Ich brauche Streicheleinheiten

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Autsch, das tut weh! Aber nicht mal der scharfe Schnabel von Pollys Papagei kann Joes Begeisterung stoppen. Schon vor dem ersten Biss hat er sich in die hübsche Tierarzthelferin verliebt. Dummerweise sind Liebe und feste Beziehungen in seinem Lebensplan nicht vorgesehen..


  • Erscheinungstag 21.09.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786625
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Polizei! Polizei!“

Polly Chapman rollte genervt die Augen, als sie die krächzende Stimme hörte.

„Pst, Jazzy“, zischte sie und trat vor der roten Ampel auf die Bremse. Im Stehen knatterte der Motor ihres alten Wagens. „Wir brauchen keinen Gesetzeshüter.“ Sie betrachtete die heruntergekommene Wohngegend. „Jedenfalls noch nicht.“

„Polizei!“, wiederholte Jazzy.

„Oh Mann“, murmelte Polly, als sie bei Grün weiterfuhr.

Sie warf einen Blick auf ihren geschwätzigen Beifahrer. Jazzy war ein bunter Papagei mit glänzenden Federn und ziemlich vorlaut. In seinem glockenförmigen Käfig saß er vornübergebeugt auf einer Schaukel, damit ihm auch ja nichts entging.

An der nächsten roten Ampel kontrollierte Polly, ob alle Türen verriegelt waren. Es hatte über eine Stunde gedauert, vom nördlichen Teil Tucsons in den südlichen zu kommen. Je weiter sie fuhr, umso ärmlicher sahen die Häuser und Straßen aus.

Auf den abgeblätterten Putz der Wände waren Graffitis gesprüht. Ladenfenster waren zum Teil verbarrikadiert oder einfach nur geweißt. In nur wenigen Fenstern hingen vergilbte Schilder, die zum Betreten des Geschäfts einluden.

Entsetzt musterte Polly die in den Hauseingängen herumlungernden Menschen, die entweder schliefen oder teilnahmslos vor sich hin starrten. Einige Leute schlurften ziellos über den schmutzigen Gehweg.

Natürlich hatte sie davon gehört, wie es hier aussah, aber sie war noch nie zuvor in den südlichen Bezirken der Stadt gewesen. Es hieß, dass die Kriminalitätsrate hier hoch sei und gewaltbereite Gangs die Straßen unsicher machten. Auf einmal wünschte sie sich, sie wäre nie hierhergekommen.

Sie warf noch einmal einen Blick auf die handgemalte Straßenskizze und versuchte sie mit den Namen auf den wenigen noch verbliebenen Straßenschildern zu vergleichen.

Endlich fand Polly die gesuchte Straße, und sie atmete erleichtert auf, als sie einbog. Sie musste nur noch ein paar Häuserblocks weitergehen, dann hatte sie ihr Ziel erreicht.

Der Himmel war bewölkt und tauchte die sowieso schon graue Stadtlandschaft in ein düsteres Licht. Die Häuser waren winzig. Einige sahen trotzdem gepflegt aus, aber die meisten hatte man dem Verfall preisgegeben.

Polly hatte an diesem unfreundlichen Novembertag nicht nur vor Kälte eine Gänsehaut. Auch die offensichtliche Armut in diesem Stadtteil berührte sie unangenehm.

„Polizei!“, krächzte Jazzy.

„Nein, nicht die Polizei ist hier vonnöten“, sagte Polly leise. „Sondern ein Trupp Sozialarbeiter mit übermenschlichen Fähigkeiten.“

„Dummes Ding“, sagte Jazzy. „Dummes Ding.“

„Danke“, gab Polly zurück und warf dem Vogel einen finsteren Blick zu. „Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich überhaupt mit dir rede. Du bist so verdammt vorlaut.“

„Koch ein Süppchen“, plapperte Jazzy.

„Und ein Pascha bist du also auch noch“, fügte sie hinzu. „Koch dir deine Suppe selbst. Ich bin doch nicht deine Dienerin.“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum unterhalte ich mich eigentlich mit dem Tier? Halt endlich den Mund, Polly Chapman.“

„Möchte Polly einen Keks?“, fragte Jazzy.

„Das finde ich nicht komisch“, seufzte sie. „Ich könnte Robert den Hals umdrehen dafür, dass er dir das beigebracht hat.“

„Möchte Polly einen Keks?“

„Nein!“

Polly fuhr langsamer, beugte sich vor und bremste, als sie gefunden hatte, was sie suchte.

„Abraham Lincoln Highschool“, verkündete sie. „Ganz schön trostlos.“

Das vierstöckige Gebäude war schon alt, der rote Backstein bröckelte ab, und die Fenster waren fast blind vor Schmutz. Rechts hinter dem Hauptgebäude befand sich ein neuerer Anbau, zu dem ein Bungalow gehörte, der offensichtlich als Mehrzweckhalle diente.

„Da müssen wir hin, Jazzy“, sagte Polly. „Jetzt brauchen wir nur noch einen Parkplatz.“

Zwei Blöcke weiter fand sie einen. Vor dem Aussteigen betrachtete sie sich noch einmal im Rückspiegel.

Besser geht’s eben nicht, dachte sie. Sie war zwar schon vierundzwanzig, musste aber immer noch ihren Ausweis vorzeigen, wenn sie abends in die Disco ging.

Sie hatte kurze, naturgewellte Locken, blaue Augen und Sommersprossen auf der Nase.

„Was soll’s“, sagte sie zu sich selbst. „Hauptsache, ich mach das Beste draus. Wenn ich vierzig bin, werden mich alle beneiden, weil ich aussehe wie dreißig. Stimmt’s Jazzy?“

„Stimmt“, erwiderte der Papagei.

„Endlich sind wir uns mal einig“, freute sich Polly. „Na schön, dann auf zur Abraham Lincoln Highschool. Die Pflicht ruft.“

„Showbusiness!“, krähte Jazzy. „Showbusiness!“

„Oder das“, murmelte Polly.

Joe Dillon stand am Ende der Mehrzweckhalle, einen Schreibblock in der Hand. Den Lärm der lachenden und redenden fünfhundert Schüler schien er gar nicht wahrzunehmen. Vor ihm stand ein uniformierter Polizist.

„Schön“, sagte Joe und machte ein Häkchen auf seiner Liste. „Wir freuen uns, dass Sie zu unserem Berufsberatungstag gekommen sind. Bitte nehmen Sie auf dem Podium Platz.“

Der Polizist nickte und ging weiter.

„Wie sieht’s aus, Joe?“

Joe drehte sich nach dem Schulleiter um. Mark Jackson war Mitte fünfzig, stark ergraut und wirkte müde. Er sah älter aus, als er war. Obwohl er kleiner war als Joe, wusste Joe aus Erfahrung, dass Mark kräftiger war, als man dachte. Die beiden Männer waren nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch Freunde.

„Alle sind da, außer Dr. Robert Dogwood, der Tierarzt. Glaubst du, das ist sein richtiger Name?“

Mark grinste. „Wer weiß? Du kennst ihn also nicht?“

„Nein“, erwiderte Joe. „Als ich in den Gelben Seiten anfing zu suchen, war er der Erste im Alphabet, der zugesagt hat. Meistens sind die Leute nicht besonders erpicht darauf, in diesen Stadtteil zu kommen.“

„Stimmt“, sagte Mark. „Und ich nehme es ihnen auch nicht übel.“

„Na schön, wir warten noch fünf Minuten“, erklärte Joe. „Wenn er bis dahin nicht gekommen ist, fangen wir an. Die Kids werden langsam unruhig.“

Mark musterte die Zuschauer.

„Hoffentlich hören sie auch richtig zu“, murmelte er nachdenklich. „Sie sollen wissen, dass es Möglichkeiten gibt, von hier wegzukommen. Wenn sie nur mehr Ehrgeiz entwickeln würden, ein Berufsziel vor Augen hätten oder einen Traum, ein …“ Mark seufzte. „Na schön, wir machen zum ersten Mal einen Berufsberatungstag. Man wird sehen, ob die Schüler damit etwas anfangen können.“

„Na ja“, entgegnete Joe und lächelte. „Entweder es klappt, oder es klappt nicht. Eine zweite Chance gibt es hier nicht. Das ist ja auch einer der Gründe, warum das Unterrichten an der Lincoln High eine echte Herausforderung ist.“

Mark lachte. „Das ist sehr milde ausgedrückt. Und trotzdem unterschreiben wir beide jedes Jahr wieder den Vertrag. Entweder ist es Opferbereitschaft oder Dummheit.“ Er hörte auf zu lächeln. „Spaß beiseite. Wir gehören hierher, weil wir glauben, dass wir etwas bewegen können und einige dieser vom Leben enttäuschten Kinder erreichen können.“

„So ist es“, bekräftigte Joe und nickte. „Ich will gar nicht woandershin.“

„Und dafür bin ich dir auch dankbar“, sagte Mark. „Wenn du nicht zu meinen Kollegen gehören würdest, würde mir die Arbeit keine Freude machen.“

„Komm, jetzt übertreibst du aber“, entgegnete Joe und warf einen Blick zur Tür. „Wie es aussieht, hat uns Dr. Dogwood versetzt. Fangen wir an.“

„Na gut. Ich werde erst mal für Ruhe sorgen und dir dann das Mikrofon übergeben, weil du schließlich alles organisiert hast.“

Joe sah dem Schulleiter hinterher und dachte daran, wie gut Mark hierher passte. Er war in einer ähnlichen Gegend wie dieser hier in Detroit aufgewachsen und wusste aus eigener Erfahrung, was sich in den Köpfen dieser Jugendlichen abspielte. In Tucson lebte Mark mit seiner Familie in einem hübschen Haus im nordwestlichen Teil der Stadt. Aber er würde die Jugendlichen hier nie im Stich lassen und bis zur Rente an der Lincoln High bleiben.

Joe warf einen Blick auf die lärmende Menge. Und ich? fragte er sich. Er war ganz anders aufgewachsen. Seine Familie war sehr wohlhabend, und Reichtum war für ihn immer etwas Selbstverständliches gewesen. Es schauderte ihm bei dem Gedanken daran, wie er früher gewesen war. Immer wenn er etwas haben wollte, hatte er es sofort bekommen.

Es war jetzt zehn Jahre her, seit er sich für ein anderes Leben entschieden hatte. Er hatte die Welt der Reichen verlassen und kehrte nur zu besonderen Anlässen zurück, um seine Eltern nicht zu enttäuschen.

Er lebte und arbeitete im Getto. Nur so konnte er eine Beziehung zu den Kindern entwickeln und der Lehrer sein, der er sein wollte. Ihm fehlte zwar noch Marks Lebenserfahrung, aber er hatte einen Weg gefunden, das aufzuholen.

Und Opfer? Joe überlegte. Natürlich musste er Opfer bringen. Das größte war wohl, dass er niemals heiraten und eine eigene Familie haben würde. Keine Frau wäre bereit, freiwillig in diesem Getto ihre Kinder aufwachsen zu lassen. Aber er wollte hierbleiben. So war es nun einmal.

Je länger er hier lebte, umso mehr störte ihn die Lebenseinstellung der Reichen, die so taten, als würde es in derselben Stadt, in der sie sich amüsierten, keine Armut und Hoffnungslosigkeit geben.

Das reicht, Dillon, wies er sich zurecht. Es wurde Zeit, mit der Show zu beginnen.

Polly kam der Weg länger vor, als er war. Der schwere Käfig zog ihren Arm herunter, und ihr schmerzte der Rücken. Als sie endlich vor dem Gebäude stand, musste sie einige Male tief durchatmen.

Sie öffnete die Tür zum Saal und hörte gerade eine männliche Stimme sagen, „… der viele Stunden seiner Freizeit geopfert hat, damit dieser Berufsberatungstag an der Abraham Lincoln Highschool stattfinden kann. Kinder, bitte bedankt euch bei unserem Coach Dillon.“

Polly ging weiter und blieb erschrocken stehen, als die Schüler ihre Dankbarkeit durch Klatschen, Pfeifen, Rufen und Trampeln zum Ausdruck brachten.

„Ach du meine Güte“, murmelte Polly und erschrak noch einmal, als ihr klar wurde, dass sie mit ihrem geschwätzigen Vogel an mehreren Hundert Schülern vorbei musste, um den berühmten und bewunderten Coach Dillon und die anderen Leute zu erreichen, die auf Klappstühlen an einem langen Tisch auf der Bühne saßen.

„Danke“, sagte Joe und hob die Arme, damit Stille einkehrte.

Polly ging vorsichtig weiter.

Die Schüler kamen langsam zur Ruhe. Dann wurde es still.

„Der Sinn dieses ersten Berufsberatungstags am Lincoln“, fuhr Joe fort, „ist, dass ihr Einblick bekommt in die …“

„Polizei!“, krächzte Jazzy laut und deutlich.

Die Schüler fingen an zu lachen.

„Keine Chance, Papageien-Lady“, rief ein Junge. „Die Polizei sieht mich jetzt schon öfter, als mir lieb ist.“

Polly schoss die Röte ins Gesicht, und sie verfluchte insgeheim den vorlauten Ara.

Wer zum Teufel ist das? dachte Joe stirnrunzelnd, als der Lärm wieder anschwoll. Es ist ganz bestimmt nicht Dr. Robert Dogwood, mit dem ich telefoniert habe. Dieses Kind mit dem sprechenden Vogel bringt das ganze Programm durcheinander. Oder hatte der Tierarzt das Mädchen geschickt? Warum sollte sie sonst hier sein? Er beneidete sie nicht um den Spießrutenlauf. Jetzt kam sie näher und …

Joe erkannte, dass die zierliche Person kein Kind war, sondern eine Frau, noch dazu eine sehr hübsche und erfrischend natürliche. Die verwaschenen Jeans, die sie anhatte, betonten ihre weibliche Figur, und unter ihrer dunkelblauen Bluse zeichneten sich ihre Brüste ab. Sie tat ihm leid, und er wollte ihr helfen.

Joe sprang von der Bühne und war in wenigen Schritten bei der Frau mit dem Käfig.

Polly hielt an und musterte den Mann, der Coach Dillon sein musste.

„Ich …“, begann sie, und schon hatte sie vergessen, was sie sagen wollte. Himmel, dachte sie. Mitten in dieser peinlichen Szene begegnet mir der attraktivste Mann, den ich je getroffen habe.

Coach Dillon muss man einfach zujubeln. Er war groß, hatte breite Schultern, und sein ebenmäßiges Gesicht war braun gebrannt. Sein volles braunes Haar hätte einen Haarschnitt gebrauchen können. Aber das Tollste an ihm waren seine hellbraunen Augen.

„Es tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte Polly. „Ich habe keinen Parkplatz vor der Schule gefunden, also musste ich mit dem Käfig etwas weiter laufen. Ich habe ihn ab und zu abgesetzt und …“

„Sie sind nicht Dr. Dogwood“, stellte Joe fest und hob die Augenbrauen. Sehr hübsch, dachte er, als sie vor ihm stand. Aber wie alt mochte sie sein? Zwanzig? Zweiundzwanzig? Fünfundzwanzig? „Ich nehme an, dass er Sie schickt?“

„Ja. Robert musste eine Notoperation durchführen, und seine Frau, Dr. Nancy Dogwood, sitzt an der Anmeldung. Ich bin Polly Chapman, seine Assistentin.“

„Ich verstehe“, sagte Joe.

„Ich habe so etwas noch nie gemacht und habe keine Ahnung, was Sie von mir erwarten, Mr Dillon. Robert hatte keine Zeit mehr, mir etwas zu erklären.“

„Sag ruhig Joe … Polly. Du wirst nicht die Erste sein, die spricht. Also hast du ein bisschen Zeit, dich an den anderen zu orientieren. Darf ich dir den Vogel abnehmen?“

„Was? Oh. Ja, danke.“

Polly hob Jazzys Käfig hoch, und als Joe den Griff packte, streifte er mit seinen Fingern ihre Hand. Bei dieser kurzen Berührung zuckten beide zusammen. Ihre Blicke trafen sich.

„Möchtest du schmusen, Süßer?“, krächzte Jazzy.

Polly fuhr herum und warf Jazzy einen wütenden Blick zu. „Jazzy, verdammt noch mal!“, zischte sie. „Halt den Schnabel.“

Joe drehte sich wortlos um und trug den Käfig zur Bühne.

Polly folgte ihm langsam. Himmel, was war das? fragte sie sich, als sie darüber nachdachte, was diese flüchtige Berührung in ihr ausgelöst hatte. Immer noch spürte sie den heißen Schauer, der ihr eben durch die Glieder gefahren war.

Wahrscheinlich hatte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Doch sie wusste, dass diese harmlose Erklärung falsch war. Es hatte zwischen ihnen gefunkt, weil sie Mann und Frau waren. Diese erotische Spannung hatte etwas Beunruhigendes. Joe Dillon gehörte zu den Männern, die, ohne dass sie mehr tun mussten, als einfach nur dazustehen, alle Blicke der Frauen auf sich zogen, und das machte ihn gefährlich.

Polly setzte sich auf einen der Stühle, lächelte zur Begrüßung ihre Nachbarn an und nickte Joe dankend zu, als er Jazzys Käfig neben sie stellte. Sie faltete ihre Hände im Schoß und setzte eine freundliche Miene auf, die, wie sie hoffte, einen professionellen Eindruck machte.

Erst jetzt merkte sie, dass sie genau hinter Joe saß, der vor ihr am Mikrofon stand.

Keine schlechte Aussicht, dachte Polly erfreut. Denn Joe sah auch von hinten verführerisch aus. Dieser Mann war einfach perfekt.

Und wieder lief ihr ein heißer Schauer über den Rücken. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie kannte diesen Mann doch erst seit drei Minuten!

Das reichte jetzt aber. Sie musste ihren Blick von ihm abwenden, sonst würde sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Statt Joe Dillon begann sie die Seitenwand zu betrachten, auf der in Gelb und Blau der Kopf eines Bären gemalt worden war. „Grizzlies“ stand in breiten Lettern darunter.

Bestimmt das Maskottchen der Schule, dachte Polly. Die Abraham Lincoln Grizzlies. Klingt nett. Sie erinnerte sich gerne an ihre Schulzeit. Und dann fiel ihr ein, dass es für die Kinder hier wahrscheinlich weniger lustig war.

„Möchte Polly einen Keks?“, krächzte Jazzy auf einmal wieder.

„Pst“, flüsterte sie und stieß mit dem Fuß gegen den Käfig.

Joe spielte nervös mit den Papieren, die vor ihm auf dem Pult lagen, und räusperte sich.

Was ist das? dachte er und hatte das Gefühl, als habe man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. Als er Polly Chapmans Finger gestreift hatte, hatte es ihn wie ein Blitz durchfahren. Diese Frau mit den Sommersprossen auf ihrer süßen Nase hatte es ihm offensichtlich angetan. So kannte er sich gar nicht. Es gefiel ihm auch nicht.

Polly war nicht einmal sein Typ. Er stand nicht auf Frauen, die aussahen, als könnten sie Reklame für Diät-Margarine machen. Normalerweise verabredete er sich mit jenen abgeklärten alleinstehenden Frauen, die die Regeln kannten und hinterher keine Forderungen stellten. Man amüsierte sich, und anschließend ging jeder wieder seiner Wege.

Genug geträumt, Dillon, dachte er. Wenn er jetzt nicht endlich loslegte, würde das Publikum noch anfangen zu randalieren.

„Okay, meine Damen und Herren“, sprach er ins Mikrofon, „bitte setzt euch.“

„Zeig uns die Papageien-Lady, Coach!“, rief ein Junge. „Wir wollen die Papageien-Lady sehen.“

Die anderen Schüler unterstützten seinen Vorschlag mit Rufen und Trampeln.

Gleich geht hier alles zu Bruch, dachte Polly. Der Lärm war ohrenbetäubend. Coach Dillon wäre gut beraten, wenn er sie nicht als Erste ans Mikrofon bitten würde, denn sie hatte absolut keinen Schimmer, was sie sagen sollte.

„Ruhe!“, brüllte Joe, und es wurde augenblicklich wieder still. „Na schön“, sagte er. „Dieser Tag gehört euch, und deshalb sollt ihr auch mitbestimmen dürfen, wie er durchgeführt wird. Also begrüßt jetzt bitte Ms Polly Chapman.“

Joe wandte sich lächelnd an Polly, die ihn entsetzt anstarrte und wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen blieb. Er beugte sich zu ihr herunter, um ihr etwas zuzuflüstern. „Es tut mir wirklich leid. Aber wenn ich jetzt das Programm über ihre Köpfe hinweg durchziehe, sind sie in der Lage, alles kaputt zu machen. Du hast sie neugierig gemacht, und etwas Besseres kann uns nicht passieren.“

„Etwas Besseres?“, wiederholte Polly stirnrunzelnd. „Was soll ich denn bloß sagen?“

„Erzähl ihnen einfach, was du machst und welche Ausbildung man dafür braucht.“ Joe zuckte die Achseln. „Hals- und Beinbruch, Papageien-Lady“, fügte er lächelnd hinzu und stellte Jazzys Käfig neben das Mikrofon.

„Oh nein“, seufzte Polly und erhob sich.

Joe machte ihr Platz, und aus dem Augenwinkel konnte sie noch erkennen, dass er sich auf ihren Stuhl setzte.

Siedend heiß fiel ihr ein, wie sie Joe hemmungslos angestarrt hatte, als sie dicht hinter ihm gesessen hatte. Jetzt musste sie nicht nur mit diesem rüpelhaften Publikum klarkommen, sondern würde gleichzeitig Joes Blick in ihrem Nacken spüren.

Sie drehte sich um. „Hier kannst du nicht sitzen bleiben.“

„Warum nicht?“, fragte Joe erstaunt.

„Weil es mich nervös macht, wenn du da sitzt.“

„Warum? Ein Stuhl ist ein Stuhl.“

„Such dir einen anderen Platz“, zischte sie.

Joe stand auf, die Hände in die Hüften gestemmt. „Wie Sie wünschen, Ma’am.“

„Danke“, erwiderte Polly, und als sie ans Mikrofon trat, saß er schon wieder.

„Guten Morgen“, sagte Polly und ließ ihren Blick über die Schüler schweifen. „Ich heiße Polly Chapman und möchte mich bei euch bedanken, dass ihr mich eingeladen habt.“

Oho! dachte Joe. Jetzt verstehe ich, warum Polly mich hier unbedingt weghaben wollte. Das hübsche Wesen hatte offensichtlich den Ausblick auf seinen Po genossen und fürchtete jetzt, er würde das Gleiche tun. Wie recht sie hatte!

Miss Chapman hatte tatsächlich eine ausgesprochen hübsche Kehrseite. Schon spürte er wieder Schmetterlinge im Bauch.

Wie lächerlich, dachte er und ärgerte sich darüber, dass er auf Polly Chapman wie ein pubertierender Teenager reagierte.

Schließlich war er mit seinen dreiunddreißig Jahren kein Teenager mehr, den seine Hormone plagten. Es ging ihm allmählich auf die Nerven, dass Polly eine so verheerende Wirkung auf ihn ausübte. Energisch befahl er sich, nicht länger auf den entzückenden Po dieser Frau zu starren.

Da fiel sein Blick auf ihre hellblonden Locken, und er fragte sich, ob sie sich wohl so weich anfühlten, wie sie aussahen. Das reicht jetzt, dachte er und stand auf. Er hatte eindeutig zu lange auf diesem Stuhl gesessen. Joe stellte sich mit über der Brust verschränkten Armen ans Ende des Tisches, und Polly warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Mach weiter“, sagte er. „Tu einfach so, als wäre ich nicht da.“

Das ist leichter gesagt als getan, dachte sie. Ein Ausbund von erotisierender Männlichkeit wie Dillon war einfach nicht zu übersehen. Wie sollte sie so tun können, als wäre er nicht da?

„Na schön“, erwiderte Polly und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Schüler. „Schon als Kind wollte ich Tierärztin werden. Alle Tiere, die mir über den Weg liefen und Hilfe brauchten, nahm ich auf und pflegte sie, so gut ich konnte, egal ob es Hunde, Katzen, Vögel oder Igel waren. Als ich älter wurde, musste ich mir eingestehen, dass mein Wunsch ein Traum bleiben würde. Denn ich konnte mir das teure Studium einfach nicht leisten.“

Joe ließ seinen Blick über die gespannten Gesichter der Schüler wandern. Es war sehr still, und aller Augen waren auf Polly gerichtet.

Es ist ihr gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, dachte er. Diese Kinder kannten Träume, die niemals in Erfüllung gehen würden. Weiter so, Polly. Sie hören dir genau zu.

„Aber dann erfuhr ich“, erzählte Polly, „dass es an der Universität von Arizona einen Studiengang gibt, in dem man sich in der Hälfte der Zeit, die man für ein Veterinärstudium braucht, und für nur halb so viel Studiengebühren zum Tierarztassistenten ausbilden lassen kann. Diese Chance habe ich wahrgenommen, denn wenn es auch nicht meinem ursprünglichen Wunsch entsprach, so kann ich doch in dem Berufsfeld arbeiten, das ich mir ausgesucht hatte. Seit einigen Jahren habe ich eine Stelle in der Gemeinschaftspraxis von Dr. Robert und Nancy Dogwood, deren Klinik im Nordwesten der Stadt liegt.“

„Und was lassen sie dich dort für Arbeiten machen?“, rief jemand. „Die Hunde- und Katzenklos reinigen?“

Polly lachte. „Das auch. Aber ich führe auch Untersuchungen und Impfungen durch. Oder ich betreue die Tiere nach schweren Operationen. Es gibt eine Menge zu tun. Es ist eine Arbeit, die mich erfüllt und mir Spaß macht.“

„Das hört sich gut an“, sagte ein Mädchen. „Und was ist mit dem Vogel?“

„Das ist Jazzy“, stellte ihn Polly vor. „Die Dogwoods haben neben ihrer Klinik auch eine Tierpension. Und ich dachte, es würde euch Spaß machen, einen meiner Schützlinge kennenzulernen. Seine Besitzer sind für sechs Monate in Europa.“

„Ist das nicht ein Jammer?“, fiel ihr ein Junge ins Wort.

Pass auf, Polly, dachte Joe. Erzähl diesen Kindern jetzt nicht von Dingen, die sie niemals haben werden. Lass sie jetzt nicht im Stich.

Polly öffnete den Käfig, und Jazzy sprang auf den Tisch.

„Jazzy ist ein Ara“, erklärte Polly. „Einige von euch haben mitbekommen, dass er sprechen kann. Er hat ein geradezu unheimliches Talent, im richtigen Moment etwas Passendes zu sagen, sodass man denkt, er würde sich mit einem unterhalten. Das ist natürlich nicht möglich. Trotzdem habe ich noch ein paar Kurse über die Haltung exotischer Vögel belegt, nachdem ich von den Dogwoods angestellt wurde. Im Laufe des Jahres werden tatsächlich eine Menge Vögel in unserer Pension abgegeben.“

„Gib mir ein Küsschen, Süße“, krächzte Jazzy.

„Was kostet so ein Paradiesvogel denn?“, fragte ein Mädchen.

Oje, dachte Joe.

„Jazzy hat einen guten Stammbaum“, gab Polly bereitwillig Auskunft. „Er ist in etwa …“

Sag’s nicht, Polly, beschwor Joe sie im Stillen. Sag ihnen, dass du keine Ahnung hast, was dieser idiotische Vogel wert ist.

„… ich würde sagen“, überlegte Polly laut. „bestimmt einige Tausend Dollar wert.“

Oh nein, dachte Joe.

Polly blinzelte erstaunt, als daraufhin lautes Johlen und Pfeifen ausbrach und die Daumen reihenweise missbilligend nach unten zeigten.

Was ist denn jetzt los? fragte sie sich fassungslos. Die Schüler hatten ihr aufmerksam zugehört, das hatte sie gemerkt. Aber warum pfiffen sie sie jetzt aus?

Joe trat an den Tisch und hob beide Hände. „Regt euch ab“, rief er. „Hört auf. Ich weiß, was in euch jetzt vorgeht, aber das ist kein Grund, unhöflich zu werden.“

Na schön. Sie war erleichtert, dass Joe offensichtlich verstand, was mit diesen aufgebrachten Jugendlichen auf einmal los war, dachte Polly und verschränkte schützend die Arme vor der Brust. Sie hatte jedenfalls keine Ahnung, was in die Kids gefahren war.

„Das reicht jetzt!“, rief er. „Hört auf!“

Dann beobachtete Polly mit Entsetzen, wie sich Jazzy über den langen Tisch auf Joe zubewegte, sich aufplusterte und ihn in seinen wunderbaren Po biss.

2. KAPITEL

Ein Chaos brach aus.

Joe schrie vor Schmerz auf und wandte sich wutentbrannt um. Jazzy flatterte aufgeregt Richtung Käfig und setzte sich schnell auf die Stange. Ohne zu zögern, schloss Polly die Tür.

Die Schüler flippten aus. Sie lachten und zeigten mit dem Finger auf Joe. Sie amüsierten sich köstlich über das eben Vorgefallene. Wieder trampelten sie mit den Füßen und jubelten Jazzy zu.

Autor

Joan Elliott Pickart
Joan Elliott Pickart ist eine berühmte amerikanische Schriftstellerin, die seit 1984 über 100 Liebesromane veröffentlicht hat. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Robin Elliott. Joan Elliott Pickart ist Mitbegründerin der Autorenvereinigung Prescott, einem Mitglied der Romance Writers of America (RWA).
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