Ich will dich, Jenna

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Finden Sie meine kleine Nichte Emily, und ich gebe Ihnen, was Sie wollen! Beschwörend redet die schöne Jenna auf den attraktiven Damien Reece ein, der für seine telepathischen Fähigkeiten bekannt ist. Und Damien erklärt sich bereit - unter einer Bedingung: Wenn er Emily gefunden hat, will er kein Geld. Damien will Jenna ...


  • Erscheinungstag 05.06.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773489
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Es geschah in diesem zeitlosen, schwebenden, ungeschützten Zustand, bevor der Schlaf kommt, wenn die Müdigkeit schließlich den Körper übermannt und die Denkfähigkeit ausschaltet, als Damien den Schrei einer Frau wahrnahm. Wortlos, formlos, lautlos … Ihre herzzerreißende Seelenangst teilte sich ihm mit.

Er reagierte sofort und ohne nachzudenken. Helfen. Er musste ihr helfen. Wer immer sie war, wo immer sie war, sie brauchte ihn. Er rollte sich aus dem Bett, stolperte über seine herumliegenden Kleidungsstücke und wich nachtwandlerisch den schweren Möbeln aus. Sogar jetzt klang der Widerhall ihres Flehens in ihm nach. Er fühlte ihre verzweifelte Hoffnung auf Rettung.

Seine bloßen Füße wurden taub auf den kalten Fliesen. Er bibberte vor Eiseskälte, als er den Wohnraum erreichte. Sein nackter Körper schimmerte bronzefarben in dem Licht des verglühenden Kaminfeuers, sein rabenschwarzes Haar fiel ihm wirr vom Schlafen auf die Schultern. Er durchquerte den Flur und versuchte fieberhaft, die vereiste Eingangstür aufzuschließen.

Sie hatte ihn gerufen. Sie brauchte ihn. Er musste ihr helfen.

Damien stemmte sich mit der Ferse gegen den Rahmen und riss die eisverklebte Tür mit einem Ruck auf. Ein Windstoß erfasste die Tür, und sie krachte gegen die Wand. Schnee fegte in die Hütte.

Jenseits des überdachten Vorbaus lungerte die Nacht mit ihren schwarzen und grauen Schattierungen. Der Schneesturm, der bei Einbruch der Dunkelheit losgebrochen war, verhüllte die Sterne, die Kiefern, die wie eine Schildwache entlang des Weges standen, den Granitblock im Vorgarten, alles. Da war kein Licht, keine Andeutung einer Bewegung, kein Hinweis auf die Frau, deren klagender Schrei immer noch in ihm gegenwärtig war.

„Wo sind Sie?“

Sein Ruf wurde von dem Jaulen des Windes verschluckt.

„Ist jemand hier?“

Stechende Eiskristalle wirbelten über die Schwelle, umtanzten seine bloßen Beine und machten ihn auf eine fast brutale Weise ganz wach.

Er lauschte, jeder Nerv pulsierte, alle Sinne waren geschärft. Er rief wieder. Und wartete. Und rief noch einmal.

Nichts. Nur das dichte Treiben des Schnees und das unaufhörliche Pfeifen des Windes.

Erst nachdem seine Stimme heiser war und die eiskalte Luft in seiner Lunge brannte, akzeptierte Damien schließlich das Offensichtliche. Auch wenn die Frau nur wenige Meter entfernt wäre, würde sie ihn bei diesem Sturm nicht hören können. Und er hatte niemand hören können. Nicht durch die festen Wände der Hütte, nicht durch das Toben des Unwetters. Niemand war dort draußen. Natürlich war niemand dort draußen. Er hatte keine Nachbarn, er hatte keine Besucher. Die nächste Straße war zwei Meilen entfernt und führte über einen steilen Hügel.

Es musste ein Traum gewesen sein, das war alles. Ein Traum.

Von dem Kaminvorleger hob Smoke den Kopf, die Augen glühten gelb in dem Licht des Feuers, sein Winseln deutete Neugier an.

Damien warf einen Blick auf den Wolf. Ja, es musste ein Traum gewesen sein. Wenn es den Schrei wirklich gegeben hätte, dann wäre Smoke heulend zur Tür gerannt. Die Sinne des Tieres waren besser geschärft als seine eigenen.

Also konnte er den Schrei nicht gehört haben.

Nein, er musste den Schrei nicht gehört haben, aber er könnte ihn …

„Nein!“

Ein Traum, das war alles. Das war alles, was es hatte sein können.

Ein kalter Schauer überlief ihn. Er schloss die Tür und lehnte die Stirn gegen das furnierte Holz.

Der Schrei war ein Traum gewesen, ein verdammt lebhafter Traum, der ihn beinahe dazu gebracht hatte, nackt in den Schneesturm hinauszustürzen, aber das war von keiner Bedeutung. Nein, das bedeutete nicht, dass der Albtraum wieder zurückkehrte.

Aber der Traum war so wirklich gewesen. Hatte seine Abwehr durchbrochen. Hatte ihn gerufen. Hatte ihn gelockt. Wortlos, formlos, lautlos …

Lautlos?

Nein. Das war alles vorbei. Tot und begraben. Es fing nicht wieder an. Er hatte seinen Frieden gefunden.

Aber der Traum war so wirklich gewesen.

„Nein!“ Damien schlug mit der Faust gegen die Tür. Ein stechender Schmerz zuckte den Arm hinauf bis zur Schulter. Er schlug noch einmal zu, dann hob er die Hand zum Mund, schmeckte das Blut, das aus der geplatzten Haut über den Knöcheln sickerte. Er drehte sich um. Flammen tanzten hinter dem verzierten Eisengitter des Kamins. Der hereinfegende Wind hatte die Glut entfacht. Ein Holzscheit knisterte, Funken sprühten. Das sah er, das hörte er. Das waren sinnliche Wahrnehmungen, die er verstehen und akzeptieren konnte. Ja. Das war Wirklichkeit.

„Ich habe sie nicht gehört“, sagte er. „Ich habe nichts gehört.“

In diesem Augenblick setzte das Zittern ein. Schauder schüttelten ihn von den Schultern bis zu den Fußsohlen. Damien kreuzte die Arme vor der Brust und zerrte die Quiltdecke seiner Großmutter von der Couch. Dann sank er auf die Kissen, deckte sich zu und presste die Zähne zusammen.

Er rieb sich das Gesicht und fühlte unter seiner Handfläche die kratzenden Bartstoppeln. Seit einer Woche hatte er sich nicht rasiert. Er hatte nichts gehört. Er hatte geträumt, das war alles. Er hatte in den vergangenen Tagen rund um die Uhr gearbeitet. Träume passierten jedem. Sogar ihm.

Er blickte zum Schlafzimmer hinüber, das durch einen schattigen Bogengang vom Wohnraum getrennt war. In seiner Kindheit hatten sich Monster in der Dunkelheit getummelt. Vor dem Unbekannten war er laut schreiend durch die leeren Korridore gelaufen auf der Suche nach Trost, den ihm niemand hatte geben können.

Damien hatte schon vor langer Zeit aufgehört, nach Trost zu suchen. Genauso wie er es gelernt hatte, sich den Monstern in seiner eigenen Finsternis zu stellen. Nein, es fing nicht wieder an. Es gab dort draußen keine Frau. Keine Stimme in seinem Kopf. Niemand.

Er blieb still liegen, bis das Zittern aufhörte. Allmählich ebbte die Panik ab. Er lauschte dem Sturm, der mit einem boshaften Windstoß nach dem anderen auf die Hütte einschlug, und fühlte so etwas wie Befriedigung über die verbürgte Abgeschiedenheit, die der Schnee bringen würde. Die Straße würde auf Tage hinaus unpassierbar sein. Er würde niemanden sehen müssen, würde nicht riskieren müssen, sich all diese Meinungen anzuhören … nicht, bevor er so weit war, seine Arbeit in die Stadt zu bringen.

Nein, es war unmöglich. Er hatte seit Jahren nicht einmal den Anflug seiner Veranlagung … seines Fluchs … gehabt. Alles war in Ordnung. Er war normal.

Langsam drehte Damien sich der Tür zu. Und wenn die Stimme der Frau kein Traum gewesen war? Wenn wider Erwarten tatsächlich jemand dort draußen im Schneesturm war, der nach Hilfe rief, der ihn brauchte?

Es würde einfach sein, nachzusehen. Zieh dich an, schnapp dir eine Taschenlampe und geh hinaus, um dich umzuschauen. Nur für den Fall … für den Fall, dass das Unmögliche Wirklichkeit war.

Während er die Wirklichkeit leugnete, könnte sie sterben.

Aber wenn er die Möglichkeit akzeptierte, dass er die Stimme tatsächlich wahrgenommen hatte, dann würde er zugeben, was er seit fünf Jahren zu leugnen versuchte. Er würde sich den Monstern wieder stellen müssen.

„Verdammt“, flüsterte Damien und rieb sich die Stirn. Er streckte die Arme aus und starrte auf die Hände. Die Finger fingen wieder an zu zittern. „Verdammt.“

So durfte es nicht enden. Nein, sie würde nicht auf diese Weise sterben, erfroren wie der Sperling, den sie letzten Winter neben ihrem Vogelhaus gefunden hatte … ein Ding des Mitleids, unbekannt und unbetrauert. Sie war so weit gekommen, und kein noch so verführerisch weiches Schneetreiben würde sie in den ewigen Schlaf lullen.

„Auf keinen Fall.“ Ihre Stimme war nichts weiter als ein Raspeln gegen das Brausen des Windes. Sie spannte ihre Kräfte an und stolperte auf die Füße. „Auf keinen Fall wirst du hierbleiben, Jenna, altes Mädchen. Du hast viel zu viel zu tun.“

Einen Schritt vorwärts. Und noch einen. Das schwache Licht der Taschenlampe zeigte ihr an, dass sie sich auf dem Feldweg befand, aber sie wusste nicht, ob sie sich in die falsche Richtung bewegte. Doch sie zwang sich, weiterzugehen. Es wäre zu einfach, sich in die nächste Schneekuhle zu legen und sich der Illusion des inneren Friedens und der Sicherheit hinzugeben. Es wäre zu leicht, die Augen zu schließen und vom eisigen Sturm all die inneren Kämpfe, die Schwierigkeiten und den Schmerz hinwegfegen zu lassen.

Jenna lehnte es ab, sich dem Zweifel auszusetzen. Die Situation war nicht hoffnungslos. Solange sie einen Fuß vor den anderen setzte, machte sie Fortschritte. Wie weit konnte es noch bis zur Hütte sein? Ganz sicher hatte sie mittlerweile die zwei Meilen zurückgelegt. Vielleicht lag die Hütte hinter der nächsten Biegung. Jenna hob den Kopf und blinzelte gegen das Schneegestöber.

„Also“, murmelte sie. „Nur noch wenige Meter, und du bist fein raus. Denke positiv.“

Na sicher, positiv. Ein dampfender Becher mit heißer Schokolade und einem Sahnehäubchen obenauf. Und ein prasselndes Kaminfeuer, das die Eiskristalle von ihren Gelenken wegschmolz. Und in warme, weiche Wolldecken gehüllt, die sie vergessen ließen, wie schrecklich kalt es sein konnte. Und sanfte Musik, etwas Leichtes und Luftiges, das sie an die Versprechen des Frühlings erinnerte.

Die besänftigenden Fantasiegebilde zerplatzten wie Seifenblasen. Nein, nicht Frühling. Bis dahin waren es noch mehr als drei Monate, und sie hatte bereits zu lange gewartet. Sie musste die Hütte erreichen. Sie musste Damien Reese finden und ihn dazu bringen, ihr zu helfen. Der Privatdetektiv hatte gekündigt. Die Polizei gab auf. Jeder Tag, der verging, war ein Tag zu viel.

Sie fühlte Entschlossenheit in sich aufsteigen. Jenna Lawrence würde nicht aufgeben. Nicht diesmal. Zu viel stand auf dem Spiel, und sie würde es nicht zulassen, das irgend so ein erbärmliches Wetter ihr Vorhaben durchkreuzte. Sie stemmte sich mit den Schultern gegen den Wind und schleppte sich weiter.

Zwölf Minuten später erlosch das spärliche Licht der Taschenlampe. Jeder Schritt, den Jenna tat, wurde zur quälenden Geduldsprobe. Es kann nicht mehr weit sein, sagte sie sich. Noch die nächste Biegung, und sie war da.

Der Schnee traf ihr Gesicht ohne Vorwarnung, brannte in ihren Augen, verstopfte die Nasenlöcher. Jenna brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sie gefallen war. Sie rollte sich auf den Rücken und schnappte nach Luft. Sie musste aufstehen. Sie versuchte es, aber ihre Arme versanken bis zu den Ellbogen im Schnee. Sie wollte die Füße unter sich ziehen, aber ihre Beine bewegten sich nicht.

Sie hob den Kopf und spuckte den Schnee aus. In dem unheimlichen Lichtschein, der durch die Wolken sickerte, waren die Bäume schwarze Schatten, wie wartende Trauernde am Totenbett. Und zum ersten Mal, seit sie Minneapolis verlassen hatte, um sich auf diese verrückte, verzweifelte Mission zu begeben, hatte Jenna wirklich Angst. So konnte es doch nicht enden?

„Nein.“ Kaum erkannte sie die schwache, zitternde Stimme als ihre eigene. Sie sammelte die letzten Reserven ihrer Kraft, füllte die Lungen mit der eiskalten Luft und schrie trotzig in die Dunkelheit. „Nein!“

Das Echo war gedämpft, verzerrt, sodass es tiefer klang. Und anders. Es konnte eine Sinnestäuschung gewesen sein, von dem brausenden Wind verursacht, aber eine Sekunde lang schien es Jenna, als hätte sie eine andere Stimme gehört.

Jenna blinzelte gegen die treibenden Schneeflocken und sah ein Licht hinter den Bäumen aufflackern.

„He!“, krächzte sie. „Hier!“

Das Licht bewegte sich an ihr vorbei, ein wirbelnder heller Strahl, der sich den Weg durch den Sturm bahnte. Innerhalb von Sekunden war er erloschen.

Allein die Hoffnung, dass jemand in dieser eisigen Hölle draußen sein konnte, gab ihr die Kraft, auf die Knie zu kommen und aus der Schneekuhle herauszukriechen. „He! He, ich bin hier.“

Das Licht war wieder da, zunächst stecknadelkopfgroß. Es schwang von einer Seite zur anderen und wuchs mit jeder Sekunde, mit der es sich auf Jenna zubewegte.

„Hallo!“ Die Stimme war stark und tief und männlich. Und es war der schönste Klang, den Jenna jemals vernommen hatte. „Können Sie mich hören?“

Einen Augenblick lang presste Jenna die Lippen fest zusammen, um vor Erschöpfung und Erleichterung nicht in Tränen auszubrechen. „Ja“, brachte sie heraus. „Ich bin hier.“

Eine große Gestalt trat aus der Dunkelheit, kurz bevor ein starker Lichtstrahl Jenna blendete.

Sie hielt den Arm vor die Augen. „Dem Himmel sei Dank“, sagte sie. „Danke, danke, danke.“

„Können Sie gehen?“ Die schroffe Frage unterbrach ihr sinnloses Stammeln.

Sie richtete den Blick auf den Mann, der vor ihr stand. Er war von imposanter Gestalt, wie ein Phantom, das plötzlich feste Form angenommen hatte. Eine Kapuze war tief ins Gesicht gezogen. Ein übergroßer Parka ließ ihn riesig erscheinen. Er trug kniehohe Stiefel und Schneeschuhe, die verhinderten, dass er im Schnee einsank. Phantom oder Mann, es war Jenna gleichgültig. Er war ihre einzige Chance, dem Schneesturm zu entkommen. Sie umfasste mit beiden Händen sein Bein, während sie versuchte, sich aufzurichten. Konnte sie gehen? Sie konnte ihre Füße nicht fühlen, und ihre Knie schienen sich aufgelöst zu haben. „Ich weiß es nicht.“

Er legte die Taschenlampe auf den Schnee und beugte sich vor, um Jenna unter die Arme zu greifen. Rau zog er sie hoch. „Versuchen Sie es.“

In dem Moment, wo er sie losließ, gaben die Beine unter ihr nach. Mit einem unterdrückten Stöhnen fiel sie in die Kuhle zurück. „Geben Sie mir eine Minute“, bat sie. „Ich versuche es gleich wieder.“

„Sind Sie verletzt?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann nichts fühlen.“

„Keine gebrochenen Knochen?“

„Nein. Jedenfalls glaube ich es nicht.“ Sie streckte ihr Kinn vor und schob sich auf die Seite. „Ich bin so weit gekommen …“

Mit einem Fluch kniete er sich vor sie hin und zog sie mit einem Ruck in die sitzende Lage. Ehe sie wusste, was er vorhatte, duckte er den Kopf und drehte sich so, dass er sich Jenna quer über die Schultern legen konnte.

„He, was …“

„Kein Wort“, befahl er. Während er ihr linkes Bein und den linken Arm mit einer Hand vor seiner Brust umfasste, ergriff er mit der freien Hand die Taschenlampe und kam mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Füße.

Ihr Kopf schlug gegen seine Schulter, und ihre vom Frost aufgesprungene Wange rieb mit jedem Schritt, den der Mann tat, schmerzhaft gegen den rauen Stoff seines Parkas. Jenna wurde schwindlig, aber sie war weit davon entfernt, zu protestieren. „Danke“, keuchte sie.

Er knurrte nur.

Benommen wunderte Jenna sich, wohin er sie brachte. Nun, jeder Ort war besser als die Schneekuhle. Ihr Retter bewegte sich leicht auf seinen Schneeschuhen, trotz der Bürde, die sie ihm sein musste. Zweifellos ging er dorthin zurück, woher er gekommen war.

Und es gab im Umkreis von zehn Meilen nur einen Ort.

So viel konnte Jenna in ihrem erschöpften Zustand erkennen. Sie hatte sein Gesicht nicht sehen können, aber zweifellos war er es. Damien Reese. Sie war hierhergekommen, um ihn zu finden, um ihn dazu zu bringen, ihr zu helfen. Wenn auch nicht auf diese Weise. Das hatte sie nicht eingeplant. Sie hatte vorgehabt, die Hütte gegen Mittag zu erreichen. Dann hätte sie ihm ihren Fall vorgetragen, wie sie es eingeübt hatte. Und sobald er ihr seine Hilfe zugesagt hätte, wäre sie in das Motel in Hemlock zurückgekehrt, so gegen sechs Uhr abends, gerade rechtzeitig zum Dinner.

Sie schloss die Augen vor der schwindelerregenden Sicht von unter ihr sich rhythmisch bewegenden Schneestiefeln. Sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie sie die Aufgabe am besten lösen könnte.

Aber dann musste ihre sonst unbezähmbare Willensstärke sich ergeben. Ihre Kräfte schwanden. Jenna wurde bewusstlos.

Damien hatte kaum den Fuß auf die überdachte Veranda gesetzt, als der Sturm sich legte. Der Schnee fiel in großen dichten Flocken und bedeckte die Spur, die Damien hinterlassen hatte. Er fluchte leise, als die Frau sich bewegte. Obwohl sie leichter war, als sie ihm in der Daunenjacke zuerst erschienen war, hatte er sie immerhin über eine Meile durch den Sturm getragen, und er fing an, jedes Pfund ihres geringen Gewichtes zu spüren. Er umfasste ihr Bein und ihren Arm fester, damit sie ihm nicht von den Schultern rutschte, und manövrierte sich durch die Tür in die Hütte. Mit dem Absatz schlug er die Tür hinter sich zu.

Das Geräusch hatte Smoke geweckt. Der Wolf hob den Kopf und schnupperte. Sein schwarzes Nackenfell stellte sich auf, während ein tiefes Knurren aus seiner Kehle drang.

„Sei ruhig, Junge“, sagte Damien. Er ging zur Couch und ließ die Frau auf die Kissen gleiten, dann entledigte er sich der Stiefel, des dicken Schals und des Parkas. Die Buchenscheite, die er ins Feuer gelegt hatte, bevor er die Hütte verließ, hatten den Raum genug erwärmt, dass die Fenster beschlugen.

Die Frau rollte sich auf die Seite und fing an zu zittern.

„He, Lady.“ Er beugte sich über sie und schüttelte sie leicht an den Schultern. „Können Sie mich hören?“

Sie stöhnte und zog die Knie bis zur Brust hoch. Sie musste entweder unglaublich dickköpfig oder unglaublich mutig sein, um in dem Sturm so weit zu kommen.

Damien unterdrückte eine Regung der Bewunderung für die Entschlossenheit dieser Fremden. Er kannte sie nicht, und er wollte sie nicht kennen. Sobald es aufgehört hatte zu schneien, würde er sie dorthin zurückschicken, woher sie gekommen war. Aber um das zu tun, musste er sie so schnell wie möglich warm bekommen.

Er hatte Mühe, ihr die Stiefel von den Füßen zu ziehen, wahrscheinlich wegen der dicken Socken, die die Frau trug. Dann öffnete er den Reißverschluss ihrer neonrosa Daunenjacke. Eine abscheuliche Farbe, wie Damien fand. Als er ihr die eisverkrustete Kapuze vom Kopf zog, fiel eine Flut von langem blonden Haar auf das Kissen und legte sich wie ein Fächer um ihr Gesicht. Eine seidenweiche Locke strich über sein Handgelenk. Seine Hand zuckte zurück, als ob er sich verbrannt hätte.

Er durfte sie nicht berühren. Nach dem, was in dieser Nacht geschehen war, wollte er nicht riskieren, irgendetwas auszulösen.

Es ist ihre Schuld.

Sie hatte ihn gerufen. Sie hatte den Albtraum wiedererweckt. Und nun würde alles von vorne beginnen.

Wenn er sie nur nicht gehört hätte, wenn er nur nicht hinausgegangen wäre, um nachzuschauen …

Allmächtiger, was dachte er da? Hatte das Alleinsein ihn seiner Menschlichkeit beraubt? Wenn er nicht hinausgegangen wäre, um nachzusehen, wäre sie gestorben.

Sein Blick wanderte über ihren Körper. Ihr Pullover schien trocken zu sein, aber ihre Jeans waren stellenweise feucht. Vorsichtig, dass seine Finger nicht mit ihrer Haut in Kontakt kamen, öffnete er den Knopf am Bund ihrer Jeans und zog den Reißverschluss herunter. Dann zog er ihr die Jeans aus. Er hatte kaum einen Blick für die pfirsichfarbene Spitze und die blassen Kurven, ehe die Frau sich wieder auf die Seite rollte und die Knie anzog. Mit dem dicken Quilt seiner Großmutter deckte er sie zu. Sobald sie wach war, würde er ihr etwas Heißes zu trinken geben, aber in der Zwischenzeit gab es nichts mehr, was er für sie tun könnte.

Smoke knurrte. Damien drehte sich zu ihm um. „Das ist genug, Smoke.“

Gelbe Raubtieraugen blickten zu ihm hoch in einem kurzen Ringen um Überlegenheit.

„Ich muss mich um sie kümmern“, sagte Damien mehr zu sich selbst als zu dem Tier. „Ich habe keine Wahl.“

Nach noch einem Knurren, um sein Gesicht zu wahren, entspannte sich das Tier und legte sich wieder auf den Vorleger. Damien kraulte kurz das Fell hinter Smokes Ohren. Der Wolf war an Besucher nicht gewöhnt. Es war nur natürlich, dass das Tier auf einen Fremden feindselig reagierte.

Die Gründe für seine eigene Feindseligkeit waren komplexer.

Wärme. Das war etwas, woran Jenna keinen Gedanken verschwendet hatte, wie an die Luft zum Atmen. Sie würde die Wärme niemals wieder als selbstverständlich hinnehmen. Sie lag auf etwas Weichem. Und sie war umgeben von Wärme, wunderbarer, gesegneter Wärme. Sie atmete den Geruch von verbrannten Scheiten ein, und sie hörte das Knistern eines Feuers in ihrer Nähe. Andere Geräusche erreichten sie … Das Knarren der Bäume im Wind, das gedämpft von draußen hereindrang, das Ticken einer Uhr, das Wispern von Schneeflocken, die gegen die Fensterscheibe schlugen. Geräusche einer geschützten Unterkunft, der Sicherheit.

Die Zeit hatte keine Bedeutung, während sie still dalag und sich einfach dem Luxus der gedankenlosen Behaglichkeit hingab. Minuten, vielleicht Stunden später öffnete sie endlich die Augen. Orangefarbene Lichter tanzten über die rauen Balken an der Decke. Der Widerschein eines Kamins. Sie betrachtete das vom Alter gedunkelte Holz. Die Balken endeten im Winkel an Wänden aus viereckigen Stämmen. Stämme. Eine Hütte. Sie war in einer Holzhütte. Sie war während des Sturms hierher gebracht worden. Jenna veränderte ihre Lage und stöhnte. Mit dem Wiedererlangen der Besinnung kamen die Schmerzen.

„Sie sind also wach.“

Jenna erkannte die Stimme. Es war derselbe tiefe, mürrische Tonfall, der im Sturm so himmlisch geklungen hatte. Es war die Stimme ihres Retters. Die Stimme von Damien. Die Stimme des Mannes, zu dem sie sich auf den Weg gemacht hatte. Sie war plötzlich hellwach. Damien. Er musste ihr helfen. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und suchte ihn mit den Augen.

Verdammt. Darauf hätte sie vorbereitet sein müssen. Sie hatte sein Foto gesehen. Sie hatte gewusst, wie er aussah. Aber kein Bild hätte den Mann, wie er in Wirklichkeit war, einfangen können.

„Sie sind in meiner Hütte“, sagte er kurz angebunden. „Ich habe Sie hierher gebracht, damit Sie sich aufwärmen können.“

Jenna versuchte zu nicken, aber sie konnte ihn nur anstarren. Gut aussehend? Das Wort war bei weitem nicht treffend. Es war treffend gewesen bei dem fünf Jahre alten Foto, das sie so genau betrachtet hatte. Das Hochglanzfoto hatte sein wie gemeißeltes Gesicht gezeigt, die Adlernase, die durchdringend dreinblickenden blauen Augen, all die Merkmale eines Mannes von fast klassisch maskuliner Schönheit. Aber das war vor fünf Jahren gewesen. Und Damien Reese hatte sich verändert.

Seine Gesichtszüge waren scharf geworden. Von der Nase zu den Mundwinkeln zog sich je eine tiefe Linie, und Fältchen, die nicht vom Lächeln stammten, hatten sich in den Augenwinkeln gebildet. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, und das schwarze Haar, das er einstmals modisch gestylt getragen hatte, reichte bis auf die Schultern.

Seine klassische Schönheit mochte er verloren haben. Aber er hatte eine Aura von … Kraft um sich. Gezügelte Kraft, beherrschte Leidenschaft. Etwas Primitives ging von ihm aus, das Jenna auf einer Ebene berührte, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Er wirkte hart, hungrig. Gefährlich.

Faszinierend.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er. Das Licht des Kaminfeuers überzog seine Haut mit einem bronzefarbenen Glanz, ließ sein Gesicht noch hohlwangiger erscheinen. Er saß rittlings auf einem Holzstuhl neben der Couch, die Arme auf die Lehne gelegt, und beobachtete sie. Seine eisblauen Augen verrieten nicht, was er dachte. Auch nicht der Anflug eines Gefühls war in ihnen oder in seinen strengen Zügen zu erkennen.

Jenna wollte antworten, aber sie brachte nur ein Krächzen hervor. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie beim Schlucken merkte, wie wund ihre Kehle war.

Damien erhob sich geschmeidig vom Stuhl und ging zur anderen Seite des Raums. Jenna blickte ihm nach. Sie sah, wie er einen kleinen Topf vom Herd nahm und etwas in einen dickbäuchigen Becher goss. Seine Bewegungen waren von der kontrollierten Anmut eines Athleten oder eines Tänzers, was den Eindruck von gezähmter Kraft noch verstärkte. Er kam mit dem dampfenden Becher zu ihr zurück. „Hier, trinken Sie das.“

Jenna versuchte, sich aufzurichten. Zu ihrem Entsetzen konnte sie sich kaum bewegen. „Tut mir leid“, flüsterte sie.

Einen Moment lang stand er bewegungslos neben der Couch. Etwas flackerte in seinen eisblauen Augen auf. Ärger? Hass. Es war so schnell vorbei, dass Jenna sich fragte, ob sie auch richtig gesehen habe. Er kniete sich vor die Couch und brachte den Rand des Bechers an ihre Lippen. „Nehmen Sie zuerst einen kleinen Schluck. Es ist heißer Apfelsaft mit Honig. Es sollte Ihre Kehle wieder geschmeidig machen.“

Folgsam nahm Jenna einen Schluck. Der warme Apfelsaft tat ihr gut, der Honig kitzelte in der Kehle. „Danke.“

Er hielt ihr wieder den Becher an die Lippen und half ihr, den Saft zu trinken. Dann erhob er sich und trat einen Schritt zurück.

Tief aus ihrer Brust löste sich ein Husten. Sie wartete, bis der Anfall vorüber war, ehe sie sprach. „Es tut mir …“ Sie atmete tief ein und versuchte es noch einmal. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Mühe mache.“

Er antwortete nicht darauf. Stattdessen wies er mit dem Becher in seiner Hand auf ihre Füße. „Wie fühlen sich Ihre Zehen an?“

Jenna drehte sich ein wenig zur Seite, und ihr wurde bewusst, dass sie mindestens ein Dutzend Wolldecken auf sich hatte. „Okay, denke ich. Es ist, als ob Stecknadeln in die Haut stechen würden.“

„Dann ist der Kreislauf in Ordnung. Ich habe keine Erfrierungen feststellen können. Ich habe Sie bis auf den Pullover und die Unterwäsche ausgezogen. Ihre Jeans und die Jacke sollten bis zum Morgen trocken sein, sodass ich Sie zurückbringen kann, sobald der Sturm sich ganz gelegt hat. Warum haben Sie Ihren Wagen verlassen?“

„Mein Wagen geriet ins Schleudern und rutschte in einen Straßengra…“ In diesem Augenblick erst wurde ihr klar, was er soeben gesagt hatte. „Meine Jeans?“

„Sie war feucht. Ich hätte Sie sonst nie warm bekommen.“

Jenna bewegte leicht ihr Bein und spürte die nackte Haut an der Quiltdecke. Er hatte ihr die Jeans ausgezogen. Allerdings, wenn sie ihre Lage betrachtete, so wäre es albern, das als peinlich zu empfinden.

Sein Blick war fest auf ihr Gesicht gerichtet. „Ich habe Sie nicht berührt.“

Natürlich hatte er sie nicht berührt. Wie dumm von ihr, an so etwas zu denken. Jenna fühlte sich zutiefst gedemütigt.

„Sobald es hell wird, schaue ich nach Ihrem Wagen“, sagte er. „Ist es ein Geländewagen?“

Sie räusperte sich. „Nein, es ist ein dreitüriger Kombiwagen. Ich habe ihn mir in Hemlock geliehen. Ich bin mit dem Flugzeug von Minneapolis gekommen. Ich wollte so schnell wie möglich hierher …“

„Es könnte sein, dass wir den Wagen stehen lassen müssen, bis die Straße geräumt wird. Ich bringe Sie mit meinem Jeep in die Stadt. Sie sollten morgen wieder so weit sein, um fahren zu können. Bis dahin sollten Sie ruhen und wieder zu Kräften kommen.“

Er wollte sie in die Stadt bringen? Nach allem, was sie durchgemacht hatte, um hierherzukommen? „Oh, ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen, aber …“

„Ist Ihnen warm genug?“

„Ja. Sehr warm.“

Er stellte den Becher auf den Couchtisch. „Gut. Das Badezimmer liegt auf der linken Seite, mein Schlafzimmer auf der rechten. Ich schaue nach Ihnen beim Morgengrauen.“

Damit drehte er sich dem dunklen Bogengang zu. Das geschah so schnell, dass Jenna keine Chance gehabt hatte, ihre fünf Sinne zu sammeln. Der Mann plante bereits, sie loszuwerden. „Warten Sie. Bitte.“

Er blieb stehen, wandte sich ihr aber nicht zu. „Was ist?“

„Wollen Sie nicht wissen, warum ich hier bin?“

Unter seinem schwarzen Pullover versteifte sich sein Rücken. „Nein.“

„Mein Name ist Jenna Lawrence, und ich …“

„Nein.“

Ein Holzscheit fiel funkensprühend und knisternd auseinander. Der Wind war wieder aufgefrischt. Er heulte um das Haus. Es klang wie das Knurren eines Tieres. Jenna schauderte. „Aber …“

„Mir ist es gleichgültig, wer Sie sind. Mir ist es gleichgültig, warum Sie hier sind. Es spielt absolut keine Rolle.“

Autor

Ingrid Weaver
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