Hüte den Speer!

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Was für ein stattlicher Mann! Keelin stockt der Atem, als sie Lord Marcus de Grant zum ersten Mal begegnet. Nur ein Blick in seine Augen und sie ist verloren. Doch ihre Liebe scheint hoffnungslos. Denn Keelin, die Hüterin des heiligen Speers, muss zurück nach Irland. Dort wartet der Clan auf sie - und ihr Verlobter …


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764951
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Winteranfang

West Cheshire, England

Im Jahre des Herrn 1428

Es war eine lange und qualvolle Nacht, die Keelin O’Shea weder Ruhe noch Trost bot. Heimgesucht von wirren Träumen und schrecklichem Albdruck sah sie voraus, dass sie und ihr Onkel Tiarnan in Gefahr schwebten. Ihre seherischen Fähigkeiten kamen Keelin jetzt zugute. Sie spürte, dass die Krieger der Mageean in der Nähe sein mussten, und sie hatte keine andere Wahl, als die altehrwürdige Lanze ihres Clans aus dem Versteck zu holen. Nur wenn sie das kostbare Heiligtum berührte, konnte sie vielleicht Genaueres über ihre gegenwärtige Lage erfahren.

Eines Tages, in gar nicht allzu ferner Zukunft, könnte sie die Fremde verlassen. Sie würde nach Irland zurückkehren und den Mann ehelichen, der bereits vor Jahren von ihrem Vater Eocaidh O’Shea, dem Clanführer der Ui Sheaghda, ausgewählt worden war. Was für ein Trost, bald einen starken und selbstbewussten Kämpfer bei sich zu haben, der für sie sorgte und sie beschützte; welch eine Erleichterung, sich nicht bei jedem Schritt umschauen zu müssen oder bei knarrenden Geräuschen und bedrohlichen Schatten zusammenzuzucken. Wie sehr sie sich freute, an jenen Ort zurückzukehren, an dem sie sich heimisch fühlte!

Tränen traten Keelin in die Augen, da die Gedanken an den Clan ihr Herz rührten. Das einsame, entwurzelte Dasein, das sie und Tiarnan seit vier Jahren fristeten, hatte sie zermürbt. Sie konnte nicht länger in diesem fremden Land verweilen.

Es war keineswegs günstig, die weite Reise jetzt anzutreten, denn der Winter nahte, aber es waren nur noch wenige Münzen in dem Geldbeutel, den Tiarnan einst bei der Flucht aus Irland mitgenommen hatte. Wenn sie den Aufbruch weiter hinauszögerten, wäre bald kein Geld mehr übrig, um die Fahrt über die Irische See zu bezahlen.

Keelin wusste, dass sie den Verstand verlieren würde, sollte sie durch widrige Umstände noch länger von ihrem geliebten Heimatland getrennt bleiben. Sie wollte endlich wissen, wie es nach der Schlacht, in der ihr Vater sein Leben gelassen hatte, um ihren Clan stand. Nach jenem unglückseligen Ereignis waren sie und Tiarnan zur Flucht quer durch Irland gezwungen worden, und seither war die Lanze der Sheaghda in ihrer Obhut. Mit unstillbarem Verlangen sehnte sie sich nach ihren Anverwandten und auch nach den anderen Mädchen aus dem Dorf bei Carrauntoohil.

Nicht, dass Onkel Tiarnan ihr nichts bedeutete. Ganz im Gegenteil – Keelin liebte den alten Mann so sehr, wie man einen Menschen nur lieben kann. Aber in ihm war keine Jugend und keine Kraft mehr. Das Überleben hing einzig und allein von Keelins Fähigkeiten ab, doch sie fühlte, dass sie diese Aufgabe nicht mehr länger allein bewältigen konnte.

Keelin erhob sich von ihrem dürftigen Lager und schaute zu Tiarnan hinüber. Der alte Mann mit dem schneeweißen Bart schlief tief und fest und atmete durch den halb geöffneten Mund. Wie gut, dass er noch ruhte, denn er hatte sich nur mühsam von dem Lungenfieber erholt und war noch immer schwach. Es würde ihm keineswegs guttun, jetzt aufzustehen und voller Sorge mit anzusehen, wie Keelin die Lanze in Händen hielt und ihre ganze Kraft auf das zweite Gesicht verwendete, das sie in den letzten vier Jahren beschützt hatte.

Ihre Eingebungen hatten sie selten getrogen. Bereits im Schlaf hatte sie gespürt, dass die feindlichen Mageeans ganz in der Nähe waren, und sie wusste, dass sie und Tiarnan keine Zeit mehr vergeuden durften. Wohin sie nun flohen, war unbedeutend – sie mussten lediglich die Hütte aufgeben, die sie einst verlassen vorgefunden und mit viel Arbeit zu einer behaglichen Unterkunft gemacht hatten.

Keelin warf sich ein warmes Tuch über die Schultern und gab noch etwas Torf ins Feuer, bevor sie nach draußen in die kalte Morgenluft trat. Das fahle Licht der anbrechenden Dämmerung wies ihr den Weg, als sie hinter die Hütte ging, wo sie einen grob gezimmerten Unterstand für das Maultier errichtet hatte, damit es nicht den Unbilden des Wetters ausgesetzt war. Daneben war noch Platz für den kleinen Karren und das wenige Werkzeug, das sie hatten.

Vorsichtig tastete sie sich durch das Halbdunkel des Verschlags, gelangte zu dem Karren und ließ ihre Finger über das raue Holz fahren, um das schmale Versteck zu finden, das sie angelegt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das tragende Brett, welches sie von unten ausgehöhlt hatte, auch weiterhin als sicheres Versteck für die ihr anvertraute, kostbare Lanze diente. Mit etwas Glück würde niemand auf den Gedanken kommen, in solch einem offensichtlichen und doch abgelegenen Versteck nach der glänzenden Lanze aus Obsidian zu suchen.

Keelin fand den Eisenriegel und schob ihn beiseite. Dann griff sie mit ihren schlanken Fingern in die Öffnung und zog die in Leder gehüllte Lanze hervor, die einst von einer Göttin aus längst vergangener Zeit berührt worden war. Ga Buidhe an Lamhaigh, wie die Lanze von Keelins Clan genannt wurde, war in grauen Vorzeiten einem Anführer der Sheaghda überreicht worden, in jenen dunklen Jahren vor der Ankunft der Nordmänner, noch bevor die Druiden begannen, ihre geheimen Künste walten zu lassen. In all den Jahren war die schöne, schwarze Lanze das Symbol für die Vormachtstellung der Sheaghda in Kerry gewesen.

Ihr Verlust würde den Untergang der O’Sheas bedeuten. Und Ruairc Mageean, der Erzfeind des Clans der Ui Sheaghda, trachtete nach diesem Zeichen der Macht.

Jedes Mal, wenn Keelin Ga Buidhe an Lamhaigh berührte, spürte sie den Zauber und die jahrhundertealte Kraft dieser Waffe, die eine Flut von Bildern und Empfindungen in ihr auslöste. Ihre plötzlichen Eingebungen waren eindringlicher denn je, zehrten indes an ihren Kräften.

Die Fähigkeit, die Lanze zu nutzen, war Keelins Schicksal, das ihr gleichwohl zur Ehre gereichte.

Sie nahm all ihre Geisteskraft zusammen, ließ sich auf einer Schicht Kiefernnadeln nieder und zog Ga Buidhe an Lamhaigh aus der ledernen Hülle.

1. KAPITEL

Südlich von Chester, England

Winteranfang 1428

Hier und da drangen Sonnenstrahlen durch den dicht bestandenen Wald und leuchteten bis in die düsteren Winkel des Unterholzes. Es war spät am Nachmittag, und die Reiterschar eilte voran, um noch vor der Dunkelheit nach Wrexton Castle zu gelangen. Marcus de Grant ritt neben seinem Vater, der nun erneut ein Thema anschnitt, das Marcus Unbehagen bereitete.

Heirat.

„Es gibt auf Haverston Castle so viele bezaubernde junge Damen im heiratsfähigen Alter, Marcus“, begann Eldred de Grant.

„Vater …“

„Ich werde nicht jünger, mein Sohn, und du auch nicht“, fuhr Eldred unbeirrt fort. „Eines Tages wirst du Graf von Wrexton sein, und ich wünsche mir für dich, dass du dann nicht alleine bist, sondern eine Gefährtin hast … eine Gemahlin. Eine ehrenwerte Frau, so wie deine Mutter, meine Rhianwen.“

Die Hoffnung seines Vaters entsprach auch Marcus’ Wunsch, aber er hatte bisher noch keine Frau kennengelernt, bei der er sich ungezwungen geben konnte. Er fühlte sich in Gegenwart von Frauen unbeholfen und gehemmt und brachte lediglich mit den Gemahlinnen einiger Freunde ein Gespräch zu Stande. Sonst war er stets verlegen, wenn junge Damen von edler Herkunft zugegen waren, jene lieblichen und herausgeputzten, von Hofdamen und Bediensteten umringten Geschöpfe in Gewändern aus Samt und Seide, die gekonnt die Lippen schürzten, nichts von ihren sanften Rundungen verbargen und allerlei verworrene Wünsche äußerten.

Die Damen waren so zart und empfindlich. Und voller Geheimnisse. Marcus war ein Krieger und kein Höfling und hatte nicht die geringste Ahnung, wie man einer Dame den Hof machte. Hinzu kam, dass in seinem hünenhaften Körper eine solche Kraft steckte, dass er befürchtete, sie schon durch eine bloße Berührung zu verletzen.

„Eine Gemahlin, Onkel Eldred?“, drängte sich Marcus’ junger Vetter entrüstet in die Unterhaltung, als er nun auf gleicher Höhe neben den Männern ritt. Adam Fayrchild, ein ungestümer Bursche, war erst elf Jahre alt. Er hatte bereits vor geraumer Zeit seine Eltern verloren, und Eldred, ein ausgesprochen freigebiger und freundlicher Mann, hatte ihn aufgenommen, obgleich die Familie des Jungen nur entfernte Verwandte waren. „Wozu brauchen wir eine Gemahlin in Wrexton? Es ist doch alles geregelt, oder etwa nicht? Wir haben unsere Base Isolda, genügend Köche, jede Menge Bedienstete und …“

„Ein Mann braucht einen Erben, mein lieber Adam“, erwiderte Eldred lachend. „Eines Tages wirst du das verstehen, wenn dir die Dame deines Herzens begegnet.“

Wer soll mir begegnen?“, fragte er, wobei er die mit Sommersprossen übersäte Nase rümpfte und nicht nachvollziehen konnte, warum der Graf gelacht hatte. „Onkel, in ganz Haverston gibt es kein Mädchen, das ich auch nur einen Tag lang ertragen könnte, ganz zu schweigen von einem ganzen Monat oder einem Jahr!“

Marcus lächelte, obwohl Adams Worte ihm bewusst machten, welche Einsamkeit er tief in seinem eigenen Herzen verspürte. Gewiss, er empfand eine enge Verbundenheit zu seinem Vater, und er hatte auch seinen frühreifen jungen Vetter schätzen gelernt. Aber in ihm war eine Leere, die sich umso schlimmer während der Hochzeitsfeierlichkeiten auf Haverston Castle bemerkbar gemacht hatte. Immer mehr seiner Freunde waren inzwischen verheiratet, und viele der jungen Paare erfreuten sich einer Verbundenheit, deren Tiefe Marcus nur erahnen konnte.

Doch solange er seine Schüchternheit bei Frauen nicht überwinden konnte, blieb ihm lediglich die Aussicht, sein Leben allein zu verbringen. Marcus wusste, dass er keineswegs unansehnlich war, aber Frauen wollten umworben werden. Sie wollten …

Plötzlich fuhr er zusammen, als über ihm ein wilder Aufschrei die Stille des Waldes durchbrach. Dem Schrei folgte ein raues Kriegsgeheul, als eine Horde bärtiger Barbaren mit einem Mal aus dem Schutz der mächtigen Bäume hervorstürmte, während andere sich in unmittelbarer Nähe von den Ästen herunterschwangen. Kelten! Mit gezogenen Schwertern und drohenden Lanzen standen sie vor den Reitern aus Wrexton. Marcus’ Streitross, das schon lange nicht mehr an das Blut und den gellenden Lärm eines Schlachtgetümmels gewöhnt war, bäumte sich auf, als die Ritter von den Kriegern angegriffen wurden. In dem Trupp des Grafen war heillose Verwirrung ausgebrochen, und schon waren mehrere seiner Getreuen verwundet, bevor sie in der Lage waren, ihre Pferde zu bändigen und die Schwerter zu ziehen.

Die Männer aus Wrexton sahen sich einer Übermacht gegenüber und stürzten sich mit dem Mut der Verzweiflung in den Kampf gegen ihre seltsam gekleideten, barbarischen Feinde. Von allen Seiten ertönte das Klirren von Schwertern, und Marcus sah mit Entsetzen, wie sein Vater aus dem Sattel gestoßen und hart von den wilden Kriegern bedrängt wurde.

Nein!, durchfuhr es ihn. Eldred de Grant war zu stark und noch so voller Leben, um auf diese hinterhältige Weise niedergemetzelt zu werden. Marcus konnte sich ein Dasein ohne seinen Vater nicht vorstellen. Dieser gute und gerechte Mann durfte nicht sterben!

„Dein Vater!“, rief Adam entsetzt. Noch hatte der Junge sich geschickt aus dem Kampf heraushalten können, indem er dicht hinter Marcus geblieben war, doch die Angreifer nahten nun von allen Seiten. Die Ritter aus Wrexton waren umzingelt.

Blindlings sprang Marcus von seinem Ross, packte Adam und zerrte ihn an den sichersten Ort, den er in der Eile zu finden vermochte – die Höhlung eines alten, gefällten Baumes. Dann hieb er unbarmherzig auf seine Feinde ein und bahnte sich mit blutiger Klinge einen Weg zu seinem Vater, der reglos am Boden lag.

„Mylord! Hinter Euch!“, rief einer seiner Kempen, bevor er seinen Vater erreicht hatte. Marcus fuhr herum und versetzte dem hitzigen, rothaarigen Angreifer einen Schlag, der diesen sofort niederstreckte. Schon tauchte ein weiterer bärtiger Krieger auf. Wild entschlossen biss Marcus die Zähne zusammen und setzte den Kampf fort, der kein Ende zu nehmen schien.

Weitere Getreue aus Wrexton fielen den Schwertern der Feinde zum Opfer, während Marcus unermüdlich kämpfte. Doch es gelang ihm nicht, bis zu seinem Vater vorzudringen. Dennoch kam es dem jungen Edlen nicht einen Moment in den Sinn, sich zu ergeben. Bis zum letzten Atemzug wollte er sich zur Wehr setzen, die eigene todbringende Waffe schwingend, bis so viele dieser furchtbaren Krieger zu Boden gestreckt waren, wie es ein Mann allein vollbringen konnte.

„Mylord! Da kommen Reiter!“, rief einer der Männer aus.

„Es sind Engländer!“

„Es ist Marquis Kirkham mit seinen Mannen!“

Die Kelten sahen, dass Verstärkung nahte, und ergriffen Hals über Kopf die Flucht, da sie bereits von den ersten heransprengenden Reitern verfolgt wurden.

Als Marcus seine letzten Gegner abgeschüttelt hatte, eilte er an die Seite seines Vaters. Einem Gefolgsmann war es gelungen, den Grafen aus dem Kampfgetümmel zu ziehen. Ein schwacher Hoffnungsschimmer glomm in Marcus auf, als er sah, dass sein Vater die Augen öffnete. Er kniete sich neben den Herrscher von Wrexton und nahm seine Hand.

„Mein Sohn“, flüsterte Eldred.

Marcus war nicht in der Lage zu sprechen. Die Kehle schnürte sich ihm zusammen, seine Zunge war wie gelähmt, und selbst sein Blick wurde verschwommen, als er wahrnahm, wie schwer sein Vater verwundet war.

„Trauere nicht zu sehr … wenn ich dahinscheide … Marcus“, keuchte Eldred angestrengt. „Ich muss nun gehen … um deine Mutter wiederzusehen. Wisse … dass ich nie … stolzer sein könnte auf … einen Sohn …“

Der Graf von Wrexton tat seinen letzten Atemzug und befahl seine Seele zu Gott.

Es herrschte völlige Stille. Nicht ein Vogel zwitscherte, nicht ein Blatt raschelte im Wind.

Die Ritter, die sich um ihren sterbenden Herrn geschart hatten, knieten nieder, bekreuzigten sich und brachten mit bewegenden Worten Trauer und Mitgefühl zum Ausdruck. Der neue Graf von Wrexton hörte kaum auf die aufrichtige Anteilnahme. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sein Vater ihn zum wiederholten Male darauf hingewiesen, baldmöglichst zu heiraten. Wie hatte sich alles so plötzlich ändern können? Wie war es möglich, dass Eldred von ihnen gegangen war?

„Mylord!“, rief jemand aus einiger Entfernung. „Kommt rasch!“ Marcus drehte sich ruckartig um und sah einen seiner Männer neben der mächtigen, gefällten Eiche stehen, in der er Adam versteckt hatte. Eine düstere Vorahnung bemächtigte sich seiner, als er zu dem Baum eilte.

Entweder war der Junge aus seinem Versteck gekrochen oder jemand hatte ihn aus dem hohlen Stamm gezerrt. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle! Der Junge lag reglos im tiefen, grünen Moos. Ein Pfeil ragte drohend aus seinem Rücken hervor.

Marcus kniete sich neben Adam. Niemals war ihm sein Vetter so klein und verletzlich vorgekommen. „Er atmet noch“, sagte er.

„Ja, Mylord“, erwiderte Sir Robert Barry, „wenn wir den Pfeil jedoch herausziehen, wird er vermutlich verbluten.“

„Es dauert noch Stunden, bis wir in Wrexton sind“, warf Sir William Cole ein. „Er stirbt uns, wenn wir …“

„Hier in der Nähe ist eine kleine Hütte, wenn ich mich recht erinnere. Hinter diesem Hügel, ganz nahe bei einem Bachlauf“, sagte Marcus mit düsterer Miene. Dann sah er seine Gefolgsmänner an. „Ich werde Adam tragen“, fuhr er fort, als er den bewusstlosen Jungen behutsam vom Boden aufnahm. „Ihr nehmt den Leichnam meines Vaters und die gefallenen Gefährten.“

„Seid unbesorgt, Onkel“, sagte Keelin O’Shea mit leiser Stimme zu dem alten Tiarnan, als sie ihm sanft über die Stirn strich. Seine Hustenanfälle wurden zwar allmählich schwächer, setzten ihm aber immer noch sehr zu. „Ich werde die Heilige Lanze beschützen. Nie wird ein Mageean mit seiner Hand Ga Buidhe an Lamhaigh entweihen.“

Erneut bedrückte Keelin tiefe Sorge. Durch die Visionen, die sie gegen Morgen vernommen hatte, war sie sehr geschwächt, und sie wusste, dass es Zeit war aufzubrechen. Sie konnte mit Tiarnan nicht länger an diesem Ort verweilen, wenn die Krieger der Mageean ihnen so dicht auf den Fersen waren.

Die Flucht aus Irland schien bereits weit zurückzuliegen, als sie von jenen ruchlosen, gedungenen Schurken verfolgt worden waren, die ihren Vater auf dem Gewissen hatten. Für Keelin stand unverrückbar fest, dass sie sich von ihren Feinden fernhalten musste, wusste sie doch, dass ihr Clan durch einen Verlust der altehrwürdigen Lanze das Recht auf Herrschaft einbüßte. Ohne Zweifel wäre dann der grausame und unnachgiebige Anführer des Mageean Clans auf dem Gipfel seiner Macht.

Nie durfte Keelin es so weit kommen lassen. Mehr als einmal war sie Zeugin von Ruairc Mageeans Grausamkeit geworden, und keinesfalls durfte dieser Barbar einen Vorteil erringen.

Nicht umsonst hatten sie und Tiarnan ihre angestammte Heimat verlassen und waren nach der Flucht vier Jahre lang in England rastlos von Ort zu Ort gezogen, um Ruaircs Söldnern zu entkommen und ihrem Clan die heilige Macht von Ga Buidhe an Lamhaigh zu erhalten. Aber wo auch immer sie sich länger aufhielten, währte die Sicherheit nicht lange. Ruairc Mageeans Horde war beständig in der Nähe.

Einzig und allein Keelins seltsame Kraft der inneren Eingebung hatte sie und ihren Onkel vor den Übergriffen der gedungenen Schergen bewahren können.

„Bitte“, sagte sie, als sie den Kopf des alten Mannes anhob, um ihm etwas zu trinken zu geben. „Nehmt einen Schluck.“

„Ach, mein Mädchen“, kam es heiser aus Tiarnans Mund, „ruh dich aus. Du hast heute Morgen die Lanze berührt, und ich weiß, wie dir diese Vorausschau zusetzt.“

„Ich fühle mich gut“, erwiderte sie, doch sie log. Immer noch war sie schwach und zittrig, Stunden nachdem sie die Visionen gehabt hatte. Sie wollte sich ihre Schwäche indes nicht vor dem Onkel anmerken lassen, denn er machte sich viel zu viel Sorgen um ihr Wohlergehen.

„Du musst mir sagen, was du gesehen hast.“ Mit seinen schwachen Augen, die im Alter trübe geworden waren, suchte Tiarnan nach seiner jungen Nichte, obgleich er ihre blühende Schönheit stets vor seinem geistigen Auge sah. Ihre Haut war weich und weiß wie die ihrer Mutter, und ein zartes Rosa schimmerte auf den Wangen. Ihre Augen hatten das gleiche Grün wie die Felder der geliebten Heimat, und ihr Haar war tiefschwarz und seidig wie die Nacht. Und doch war Keelin keine zierliche Schönheit, denn sie war groß, beinahe so groß wie die meisten Männer. Sie war zu einer kräftigen und mutigen jungen Frau herangewachsen.

Seine arme Keelin wusste jedoch nicht, dass Ruairc Mageean mehr wollte als nur die Lanze. Sobald er Ga Buidhe an Lamhaigh an sich genommen hätte, würde er sie für sich beanspruchen und sie zu seiner willigen Gespielin machen. Den lüsternen Schurken hatte es nach ihr verlangt, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, damals, als Keelin noch ein unreifes Mädchen mit großen grünen Augen gewesen war.

Wenn es Mageean gelang, die Heilige Lanze zu stehlen und Keelin zu entführen, rückte für ihn die Aussicht in greifbare Nähe, das Erbe Eocaidh O’Sheas an sich zu reißen. Dann wäre Ruairc der mächtigste Anführer in ganz Kerry. Tiarnan wusste, dass Mageeans Sinnen und Trachten auf dieses arglistige Vorhaben abzielte.

Der Erzfeind war indes bei weitem nicht der einzige Mann, den es nach dem Mädchen gelüstete. Nur ungern erinnerte sich Tiarnan daran, dass Keelin einst Fen McClancy, einem anderen Clanführer, versprochen worden war. Diese unselige Entscheidung hatte ihr eigener Vater noch kurz vor seinem gewaltsamen Tod getroffen. Möge seine Seele in Frieden ruhen, betete er voller Groll.

Keelins zukünftiger Gemahl war nicht nur ein alter Mann, beinahe so alt wie er selbst, sondern obendrein auch ein lüsterner Bock. Gewiss, er gebot über die Landstriche, die nordöstlich von O’Sheas Herrschaftsbereich lagen, doch Tiarnan kannte noch andere Mittel und Wege, um ein Bündnis mit McClancy zu Stande zu bringen, ohne Keelin an den alten Schurken zu verschachern.

Immer wenn er das Handeln allein seinem Bruder Eocaidh überlassen hatte, dem Starken und Mächtigen, waren stets nur die Bedürfnisse des Clans von Bedeutung gewesen. Sogar seine junge Tochter hätte er bedenkenlos dem alten McClancy überlassen. Doch Keelin wusste nicht, wem sie versprochen worden war, denn ihr Vater hatte ihr vor seinem Ableben kein Wort über den zukünftigen Verlobten gesagt.

Mit Umsicht und ein wenig Glück war es Tiarnan gelungen, den Rat der Ältesten davon zu überzeugen, Keelin als Hüterin von Ga Buidhe an Lamhaigh fortzuschicken, anstatt sie Fen McClancy zur Frau zu geben. Tiarnan hoffte inständig, dass er inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte. Gott bewahre, er wünschte dem Alten nichts Böses – mochte sein Ende friedvoll sein, aber trauern würde er sicher nicht um ihn.

Es wäre besser, wenn Keelin niemals von dem Eheversprechen erfuhr, das ihr Vater und McClancy ausgehandelt hatten. Dem armen Mädchen würde es das Herz brechen, wenn ihr aufging, wie wenig sie ihrem Vater bedeutet hatte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das Vorhaben ihres Vaters nicht bereits durchschaut hatte, aber sie schien seltsamerweise manchen Vorgängen um sie herum keine Beachtung zu schenken.

„Bitte, Onkel“, sagte Keelin, „wir reden später darüber. Da ist nichts …“

„Doch, meine Kleine“, entgegnete der alte Mann, als er den Kopf auf das weiche Kissen legte, das sie ihm bereitet hatte. „Es ist sehr wichtig, und wir haben nur wenig Zeit. Hör mich nun an.“

„Was habt Ihr auf dem Herzen, Onkel, dass Ihr mit mir reden wollt, anstatt Euch auszuruhen?“, fragte Keelin sehr ernst, als sie sich einen niedrigen Schemel neben die dürftige Schlafstatt ihres Onkels zog. Der Nachmittag war kühl, und ein kleines Herdfeuer sorgte dafür, dass die schlichte Behausung angenehm warm war. Der Duft der Heilkräuter, die Keelin zum Trocknen ausgelegt hatte, erfüllte den Raum. Später, wenn Tiarnan sich zur Nachtruhe legte, würde sie die schon trockenen Kräuter zermahlen und für die Reise verstauen.

„Die Mageean-Krieger sind nahe“, kam er ohne Umschweife zur Sache. „Ich weiß, dass es so ist, obwohl ich das Unheil nicht wie du sehen kann.“

Keelin runzelte nachdenklich die Stirn. Tiarnan war weise, aber wie konnte er wissen, was ihr selbst erst in der Frühe offenbart worden war? Die Visionen hatten sie erschüttert. Eine blutrünstige keltische Horde war mit friedfertigen Engländern aneinandergeraten. Pferde wieherten voller Angst, und der Geruch von warmem, frischem Blut war ihr in die Nase gestiegen. Tödliche Wunden, große Trauer. Sie vermochte nicht zu sagen, wann der Vorfall sich zutragen würde, nur dass ein Gemetzel bevorstand, und zwar recht bald.

„Sie sind nicht mehr weit entfernt, Mädchen“, sagte Tiarnan außer Atem, „und du weißt dies genauso gut wie ich. Wir sind schon zu lange an diesem Ort geblieben. Bald werden sie uns aufgespürt haben.“

Rasch ging Keelin alles im Geiste durch, was es vor dem Aufbruch in dieser Hütte noch zu tun gab. Wie sollte sie es allein schaffen, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken, ein geeignetes Versteck für Ga Buidhe an Lamhaigh zu finden und gleichzeitig ihren gebrechlichen und kränkelnden Onkel fortzuschaffen, bevor Ruaircs Krieger auftauchten? Und wohin sollten sie dieses Mal fliehen? War jetzt vielleicht doch der Zeitpunkt gekommen, die Heimreise anzutreten?

Als sie das letzte Mal geflohen waren, hatte Tiarnan noch etwas besser sehen können. Er hatte nicht so schrecklich alt und schwach gewirkt wie jetzt. Würde er die beschwerliche Reise bis an die Küste von Wales schaffen?

Dann die Visionen … Etwas sehr Bedrohliches,da war Keelin sich ganz sicher, hing über der kleinen Burg ihres Vaters in Carrauntoohil. Ihr Verlangen, so rasch wie möglich nach Hause zurückzukehren, war schon längst kein gewöhnliches Heimweh mehr. Eine düstere Vorahnung hatte sich in ihre Gedanken geschlichen und würde nicht von ihr ablassen, bis sie die Heilige Lanze wieder zu ihrem Clan gebracht und selbst gesehen hatte, wie es um die Heimat stand.

„Höre mir zu, meine liebe Keelin“, kam es beruhigend von Tiarnan, als er spürte, dass seine Nichte sich in ihre Furcht hineinsteigerte. Sie war noch jung, gerade mal neunzehn Jahre alt, und obgleich ihr zweites Gesicht in Tiarnans Augen eine seltene Gabe war, wusste er, was für eine Bürde auf ihren Schultern lastete. Auch wenn sie stets versuchte, ihre Erschöpfung vor ihm zu verheimlichen, entging ihm nicht, dass die Visionen sie schwächten und auslaugten. „Du musst Ga Buidhe an Lamhaigh von hier fortschaffen, bevor …“

„Nein, Onkel“, rief Keelin erschrocken aus. „Ich werde Euch nicht hier zurücklassen.“

„Keelin …“

„Die Krieger haben uns bisher nie gefunden. Ich werde diesen Ort nicht ohne Euch verlassen. Wir können rasch aufbrechen“, fügte sie schnell hinzu, „und Ihr könnt Euch in dem Karren ausruhen.“

„Keely“, antwortete Tiarnan und schloss erschöpft die Augen. Es tat ihm in der Seele weh, dass er das Mädchen allein auf die weite Reise schicken musste, aber es gab keinen Ausweg, und all seine unzähligen Gebete an die Heilige Jungfrau oder andere Heilige vermochten nicht, ihm in diesen Stunden zu helfen. Er verspürte furchtbare Schmerzen in seiner Brust, und der Husten … er würde ihn sicherlich über kurz oder lang umbringen.

In Keelins klaren, grünen Augen schimmerten Tränen. Sie nahm die Hände ihres Onkels und führte sie an die Wange. „Ich bringe uns an einen anderen Ort, einen sicheren Platz, wo wir …“

„Verstehst du nicht, Liebes?“, sagte Tiarnan mit schwacher Stimme, und er fühlte, wie ihre Tränen seine Hände benetzten. „Ich bin zu schwach, um aufzubrechen, aber du musst fort von hier, bevor es zu spät ist.“

„Nein, Onkel!“, rief sie. „Wir haben noch etwas Zeit.“

„Keelin“, hob Tiarnan erneut an, „selbst wenn wir noch Zeit hätten, wäre ich alter hinfälliger Mann auf dem weiten Weg nur eine Last für dich. Fang jetzt an, deine Sachen zu packen und …“

Er hielt inne und lauschte.

„Was ist?“, fragte Keelin erschrocken, als sie sah, dass ihr Onkel ein fernes Geräusch wahrzunehmen schien, das sie selbst noch nicht hören konnte.

„Es kommt jemand“, entgegnete der alte Mann. „Pferde … Männer zu Fuß.“

„Oh, bei allen Heiligen!“ Sie sprang von ihrem Schemel auf. „Wie konnte ich mich bloß so irren? Sie sind schon hier? Jetzt?

„Ich glaube nicht, dass sie es sind, Liebes.“ Tiarnans Stimme klang ruhig und gefasst, ein Vorteil, den das Alter mit sich brachte. „Aber im Augenblick haben wir keine andere Wahl als abzuwarten.“

Keelin schluckte hart. Stets waren sie der Horde der Mageeans um Längen voraus gewesen. Nie hatte sie befürchtet, sich den Kriegern in einem Kampf stellen zu müssen. Nun jedoch stand sie wie erstarrt in der Hütte. Sie war kaum noch in der Lage, sich zu bewegen oder ihren Onkel in Sicherheit zu bringen. Keelin wusste, dass sie, die Tochter des Eocaidh O’Shea, in der Falle saß.

„Hörst du die Stimmen, mein Mädchen?“

Sie nickte bloß und hatte ganz vergessen, dass Tiarnan sie nicht sehen konnte.

Zumindest entdecken sie Ga Buidhe an Lamhaigh nicht, dachte sie. Die Lanze ruhte wieder in dem Versteck, und niemand sollte je von Keelin erfahren, wo sie zu finden war. Wenn das Heiligtum jetzt in die Hände der Mageeans fiel, stand das größte Unheil bevor.

Marcus wollte sich in diesen Stunden keinesfalls von seinem unbändigen Zorn leiten lassen, obgleich das Verlangen beinahe übermächtig war, zusammen mit Kirkham und dessen Mannen die Barbaren im Wald zur Strecke zu bringen. Aber es war seine Pflicht, sich zuallererst um das Wohlergehen des jungen Adam zu kümmern. Behutsam trug er seinen Vetter den Hügel hinab. Die kleine Hütte lag weiter weg, als er gedacht hatte, doch vielleicht kam es ihm auch nur so vor, da er den verletzten Jungen in seinen Armen trug. Seine Gedanken waren einzig und allein darauf gerichtet, ihn in Sicherheit zu bringen und seine Wunde zu versorgen. Jeder andere Gedanke an den schrecklichen Vorfall im Wald würde nur erneut seinen tiefen Schmerz aufwühlen.

Vier seiner Männer waren tot, zwei weitere ernsthaft verletzt. Die anderen hatten kleinere Wunden davongetragen. Einige Längen hinter Marcus trugen die Männer aus Wrexton, die weitgehend unversehrt geblieben waren, den toten Grafen und die anderen gefallenen Krieger.

Warum hat man uns angegriffen?, fragte sich Marcus immer wieder. Er konnte sich nicht erklären, warum sich eine Horde fremder Krieger auf englischem Boden aufhielt und eine friedliche Reiterschar überfiel. All das ergab keinen Sinn.

Es war ein Glücksfall gewesen, dass Nicholas Hawken, der Marquis Kirkham, mit seinen Getreuen aufgetaucht war und die wilde Horde in die Flucht geschlagen hatte. Mochte der Marquis auch großspurig und anmaßend sein, so wusste Marcus doch, dass er sich bei Gefahr stets auf seinen Nachbarn verlassen durfte. Ohne Hawkens beherztes Eingreifen wäre die kleine Reiterschar aus Wrexton völlig aufgerieben worden.

Einer der Ritter klopfte an die Tür der kleinen Hütte. Eine junge Frau öffnete, blieb jedoch im Schatten des Eingangs stehen. Marcus trug Adam in den düsteren Raum und bettete den Jungen mit Hilfe eines Ritters behutsam auf eine Schlafstatt. An der gegenüberliegenden Wand ruhte ein alter Mann mit weißem Bart schweigend auf einem Strohlager.

„Ich brauche heißes Wasser“, sagte Marcus, als er sein Messer hervorholte. Dann begann er, das gefütterte Wams des Jungen aufzutrennen. „Und saubere Tücher. Edward, nehmt seine Arme. Roger, haltet seine Beine fest, während ich den Pfeil herausziehe.“

Keelin bedauerte den armen Jungen, dessen Körper von einem Pfeil durchbohrt war, dankte jedoch dem Allmächtigen, dass es nicht Mageeans Horde war, die vor der Hütte aufgetaucht war. Sie spürte zwar, dass die Söldner in der Nähe sein mussten, aber es bestand keine unmittelbare Gefahr.

Keelin stand neben Tiarnans Lager und sah schweigend zu, wie der englische Edelmann sich um den Jungen kümmerte und Anweisungen gab. Der Mann war groß, er hatte beim Betreten der Hütte sogar den Kopf einziehen müssen. Selbst als er neben dem verwundeten Jungen kniete, schien es, als ob seine Gestalt die Hälfte der Behausung einnahm.

Mit geschickten Fingern löste der Mann seinen Umhang, und einer seiner Gefährten half ihm beim Ablegen des schweren Kettenhemdes, sodass seine breiten Schultern nur noch von einem schweißgetränkten, fein verzierten weißen Leinenhemd bedeckt waren. Er schob die Ärmel hoch und beugte sich über den Verwundeten, wobei Keelin die kräftigen Unterarme nicht verborgen blieben. Dann bekreuzigte er sich in stillem Gebet und sprach leise zu dem bewusstlosen Jüngling.

„Was ich jetzt machen muss, mein Junge, fällt mir schwer“, sagte er mit fester Stimme, „aber wir haben keine andere Wahl. Du musst sehr tapfer sein.“ Und dann sprach er leise zu sich: „Genau wie ich.“

Keelin war mit dem Herzen bei diesem Mann, der so erschüttert wirkte. Die Ankömmlinge waren jene Engländer, die sie an diesem Morgen in ihrer Vision gesehen hatte, und wenn sie auch nicht ihre Gesichter wiedererkannte, verstand sie sofort das Ausmaß des Leids und die furchtbare Trauer. Sie wusste, dass die Männer mehrere ihrer Gefährten verloren hatten, und unter den Toten war einer, der einen besonderen Platz in ihren Herzen einnahm.

Keelin musste ihnen helfen.

Sie ging zu einer kleinen Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten aufbewahrte. Dort lagen einige Leinengewänder und ein älteres Kleid, das sie in Streifen reißen konnte. Keelin nahm so viel Stoff, wie sie brauchte, und bereitete einen Verband für den Jungen vor.

Dann ging sie ihre Lederbeutel durch und holte die getrockneten Kräuter hervor, die sie nun brauchen würde. In den letzten Jahren war sie von ihrem Onkel in die Kunst des Heilens eingeweiht worden, sodass sie bei der Wahl der Heilkräuter Tiarnans Rat nicht länger benötigte. Poterium Sanguisorba, um die Blutung zum Stillstand zu bringen, und Frauenmantel, damit die Wunde nicht zu eitern begann.

Als sie sich wieder dem Engländer zuwandte, hatte er den Pfeil schon herausgezogen. Die offene Wunde am Rücken blutete stark, und Keelin trat neben den Edelmann, um ein weißes Leinentuch auf die Wunde zu drücken. Der Junge stöhnte auf.

„Adam …“, sagte der Engländer mit zittriger Stimme.

Keelin spürte die Hitze und die Kraft des Mannes neben ihr. Sein Haar schimmerte wie helles Gold. Sie betrachtete sein ebenmäßiges Antlitz – die lange, gerade Nase, den kräftigen Kiefer und die unerschütterlichen, hellblauen Augen – und fragte sich, ob es in Irland auch nur einen Mann gab, der sich mit der gleichen Aufmerksamkeit um sie kümmern würde, die der besorgte Engländer dem Jungen entgegenbrachte.

Gewiss gibt es einen solchen Mann in meiner Heimat, rief sie sich in Erinnerung. Der Mann, dem sie versprochen worden war, würde sich ihrer annehmen, wie es noch niemand zuvor getan hatte. Ihr Vater Eocaidh hatte sicherlich für den richtigen Gemahl gesorgt. Keelin hatte Tiarnan schon oft nach ihrem Verlobten gefragt, aber ihr Onkel war in seinen Antworten stets ausweichend gewesen. Schließlich war sie der Fragerei überdrüssig geworden, zumal es tatsächlich möglich war, dass Tiarnan nichts Genaues wusste. Dem Rat der Ältesten oblag das letzte Wort, und vermutlich hatte man ihren Onkel in die Entscheidung nicht mit einbezogen.

„Es ist ein gutes Zeichen, Mylord“, sagte Keelin leise, „das Aufstöhnen.“

Jetzt erst sah er sie an und nahm sie zum ersten Mal richtig wahr. Eine tiefe Röte huschte über sein Gesicht, und rasch wandte er den Blick von ihr.

„E…Edward.“ Der englische Edelmann wandte sich zu dem Ritter in der Nähe der Tür. Dann räusperte er sich und fuhr fort: „Seht nach, ob es in dem nahe gelegenen Dorf einen Arzt gibt und bringt ihn her, sofern …“

„Ich bin eine Heilerin, Mylord“, sagte Keelin und breitete die Lederbeutel neben der Schlafstatt des Jungen aus. „Und ich habe alles hier, um den armen Burschen zu versorgen.“ Sie öffnete einen der Beutel, streute ein dunkles Pulver in ein kleines Gefäß und tat etwas Wasser hinzu. Dann mischte sie die Zutaten zu einer geschmeidigen Paste und trug dem englischen Edlen auf, den Verband auf dem Rücken des Jungen anzuheben.

„Es ist eine ernste Verletzung“, meinte sie betroffen, als sie etwas von der Paste auf die klaffende Wunde gab. Wie lebensbedrohlich die Wunde tatsächlich war, verschwieg sie dem Engländer.

Marcus starrte auf Keelins zierliche Hände, als sie den Wundverband anlegte. Nur wenige Augenblicke hatten ausgereicht, um sein Leben auf den Kopf zu stellen. Draußen standen die Gefährten neben seinem toten Vater, und hier lag der schwer verwundete Adam mit flachem Atem in einer Bauernkate, in der nur ein alter Mann und eine wunderschöne Frau wohnten, die offensichtlich keine gewöhnliche Bäuerin war.

Sie war auch keine Engländerin.

Aber was tat sie hier? Plötzlich kam es ihm in den Sinn, dass die junge Frau in irgendeiner Weise mit jenen hinterhältigen Kriegern in Verbindung stehen könnte, die im Wald über seine Reiterschar hergefallen waren. Waren diese Schurken womöglich ihre Beschützer? Hatten sie deshalb angegriffen?

Außerdem war es ihm merkwürdig vorgekommen, dass die Frau gar nicht überrascht gewesen war, als er mit Adam und den Gefolgsmännern vor der Hütte stand. War sie gewarnt worden, dass sich eine Schar Ritter näherte?

Es kam ihm unwahrscheinlich vor. Die Verbindung zu den Barbaren schien ihm weit hergeholt zu sein. Sie waren nun ganz in der Nähe von Wrexton, und Marcus war sich sicher, dass er von einer Horde wilder Krieger, die ein kleines Bauernhaus bewachten, gehört hätte.

Aber wer war sie?

Sie trug ein schlichtes, doch fein gewebtes, wollenes Gewand, das dunkelgrün gefärbt war, und ihr schwarzes, seidiges Haar fiel ihr lang über den Rücken. Sie bewegte sich gewandt, mit Anmut und Zielstrebigkeit, als sie ihre sanften, heilkundigen Hände auf die Wunde seines jungen Vetters legte. Sie sprach mit weicher Stimme zu Adam, in einem seltsamen melodischen Akzent, obwohl kaum anzunehmen war, dass der Junge überhaupt etwas hören konnte.

Die Frau besaß die Haltung und das Aussehen einer Königin, und doch war sie hier, an diesem Ort – in einer kleinen Kate, die wenig besser war als eine alte Bauernstallung. Marcus fühlte sich genauso gehemmt und unsicher, wie er sich stets in Anwesenheit einer edlen Dame fühlte.

„Mylord“, sagte in diesem Augenblick der bärtige alte Mann, der immer noch auf seinem Lager ruhte.

Marcus wandte sich der Stimme zu, und als er zu dem Mann ging, fiel ihm auf, dass dieser ihm immer noch zunickte. Erst jetzt begriff er, dass der Greis nahezu blind war.

„Ihr müsst meiner Nichte erlauben, das zu tun, was sie für das Beste hält.“ Seine Stimme hatte einen noch fremdartigeren Klang als die der jungen Frau. „Denn Ihr könntet keinen besseren Heilkundigen auf englischem oder irischem Boden finden als Keelin O’Shea.“

„Sie ist Eure Nichte?“, fragte Marcus, dem nun etwas wohler zumute war, da er nicht mehr so dicht neben der schönen Frau stand. Er atmete tief durch, als er zusah, wie sie unbeirrt fortfuhr, die Wunde an Adams Rücken zu nähen.

„Ja, sie ist Keelin O’Shea von Kerry“, erwiderte der Alte. „Und ich bin ihr Onkel, Tiarnan O’Shea, Euch zu Diensten. Zumindest, wenn ich wieder auf meinen Füßen stehe.“

„Kerry … ist das … eine irische Grafschaft?“, fragte Marcus, aber er hörte kaum auf die Antwort. Versonnen fuhr er sich durch das schweißnasse Haar, da er sich in diesem Augenblick schmerzhaft bewusst machte, dass draußen vor der Hütte sein toter Vater lag, sein Leichnam dürftig von einem Umhang bedeckt, umringt von seinen Getreuen, die die Totenwache hielten.

Marcus war taub vor Trauer und Zorn. Noch verdrängte er den Gedanken daran, welche Pflichten von nun an auf ihn, den jungen Grafen, warteten. Vermochte er, die Ritter von Wrexton zu befehligen und den toten Vater und die gefallenen Gefährten nach Hause zu bringen, in geweihte Erde? Was wurde aus Adam? Es war offensichtlich, dass der Junge nicht reisefähig war, aber er konnte ihn auch nicht bei Fremden zurücklassen.

„Kerry ist eher ein Landstrich, mein Junge“, antwortete Tiarnan, dem die Bestürzung des jungen Edlen entging. „Eine wilde und prächtige Gegend in Munster im Südwesten von Irland, mit vielen Seen und felsigen Hügelketten.“

Marcus antwortete nicht, denn er hing immer noch seinen Gedanken nach.

Der alte Mann deutete sein Schweigen als Besorgnis um den verletzten Jungen und die Wundbehandlung durch Keelin. „Wahrlich, Ihr könnt ihr vertrauen, mein Junge“, sagte er. „Sie hat die Gabe zu heilen.“

„Ich kann nur beten, dass Ihr recht behaltet“, entgegnete Marcus, als er sich von dem Greis abwandte und nach draußen ging. Seine Getreuen Roger und Edward blieben in der Hütte. Er vertraute den beiden Männern und wusste, dass sie augenblicklich zu ihm kämen, sobald die Lage des Jungen sich verschlechterte.

Er sah zum Himmel hinauf, atmete tief durch und fragte sich, warum dieser schöne Tag derart schnell zerstört worden war durch die hässliche Fratze des Todes.

Lange war es her, dass Marcus in die Schlacht gezogen war. Vor fünf Jahren war er aus den Kämpfen auf französischem Boden nach Hause zurückgekehrt und fand seine Mutter im Sterben. Nach ihrem Tod war er in Wrexton bei seinem Vater geblieben und nie wieder nach Frankreich zurückgekehrt.

Wrexton lag mit niemandem im Krieg. Der Feldzug in Frankreich hatte wenig Auswirkungen auf das Geschehen im äußersten Westen Englands. Es gab keine Grenzstreitigkeiten oder Gefechte mit Rittern der umliegenden Burgen. Er und sein Vater Eldred hatten dafür gesorgt, dass ein gutes Einvernehmen zwischen Wrexton und den Walisern bestand, deren Land an die Grafschaft Wrexton grenzte. Zu keiner Zeit hatte man in den vergangenen Jahren damit rechnen müssen, in einen Hinterhalt fremder Ritter zu geraten.

Ritter? Wenn man die Schurken überhaupt so nennen durfte.

Nicht einmal die Franzosen waren so barbarisch. Die Angreifer hatten keine Rüstungen getragen, stanken bestialisch und waren unrasiert. Ihr wildes Haar war im Nacken zu langen Zöpfen zusammengefasst, ihre Sprache bestand aus seltsamen, kehligen Lauten und hatte vollkommen fremd in seinen Ohren geklungen. Zunächst hatte er sie für Kelten gehalten, doch jetzt, da er wusste, dass die unbekannte Frau und ihr Onkel aus Irland stammten, fragte er sich, ob es einen Zusammenhang gab. Waren die Angreifer ebenfalls aus Kerry? Kannten sie die Bewohner der Bauernkate?

Gott mochte Tiarnan O’Shea und seiner Nichte beistehen, wenn sie in irgendeiner Weise an dem fürchterlichen Gemetzel des Nachmittags beteiligt waren.

Marcus ging hinter die Hütte, wo seine Männer in der Zwischenzeit Zelte aufgeschlagen hatten. Die Reiter aus Wrexton würden die Nacht hier verbringen und ihre verwundeten Gefährten versorgen. Vermutlich blieben sie sogar mehrere Tage, denn er vermochte nicht zu sagen, wann Adam wieder so weit hergestellt war, dass er auf einem Pferd nach Wrexton Castle gebracht werden konnte.

Seinen Vater jedoch musste er bald nach Hause bringen, um ihn im Land seiner Vorväter zu bestatten.

Unweit der Kate befand sich ein rauschender Bachlauf, den Marcus über einen kleinen, ausgetretenen Pfad erreichte. Er streifte das Hemd ab, kniete sich hin und tauchte den Kopf ins kühle Nass. Er musste endlich wieder einen klaren Gedanken fassen.

Keelin hatte den Jungen ausreichend versorgt und legte die Heilkräuter und Leinenverbände zur Seite. In einer flachen Schale wusch sie die Hände mit frischem Wasser und ging dann zu ihrem Onkel, um leise ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

„Schlaft jetzt ein wenig“, sagte sie schließlich zu ihm, da sie wusste, wie sehr ihn die Sorge um ihr Schicksal und die Ankunft der Fremden ermüdet hatte. „Ich gehe ein wenig nach draußen, bin indes bald wieder da, um nach Euch zu sehen.“

Sie musste mit dem Engländer sprechen.

Keelin verließ die Kate und war ebenso überrascht wie bestürzt, als sie sah, wie viele Ritter sich hinter der Hütte ganz in der Nähe des alten Karrens aufhielten. Sie war zwar zuversichtlich, dass die Engländer die Lanze nicht entdecken würden, aber es bereitete ihr Unbehagen, die Männer so dicht neben dem Verschlag stehen zu sehen.

Doch dann rief sie sich selbst zur Ruhe und näherte sich einigen Rittern, die miteinander sprachen, um sie zu fragen, wohin der junge Edelmann gegangen sei. Man wies ihr den Pfad, der zum Bachlauf führte. Keelin folgte dem schmalen Weg und blieb erstaunt stehen, als sie der Gestalt des Engländers ansichtig wurde.

Sie verspürte ein seltsames Gefühl in der Bauchgegend, und das Atmen fiel ihr schwer, als sie den jungen Mann sah, der mit bloßem Oberkörper am Rande des Baches stand. Keelin durchfuhr es glühend heiß, als hätte ihre Haut Feuer gefangen. Ihr Herz pochte wild, als ob sie etwas von ihrem Vorrat an zerstoßenem Fingerhut genommen hätte.

Hatte sie je einen so gut gebauten Mann gesehen? Sie konnte sich wahrlich nicht erinnern. Die breiten Schultern, die schmalen Hüften und die kraftvollen, vollendet geformten Arme – all diese Vorzüge boten einen eindrucksvollen Anblick.

Oberkörper und Haar des Engländers waren nass, und als er den Kopf in den Nacken warf, kam er Keelin wie ein wildes Tier vor, das sich jeden Augenblick das Wasser aus dem Pelz schütteln würde. Sie vermochte kaum noch zu atmen, und ihr Mund schien wie ausgetrocknet zu sein, als sie die Bewegungen des Mannes beobachtete.

In diesem Augenblick bemerkte er sie.

Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück und stand plötzlich mit einem Stiefel im Wasser. Als wenn dies noch nicht genug der Peinlichkeit wäre, verlor er obendrein sein Gleichgewicht und fiel rücklings in den Bach. Als Keelin ans Ufer eilte, um ihm die Hand zu reichen, überzog eine tiefe Röte sein Gesicht.

„Nun, wenn Ihr ein Bad nehmen wollt …“, sagte sie scherzhaft.

Wortlos kam der blonde Hüne wieder auf die Beine und stieg verdrießlich aus dem flachen Wasser. Keelin merkte sofort, dass er nicht zu Späßen aufgelegt war. Er machte auch keine Anstalten, ihr gegenüber freundlich zu sein. Sie konnte sein Verhalten verstehen. Schließlich war sie eine Irin und stammte aus demselben Land wie die Krieger, die seine Reiterschar überfallen hatten.

„Der Junge schläft jetzt“, sagte sie und durchbrach damit die Anspannung, die sein beharrliches Schweigen hervorgerufen hatte. Bei seiner Ankunft hatte er den Männern noch unzählige Befehle erteilt und alle Anordnungen getroffen, die dem Wohlergehen des Jungen dienlich waren, aber jetzt schien er nur widerwillig sprechen zu wollen.

„Es wird indes noch einige Zeit dauern“, fuhr sie fort, „bis wir wissen, wie es ihm geht …“

Der Mann nickte kurz und ging dann eilenden Schrittes zurück in Richtung der Hütte. Er hatte Keelin nur allzu deutlich gezeigt, dass er nichts mit ihr zu tun haben wollte.

So kam sie nicht weiter mit ihrem Vorhaben, denn sie wollte eine Bitte an diesen Mann richten, ein dringendes Anliegen. Ihr Gebet würde erhört werden, sofern es ihr gelang, diesen jungen Engländer davon zu überzeugen, sie und ihren Onkel sicher von diesem Ort fortzubringen. Bei Tiarnans schlechtem Gesundheitszustand war dieser Hüne ihre einzige Hoffnung. Sie würde einen Weg finden, den Onkel zunächst in der Obhut des Engländers zu lassen, und sich dann allein nach Kerry aufmachen. Sie musste in Erfahrung bringen, was in Carrauntoohil vor sich ging.

„Wartet doch!“, rief sie ihm nach. Endlich schenkte er ihr seine Aufmerksamkeit.

Er hielt inne und wandte sich ihr halb zu.

„Ich bin Keelin O’Shea, Tochter von Eocaidh, dem Anführer meines Clans der Ui Sheaghda.“ Als sie keine Antwort erhielt, sagte sie: „Ich denke, ich habe das Recht zu erfahren, wie der Name meines Gastes lautet.“

Er räusperte sich. „M…Marcus de Grant“, kam es schließlich zögerlich über seine Lippen. „Da mein Vater an diesem unheilvollen Nachmittag den Tod fand, bin ich … bin ich nun der neue Graf von Wrexton.“

Keelin hatte nichts anderes erwartet. Der Mann war kein gewöhnlicher Engländer, und sie war froh, dass sie ihn und seine Männer gebührend empfangen hatte. Marcus de Grant war kein unbedeutender Edelmann. Und er war ein Mann, der um seinen Vater trauerte. Wenn es ihr nur gelänge, ihn zu überreden, sie und Tiarnan mit auf seine Burg zu nehmen.

„Mein aufrichtiges Beileid. Ihr habt einen teuren Menschen verloren“, sagte sie sehr ernst und ging auf ihn zu. Der arme Mann war offensichtlich tief erschüttert von dem Tod seines Vaters.„Es ist wahrlich nicht leicht, einen Angehörigen zu verlieren.“

Marcus bezweifelte, dass er sich jemals derart unbeholfen vorgekommen war. Als er halb nackt auf dem Pfad stand und die Irin auf sich zukommen sah, verspürte er den Drang, sein nasses Gewand fallen zu lassen und fortzulaufen. Er wollte vor allen Ereignissen in seinem Leben davonrennen – vor den neuen Verpflichtungen, der Verantwortung für Adam und dem Tod seines Vaters. Doch jetzt wünschte er sich vor allem, der Nähe dieser dunkelhaarigen Dame entfliehen zu können, deren vollendete Umgangsformen ihn wieder einmal zutiefst verunsicherten.

Gleichzeitig spürte er jedoch, dass die Frau aus Erfahrung sprach, da sie wohl selbst einen schweren Verlust hatte hinnehmen müssen. Dies Gefühl verhalf ihm, ihr endlich zu antworten. „Nein, es … es ist nicht leicht“, sagte er mit gepresster Stimme.

„Und der Junge, Mylord? Wer ist Adam?“, fragte sie, als sie schließlich nebeneinander hergingen.

„Mein Vetter“, erwiderte Marcus, während er darum bemüht war, genügend Abstand zu der schönen Frau zu schaffen.

„Ich möchte keineswegs aufdringlich sein, Mylord“, fuhr Keelin fort, „aber wie ist es zu diesem schrecklichen Vorfall gekommen? Was ist Euch und Euren Männern zugestoßen?“

„Ich hatte gehofft, Ihr würdet mir die Ereignisse erklären können“, entgegnete Marcus und war überrascht, wie leicht ihm diese Worte über die Lippen gekommen waren. Er hatte keineswegs vor Unsicherheit gestottert, und es war ihm gelungen, genau das zu sagen, was er dachte. Und weder ihr forscher Blick noch ihre ausgesprochen ansehnlichen Rundungen und ihr verführerischer, würziger Duft hatten ihn zurückschrecken lassen.

„Ich?“, entfuhr es ihr ungläubig. Sie war offenbar mehr als verblüfft und blieb stehen.

„Keltische Krieger haben uns in dem Waldstück nördlich von hier überfallen“, sagte er. „Eine Reiterschar von Engländern kam gerade noch rechtzeitig, um die Schurken in die Flucht zu schlagen. Dennoch fielen vier meiner Männer, und mein Vater starb in meinen Armen. Neben Adam haben wir also noch weitere Verwundete zu beklagen.“

Keelin presste die Hand auf die Brust und murmelte vor sich hin, bevor sie zu seiner Überraschung sagte: „Seit Tagen habe ich diese Unruhe verspürt, denn ich wusste, dass solch ein fürchterliches Ereignis sich früher oder später zutragen würde.“

„Ihr wisst etwas über diese Krieger?“, fragte er, sichtlich verblüfft über ihre freimütigen Worte, obwohl er eine Verbindung zwischen den Barbaren und den Iren in der Bauernkate nie ganz ausgeschlossen hatte.

Schweigend neigte sie den Kopf, und Marcus beschlich der Verdacht, dass sie seine Frage bewusst umgehen wollte. Ihr ausweichendes Verhalten erzürnte ihn, und so hielt er sie am Arm fest.

„Was wisst Ihr von diesen Kelten?“, verlangte er zu erfahren. Die Frage klang beinahe schroff, da seine unbändige Wut erneut die Oberhand gewann, obgleich die schöne Frau ganz andere Gefühle in ihm hervorrief. „Kommen sie zurück? Halten sich noch weitere Krieger hier in den Wäldern versteckt, um aus dem Hinterhalt …?“

„Nein!“, entgegnete Keelin verärgert und entzog sich seinem allzu festen Griff. „Zumindest glaube ich es nicht. Die Mageean-Krieger haben sich bei der Verfolgung nie aufgeteilt … sie sind stets zusammen durch die Wälder gestreift, als eine …“

„Weiter! Was wisst Ihr noch?“, warf Marcus ungehalten ein.

„Es sind Ruairc Mageeans Männer. Und sie suchen mich“, entgegnete sie niedergeschlagen. „Seit vier Jahren schon jagen sie meinen Onkel und mich. Wir haben uns während dieser Zeit in England versteckt gehalten und sind immer dann weitergezogen, wenn unsere Verfolger uns zu nahe kamen.“

Marcus vergaß in diesem Augenblick seine Unsicherheit. Denn Keelin O’Shea hatte die Antworten auf seine drängenden Fragen. Sie kannte jene Krieger, die seinen Vater auf dem Gewissen hatten, und nun war es seine Absicht, herauszufinden, wie viel sie noch wusste. Zum ersten Mal in seinem Leben war er nicht gänzlich gehemmt und überwältigt von der Nähe einer wunderschönen Frau. Obwohl er sich in ihrer Gegenwart nach wie vor etwas unbeholfen gab, gelang es ihm doch, mit ihr zu sprechen. Er hatte sie sogar berührt, ohne verwirrt die Fassung zu verlieren und zu stottern. Sein ganzes Sinnen und Trachten war in diesem Augenblick darauf gerichtet, zu erfahren, wer seinen Vater ermordet hatte, und er fühlte sich in seinen Rachegedanken wie von unzähligen Flammen verzehrt. „Wer ist Ruairc Mageean?“, entfuhr es ihm hitzig.

„Nun …“ Keelin musste schlucken, da der Zorn des jungen Grafen sie eingeschüchtert hatte. Gewiss, noch war er Herr seiner starken Gefühlswallungen, aber es musste Furcht erregend sein, wenn er seiner Wut freien Lauf ließ. Jetzt war offenbar nicht der Zeitpunkt, ihre Bitte zu äußern. Es erschien ihr sogar klüger, den Engländer allein zu lassen. „Das ist eine lange Geschichte, aber es mag Euch genügen, dass der Clan der Mageean meiner Familie feindlich gesonnen ist. Ihr Anführer ist ein grausamer und herzloser Mann, der nach der Macht strebt, die mein Vater innegehabt hat, und der ganz Munster in seine Gewalt bringen will, wenn er nur …“

„Wenn er nur …?“, bedrängte Lord Wrexton sie, wobei er seinen Zorn kaum zurückhalten konnte.

„Wenn er nur die Macht hätte, meine Heimat zu unterwerfen“, fügte sie unsicher hinzu, bevor sie sich von ihm abwandte und mit flinken Schritten den Pfad zur Hütte nahm.

Marcus blieb stehen und konnte seine Gedanken nicht von der Frau losreißen, die vor wenigen Augenblicken in dem dichten Waldstück verschwunden war, das die Hütte von dem Bachlauf trennte. Eigentlich hätte er sich erleichtert fühlen müssen, wieder allein zu sein, doch dann hörte er einen Schrei, der ihm das Blut in den Adern stocken ließ. Es war der Hilfeschrei einer Frau.

Marcus ließ sein Gewand fallen und stürmte auf den Wald zu.

2. KAPITEL

Keelin hatte erst eine kurze Strecke des Pfades zurückgelegt, als plötzlich ein wild aussehender Bursche aus dem Dickicht trat. Der Angreifer versuchte, ihr mit einer Hand den Mund zuzuhalten, während er sie mit dem anderen Arm fest umklammert hielt. Dann zerrte er sie durch das Unterholz, genau in die entgegengesetzte Richtung der Hütte. Mit jedem Atemzug schwand ihre Hoffnung auf Hilfe.

Sie schlug wild um sich, kratzte und trat nach dem Schurken, der sie ohne Erbarmen unsanft über den Waldboden schleifte, aber ihre Gegenwehr war zwecklos. Sie konnte sich nicht aus dem harten Griff des Mannes befreien, doch es gelang ihr, einen verzweifelten Schrei auszustoßen.

Autor

Margo Maguire
Seit 1999, als Margos erstes Buch “ The Bride of Windermere” erschien,, verkaufte sie mehrere historische Liebesromane an Harlequin. Inzwischen arbeitet sie hauptberuflich als Autorin und genießt die Flexibilität ihrer Tagesplanung, die sie zu ihrer Zeit als Krankenschwester nicht hatte. Mit drei Teenies zu Hause und einem regen Familienleben ist...
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