf, den Ehering zu tragen. Manche machten das wegen persönlicher Vorlieben, andere wollten ganz bewusst für Unklarheit sorgen. Wenn Alex sich für einen Mann interessierte, dann achtete sie gerade auf diesen Punkt peinlich genau.

Es gab manche Lektionen, die eine Frau nicht wieder vergessen würde.

Sam Delgado stutzte, offenbar irritierte ihn diese Frage. Hätte sie nicht so genau nach Hinweisen auf ein Täuschungsmanöver gesucht, wäre ihr bestimmt das Gefühlsgewirr entgangen, das in seinen Augen zu erkennen war.

„Doch, die gibt es. Sie ist die Frau meines Bruders.“

„Aber Sie selbst haben keine Frau?“, hakte sie nach.

„Momentan nicht.“

Seine verhaltene Reaktion war keineswegs ermutigend. Womöglich war er verlobt, was ein weiteres heikles Thema ihrer Familiengeschichte angerührt hätte. Dennoch war ihr der traurige Ausdruck in seinen Augen nicht entgangen, und ihr Gefühl sagte ihr, dass er die Wahrheit sprach.

„Ist damit zu rechnen, dass sich das in nächster Zeit ändern wird?“

„Nicht, dass ich wüsste. Woher die Neugier?“

Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. „Mein persönliches Prinzip. Ich gehe nicht mit Männern aus, die verheiratet, verlobt oder auf irgendeine andere Weise langfristig an eine Partnerin gebunden sind.“

„Mir war gar nicht bekannt, dass wir vorhaben, miteinander auszugehen“, gab er amüsiert zurück.

„Wir haben gar nichts vor. Aber falls sich eine Gelegenheit ergeben sollte, möchte ich die Gewissheit haben, dass beide Seiten ungebunden sind. Fremdgänger machen mich rasend. Und Männer, die sich zum Fremdgehen überreden lassen, sind noch übler.“

Er betrachtete sie eine Weile, als sei er sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. „Sich mitzuteilen macht Ihnen offenbar keine Probleme, oder sehe ich das falsch, Ms McKnight?“

„Sagen Sie bitte Alex zu mir. Vor allem mit Blick darauf, dass wir uns in absehbarer Zukunft möglicherweise privat verabreden wollen.“

„Dann sollten wir auch direkt zum Du übergehen“, konterte er. „Ich bin übrigens Sam.“

„Einverstanden.“

Plötzlich begann er zu lachen und schüttelte dabei den Kopf.

„Gut, dann lass mich mal eine Sache klarstellen. Mag sein, dass ich altmodisch eingestellt bin, aber bei solchen Angelegenheiten bin ich gern derjenige, der sagt, wo’s langgeht.“

Sie lächelte ihn lässig an. „Ach, Männer sind doch so dumm. Ihr glaubt, dass ihr diejenigen seid, die sagen, wo es langgeht. Aber in Wahrheit ist es so, dass wir Frauen euch das nur dann sagen lassen, wenn uns die Richtung gefällt.“

Damit entlockte sie ihm wieder dieses raue, sexy Lachen, das ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. „Ich habe keine Ahnung, mit welchen Weich… ähm, mit welchen Warmduschern du normalerweise ausgehst, Alex McKnight, aber ich bin ein ehemaliger Army Ranger, und unser Motto lautet, dass die Army Ranger sagen, wo es langgeht. Und das beschränkt sich nicht auf feindliche Territorien.“

Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so sehr zu einem Mann hingezogen gefühlt. Normalerweise ging sie nicht weiter mit den Männern, mit denen sie sich verabredete, als bis zum Petting. Doch Sam Delgado hatte etwas an sich, das sie vermuten ließ, sie könnte seinetwegen all ihre Grundsätze über Bord werfen.

„Ich werde es mir merken. Wir sehen uns“, sagte sie, lächelte ihn an und strich eine Haarsträhne hinters Ohr, dann griff sie nach dem Picknickkorb und ging zur Tür.

„Moment mal“, rief er ihr nach. „Du kannst nicht einfach weggehen. Wir befinden uns mitten in einer Unterhaltung.“

Das war also für ihn eine Unterhaltung? Sie grinste ihn an. „Ich dachte, wir wären fertig.“

„Wann soll ich dich morgen Abend abholen?“

Oh ja, es gefiel ihr, wenn ein Mann die Initiative ergriff. „Morgen Abend arbeite ich bis um neun.“

„Perfekt. Ich werde hier ganz sicher lange zu tun haben, da wäre ein bisschen Entspannung nicht verkehrt, bevor ich ins Hotel fahre.“

„Spielst du Pool, Army Ranger Delgado?“

„Ich habe schon so einige Queues eingekreidet.“

„Sehr gut. Dann treffen wir uns im Speckled Lizard, okay? Das liegt in der Front Street, zwei Blocks westlich vom zentralen Häuserblock auf der Main Street. Das Lizard ist eines der wenigen Lokale, die auch außerhalb der Saison an einem Donnerstagabend länger geöffnet haben.“

„Ich werde da sein. Morgen, zweiundzwanzig Uhr, im Speckled Lizard.“

Amüsiert verließ sie das Restaurant und verspürte bereits eine gewisse Vorfreude auf den morgigen Abend.

Alles in allem konnte sie froh sein, dass sie ihn nicht mit dem Kantholz zu Boden gestreckt hatte.

2. KAPITEL

Sam sah Brodies Chefköchin hinterher, wie sie mit dem Picknickkorb in der Hand hügelabwärts ging. Ihre blonden Locken federten bei jedem Schritt.

Sein Herz schlug immer noch ungewöhnlich schnell, und er hatte keine Ahnung, was da gerade eben mit ihm geschehen war. Im Augenblick jedenfalls kam er sich vor, als wäre er die letzte halbe Stunde in einem Betonmischer umhergeschleudert worden.

Es war ihm völlig fremd, einen derartigen Schub an Adrenalin, Vorfreude und purem Leben in sich aufsteigen zu fühlen.

Auf dem Weg in die alte Feuerwache hatte er mit allem gerechnet, aber nicht damit, einer Frau über den Weg zu laufen, die so forsch und so witzig war und die so vor Energie sprühte. Was war nur das Besondere an ihr? Zugegeben, mit ihren großen grünen Augen und ihren wallenden Haaren war sie eine wahre Schönheit, aber schöne Frauen kannte er mehr als genug.

Auch wenn er immer wieder darauf beharrte, dass es nicht nötig war, versuchte Nickys Ehefrau Cheri dennoch, ihn mit der einen oder anderen Freundin zu verkuppeln. Für eine Frau, die sich um die Kindererziehung kümmerte und daher nicht arbeiten ging, kannte seine Schwägerin erstaunlich viele gut aussehende Frauen, allerdings stammten diese Kontakte zum großen Teil noch aus ihrer Zeit als PR-Chefin.

Ein paar von den Frauen, mit denen Cheri ihn zusammengebracht hatte, waren auch vom Charakter her durchaus sein Typ gewesen. Doch bei keiner von ihnen waren die Funken auch nur annähernd so gesprüht wie bei Alex McKnight, und das taten sie jetzt immer noch, obwohl er Alex längst nicht mehr sehen konnte.

Bei ihr musste er wirklich vorsichtig sein, denn diese Situation besaß das Potenzial, einen Rattenschwanz an Komplikationen nach sich zu ziehen.

Die nächsten Wochen war er gezwungen, eng mit ihr zusammenzuarbeiten, um die Küche für das Brazen fertigzustellen. Immerhin war sie die Chefköchin, also bestimmte sie, was wo hinzugehören hatte. Aber nicht nur, dass sie das Sagen hatte – er wusste auch, dass Alex mit Brodie und dessen Ehefrau Evie gut befreundet war.

Es hing sehr viel davon ab, dass er dieses Projekt innerhalb des vorgegebenen Budgets und vor allem termingerecht erledigte und dabei exzellente Arbeit leistete. Nur dann würde Brodie ihm weitere Aufträge zukommen lassen und ihn in seinem Bekanntenkreis rings um Hope’s Crossing weiterempfehlen.

Deshalb konnte er es sich nicht leisten, sich durch irgendetwas oder irgendjemanden von seiner Arbeit ablenken zu lassen.

Von der Tür aus betrachtete er die malerische Innenstadt mit ihren breiten Straßen und den eleganten historischen Gebäuden, den aneinandergereihten Schindelhäusern und den dazwischen eingestreuten höherwertigen Blockhäusern. Überall blühten bereits farbenprächtige Blumen, und an den Bäumen entlang der talwärts führenden Straße waren die ersten blassgrünen Knospen zu erkennen. Er konnte sich gut vorstellen, wie spektakulär dieser Anblick erst einmal im Sommer sein musste, vor allem mit den schroffen Bergen im Hintergrund.

Er atmete die frische Bergluft ein, die ihm hier süßlicher als anderswo vorkam, auch wenn er wusste, es lag wahrscheinlich an den zahlreichen Kiefern und Fichten, die ihren intensiven Duft an allen Seiten der Stadt verbreiteten.

Hier war der richtige Ort für den Neuanfang, den er wollte und brauchte, und aus diesem Grund durfte er es sich in Hope’s Crossing mit niemandem verderben.

Ein paar Kinder fuhren auf Rädern hügelabwärts, die Beine hielten sie ausgestreckt; anstatt zu treten, ließen sie sich vom Gefälle die Arbeit abnehmen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kümmerte sich eine weißhaarige ältere Frau um einen Blumenkasten am Verandageländer, ein Stück weiter standen ein paar Leute am Briefkasten vor einem der Häuser zusammen und unterhielten sich.

Alles machte hier einen friedlichen, gemächlichen Eindruck. Es war einfach perfekt.

Vor ein paar Wochen war er nur kurz von Denver hergekommen, um sich hier umzusehen. In dem Moment, da er die Stadtgrenze überquerte, hatte er gespürt, wie die Anspannung von ihm abfiel und wie die Finsternis zurückwich, die ihn sonst im Griff hatte. Natürlich war er sich darüber im Klaren, dass er sich hier nicht für alle Zeit vor Ärger und Problemen verstecken konnte. Denn auch wenn Hope’s Crossing auf den ersten Blick wie von Norman Rockwell gemalt erschien, wusste er, dass es in der Realität keine perfekte Idylle gab.

Immerhin hatte er Brodie nur dadurch kennengelernt, dass der seine Tochter ins Denver Children’s Hospital gebracht hatte, nachdem sie bei einem schweren Unfall hier in Hope’s Crossing verletzt worden war. Sam war zu der Zeit im Krankenhaus damit beschäftigt gewesen, einen Büroflügel zu renovieren, und dabei war er mit Brodie ins Gespräch gekommen.

Ob in Denver oder in einer Kleinstadt wie Hope’s Crossing, Unfälle ereigneten sich überall, Ehen scheiterten dort wie hier, Menschen erkrankten an Krebs und starben, und Jugendliche fanden überall den Weg zu Drogen, wenn sie es nur wollten.

Er verzog bei seinen düsteren Gedanken den Mund und kehrte ins Restaurant zurück, gerade als sein Handy zu klingeln begann. Nach einem Blick auf das Display verflüchtigte sich seine finstere Miene. „Na, hallo“, meldete er sich fröhlich. „Wenn das nicht mein Lieblingssohn ist.“

„Ich bin ja auch dein einziger Sohn“, machte Ethan ihm sofort klar.

Sam musste lächeln, während er sich den beinahe Siebenjährigen vorstellte, der die dunklen Locken und die tiefblauen Augen von der Mutter geerbt hatte. „Das ist richtig. Aber auch wenn du ein halbes Dutzend Geschwister hättest, wärst du bestimmt immer noch mein Lieblingssohn.“

„Das ist nur hypothetisch. Ob es wirklich so wäre, kann keiner sagen.“

Hypothetisch war offenbar das Wort der Woche. Letzte Woche war es exzentrisch gewesen, und in der Woche davor kam dauernd dilettantisch zum Einsatz. Wenn Sam ihn hörte, wie er mit seiner jungen Stimme und dem Anflug eines Lispelns solche Worte aussprach, musste er jedes Mal unwillkürlich lächeln.

Er liebte seinen erschreckend genialen Sohn über alle Maßen. „Was gibt’s Neues bei Onkel Nick und Tante Cheri?“

Ethans schwerer Seufzer war unüberhörbar gespielt. „Alles okay hier. Aber ich musste heute mit Amanda spielen – mit ihren Barbie-Puppen. Ich war Malibu Ken und sie war Hula Barbie, und die beiden sollten zusammen ausgehen. Ich fand, die beiden sollten sich am Strand verabreden, und dann haben wir sie im Rinnstein vor dem Haus surfen lassen. Ich konnte ja nicht wissen, dass Malibu Ken durch das Gitter vom Kanaldeckel passt.“

„Ich möchte wetten, das hat deiner Cousine gar nicht gefallen.“

„Ich musste eine ganze halbe Stunde in meinem Zimmer bleiben, weil Tante Cheri das so wollte. Ich weiß nicht, warum ich bestraft werde, wenn ich nur die Größe einer Spielzeugpuppe falsch eingeschätzt habe.“

„Das Leben ist halt nicht immer fair.“

„Ich würde sagen, es ist nur selten fair“, gab Ethan mürrisch zurück.

Sein Sohn war noch ein paar Wochen lang sechs, aber die meiste Zeit über verhielt er sich wie sechsunddreißig.

„Wann kann ich wieder nach Hope’s Crossing kommen, Dad?“

Einen Moment lang kniff er die Augen zu. Sein Sohn fehlte ihm schon jetzt. „Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, hole ich dich her. Versprochen.“

„Ich möchte mit dir in unserem eigenen Haus leben, wo ich nicht mit Barbie-Puppen spielen muss und wo ich auch nicht das Zimmer mit jemandem teilen muss, der sich im Fernsehen immer noch Barney den Dinosaurier anguckt.“

„Das möchte ich auch, mehr als alles andere. Ich arbeite daran, ich schwör’s dir. Bald, okay? In sechs Wochen, ja? Du musst erst mal das Schuljahr beenden, und ich muss hier ein geeignetes Haus finden.“

„Sechs Wochen sind ja eine Ewigkeit.“

„Ich weiß, mir geht’s nicht anders. Aber wir werden uns jedes Wochenende sehen, und ehe du dich’s versiehst, ist das Schuljahr rum, und dann kannst du den ganzen Sommer hier verbringen, wenn Onkel Nick und Tante Cheri nach Belgien verreisen. Und im Herbst wirst du auf eine neue Schule gehen und viele neue Freunde finden.“

„Ich will aber nicht auf eine neue Schule gehen“, erwiderte Ethan, wobei ein störrischer Unterton mitschwang.

„Ich weiß, du willst das nicht, mein Sohn. Aber Hope’s Crossing ist zu weit von St. Augustine’s entfernt. Ich könnte dich nicht jeden Morgen zur Schule fahren und nachmittags wieder abholen. Wenn wir hier leben wollen, müssen wir auch hier eine Schule für dich suchen. Aber keine Sorge, ich habe gehört, dass es hier eine großartige Schule geben soll. Du wirst schon sehen.“

Von der Tatsache abgesehen, dass St. Augustine’s zwei Autostunden entfernt war, handelte es sich dabei auch um eine sehr erlesene Privatschule. Ethan war dort wirklich aufgeblüht, weil die Lehrer an dieser Schule in den vergangenen zwei Jahren alles getan hatten, um seine Intelligenz zu stimulieren und zu fördern.

Aber selbst wenn sie nicht umziehen würden, konnte Ethan nicht länger diese Schule besuchen. Sams ehemalige Schwiegereltern hatten darauf bestanden, das extrem hohe Schulgeld zu bezahlen, doch das dafür bereitgestellte Geld war schon vor einem Jahr aufgebraucht gewesen.

Inzwischen wurde Sam von den beiden gehasst. Zwar behaupteten sie, dass ihre Beziehung zu Ethan weiter Bestand haben sollte, doch das konnte er nicht zulassen, wenn sie den Kontakt zu ihm dazu missbrauchten, ihn mit Lügen zu füttern und seinen Verstand zu vergiften.

Das Ganze war eine wirklich verfahrene Sache. Als der Vater von Sams verstorbener Ehefrau verhaftet worden war, hatten die Zahlungen an die Schule ein jähes Ende genommen. Irgendwie war es Sam gelungen, in der Zeit danach das Geld zusammenzukratzen, damit Ethan zumindest in diesem Schuljahr noch an der St. Augustine’s bleiben konnte. So konnte es aber nicht wei-tergehen, wenn er nicht Kellis gesamte Lebensversicherung aufbrauchen wollte, noch bevor Ethan alt genug fürs College war.

„Du wirst so oder so auf eine neue Schule gehen müssen, Ethan, und das weißt du auch. Du kannst nicht länger zur St. Augustine’s gehen. Die Schulen hier in Hope’s Crossing sollen exzellent sein. Wir haben den ganzen Sommer Zeit, damit du dich auf die zweite Klasse vorbereiten kannst.“

„Du fehlst mir“, sagte Ethan fast ein wenig kläglich.

„Oh, Ethan, du fehlst mir doch auch. Aber es sind nur noch ein paar Wochen, und dann wird alles besser werden. Du wirst schon sehen.“

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