Ich gehöre Dir

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Ein Aufruhr der Gefühle tobt in Emma beim Anblick des kühnen Luftwaffenmajors Sam. Einst war die sensible Bibliothekarin mit seinem Bruder verlobt, doch nach einem verbotenen Kuss wusste Emma, dass nur Sam ihre Leidenschaft wecken konnte. Kann das jetzt ein neuer Anfang sein?


  • Erscheinungstag 11.10.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733753535
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Hallo, Sam, haben Sie nicht Lust mit uns im Klub etwas zu trinken?“

Sam Griffin, Major der Air Force der Vereinigten Staaten, schaute zu dem jungen Leutnant hinüber, der lässig am Türrahmen seines Büros lehnte. Obwohl er normalerweise solch einen vertrauten Umgangston ihm gegenüber bei seinen Schülern nicht duldete, musste er lächeln. Billy Fonteneaux war ein vielversprechender Pilot, dessen Südstaatenakzent so charmant war, dass man dazu neigte, seine lockere Art außerhalb seiner Dienstzeit zu entschuldigen.

„Vielleicht tue ich das sogar“, erwiderte Sam und wandte sich dann wieder dem Stapel Post zu, den er gerade sortierte. „Gehen Sie jetzt in den Klub?“

„Wir waren schon auf dem Weg, als ich noch Licht in Ihrem Büro sah. Ich dachte, es würde nichts schaden, wenn ich Sie frage, aber wenn Sie andere Pläne haben …?“

„Die habe ich nicht“, gab Sam mit einem wehmütigen Lächeln zu. In sein Junggesellenquartier zurückzukehren und sich ein Mikrowellenabendessen zuzubereiten, war bestimmt nicht das, was der junge Mann im Kopf hatte.

„Also was sagen Sie jetzt, Major? Werden Sie mit uns ein Bier trinken?“

„Ich kann keine Versprechungen machen“, entzog sich Sam schließlich einer Entscheidung. Obwohl es vorlockend wäre, in einer ungezwungenen Atmosphäre zu plaudern und etwas zu trinken, wollte er sich doch nicht auf eine zu kameradschaftliche Ebene mit seinen Untergebenen herablassen. „Ich habe zuerst noch einige Dinge zu erledigen. Ich werde sehen, wie ich mich danach fühle.“

„Das ist ein Angebot, Sir.“ Billy lächelte, salutierte kurz und wandte sich dann ab.

Als die Schritte des Leutnants auf dem Flur verhallten, lehnte sich Sam in seinen Sessel zurück und vergaß für einen Moment den Stapel Post, den er am Nachmittag erhalten hatte.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er Billy Fonteneauxs Einladung sofort angenommen hätte. Eine Zeit, in der er den Ruf eines Partylöwen gehabt hatte, wo immer er auch stationiert gewesen war. Aber das hatte sich bereits seit Jahren geändert – seit vier Jahren, um genau zu sein.

Mit fünfunddreißig Jahren war er immer noch ein relativ junger Mann und weder durch Frau noch Kinder gebunden. Aber der Tod seines jüngeren Bruders hatte ihn für immer verändert. Etwas war in ihm gestorben, als er damals an jenem Junitag am Straßenrand Teddys leblosen Körper in seinen Armen gehalten hatte.

Lass es sein, warnte Sam sich.

Er konnte nichts gewinnen, wenn er die Vergangenheit wieder aufleben ließ. Was geschehen war, war geschehen, und ganz egal wie lange er sich mit den bitteren, leidvollen Erinnerungen quälte, nichts würde sich mehr ändern.

Sam zwang sich, sich wieder auf seine unmittelbare Aufgabe zu konzentrieren, und sah seine Post durch. Er stellte fest, dass nichts Besonderes dabei war. Es waren nur Kreditkartenrechnungen und Briefe von seiner Bank, die ihm bestätigten, dass seine Geldanlagen Früchte trugen.

Er hatte gehofft, dass ein Brief seiner Mutter dabei gewesen wäre, war jedoch enttäuscht worden. Abgesehen von der Postkarte aus Seattle, als sie dort Freunde besucht hatte, hatte er seit sechs Wochen nichts mehr von ihr gehört. Eigentlich war das nicht ungewöhnlich und schon gar nichts, worüber er sich Sorgen machen sollte. Es dauerte oft sehr lange, bis Post aus den Staaten diesen Luftwaffenstützpunkt in Italien erreichte. Und da seine Mutter verreist gewesen war, hatte sie jetzt sicherlich viel im Garten und im Haus zu tun.

Er könnte sie natürlich anrufen, aber er wusste nie genau, was er mit ihr sprechen sollte. Obwohl er nie einen Grund gehabt hatte, an der Liebe seiner Mutter zu zweifeln – das Gegenteil war der Fall – hatten sie sich doch nie sehr nah gestanden. Auf jeden Fall nicht so nah, wie sie und Teddy gewesen waren.

Sam hatte sich sehr viel mehr mit seinem Vater verbunden gefühlt. Vielleicht, weil er und Caleb Griffin sich so ähnlich gewesen waren – äußerlich und auch emotional. Auch Sam hatte die Kleinstadtatmosphäre in Serenity, Texas, als bedrückend empfunden und hatte einen Weg gefunden, die Stadt zu verlassen – wenn auch nicht auf so dramatische, selbst zerstörerische Art und Weise, wie sein Vater es getan hatte.

Wieder einmal ertappte sich Sam dabei, wie er Erinnerungen ausgrub, die er lieber ruhen lassen sollte. Also verdrängte er rasch die Gedanken an den tragischen Selbstmord seines Vaters vor fünfundzwanzig Jahren und schwor sich, seiner Mutter später am Abend zu schreiben. Wenn er ihr schrieb, konnte er die Distanz aufrechterhalten, die er brauchte, und einen Anruf hinauszögern …

Er warf die Werbung für eine weitere Kreditkarte zur Seite und runzelte die Stirn, als er den letzten Brief des Stapels in der Hand hielt, ein Brief, der ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Die Schrift auf dem Umschlag war ihm nicht vertraut, deswegen hatte er ihn beim ersten Durchsehen nicht richtig zur Kenntnis genommen. Doch als er jetzt den Absender las, schoss sein Adrenalinspiegel abrupt in die Höhe.

Emma Dalton, 1209 Bay Leaf Lane, Serenity, Texamma. Süße, schüchterne Emma mit den üppigen roten Locken, den strahlenden grünen Augen und dem bezaubernden Lächeln.

Sie war der letzte Mensch auf Erden, von dem Sam Griffin einen Brief erwartet hätte.

Vor Jahren war sie die Freundin seines Bruders gewesen. Und unglücklicherweise im Geheimen die einzige Frau, die Sam jemals wirklich gewollt hatte. Und die einzige Frau, die er nie haben konnte. Denn in der High School und auf dem College war sie Teddys Freundin und danach seine Verlobte gewesen. Und nachdem sie durch seine Schuld Teddy verloren hatte …

Ich hasse dich, Sam Griffin. Ich hasse dich. Ich hasse dich, ich hasse dich …

Unbewusst zerknüllte Sam den Brief in seiner Hand, während er erneut die ungeheure Wut und den Schmerz in ihren Augen vor sich sah, ihr Schluchzen hörte und dann das Bild vor ihm aufstieg, wie sie halb ohnmächtig vor Trauer in ihrem cremeweißen Hochzeitskleid auf den Krankenhausboden sank.

Warum hatte sie sich ausgerechnet jetzt wieder mit ihm in Verbindung gesetzt? Teddys Todestag lag nur einige Wochen entfernt. Hatte es etwas damit zu tun? Aber was sollte sie ihm nach vier langen Jahren des Schweigens zu sagen haben?

Sam war nicht sicher, ob er das überhaupt wissen wollte.

Emma Dalton war Teil seiner Vergangenheit – um es genauer auszudrücken, gehörte sie zum schlimmsten Abschnitt seines Lebens. Und er war bestimmt besser dran, wenn sie für immer Vergangenheit blieb.

Was konnte schon Gutes daraus entstehen, wenn er es zuließ, dass sie erneut in sein Leben trat? Seit Jahren gab er sich die größte Mühe, jeden Gedanken an sie zu verdrängen, und gerade in letzter Zeit war ihm das immer öfter gelungen. Und jetzt das hier.

Er war nicht dumm genug, um anzunehmen, dass Emma ihre Meinung über ihn geändert haben könnte. Und er war ganz bestimmt nicht masochistisch genug, um weitere Anklagen von ihr ertragen zu wollen. Es gab nichts, was sie sagen könnte, was er sich nicht bereits tausend Mal und mehr selbst vorgeworfen hatte.

Er würde nie vergessen, was mit Teddy passiert war, noch würde er sich selbst das Geschehene jemals verzeihen können. Er wusste, dass er Emma Daltons Feindseligkeit verdient hatte. Und wie er sie verdient hatte. Daran brauchte ihn wirklich niemand zu erinnern.

Aber er war schließlich zu dem Entschluss gekommen, dass alle Schuldzuweisungen nichts brachten. Auch sie würden seinen Bruder nicht mehr zurückbringen. Diese Einsicht und das Annehmen des Geschehens hatte schließlich geholfen, seinen Schmerz zu lindern.

Für einen Moment kämpfte Sam gegen die Versuchung an, den Brief einfach ungeöffnet in den Papierkorb zu werfen, sein Jackett zu ergreifen und sich im Offiziersklub eine Flasche Scotch vorzunehmen. Am Ende des Abends würde er sich dann kaum noch an seinen Namen erinnern können, geschweige denn an die schrecklichen Ereignisse vor vier Jahren. Leider wäre dieses Vergessen nur vorübergehend, und er würde es mit einem Kater und Selbstverachtung bezahlen müssen.

Er war schon einmal nahe dran gewesen, seine Karriere als Kampfpilot zu zerstören, indem er Erleichterung im Alkohol suchte. Das würde er auf keinen Fall noch einmal riskieren. Die Air Force war alles, was ihm geblieben war. Sie versprach ihm Freiheit und Abenteuer, das Einzige, was er gewollt hatte, als er sich an der Militärakademie in Colorado Springs einschrieb.

Natürlich war das vor dem Zeitpunkt gewesen, als Teddy ihm Emma vorgestellt hatte. Erst da war ihm klar geworden, dass die Freiheit, nach der er sich so sehnte, doch nicht so glücklich machte, wie er geglaubt hatte.

Sam fluchte leise und strich den zerknitterten Briefumschlag glatt.

Wie lange war es her, seit er an Emma gedacht hatte? Wirklich über sie nachgedacht hatte? Seit Monaten nicht mehr, gestand er sich ein. Doch innerhalb weniger Minuten und durch nichts weiter als einen weißen Umschlag, war sie ihm wieder unter die Haut gegangen. Und da würde sie bleiben und ihn des Friedens berauben, wenn er jetzt diesen Brief fortwarf, ohne ihn zu gelesen zu haben.

Da er aber absolut nicht die Absicht hatte, mehr schlaflose Nächte zu verbringen als notwendig, überlegte er. Es konnte viele Gründe geben, warum sie ihm geschrieben hatte. Gründe, die mehr mit der Gegenwart als mit der Vergangenheit zu tun hatten. Gründe, an die er noch gar nicht gedacht hatte.

Emma Dalton hatte bestimmt Besseres zu tun, als ihm nach all den Jahren einen rachsüchtigen Brief zu schreiben. Jedoch war sie auch nicht die Frau, die von sich aus Kontakt mit einem Mann suchen würde, den sie vor Jahren verachtet hatte.

Dank seiner Mutter, die Emma nach Teddys Tod unter ihren Schutz genommen hatte, und sie auch hin und wieder in ihren Briefen erwähnt hatte, wusste Sam, dass Emma immer noch in Serenity lebte und in der dortigen Bücherei als Bibliothekarin arbeitete. Mittlerweile hatte sie sich sogar zur Leiterin hochgearbeitet. Sie war immer noch unverheiratet und lebte in einem kleinen Haus, das sie sich vor zwei Jahren gekauft hatte.

Sie war eine vernünftige, verantwortungsbewusste Frau, die trotz des tragischen Schicksalsschlags, der sie vor vier Jahren heimsuchte, ihr Leben im Griff hatte. Eine Frau, die ganz bestimmt nichts mit Männern wie ihm zu tun haben wollte.

Warum hatte sie ihm also geschrieben?

Sam wurde klar, dass es nur einen Weg gab, das herauszufinden und riss den Umschlag auf. Zögernd holte er das weiße Blatt heraus und faltete es auf.

Sein Magen zog sich zusammen, als er die beiden Abschnitte las, die mit ordentlicher Handschrift sauber geschrieben waren.

Lieber Sam, ich schreibe Dir, um Dir mitzuteilen, dass Deine Mutter erkrankt ist. Um genauer zu sein, hatte man bei ihr vor einigen Monaten eine chronische Form der Leukämie entdeckt. Da bereits die ersten Behandlungen eine Besserung brachten, hielt sie es für das Beste, Dich nicht zu benachrichtigen. Sie wollte nicht, dass Du Dir unnötig Sorgen machst. Das möchte sie immer noch nicht. Doch da sie einen Rückfall erlitten hat und die vom Arzt erstellte Prognose nicht gut ist, hielt ich es für besser, dass Du etwas über ihren Zustand erfährst.

Ich wohne bei ihr im Haus und werde mich so lange um sie kümmern, wie es notwendig ist. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass sie nicht die benötigte Pflege erhält. Aber es würde ihr viel bedeuten, Dich endlich einmal wieder zu sehen. Da ich mir vorstelle, dass Du nicht kurzfristig kommen kannst, habe ich ihr nichts von diesem Brief erzählt. Sie erwartet Dich nicht, also wird sie auch nicht enttäuscht sein, wenn du nicht kommen kannst. Aber versuche bitte – wenigstens für ein paar Tage – nach Hause zu kommen.

Liebe Grüße, Emma Dalton

Sam las den Brief ein zweites Mal durch und wünschte sich, das ignorieren zu können, was zwischen den Zeilen stand, doch es war unmöglich. Emma hatte es nicht in Worten ausgedrückt, aber er wusste, dass seine Mutter sterben könnte. Und obwohl sie ihn nicht selbst gerufen hatte – vielleicht aus Angst zurückgewiesen zu werden – wusste er doch, dass sie ihn jetzt brauchte.

Im Gegensatz zu Emma hatte Margaret Griffin ihn nie für den Tod seines Bruders verantwortlich gemacht. Stattdessen hatte sie ihn immer wieder wissen lassen, dass ihr Glaube an ihn stärker als je zuvor war. Und sie hatte ihm unzählige Male gesagt, dass sie immer für ihn da sein würde. Dass sie kommen würde, wann immer er sie brauchte. Und sie hatte ihn auch mindestens einmal im Jahr besucht, wo immer er auch stationiert gewesen war.

Seine Mutter hatte gewusst, wie schwierig es für ihn war, nach Serenity zurückzukehren und hatte es nie von ihm erwartet. Selbst jetzt, da sie sich einer lebensbedrohlichen Krankheit stellen musste, hatte sie ihn nicht darum gebeten, nach Hause zu kommen. Selbst jetzt wollte sie ihm diese schmerzliche Reise ersparen.

Allein der Gedanke daran, nach Serenity zurückzukehren, gerade jetzt, da Teddys Todestag sich näherte, rief Panik in ihm hervor. Ihm wurde übel, und seine Hände zitterten leicht. So hatte er bisher nur als junger Flieger bei einem Angriff auf ein feindliches Flugzeug reagiert und mit der Zeit gelernt, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.

Er atmete auch jetzt mehrere Male tief durch, legte dann Emmas Brief beiseite und holte einen Kalender aus der Schublade seines Schreibtisches hervor. Seine Zeit in dieser Basis würde Ende der Woche ablaufen. Er hatte vorgehabt, anschließend einige Wochen Urlaub zu machen, bevor er wieder in die Staaten flog, um eine neue Aufgabe zu übernehmen.

Falls keine unerwarteten Schwierigkeiten auftauchten, könnte er bereits Donnerstag, spätestens am Freitag in einem Flugzeug nach San Antonio sitzen. Wenn er gute Anschlüsse bekam, sollte er irgendwann am Samstag in Serenity eintreffen. Er hätte auch noch Zeit genug, um seine Versetzung auf einen Luftwaffenstützpunkt irgendwo in Texas zu beantragen.

Sam griff zum Telefon und begann die Nummer seiner Mutter zu wählen, die er auswendig kannte, doch hielt er nach einigen Ziffern inne und legte den Hörer wieder auf.

Er wollte seiner Mutter nicht die Gelegenheit geben, ihm seine Reise auszureden. Da sie ihm nicht zur Last fallen wollte, würde sie genau das versuchen. Und er würde sich in ihrem jetzigen Zustand nur ungern mit ihr auf eine längere Diskussion einlassen.

Er musste diese Reise machen, wenn er sich noch jemals im Spiegel mit gutem Gewissen anschauen wollte. Er schuldete seiner Mutter mehr, als er ihr je zurückzahlen konnte. Er konnte jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Außerdem war da auch noch Emma. Sie hatte die Verantwortung für seine Mutter übernommen. Und er durfte nicht zulassen, dass sie diese Last länger als notwendig trug, auch wenn sie dem Wortlaut ihres Briefes nach zu urteilen nicht mit ihm rechnete.

Sie erwartet Dich nicht, also wird sie auch nicht enttäuscht sein, wenn Du nicht kommen kannst …

Genau wie vor vier Jahren wurde in Sam das unbändige Verlangen wach, sich zu verteidigen. Am liebsten würde er Emma jetzt anrufen und ihr sagen, wie sehr sie sich in ihm geirrt hatte. Zugegeben, er hatte Fehler gemacht, und der Himmel wusste, wie sehr er dafür bezahlt hatte. Aber niemals, niemals hatte er Teddy etwas Böses gewünscht.

Aber warum sollte er seine Zeit verschwenden? Er bezweifelte, dass es irgendetwas gab, womit er ihre Meinung ändern könnte. Und was spielte ihre Meinung von ihm jetzt noch für eine Rolle?

Sam wusste, dass er Emma jetzt anrufen und ihr sagen sollte, dass Hilfe bereits auf dem Weg war. Den ganzen Tag in der Bücherei zu arbeiten und sich dann noch abends und am Wochenende um seine kranke Mutter zu kümmern, musste eine schwere Belastung sein. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Doch schließlich erhob er sich vom Schreibtisch, ohne zum Hörer zu greifen.

Obwohl er zugeben musste, dass er sich Emma gegenüber unfair verhielt, fand er es doch klüger ihr unerwartet gegenüberzutreten. Er hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, wenn sie sich schließlich gegenüberständen. Und er wollte auf keinen Fall, dass sie Zeit hatte, sich gegen das Bild, das sie von ihm hatte, zu wappnen.

Natürlich spielte er eine Rolle in ihrem Schicksal. Er war maßgeblich an den unglücklichen Umständen beteiligt, die ihre Träume zerstört hatten. Doch er hoffte für sich und auch für seine Mutter, dass er und Emma Verbündete statt Feinde werden könnten. Er hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Und er wollte die Chance wahrnehmen, ihr das zu beweisen.

Sam lief durch das Büro, griff zum Jackett, schaltete das Licht aus und ging dann den Flur hinunter. Seine Schritte hallten in der Stille wider. Mit einiger Anstrengung wich er dem Weg zum Offiziersklub aus und ging zu dem Gebäude hinüber, in dem sich sein Apartment befand. Es war nicht die Gesellschaft, nach der er sich sehnte, sondern ein hochprozentiger Drink, und er wusste nur allzu gut, wohin das führte. Es gab bessere Wege, die Dämonen, die in ihm wüteten, zu vertreiben.

Zwanzig Minuten später lief er nach einem Warm-up in Shorts und T-Shirt aus der Kaserne hinaus. Er dachte an nichts anderes, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und Meile um Meile hinter sich zu bringen.

2. KAPITEL

„Emma, komm aus der Sonne heraus und trink ein Glas Eistee“, insistierte Margaret Griffin.

Emma Dalton, die Unkraut in einem Blumenbeet jätete, schaute auf und lächelte ihre ältere Freundin dankbar an.

„Das hört sich gut an. Ich bin gerade fertig geworden.“

Sie sammelte ihre Gartengeräte ein und setzte sich dann auf die Fersen, um sich ihre Arbeit voller Stolz und Zufriedenheit anzuschauen. Bereits am frühen Samstagmorgen hatte sie sich entschlossen, Margarets vernachlässigten Vorgarten wieder auf Vordermann zu bringen. Und jetzt nach acht Stunden – mit nur einer kurzen Unterbrechung für das Mittagessen – konnte sie stolz von sich behaupten, dass es ihr gelungen war.

Der Duft von frisch gemähtem Gras hing immer noch in der Luft. Einst struppige Büsche umrandeten nun ordentlich geschnitten die Veranda. Und da das Unkraut endlich beseitigt war, konnten die Blumen sich wieder in der ganzen Pracht entfalten.

Wie man auch an ihrem eigenen farbenfrohen, aber ordentlichen Garten sehen konnte, liebte Emma die Gartenarbeit. Mit der Erde zu arbeiten, während man Wind und Sonne auf seiner Haut spürte, erfüllte Emma stets mit einem Gefühl des Friedens. Dass sie den berühmten grünen Daumen hatte, half natürlich sehr.

Sie hatte bereits seit Wochen Margarets Garten in Ordnung bringen wollen, aber es hatte gedauert, bis sie ihre Freundin schließlich davon überzeugt hatte, dass sie ihr sogar einen Gefallen tat, wenn sie sie nach Herzenslust auf ihrem Grundstück gärtnern ließ.

Margaret hatte gemeint, dass sie die Hilfe der jungen Frau bereits viel zu oft in Anspruch genommen hätte. Doch Emma hatte ihr widersprochen. Wann immer Emma eine starke Schulter gebraucht hatte, war Margaret für sie da gewesen – sogar als sie selbst trauerte. Jetzt, da Margaret erkrankt war, bot sich Emma die Gelegenheit, einen Teil dieser Hilfe zurückzugeben. Und sie tat es nicht aus einem Gefühl der Pflicht heraus, sondern aus Liebe. Leider hatte sie ihre Freundin immer noch nicht ganz davon überzeugen können, dass sie keine Bürde für sie war.

Manchmal denke ich, es wäre einfacher für alle, wenn ich in der Nacht einfach einschlafe und nicht mehr aufwache …

Während sie sich an die Worte ihrer Freundin erinnerte, starrte sie die kleine Schaufel in ihrer Hand an, ohne sie wirklich zu sehen. Was würde ich ohne Margaret tun? fragte sie sich, während sie plötzlich von einer tiefen Verzweiflung überfallen wurde. Was würde sie tun?

Mit einer gewaltigen Anstrengung schob Emma die trüben Gedanken zur Seite und nahm den Eimer mit dem Unkraut auf.

Zugegeben, Margaret war nach der letzten Chemotherapie sehr schwach gewesen, aber sie hatte einen erstaunlichen Genesungswillen entwickelt. In den letzten drei Wochen hatte sie einen Teil ihrer Kraft zurückgewonnen und war fast wieder die Alte.

Sie ermüdete immer noch sehr rasch, hatte aber meistens gute Laune und beschäftigte sich mit neuen Rezepten, Kreuzsticharbeiten und las viel. Und nie, aber auch niemals, kam ein Wort der Klage über ihre Lippen.

„Beeil dich, Emma, das Eis beginnt schon zu schmelzen“, rief Margaret ihr zu.

„Ich komme sofort“, versprach Emma und erhob sich. „Ich will nur noch rasch die Schaufel und die Harke weglegen und das Unkraut in die Biotonne schütten.“

Als sie zu den Mülltonnen hinüberging, wünschte Emma sich, früher gewusst zu haben, was für eine erstaunliche Besserung in Margarets Zustand eintreten würde. Aber niemand hatte es ahnen können. Selbst der Doktor war überrascht gewesen, war doch seine Prognose sehr viel negativer ausgefallen. Und sosehr sie sich darüber freute, dass es Margaret besser ging, so sehr ärgerte sie sich, Sam so voreilig geschrieben zu haben. Sie hätte es nicht tun sollen, hätte nicht so kopflos und übereilt handeln dürfen.

Margaret hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihren Sohn nicht unnötig belasten wollte, und sie hatte sich Margarets Willen gebeugt, bis der Doktor ihr vor drei Wochen gesagt hatte, dass ihre Freundin diesen Sommer vielleicht nicht überleben würde.

Margaret war im Houstoner Medical Center stationär einige Tage zur Behandlung gewesen. Glücklicherweise hatte sie ihr Adressbuch mitgenommen, und Emma hatte Sams Anschrift darin gefunden. Während sie am Bett ihrer schlafenden Freundin wachte, hatte sie mit tränenblinden Augen den Brief geschrieben und ihn abgeschickt, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte.

Doch wunderbarerweise hatte sich Margarets Zustand innerhalb von drei Tagen gebessert, und Emma hatte begonnen ihre hastige Entscheidung zu bereuen. Trotzdem hätte Margaret, wie bei jeder lebensbedrohlichen Krankheit, jederzeit einen Rückfall erleiden und daran sterben können.

Aber jetzt, nach drei Wochen, war Margaret fast wieder die Alte, und es gab eigentlich keinen Grund mehr, warum Sam sich Urlaub nehmen und nach Hause kommen sollte. Aber er würde auch nicht kommen, zumindest wusste sie nichts davon.

Drei Wochen waren vergangen, seit Emma ihm ihren Brief schickte, und sie hatte immer noch keine Antwort erhalten. Vielleicht bekam sie ja noch Antwort. Allein der Postweg dauerte mindestens zehn Tage, aber wenn man bedachte, wie dringlich ihr Brief gewesen war …

Dabei war Emma ganz sicher gewesen, dass er anrufen würde. Und wenn nur, um sich zu erkundigen, ob der Zustand seiner Mutter tatsächlich so ernst war, wie sie angedeutet hatte. Darüber hinaus hatte sie keine Erwartungen gehabt. Sie hatte damit gerechnet, dass er Gründe angab, weshalb er nicht nach Serenity kommen könnte. Und sie hätte sie verstanden.

Es gab zu viele schmerzliche Erinnerungen für Sam in dieser Kleinstadt, in der er aufgewachsen war. Erinnerungen, zu denen sie auf schmähliche Art beigetragen hatte. Sie wusste jetzt, dass sie Sam nur deswegen angeklagt hatte, weil sie versucht hatte, von ihren eigenen Schuldgefühlen abzulenken. Schuldgefühle, weil sie so unglaublich erleichtert gewesen war, dass Sam den Unfall überlebt hatte.

Ich hasse dich, Sam Griffin. Ich hasse dich, ich hasse dich …

Kaum ein Tag war vergangen, an dem Emma sich nicht gewünscht hätte, diese grausamen Worte wieder zurücknehmen zu können. Doch Sam hatte ihr dazu keine Gelegenheit gegeben. Er war zwar bis zu der Beerdigung seines Bruders geblieben, aber nicht im Haus seiner Mutter, und nach der Beerdigung war er verschwunden und nie wieder zurückgekehrt.

Emma konnte es ihm nicht übel nehmen. Nicht damals und ganz bestimmt nicht heute. Selbst jetzt, da es um Margarets Gesundheit ging, zog er es wahrscheinlich vor, Serenity fernzubleiben. Alles, was ihn hier erwartete, war noch mehr Leid und Kummer.

Emma verfluchte erneut ihr impulsives Vorgehen. Sie hätte warten sollen, hätte warten müssen.

„Aber du hast es nicht getan“, murmelte sie, als sie die Gartengeräte an die vorgesehenen Haken hängte und dann rasch das Unkraut in den Biomüll schüttete.

Sie tat ihr Bestes, um ihre melancholischen Gedanken abzuschütteln und lief zu Margaret hinüber, die auf der Veranda wartete. Mit einem Lächeln ließ sie sich auf einem der Stühle nieder und nahm dankend den Eistee aus Margarets Händen entgegen. Sie trank hastig einige Schlucke und lehnte sich dann zufrieden zurück.

„Hm, das tut gut“, erklärte sie.

Sie nahm den Strohhut ab, legte ihn auf den weißen Rattantisch und versuchte mit den Fingern ihre widerspenstigen roten Locken zu kämmen. Sie brauchte unbedingt eine Dusche, aber zuerst wollte sie sich eine Weile entspannen und die sanfte Brise auf der schattigen Veranda genießen.

„Du hast dich selbst übertroffen, Emma. Der Garten sieht wunderbar aus. Meine Nachbarn werden mich beneiden“, bemerkte Margaret stolz.

„Vielleicht nicht alle. Mr. Bukowski könnte uns noch übertrumpfen.“ Emma wies mit dem Kopf auf das gegenüberliegende Haus, in dessen Vorgarten ein älterer Mann an einem bereits ordentlich getrimmten Rosenbusch herumschnippelte.

Autor

Nikki Benjamin
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