Ich lauf nie wieder fort

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Dass Michael sich nach einem Unfall an nichts mehr erinnern kann, ist schlimm. Schlimmer aber ist, dass die Frau, die er liebt, ihm offenbar etwas Wichtiges aus ihrer Vergangenheit verschweigt - sich ihm entzieht, obwohl Sehnsucht aus ihren Augen leuchtet ...


  • Erscheinungstag 24.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755645
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Er kannte diesen Mann nicht, aber eins wusste er genau: Sein Gesicht gefiel ihm nicht.

Es war attraktiv, denn der Mann hatte markante Züge und ein ebensolches Kinn, doch irgendetwas an seinem Ausdruck machte ihm Angst und irritierte ihn gleichermaßen.

Der Mann sah älter aus, als er erwartet hatte. Er hatte tiefe Falten in den Mundwinkeln, und seine Augen waren glanzlos.

Michael versuchte, seinen Charakter zu deuten und zu erraten, was in ihm vorging, und suchte vergeblich nach einem Anzeichen von Humor oder Unbeschwertheit. Was stimmte mit diesem Mann nicht? Irgendetwas quälte ihn. Es war das Gesicht eines Menschen, der keine Hoffnung mehr hatte und sich keine Illusionen mehr machte. Starr betrachtete Michael sein Spiegelbild und verspürte einen Anflug von Verzweiflung.

„Du meine Güte“, sagte er leise zu sich selbst. „Du lebst! Lächle gefälligst!“

Er lächelte.

Das Gesicht im Spiegel lächelte auch.

„Schon besser“, meinte Michael.

Das Telefon klingelte schrill, als Amy ihr Apartment betrat, und prompt wurde sie wütend. Sie hatte drei Wochen abseits der Zivilisation verbracht, und als Erstes musste sie das verdammte Telefon hören. Sie würde den Hörer nicht abnehmen.

Sie schleifte ihren schweren Rucksack ins Schlafzimmer, zog die Wanderstiefel aus und öffnete dann alle Fenster. Das Klingeln hörte auf. Gut. Amy zog ihr T-Shirt und ihre Jeans aus. Nun würde sie erst einmal ausgiebig duschen. Wieder begann das Telefon zu klingeln. Sie ignorierte es einfach und ging ins Bad.

Als sie eine halbe Stunde später in der Küche war und sich gerade eine Tiefkühlpizza im Backofen machte, begann das Telefon erneut zu klingeln. Daraufhin nahm sie den Hörer ab. „Hallo“, meldete sie sich mit einem resignierten Unterton.

„Amy? Bist du das? Ich bin ja so froh, dass du da bist“, ließ sich eine hohe Frauenstimme vernehmen. „Ich versuche schon seit Wochen, dich zu erreichen. Oh Amy …“ Die Frau brach in Tränen aus.

Das Herz wurde Amy schwer. Sie kannte diese Stimme. Sie gehörte der Vergangenheit an, der Vergangenheit, die sie verzweifelt hinter sich zu lassen versuchte.

„Melissa!“ war alles, was Amy sagen konnte. Die widersprüchlichsten Gefühle überkamen sie. Sie mochte Melissa sehr, doch diese weckte zu schmerzliche Emotionen in ihr.

„Oh Amy! Es tut mir leid, dass ich dich anrufe, aber ich wusste nicht mehr ein noch aus. Ich bekomme ein Baby und muss im Bett liegen …“

Ein Baby. Melissa bekam ein Baby. Amy schluckte und sank auf einen Stuhl. „Melissa! Was ist los? Warum musst du im Bett liegen?“

„Es gab Komplikationen, und nun muss ich bis zur Geburt liegen, aber deswegen rufe ich nicht an. Oh Amy … ich …“ Wieder schluchzte Melissa auf und sprach schließlich weiter, war allerdings kaum zu verstehen.

„… jemand muss ihm helfen, und du bist die Einzige … Es tut mir so leid. Ich weiß, es ist nicht fair …“

„Melissa, bitte sag mir, was los ist. Von wem redest du?“

„Michael“, brachte Melissa hervor. „Er hatte einen Unfall. Ein Wagen, in dem lauter betrunkene Teenager saßen …“

Michael. Ein Autounfall. Angst überkam Amy, und ihr wurde kalt. Nein, dachte sie, bitte nicht!

„Michael?“, fragte sie in Panik. „Was ist mit ihm?“

„Es ist sein Kopf. Ich meine, ihm ist nichts passiert, außer dass er sich den Arm gebrochen hat, aber …“

„Sein Kopf?“ Plötzlich hatte Amy Horrorvisionen.

„Die Ärzte können nichts finden, aber er kennt niemanden mehr. Ich habe ihn angerufen, und er wusste nicht, wer ich bin“, sagte Melissa unter Tränen. „Ich meine, sie haben ihm gesagt, ich wäre seine Schwester, und trotzdem wusste er nicht, wer ich bin. Es war so furchtbar, als würde ich mit einem Fremden reden!“

„Wo ist er?“, brachte Amy hervor, und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren ganz fremd. Ob Michael noch auf der Insel war?

„Michael ist in Oregon. Er hat einen neuen Job als Geschäftsführer eines Luxushotels an der Küste. Er hatte dort nur ein paar Tage vor dem Unfall angefangen. Niemand kennt ihn dort, Amy! Er ist ganz allein!“

Starr blickte Amy an die Wand. Michael hatte die Insel in der Karibik verlassen, auf der er ein Luxushotel geleitet hatte, das Haus, in dem sie zusammen gewohnt hatten und das sie so liebevoll eingerichtet hatte.

„Ich habe ihm gesagt, er solle nach Boston kommen und bei Russ und mir wohnen“, fuhr Melissa fort, „aber er meinte, er wolle uns nicht zur Last fallen und außerdem müsse er seine Arbeit machen und würde schon zurechtkommen.“

Wieder begann sie zu schluchzen. „Ich bin seine einzige Schwester! Russ ist sein bester Freund! Wie sollte er uns zur Last fallen? Andererseits bin ich wohl eine Fremde für ihn, und … Oh Amy, wirst du zu ihm fliegen?“

Amy stockte der Atem, und Panik überkam sie.

„Bitte“, flehte Melissa. „Du bist die Einzige, die ihm helfen kann. Ich würde dich auch nicht fragen, aber ich kann nicht. Wenn ich nicht im Bett bleibe, verliere ich das Baby. Und Russ will mich nicht allein lassen. Ich weiß, dass es nicht fair ist, dich darum zu bitten.“

Nein, es war nicht fair. Allein die Vorstellung war der reinste Albtraum.

Amy schloss die Augen und begann zu zittern. Ich kann das nicht tun, dachte sie. Nein, ich kann es nicht!

„Ich fliege zu ihm“, hörte sie sich sagen.

Amy zog einen Koffer aus dem Wandschrank und fing an, wahllos Sachen hineinzuwerfen. Dabei versuchte sie, nicht nachzudenken. Sie hatte bei der Fluggesellschaft angerufen und einen Platz für den nächsten Tag um die Mittagszeit reserviert.

Amy schob die alten Sachen im obersten Regal im Wandschrank beiseite und zog eine blaue Kunststoffbox hervor, die sie aufs Bett stellte und öffnete. Sie enthielt zahlreiche Fotoalben. Amy nahm einige heraus, unter denen sich auch ein weißes mit dem goldfarbenen Aufdruck „Unsere Hochzeit“ befand, und packte sie mit in den Koffer. Anschließend warf sie einen Blick in die Box, nahm das Päckchen in der weißen Plastiktüte heraus und versteckte es schnell im Koffer unter ihren Jeans. Ihre Hände zitterten.

Als sie kurz darauf im Bett lag, sah sie starr an die Decke, denn sie konnte nicht schlafen.

Michael hatte einen Unfall gehabt. Michael litt an Gedächtnisverlust.

Denk nicht nach. Fühl nicht.

Wenn sie ihren Gedanken und ihren Gefühlen jetzt freien Lauf ließ, würde sie am nächsten Tag nicht in das Flugzeug steigen können.

Als Amy am darauf folgenden Tag in der Maschine saß, wusste sie, dass es nun kein Zurück mehr gab. Sie hatte Michael seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Zwei Jahre hatte sie versucht zu vergessen und sich damit abzufinden, dass ihr wunderschönes Leben mit ihm in einer Tragödie geendet hatte.

Und jetzt war sie auf dem Weg zu ihm und wollte herausfinden, ob sie, die Frau, die er einmal geliebt hatte, ihm dabei helfen konnte, das Gedächtnis wiederzuerlangen. Und wenn sie erfolgreich war, wenn er sich wieder erinnerte, würde er sich auch an jenen schrecklichen Morgen erinnern. Einige Sekunden lang empfand sie so etwas wie Neid, was natürlich absurd war. Michael erinnerte sich an nichts mehr. Er hatte es gut.

Kurz vor der Landung nahm Amy ein kleines Kästchen aus ihrer Handtasche und öffnete es. Der Diamant funkelte sie an und schien sie zu verspotten. Ihre Hand zitterte, als sie den Ring herausnahm. Denk nicht nach. Fühl nicht.

Amy steckte sich den Ring an den linken Ringfinger.

Amy brauchte nicht lange, um Michael zu finden. Er war groß und breitschultrig und überragte daher die meisten Leute in der Ankunftshalle. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie bekam weiche Knie, als sie ihn betrachtete – den Mann, in den sie sich einst Hals über Kopf verliebt hatte und den sie so gut kannte. Plötzlich fiel ihr das Atmen schwer.

Er hielt nach ihr Ausschau und blickte dann auf etwas, das er in Händen hielt. Ein Foto. Melissa hatte ihm noch am Vorabend übers Internet ein Foto von ihr geschickt. Wieder sah er sich um und streifte sie mit seinem Blick, ohne sie zu erkennen. Er erkannte sie nicht einmal anhand des Fotos.

Mein Haar, ging es Amy dann durch den Kopf. Das Foto musste einige Jahre alt sein und zeigte sie mit langem Haar. Sie hatte sich die Haare im letzten Jahr abschneiden lassen und sah nun ganz anders aus.

Amy zwang sich, auf ihn zuzugehen. Die Beine schienen ihr kaum zu gehorchen. Michael trug ein weites schwarzes Hemd und Jeans und den linken Arm in der Schlinge. Er wirkte dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht war hager. Er sah älter aus. Es war das Gesicht eines Mannes, der in letzter Zeit kaum gelächelt hatte. Seine Schläfen waren grau geworden.

„Michael?“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Amy?“ Seine braunen Augen mit den goldfarbenen Sprenkeln waren ausdruckslos.

Amy nickte, unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen, und betrachtete Michael wie gebannt. Zu ihrer Überraschung begannen seine Augen dann zu funkeln, und er lächelte sie an. „Du bist meine Frau, hat meine Schwester gesagt.“

Es war eine Lüge. Sie war nicht seine Frau, nicht mehr, doch Melissa hatte es ihm gesagt, aus Angst, er würde sie, Amy, nicht sehen wollen, wenn er erfuhr, dass sie mittlerweile seit einem Jahr geschieden waren. Sicher hätte er sich nicht von Menschen helfen lassen, die ihm nun fremd waren, schon gar nicht von seiner Exfrau.

Amy nickte, da ihr klar war, dass sie sich wie eine Ehefrau verhalten musste. Sie musste ihn umarmen und küssen. Also machte sie einen Schritt auf ihn zu, legte ihm den Arm um den Nacken und schmiegte die Wange an seine. Sie spürte seinen Gips an den Brüsten, nahm seinen frischen, maskulinen Duft wahr, der ihr so vertraut war, als hätte sie erst am Vortag in seinen Armen gelegen.

Michael legte den rechten Arm um sie und hielt sie sanft umschlungen.

Schmerz und Verlangen überkamen sie, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, und machten ihr Angst. Nein, dachte sie, bitte nicht. Das Gesicht an seins geschmiegt, schluchzte sie auf.

„Ist ja gut“, tröstete Michael sie und streichelte ihren Rücken. „Wir werden es schon schaffen.“

Was werden wir schaffen? hätte sie am liebsten gefragt, doch sie konnte nur weinen, als sie in seinen Armen lag. Sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen und sich von ihm zu lösen, dem Mann, der ihr so vertraut und doch so fremd war, dem Mann, der sie nicht erkannte.

Amy nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. „Tut mir leid“, sagte sie mit bebender Stimme.

Michael betrachtete sie freundlich-distanziert. „Es gibt nichts, was dir leid tun sollte“, meinte er lässig.

Sie wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. „Du erkennst mich wirklich nicht mehr, stimmt’s?“

Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein“, erwiderte er leise. „Es … tut mir leid.“

Nicht von ihm erkannt zu werden, ein … Niemand für ihn zu sein, für den Mann, den sie über alles geliebt hatte, tat mehr weh, als sie erwartet hatte. Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen.

„Wein nicht“, bat Michael, „bitte wein nicht.“ Sein Tonfall war unsicher, und sie blinzelte die Tränen weg und sah ihm in die Augen. Das Funkeln darin war einem seltsam gequälten Ausdruck gewichen.

Amy schluckte. „Entschuldigung“, flüsterte sie.

„Es wird alles gut.“ Michael nahm ihre Hand. „Lass uns gehen.“

Ein Wagen mit einem Chauffeur stand für sie bereit. Michael setzte sich mit ihr nach hinten. Erst jetzt wurde ihr klar, dass er mit einem Arm in Gips nicht selbst fahren konnte.

„Melissa hat mir gar nicht erzählt, dass du jetzt kurzes Haar hast“, meinte er. „Ich habe nach einer Frau mit langem Haar Ausschau gehalten.“

„Sie hat mich nicht mehr gesehen, seit ich es kurz trage“, erklärte Amy. „Zeigst du mir das Foto, das sie dir geschickt hat?“

Er zog es aus der Brusttasche seines Hemds. Es war ein Hochzeitsfoto von ihnen. Seite an Seite standen sie da, bereit, die Hochzeitstorte anzuschneiden. Sie lachten und wirkten so jung und sorglos, so glücklich.

Es war in einem anderen Leben gewesen.

„Ich mag das Foto“, erklärte Michael und lächelte schwach. „Wir wirken sehr verliebt.“

Amy betrachtete die Aufnahme. „Ja“, bestätigte sie und wappnete sich gegen die Emotionen, die sie überkamen. Als sie Michael verlassen hatte, waren sie nicht mehr glücklich gewesen. Er war nicht mehr der Mann gewesen, den sie geheiratet hatte. Das Foto entstammte einer Zeit, die für immer verloren war. Sie gab es ihm zurück.

„Ich hatte sicher ein Foto von dir in meiner Brieftasche, aber die war in meiner Anzugjacke und ist im Wagen verbrannt“, erklärte er. „Jedenfalls geht man davon aus, weil ich keine Jacke anhatte und keine Papiere dabeihatte.“

Ganz sicher hatte er kein Foto von ihr in der Brieftasche gehabt. Von Melissa hatte sie erfahren, dass es Michael wie durch ein Wunder gelungen war, aus dem Wagen zu kriechen, bevor dieser in Flammen aufgegangen war, und es sehr lange gedauert hatte, seine Identität festzustellen, denn er hatte den Wagen nur geliehen und der Besitzer war außer Landes gewesen.

Amy schauderte. „Es muss schrecklich gewesen sein.“

„Zum Glück erinnere ich mich nicht mehr daran“, meinte Michael humorvoll.

Starr blickte sie ihn an. „Michael …“

Er lächelte ironisch. „Sosehr ich mir wünsche, das Gedächtnis wiederzuerlangen, gibt es wohl wie bei allen Menschen Dinge in meinem Leben, an die ich mich so schnell nicht erinnern möchte.“

Sie spürte, wie sie sich verspannte. „Leider haben wir in der Hinsicht keine Wahl“, erwiderte sie und schaffte es, ruhig zu klingen.

„Nein“, antwortete er, „das haben wir nicht.“

Die Fahrt entlang der zerklüfteten Pazifikküste war sehr schön, doch Amy war zu nervös, um die Landschaft zu genießen, zumal Michael sie unentwegt neugierig betrachtete.

Wahrscheinlich fragte er sich, wie er sich einer Ehefrau gegenüber verhalten sollte, an die er sich nicht erinnerte, oder wie er sie überhaupt hatte heiraten können. Ob er sich auch nur im Mindesten zu ihr hingezogen fühlte?

„Melissa hat mir unzählige Familienfotos geschickt“, bemerkte er. „Von unseren Eltern und aus unserer Kindheit, Ferienschnappschüsse, Aufnahmen von meiner Uni-Abschlussfeier und so weiter.“

„Sie hat mir erzählt, dass sie deinem Gedächtnis nicht auf die Sprünge geholfen haben.“

„Nein. Es war, als würde ich die Fotos von jemand anderem betrachten, wenn man mal von der Ähnlichkeit absieht.“

Amy betrachtete sein Gesicht. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es war, wenn man sich selbst auf Fotos nicht erkannte. „Es muss seltsam sein, wenn man sich nicht einmal an sich selbst erinnern kann“, sagte sie.

Um seine Mundwinkel zuckte es. „Vielleicht würde ich mich gar nicht so gern daran erinnern, wie ich als Kind war. Auf den meisten Aufnahmen wirke ich so, als hätte ich nur Unsinn im Kopf, und Melissas Erzählungen zufolge war ich ein echter Satansbraten.“

„Ich kenne einige von diesen Geschichten.“ Amy rang sich ein Lächeln ab und blickte dann wieder aus dem Fenster. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen, wo sie anfangen sollte. Erneut wandte sie sich ihm zu. „Tut dein Arm weh?“

„Nein, nicht mehr. Meine Rippen machen mir mehr zu schaffen, aber es wird langsam besser. Nachts kann ich schlecht liegen.“ Er lächelte schief. „Na ja, ich will mich nicht beklagen. Ich lebe, und dafür bin ich dankbar.“

Es war ein Wunder, dass er keine schwereren Verletzungen davongetragen hatte. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Wieder schauderte sie.

„Melissa hat mir erzählt, dass du in den letzten Wochen mit einer Gruppe High-School-Schüler in den Appalachen gezeltet hast“, fuhr er fort.

Amy nickte. „Ja, das mache ich jeden Sommer. Ich wusste nicht von dem Unfall. Melissa hatte keine Ahnung, wo ich war, und hat mich erst erreicht, als ich wieder im Haus meiner Freundin in Philadelphia war. Ich bin sofort hergekommen.“ Die Worte hatte sie sich vorher zurechtgelegt.

Einen Moment lang betrachtete Michael sie prüfend. „Du machst eigentlich nicht den Eindruck, als wäre das einfache Leben etwas für dich.“

Sie war überrascht. „Nein?“

„Du siehst nicht sehr … zäh aus. Vielmehr zerbrechlich.“

„Ich bin nicht zerbrechlich. Wir beide sind auf der Insel viel gewandert und geklettert.“

Er runzelte die Stirn. „Ja? Dann sind unter unseren Sachen bestimmt irgendwo Fotos.“

„Ja.“ Wenn er die Fotos nicht alle weggeworfen hatte. Aber sie hatte ja die, die sie mitgebracht hatte. „Wann kommen die Sachen?“

„Ich habe gestern mit der Spedition gesprochen, und die haben mir gesagt, dass sie übermorgen geliefert werden.“ Michael lächelte flüchtig. „Dann können wir in das Haus ziehen. Es ist sehr schön, oben auf den Klippen gelegen und mit Blick auf den Ozean und die Wälder. Ich hoffe, es gefällt dir. Wenn nicht, können wir uns etwas anderes suchen.“

„Bestimmt gefällt es mir.“ Es spielte keine Rolle, denn sie würde ohnehin nicht lange blieben. In wenigen Wochen würde die Schule anfangen, und bis dahin musste sie wieder in Philadelphia sein.

Ein großes Holzschild wies darauf hin, dass sie das Aurora Nova Resort Hotel erreicht hatten. Der Chauffeur verlangsamte das Tempo und bog in eine schattige Straße ein, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Von Melissa wusste sie, dass Michael im Hotel eine Suite bewohnte und auf seine persönlichen Sachen wartete, die per Schiff von der Insel kamen.

Schließlich hielt der Chauffeur vor dem Hauptgebäude. Michael nahm ihre Hand, als sie das lichtdurchflutete, große Foyer betraten, dessen Wände und Boden aus Holz und Stein bestanden. „Wenigstens gehören wir nicht zu den Paaren, die einander nichts zu sagen haben“, erklärte er und führte sie in den Aufzug. „Du musst mir von allen Missetaten erzählen, die ich je begangen habe.“

Im dritten Stock stiegen sie aus. Michael zückte eine Codekarte, öffnete eine Tür und trat beiseite, um Amy den Vortritt zu lassen. Es handelte sich um ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Ein Teenager war ihnen mit ihren beiden Koffern gefolgt, und Michael wies ihn an, diese in das Schlafzimmer auf der linken Seite zu bringen. Auf der rechten Seite befand sich eine weitere Tür, die allerdings geschlossen war. Lag dahinter noch ein Schlafzimmer?

Unterwegs hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wo sie schlafen würde. Sicher würde sie nicht auf getrennten Schlafzimmern bestehen können. Ob ihr eine Ausrede einfallen würde?

„Seit dem Unfall schlafe ich sehr schlecht.“ Er deutete auf seinen Gipsarm. „Daher dachte ich, dass ein eigenes Schlafzimmer für dich besser ist, damit ich dich nicht störe.“

Das Problem war also gelöst. In ihre Erleichterung mischte sich jedoch auch Schmerz. „Wenn du meinst.“ Amy fragte sich, ob seine Besorgnis echt war oder Michael nur nicht mit ihr in einem Bett schlafen wollte, denn schließlich erinnerte er sich nicht mehr an sie.

„Wenn du müde bist“, fuhr er fort, „können wir uns Essen aufs Zimmer bestellen. Ich weiß, dass es für dich drei Stunden später ist. Wenn es dir lieber ist, können wir auch ins Restaurant gehen. Es ist sehr schön und die Küche hervorragend.“

„Ich hätte nichts dagegen, an einem Tisch zu sitzen und mich bedienen zu lassen“, erwiderte sie. „Immerhin habe ich mich in den letzten Wochen nur von gefriergetrockneten Sachen ernährt.“

Michael verzog das Gesicht. „Dann solltest du etwas Vernünftiges essen. Ein Steak oder so.“

„Ich bin Vegetarierin“, entgegnete sie. „Und du isst auch kein Fleisch.“ Zumindest hatte sie versucht, ihn dazu zu bewegen, als sie verheiratet gewesen waren.

Überrascht zog Michael die Augenbrauen hoch. „Seit dem Unfall esse ich ständig Fleisch. Ich mag es.“

„Fleisch ist ungesund“, bemerkte Amy. „Es ist voller Hormone, Chemikalien, Fett und Cholesterin.“

„Okay, also kein Steak für dich“, meinte er lässig. „Wann möchtest du nach unten gehen? In einer Stunde? Für deine innere Uhr wäre es elf. Ist das nicht zu spät?“

„Nein, ich bin nicht müde.“ Sie war viel zu angespannt.

„Gut, dann lasse ich dich jetzt allein, damit du deine Sachen auspacken und dich hier einrichten kannst. Ich muss im Büro noch einiges erledigen, aber es dauert nicht lange.“

Nachdem Amy geduscht und sich das Haar gewaschen hatte, fühlte sie sich schon besser. Was sollte sie anziehen? Da sie nicht viele Sachen mitgebracht hatte, fiel ihr die Wahl nicht schwer – ein schlichtes schwarzes Kleid, das sie je nach Anlass mit schlichten oder eleganten Accessoires kombinieren konnte. Sie legte ihre Bernsteinkette und die dazu passenden Ohrringe an und beschloss, ihre Jacke mitzunehmen, für den Fall, dass es kühl werden sollte.

Als sie sich im Spiegel betrachtete, kam sie zu dem Ergebnis, dass sie ein bisschen zu dünn war, doch das war ihr nicht neu. Es war ein schönes Gefühl, wieder ein Kleid zu tragen und sich wie eine Frau zu fühlen.

Schließlich verließ sie ihr Schlafzimmer. Michael war inzwischen zurückgekehrt und stand auf der Schwelle zu seinem Zimmer. Sein Hemd war aufgeknöpft, und er trug keine Socken. Beim Anblick seiner breiten, gebräunten Brust klopfte ihr Herz schneller. Einen Moment lang betrachtete er sie schweigend. Dabei wurden seine Augen dunkler.

„Du … bist schön“, sagte er.

Ihr stockte der Atem. „Danke.“

„Macht es dir etwas aus, mir kurz zu helfen?“, fragte Michael. „Könntest du den Gürtel durch die Schlaufen ziehen?“

„Ja, natürlich.“ Amy eilte zu ihm, nahm ihm den Gürtel ab und zog ihn durch die Schlaufen. Unterdessen versuchte er mit einer Hand, sein Hemd zuzuknöpfen.

„Lass mich das machen.“

Als er sie ansah, fühlte sie sich ihm viel zu nahe, und ihre Hände begannen zu zittern.

„Du riechst gut“, bemerkte er leise.

Du auch, hätte sie am liebsten gesagt, brachte die Worte jedoch nicht über die Lippen. Sie hatte seinen einzigartigen, maskulinen Duft immer geliebt. Sie hatte immer so gern das Gesicht an seiner Brust oder seinem Hals geborgen und seinen Duft eingeatmet.

Sie musste auf Abstand gehen. Sie durfte diese Gefühle nicht zulassen. Sie liebte diesen Mann nicht mehr. Er hatte sie zutiefst verletzt. Er liebte sie nicht. Sie waren einander fremd, und das ging weit über seinen Gedächtnisverlust hinaus.

Unsicher wich Amy einen Schritt zurück. Michael versuchte, das Hemd in den Hosenbund zu stecken, kam hinten allerdings nicht heran. Daher tat sie es für ihn, während er den Reißverschluss zuzog und den Gürtel zumachte. Anschließend griff er nach einer Krawatte, die bereits einen Knoten hatte, und zog sie sich über den Kopf. Sie zog sie zu und rückte den Kragen zurecht, ohne ihn dabei anzublicken.

„Wann kommt der Gips ab?“, erkundigte sie sich.

„Wenn alles gut geht, in zwei Wochen.“

„Wer hat dir in den letzten Wochen beim Anziehen geholfen?“ Amy versuchte, sachlich zu klingen.

„Die Hotelmasseurin kommt jeden Morgen vorbei. Allerdings kann sie keine Krawatten binden, also macht meine Sekretärin das, wenn ich eine brauche.“

Sie schwieg. Die Hotelmasseurin und seine Sekretärin. Sie hoffte, die beiden kämpften nicht um ihn.

„Da es nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehört, bin ich ihnen sehr dankbar“, fügte er ruhig hinzu.

„Du kannst dich glücklich schätzen“, bemerkte sie zuckersüß.

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig? Eigentlich sollten Ehefrauen das in solchen Situationen sein.“

„Ich bin es nicht.“ Nun sah sie ihm in die Augen.

Michael lächelte. „Ich lerne dich von Minute zu Minute besser kennen.“

Wie kann ein Mann eine Frau wie sie vergessen? fragte sich Michael. Große grüne Augen, ein Mund, der zum Küssen einlud, rotblondes Haar, Sommersprossen auf der Nase. Sie war keine klassische Schönheit, wirkte allerdings sehr feminin.

Noch vor einem Monat hatten sie auf St. Barlow gelebt. Er erinnerte sich nicht an die Insel, das Haus, das Hotel, das er geleitet hatte, die Frau, die er geliebt hatte. Noch vor wenigen Wochen hatte diese Frau in seinem Bett geschlafen. Wie war es möglich, dass er sich nicht daran erinnerte, wie er sie berührt, gestreichelt, mit ihr geschlafen hatte?

Michael schloss die Augen. Was war bloß mit ihm passiert?

Er brauchte ihr nur in die grünen Augen zu blicken, und schon wollte er sich darin verlieren. Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, dass es das Einfachste auf der Welt wäre, sie zu lieben.

Aber er kannte sie nicht. Und er konnte sich nicht daran erinnern, sie geliebt zu haben.

Und sie war seine Frau.

2. KAPITEL

Der an drei Seiten verspiegelte Aufzug war leer. Michael ließ Amy vorgehen und folgte ihr dann. Als er sein Spiegelbild sah, runzelte er die Stirn.

Sie beobachtete ihn. Mit dem dichten dunklen Haar, den markanten Zügen und dem ebensolchen Kinn war er ein sehr attraktiver Mann, selbst wenn er ein bisschen … hager wirkte.

„Was ist los?“, fragte sie.

Michael drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoss. „Immer wenn ich mich im Spiegel sehe, bin ich überrascht“, erwiderte er mit einem selbstironischen Unterton.

„Warum?“

„Ich sehe nicht so aus, wie ich wohl aussehen sollte, wie ich mich fühle.“

„Wie solltest du deiner Meinung nach denn aussehen?“

„Ich … weiß nicht genau.“ Er zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll, aber der Typ, der mich im Spiegel anblickt, scheint jemand anders zu sein.“

„Jemand anders?“, erkundigte sie sich belustigt. „Was meinst du damit?“

Autor

Karen Van Der Zee
Karen van der Zee wuchs in Holland auf und begann schon früh mit dem Schreiben. Als junges Mädchen lebte sie ganz in der Welt ihrer Träume, verschlang ein Buch nach dem anderen und erfand zudem eigene Geschichten, die sie in Schulheften aufschrieb und liebevoll illustrierte. Leider entdeckten ihre Brüder eines...
Mehr erfahren