Ich hab euch so vermisst

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Bei der Begegnung mit Cole Davis können Cassie nicht einmal ihre besten Freundinnen helfen. Denn eigentlich müsste sie ihre erste große Liebe nach einer bitteren Enttäuschung verachten. Aber als sie dem Mann ihrer Träume gegenübersteht, rast ihr Herz genau wie früher …


  • Erscheinungstag 06.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757533
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Cassie wendete den dicken weißen Umschlag in den Händen und schaute auf den Poststempel: Winding River, Wyoming. Ihre Heimatstadt. Der Ort, nach dem sie sich so manches Mal zurücksehnte, vor allem nachts, in der Dunkelheit, wenn sie statt auf ihren Verstand auf ihr Herz hörte und die Hoffnung größer war als die Trauer.

Sieh es endlich ein, befahl sie sich streng. Du gehörst nicht mehr dorthin. Das größte Geschenk, das sie ihrer Mutter je gemacht, war, die Stadt zu verlassen. Ihre Freundinnen von der Highschool, die „Unzertrennlichen“, wie sie sich damals genannt hatten, waren im ganzen Land verstreut. Der Mann, den sie einst über alles geliebt hatte … Nun ja, sie hatte keine Ahnung, wo er war. Wahrscheinlich war er nach Winding River zurückgekehrt, um die Ranch zu führen, die er eines Tages von seinem herrischen Vater erben würde. Sie hatte sich nie nach ihm erkundigt, denn damit hätte sie zugegeben, dass er ihr noch etwas bedeutete – selbst, nachdem er sie verraten und schmählich im Stich gelassen hatte, als sie schwanger war.

Dennoch schlug ihr Herz schneller, als sie mit den Fingerspitzen über die Anschrift strich und überlegte, was der Umschlag wohl enthalten mochte. Heiratete vielleicht eine ihrer Freundinnen? Oder bekam jemand ein Baby? Was immer es war, es würde in ihr jede Menge alter Erinnerungen wachrufen.

Nach kurzem Zögern öffnete sie den Umschlag und zog mehrere Briefbögen heraus. Auf dem obersten stand – ebenfalls in schöner Handschrift – die Einladung zum zehnjährigen Klassentreffen, das Anfang Juni, also in zwei Monaten, stattfinden sollte. Die anderen Seiten enthielten Informationen zu dem umfangreichen Rahmenprogramm: ein Ball, ein Picknick, die Besichtigung des neuen Schulanbaus. Den Abschluss würde die alljährliche Festparade mit Feuerwerk zum vierten Juli, dem Nationalfeiertag, bilden.

Cassies erster Gedanke galt den Unzertrennlichen. Würden sie alle kommen? Gina aus New York, wo sie ein elegantes italienisches Restaurant betrieb? Emma aus Denver, wo sie als Anwältin in einer renommierten Kanzlei Karriere machte? Und Karen, die in der Nähe von Winding River auf einer Ranch lebte? Würde sie sich ein paar freie Tage gönnen können? Und dann war da natürlich noch Lauren, die auf der Schule die Fleißigste gewesen war und sie alle verblüfft hatte, als sie nach Hollywood gegangen und Filmstar geworden war. Würde sie in eine Kleinstadt in Wyoming zurückkehren, um an einem schlichten Klassentreffen teilzunehmen?

Allein der Gedanke, sie alle wieder zu sehen, ließ Cassies Augen feucht werden. Oh, wie hatte sie ihre Freundinnen vermisst! Sie hatten extrem unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen, waren jedoch stets in Verbindung geblieben und standen sich noch immer so nahe wie Schwestern. Sie hatten sich über insgesamt vier Eheschließungen, die Geburt von Kindern und berufliche Erfolge gefreut. Und sie hatten über Scheidungen geweint, zwei von Lauren, eine von Emma.

Cassie würde alles geben, um sie zu sehen, aber es war unmöglich. Der Zeitpunkt, das Geld … Es ging einfach nicht.

„Mom, weinst du?“

Cassie hob den Kopf. Ihr Sohn sah sie besorgt an.

„Natürlich nicht“, wehrte sie ab und wischte sich über die Wangen. „Ich muss etwas ins Auge bekommen haben.“

Jake wirkte nicht überzeugt, doch dann fiel sein Blick auf die Papiere in ihrer Hand. „Was hast du da?“, fragte er neugierig.

„Nur etwas aus Winding River“, wich sie aus.

„Von Grandma?“ Seine Augen leuchteten.

Trotz ihrer niedergeschlagenen Stimmung musste Cassie lächeln. Ihr Sohn vergötterte seine Großmutter, vor allem weil sie ihn bei ihren viel zu seltenen Besuchen über alle Maßen verwöhnte. Außerdem enthielten ihre wöchentlichen Briefe an Cassie immer ein wenig Taschengeld für den Jungen. Und zu seinem neunten Geburtstag vor einigen Monaten hatte sie ihm sogar einen Scheck geschickt. Er hatte sich unglaublich erwachsen gefühlt, als er ihn in der Bank eingelöst hatte.

„Nein, nicht von Grandma“, sagte sie. „Es ist von meiner alten Schule.“

„Wieso?“

„Im Sommer findet ein Klassentreffen statt, und ich bin eingeladen.“

Seine Miene erhellte sich. „Fahren wir hin? Das wäre doch toll. Wir besuchen Grandma fast nie. Das letzte Mal war, als ich noch ein Baby war.“

Nein, er war kein Baby, sondern schon fünf Jahre alt gewesen. Aber sie verstand, dass es ihm wie eine Ewigkeit vorkommen musste. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu erklären, warum sie Edna Collins so selten besuchten. Seiner geliebten Großmutter war es lieber, wenn ihre Tochter und ihr Enkel nicht nach Winding River kamen, sondern wenn sie die beiden besuchte – weit entfernt von den kritischen Blicken ihrer Freunde und Nachbarn. So sehr sie Jake auch liebte, die Tatsache, dass er ein uneheliches Kind war, war ihren moralischen Vorstellungen nach eben doch ein Makel. Und die Schuld daran gab sie allein Cassie. Jake hatte sie niemals merken lassen, wie sie darüber dachte.

„Nein, ich glaube nicht, dass wir das tun können“, antworte Cassie betrübt. „Vermutlich werde ich keinen Urlaub bekommen.“

Auf Jakes Gesicht erschien ein inzwischen vertrauter rebellischer Ausdruck. „Ich wette, Earlene gibt dir frei, wenn du sie darum bittest.“

„Ich kann sie nicht darum bitten“, entgegnete Cassie ohne Umschweife. „Wir sind dann mitten in der Touristensaison, Jake. Im Sommer ist das Restaurant immer brechend voll, das weißt du. Da bekomme ich außerdem am meisten Trinkgeld. Und wir brauchen jeden Cent davon, um über den Winter zu kommen.“

Sie hatte es immer vermieden, ihrem Sohn viel über ihre Geldschwierigkeiten zu erzählen, weil sie der Ansicht war, dass man einen Neunjährigen damit noch nicht belasten sollte. Aber Jake musste auch verstehen, was sie beide sich leisten konnten und was nicht. Die Reise nach Winding River, so gern jeder von ihnen beiden sie auch unternehmen würde, kam einfach nicht infrage. Es waren nicht nur die Fahrtkosten, es war vor allem der Verdienstausfall, der es nicht zuließ.

„Ich könnte helfen“, bot Jake an. „Wenn es im Diner viel zu tun gibt, bezahlt Earlene mich dafür, dass ich die Tische abräume.“

„Es tut mir leid, mein Junge. Ich glaube nicht, dass das geht.“

„Aber, Mom …“

„Ich habe Nein gesagt, Jake, und damit Schluss.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, riss sie Einladung aus Winding River in Fetzen und warf sie in den Mülleimer.

Später am Abend bereute sie das und ging in die Küche, um die Papierschnipsel wieder aus dem Mülleimer herauszuholen, aber sie waren fort. Zweifellos hatte Jake sie an sich genommen. Ihr war rätselhaft, warum er das getan hatte. Natürlich bedeutete Winding River ihm nicht das, was sie damit verband: Fehler, gescheiterte Träume und, wenn sie wirklich ehrlich war, einige sehr wichtige, aber auch schmerzliche Erinnerungen.

Von alldem konnte ihr Sohn unmöglich etwas ahnen. Er wusste nur, dass seine Großmutter in Winding River lebte, die einzige Angehörige, die er außer seiner Mutter hatte. Wäre Cassie klar gewesen, wie sehr er Edna Collins vermisste und wie weit er gehen würde, um seine geliebte Grandma wieder zu sehen, hätte sie den Umschlag mit der Einladung verbrannt, ohne ihn zu öffnen.

Doch als sie es endlich herausfand, steckte Jake bereits in größeren Schwierigkeiten, als sie sich jemals ausgemalt hatte. Ihr Leben war kurz davor, eine jener dramatischen Wendungen zu nehmen, für die sie und ihre Freundinnen berühmt waren.

1. KAPITEL

Mit seinen neun Jahren sah Jake Collins nicht gerade wie ein Schwerverbrecher aus. Ganz im Gegenteil. Cassie fand, dass ihr Sohn einfach nur ein ängstlicher kleiner Junge war, wie er da vor dem Schreibtisch des Sheriffs saß. Die Füße baumelten eine Handbreit über dem Boden, die Brille war an der mit Sommersprossen übersäten Nase nach unten gerutscht. Als er sie wieder nach oben schob, schimmerten Tränen in seinen großen blauen Augen. Dennoch, angesichts dessen, was er angestellt hatte, fiel es ihr schwer, Mitleid mit ihm zu haben. Schließlich war er dafür verantwortlich, dass der sonst so gutmütige Sheriff heute ungewöhnlich streng dreinblickte.

„Was du getan hast, ist sehr schlimm“, sagte Sheriff Joshua Cartwright. „Das verstehst du doch, oder?“

Jake senkte den Kopf. „Ja, Sir“, flüsterte er.

„Du hast die Leute bestohlen.“

Entrüstet hob der Junge das Kinn. „Ich habe die Leute nicht bestohlen.“

„Du hast ihr Geld genommen, ihnen jedoch nicht die Spielsachen geschickt, die du ihnen dafür versprochen hattest“, fuhr Joshua fort. „Du hast eine Abmachung getroffen und dich nicht daran gehalten. Das ist genau wie Diebstahl.“

Cassie ahnte, warum der Sheriff nicht noch strenger zu Jake war. Sie arbeitete als Kellnerin in Earlenes Restaurant, und Joshua machte Earlene seit sechs Monaten den Hof. Seit sie den Mut aufgebracht hatte, ihren ständig betrunkenen Ehemann auf die Straße zu setzen. Der Sheriff verbrachte viel Zeit in dem Diner und wusste, dass Earlene sich wie eine Mutter um Cassie und Jake sorgte.

In diesem Moment wartete Earlene vor dem Büro des Sheriffs, um zu erfahren, warum um alles in der Welt Joshua den kleinen Jake vorgeladen hatte. Wenn ihr die Antwort nicht gefiel, würde der Sheriff sein blaues Wunder erleben, da war Cassie ganz sicher.

„Wie schlimm ist es?“, fragte sie, und ihr graute vor dem, was Joshua sagen würde. Die Touristensaison hatte gerade erst begonnen, und mehr als ein paar Hundert Dollar hatte sie nicht auf dem Konto. Die mageren Ersparnisse waren alles, was sie vor einer finanziellen Katastrophe retten konnte.

Der Sheriff blätterte in seinem Bericht. „Zweitausendzweihundertfünfzig Dollar, plus etwas Kleingeld“, las er laut.

Cassie war fassungslos. „Das muss ein Irrtum sein. Wer um alles in der Welt sollte einem Jungen, den er nicht kennt, derart viel Geld schicken?“

„Es war nicht nur eine Person, sondern Dutzende von Leuten. Sie alle haben bei einer Auktion mitgeboten, die Jake im Internet veranstaltet hat. Leider hat er Ihnen die zugesagten Artikel nicht geliefert.“

Cassie war entsetzt. Sie hatte keine Ahnung vom Internet. Wie war es ihrem Sohn bloß gelungen, Menschen per Computer zu betrügen?

„Als der erste Anruf kam, konnte ich es auch nicht glauben“, fuhr Joshua seufzend fort. „Aber dann häuften sich die Anrufe. Immer mehr Personen beschwerten sich bei mir darüber, dass jemand in dieser Stadt eine betrügerische Aktion aufgezogen hat.“ Betrübt schüttelte er den Kopf. „Dann fiel Jakes Name, und die Sache war nicht mehr so einfach abzutun. Ich habe sofort beim Postamt nachgefragt, und Louella hat mir bestätigt, dass Jake eine Menge Zahlanweisungen eingelöst hat. Auf die Idee, nachzufragen, warum ein Junge seines Alters so viel Geld geschickt bekommt, ist sie offenbar nicht gekommen.“

Cassie beachtete den dumpfen Schmerz in ihrer Brust nicht und sah ihren Sohn an. „Stimmt das? Hast du das wirklich getan?“

Trotz flackerte in seinen Augen auf, doch dann senkte er den Kopf. „Ja, Mom“, gestand er leise.

Sie starrte ihn an. Ihr war klar, dass sein rebellisches Verhalten im Grunde ein Betteln um Aufmerksamkeit war, genau wie bei ihr früher. Aber dies war keine Rauferei auf dem Schulhof mehr, auch kein im Supermarkt eingestecktes Kaugummi. Dies war ein ganz anderes Kaliber. Seit er wusste, dass er nicht zu seiner Großmutter fahren würde, benahm er sich unmöglich.

„Wie hattest du eigentlich Zugang zum Internet?“, fragte sie ihn. „Wir haben doch gar keinen Computer.“

„Die Schule hat welche“, erwiderte Jake. „Man bekommt Extrapunkte, wenn man daran arbeitet.“

„Irgendwie bezweifle ich, dass du für diese Nummer Punkte bekommen wirst“, bemerkte der Sheriff trocken.

„Was für Spielsachen hast du den Leuten denn versprochen?“ Sie konnte noch immer nicht glauben, dass wildfremde Menschen ihrem Sohn über zweitausend Dollar geschickt hatten. Das war mehr, als sie in einem halben Jahr an Trinkgeldern verdiente.

„Ach, nichts Besonderes“, murmelte Jake.

Der Sheriff schaute wieder in den Bericht. „Baseball-Karten, Pokémon-Karten, seltene Barbie-Puppen. Offenbar hat Jake die Versteigerungen im Internet beobachtet. Er wusste genau, womit er andere Kids und Sammler ködern konnte.“

„Und wo ist das Geld geblieben?“, fragte Cassie gespannt.

„Das habe ich gespart. Für etwas richtig Wichtiges.“

Er hatte es gespart? Hoffentlich nicht in der Blechdose, in der er seine Schätze aufbewahrte sowie das Geld, das seine Großmutter ihm hin und wieder schickte. Alle seine Freunde wussten von der Dose.

„Wo hast du es aufbewahrt?“, fragte sie und konnte nur hoffen, dass es sich an einem sicheren Ort befand.

„In meiner Dose.“

„Oh, Jake!“

„Ich habe sie versteckt, wo keiner sie findet“, versicherte ihr Sohn.

Cassie rieb sich die Stirn. Das Pochen hinter ihren Schläfen wurde immer stärker. „Ich verstehe das nicht Jake. Du musstest doch wissen, dass es falsch ist. Warum hast du das getan? Wolltest du dir einen eigenen Computer kaufen?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe es für dich getan, Mom.“

„Für mich?“, fragte sie verblüfft. „Aber warum?“

„Damit wir nach Hause fahren und vielleicht dort bleiben können. Ich weiß, wie gern du das möchtest, auch wenn du Nein gesagt hast. Außerdem vermisse ich Grandma“, fügte er mit einem Anflug von Trotz hinzu.

„Oh, nein“, seufzte Cassie. Er hatte recht. Sie würde so gern zur Wiedersehensfeier ihres High-School-Jahrgangs fahren, die in zwei Monaten stattfinden sollte.

Ob ihre Freundinnen wohl kommen würden?

Cassie sehnte sich danach, sie wieder zu sehen, aber das war unmöglich. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, eine Woche nicht zu arbeiten. „Ich vermisse Grandma auch“, sagte sie verständnisvoll zu ihrem Sohn. „Trotzdem hättest du so etwas nicht tun dürfen.“ Sie sah den Sheriff an. „Haben Sie eine Liste der geschädigten Personen?“

„Die liegt hier vor mir.“

„Wenn Jake ihnen das Geld zurückschickt und sich entschuldigt, ist die Sache dann erledigt?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten von ihnen die Anzeige zurückziehen, wenn sie ihr Geld zurückbekommen“, erwiderte Joshua Cartwright. „Ich glaube, es ist ihnen peinlich genug, dass sie auf einen Drittklässler hereingefallen ist.“

„Nun ja, Jake ist ziemlich weit für sein Alter“, bemerkte Cassie verlegen. Wenn ihr Sohn so weitermachte, würde er mit zehn vermutlich nicht vorhandene Immobilien verkaufen und mit sechzehn betrügerische Börsengeschäfte tätigen.

Dies war nicht das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, überfordert zu sein. Dass es nicht leicht sein würde, war ihr klar gewesen, als sie damals die Entscheidung getroffen hatte, Jake ohne die Hilfe ihrer Familie großzuziehen. Eigentlich hätte es keine Probleme geben dürfen. Sie liebte ihren Sohn und hatte eine feste Arbeit. Reich würden sie zwar nie sein, aber sie hatten immerhin alles, was sie zum Leben brauchten.

Wäre Jake ein durchschnittliches Kind gewesen, hätte es vielleicht geklappt. Doch ihr Sohn besaß den scharfen Verstand seines Vaters und gepaart mit der rebellischen Ader, die er von ihr geerbt hatte, war das eine gefährliche Kombination.

„Wenn Sie mir die Namensliste geben, kann Jake noch heute Abend die Entschuldigungen schreiben. Wir bringen sie dann morgen früh zusammen mit dem Geld vorbei“, versprach sie grimmig.

„Mom …“, begann Jake, aber ein Blick auf Cassies eisige Miene reichte, um ihn zum Schweigen zu bringen.

„Jake, würdest du bitte draußen bei Earlene warten?“, forderte der Sheriff ihn auf. „Ich möchte kurz mit deiner Mutter sprechen.“

Mit hängenden Schultern verließ der Junge das Büro.

„Haben Sie je daran gedacht, sich wieder mit seinem Daddy zusammenzutun?“, fragte Joshua Cartwright. „Mir scheint, der Junge könnte männlichen Einfluss gebrauchen.“

„Niemals“, antwortete Cassie entschieden.

Cole Davis mochte der klügste und attraktivste Mann sein, dem sie je begegnet war. Er mochte auch der Sohn des größten Ranchers von Winding River sein. Aber sie würde ihn nicht heiraten – selbst wenn er der einzige Mann auf Erden wäre. Als sie achtzehn und er zwanzig gewesen war, hatte er sie in sein Bett gelockt. Danach hatte sie ihn nie wieder gesehen, denn er war ohne ein Wort des Abschieds auf sein College zurückgekehrt.

Als sie kurz darauf erfuhr, dass sie schwanger war, war sie viel zu stolz gewesen, um ihn um Hilfe zu bitten. Sie hatte die Stadt verlassen, mit ruiniertem Ruf zwar, aber fest entschlossen, für sich und ihr Kind ein neues Leben zu beginnen. An einem Ort, an dem die Leute von ihr nicht immer nur das Schlimmste erwarteten.

Nicht, dass sie ihren Mitmenschen keinen Grund dazu geliefert hätte. Seit sie entdeckt hatte, dass es viel mehr Spaß machte, gegen Regeln zu verstoßen, als sie zu befolgen, war sie eine Rebellin gewesen. Schon mit zwei Jahren war „Nein“ ihr Lieblingswort gewesen. Als Teenager hatte sie allerdings nicht oft genug Nein gesagt.

Wenn es in Winding River irgendwo Ärger gegeben hatte, war Cassie die Erste gewesen, auf die man mit dem Finger zeigte. Ihre Schwangerschaft hatte niemanden überrascht. Anstatt die hämischen Blicke oder das vorwurfsvolle Zungenschnalzen zu ertragen, war sie jedoch weggegangen.

In den Jahren darauf hatte Cassie ihre Mutter nur selten besucht. Und sie hatte sie erst recht nie nach Cole oder seiner Familie gefragt. Wenn ihre Mutter vermutete, wer Jakes Vater war, so hatte sie es zumindest nie ausgesprochen. Das Thema war bis zum heutigen Tag tabu. Jake war allein Cassies Kind.

„Wollen Sie damit sagen, Jake hätte das nicht getan, wenn er einen Vater hätte?“, fragte sie den Sheriff scharf. „Was hätte ein Vater anders machen können als ich? Ich habe meinem Sohn beigebracht, dass Stehlen falsch ist. Glauben Sie mir, er wird seine Strafe erhalten. Es kann gut sein, dass er Hausarrest bekommt, bis er volljährig wird.“

Joshua hob eine Hand. „Ich wollte Sie nicht kritisieren. Selbst Kinder mit perfekten Eltern geraten manchmal auf die schiefe Bahn. Aber ich finde, Jungs brauchen ein männliches Vorbild.“

Cassie wollte allerdings nicht, dass ihr Sohn ausgerechnet Cole Davis nacheiferte. Es gab bessere Vorbilder. Eins saß vor ihr.

„Er hat Sie, Joshua“, entgegnete sie. „Seit Sie so oft in den Diner kommen, hat er viel Zeit mit Ihnen verbracht. Er bewundert Sie. Und wenn jemand Autorität und Recht und Gesetz verkörpert, dann Sie. Aber hat das geholfen?“

„Guter Punkt.“ Joshua musterte sie besorgt. „Wollen Sie die Reise unternehmen, von der Jake gesprochen hat? Ihm scheint sehr viel daran zu liegen.“

„Ich sehe nicht, wie das gehen könnte.“

„Wenn es eine finanzielle Frage ist, ließe sich eine Lösung finden“, sagte er. „Earlene und ich …“

„Ich nehme kein Geld von Ihnen an“, unterbrach Cassie ihn. „Und auch nicht von Earlene. Sie hat schon genug für mich getan.“

„Sie sollten darüber nachdenken.“ Plötzlich wirkte er nervös und senkte die Stimme. „Hören Sie, Earlene würde mich umbringen, also sagen Sie ihr bitte nicht, was ich Ihnen jetzt vorschlage. Ich finde, Sie sollten sich überlegen, wieder nach Winding River zu ziehen. Es wäre gut für Jake, mehr Familie um sich zu haben, mehr Menschen, die sich um ihn kümmern. Diese Internet-Geschichte war kein Dummejungenstreich mehr, Cassie. Vielleicht braucht er einen neuen Anfang.“

„Ich weiß“, gab Cassie betrübt zu, denn so ähnlich war es ihr auch mal ergangen. „Ich werde darüber nachdenken.“

Einige Tage nach Hause zu fahren, um an einem Klassentreffen teilzunehmen, war eine Sache. Dort zu leben, wo Cole Davis und sein Vater das Sagen hatten, war eine ganz andere.

Leider schienen die Umstände – und ein wohlmeinender Sheriff – ihr keine andere Wahl zu lassen.

„Ich begreife beim besten Willen nicht, was du daran so faszinierend findest, die halbe Nacht vor deinem Computer zu verbringen und auf einen Bildschirm voller Kauderwelsch zu starren“, bemerkte Frank Davis missmutig.

„Im letzten Jahr hat das Kauderwelsch drei Mal so viel Gewinn eingebracht wie diese Ranch“, erwiderte Cole, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Sein Vater misstraute allem, was nicht mit Viehzucht oder Weideland zu tun hatte.

„Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich dich und die kleine Collins nicht auseinander gebracht. Vielleicht hättest du dann inzwischen eine Familie und ein wenig Respekt für die Ranch, die dein Urgroßvater aufgebaut hat.“

Cole wollte nicht über Cassie reden. Kaum hatte Frank Davis damals von ihnen beiden erfahren, hatte er die Sachen seines Sohns zusammengepackt und ihn aufs College verfrachtet – schon Wochen vor Beginn seines ersten Studienjahrs. Noch heute war Cole ärgerlich, dass er nichts dagegen hatte tun können. Das Diplom war sein Ticket in die Freiheit gewesen, weg von der Ranch, weg aus der Kleinstadt. Er hatte Cassie einen Brief geschrieben, in dem er sie um Verständnis bat. Ihre Antwort war knapp und deutlich gewesen: Er sollte ruhig bleiben, wo er war, sie wollte ihr eigenes Leben führen.

Er hatte kaum einen Abschluss gemacht, da hatte sein Vater einen Herzinfarkt erlitten und Cole angefleht, nach Hause zu kommen. Und jetzt war er hier und verbrachte die Tage damit, die verhasste Ranch zu führen, und die Nächte damit, seine geliebten Computerprogramme zu entwerfen.

Als er nach Winding River zurückkehrte, war Cassie Collins fort gewesen. Niemand sagte ihm, wo sie war. Früher war Edna Collins freundlich zu ihm gewesen, ja sogar wie eine Mutter, nachdem seine eigene früh gestorben war. Aber jetzt knallte sie ihm die Haustür vor der Nase zu. Er verstand das zwar nicht, verlangte jedoch auch keine Erklärung.

Er fragte auch Cassies beste Freundinnen nicht nach ihr, wenn sie in der Stadt waren. Würde er ihr noch etwas bedeuten, hätte sie anders auf seinen Brief reagiert. Vielleicht war er für sie nur ein flüchtiges Abenteuer gewesen. Wo immer sie jetzt lebte, bestimmt war sie längst glücklich verheiratet.

„Nun?“, fragte sein Vater. „Hast du nichts dazu zu sagen?“

„Lass es gut sein, Dad. Die schnellste Art, mich loszuwerden, ist, alte Geschichten aufzuwärmen.“

„Ich habe gehört, dass sie zu diesem Klassentreffen kommt“, bemerkte Frank Davis triumphierend. „Ist die Geschichte neu genug für dich?“

Cole gefiel es nicht, dass sein Herz plötzlich einen Satz machte. „Was hat das mit mir zu tun?“, fragte er schroff.

„Sie ist nicht verheiratet.“

Cole antwortete nicht, aber sein Puls ging noch schneller.

„Sie hat einen Sohn, den sie allein aufzieht“, fuhr sein Vater fort.

„Du hast deinen Beruf verfehlt“, sagte Cole. „Du hättest eine Zeitung gründen sollen. Du scheinst jedes Gerücht in der Stadt zu kennen.“

„Soll das heißen, es interessiert dich nicht?“

Cole sah seinen Vater an. „Genau das heißt es.“

Frank nickte. „Okay. Wie wäre es mit einer Runde Poker? Ich könnte ein paar Leute zusammenrufen.“

Der abrupte Themenwechsel machte Cole misstrauisch. Er runzelte die Stirn. „Warum?“

Sein Vater grinste. „Weil ein Mann, der ohne mit der Wimper zu zucken lügen kann wie du gerade, beim Pokern jede Menge Geld verdienen wird.“

2. KAPITEL

Als Cassie zwei Monate später mit Jake nach Winding River fuhr, schlug ihr Herz von Minute zu Minute schneller. Ihre Handflächen wurden feucht, und sie gestand sich ein, dass die Zeit keineswegs alle Wunden geheilt hatte. Ihr Sohn dagegen hopste aufgeregt auf seinem Sitz herum und plapperte unaufhörlich, bis sie ihn irgendwann regelrecht anfuhr, er solle endlich ruhig sein. Dabei war er nicht schuld an ihrer Nervosität.

„Wie weit ist es noch?“, fragte er zum hundertsten Mal.

Cassie rang sich ein mattes Lächeln ab. „Etwa zehn Meilen weniger als beim letzten Mal, als du mich das gefragt hast. Zum Mittagessen sind wir dort.“

„Und all diese großen Ranches, gehören den Leuten, die du kennst?“

„Die meisten“, gab sie zu.

Ihr graute vor dem Moment, in dem das schmiedeeiserne Tor der Double D Ranch in Sicht kommen würde. Frank Davis hatte sie so genannt, als sein Sohn geboren wurde, weil er gehofft hatte, dass sie beide sie eines Tages zusammen führen würde. Dass sein Sohn die Tochter einer Näherin mit nach Hause brachte passte nicht in seine Pläne. Ihm schwebte als Schwiegertochter ein Mädchen von einer der benachbarten Farmen vor, damit die Double D Ranch noch größer werden konnte.

Ob Frank Davis seinen Willen mittlerweile durchgesetzt hatte?

Die Straße machte eine Kurve und ließ die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln hinter sich, um das Vorgebirge zu durchqueren. In den Tälern grasten schwarze Angus-Rinder; sprudelnde Bäche und ein breiter Fluss schlängelten sich zwischen den Weiden hindurch; die Ufer waren von Bäumen gesäumt.

Nach einer Weile erreichten sie das Flachland, fuhren über eine Brücke, und dann lag die Stadt, in der Cassie aufgewachsen war, vor ihnen. Wie ein Wahrzeichen ragte der Wasserturm in die Höhe, den sie einst bestiegen und in schockierendem Pink gestrichen hatte. Jetzt war er strahlend weiß und verkündete in großen Buchstaben, dass die Stadt Winding River hieß. Ein Schild am Straßenrand ließ jeden wissen, dass der Ort 1939 Einwohner hatte. Würde man die Aufschrift in 1941 ändern müssen, wenn sie und Jake hier blieben? Oder sorgte das Auf und Ab der Geburten und Sterbefälle, der Zu- und Abwanderung dafür, dass die Zahl immer gleich blieb?

„Mom, sieh mal“, rief Jake.

„Was denn?“

„Dort drüben.“ Er zeigte auf etwas, das sie noch nie gesehen hatte.

Es war ein Flugplatz, nicht sehr groß, aber vor dem Hangar stand ein halbes Dutzend Privatmaschinen. Offenbar hatten sich in den letzten zehn Jahren einige Leute mit Geld in Winding River niedergelassen.

Die Kleinstadt hatte sich verändert. Cassie fragte sich, was sie wohl noch alles erwartete.

Cole reparierte gerade einen Zaun in der Nähe des Highways, als die alte blaue Limousine vorbeifuhr. Dass er sie überhaupt bemerkte, sagte einiges über seinen Zustand aus. Normalerweise konzentrierte er sich voll und ganz auf die Arbeit, aber seit sein Vater Cassie erwähnt hatte, achtete er darauf, welche Wagen vorbeikamen.

Dieses Mal gab es keinen Zweifel darüber, wer am Steuer saß. Die Fahrerin hatte ihr dichtes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hinten durch die Öffnung der Baseball-Kappe gezogen. Genau so hatte Cassie es immer getragen.

Er zwang sich, der Straße wieder den Rücken zuzukehren, hob den Hammer, um den nächsten Nagel einzuschlagen, verfehlte ihn und traf stattdessen seinen Daumen.

„Hast du etwas Interessantes gesehen?“, fragte Frank Davis scheinheilig, der zwei Pfosten weiter arbeitete, als er seinen Sohn fluchen hörte.

„Nein“, erwiderte Cole, obwohl ihm Cassies Anblick nicht mehr aus dem Kopf ging. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er ihr begegnete.

Autor

Sherryl Woods
Über 110 Romane wurden seit 1982 von Sherryl Woods veröffentlicht. Ihre ersten Liebesromane kamen unter den Pseudonymen Alexandra Kirk und Suzanne Sherrill auf den Markt, erst seit 1985 schreibt sie unter ihrem richtigen Namen Sherryl Woods. Neben Liebesromanen gibt es auch zwei Krimiserien über die fiktiven Personen Molly DeWitt sowie...
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