Ich will dich - jetzt!

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Die Boutiquebesitzerin Sophie und der Farmer Gary werden als Geschworene an ein Gericht berufen. Noch nie hat Gary so heftig auf eine Frau reagiert wie auf Sophie. Als sie zusammen im Fahrstuhl stecken bleiben will er sie verführen. Doch Sophie möchte seine Liebe auskosten - sie nimmt ihn mit nach Hause …


  • Erscheinungstag 17.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755126
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Gary war sich nicht sicher, ob er wirklich Schritte hörte oder ob es nur Einbildung war.

Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Draußen war es noch dunkel. Obwohl er gerade geduscht hatte, fühlte er sich nicht erfrischt. Widerstrebend hatte er statt seiner üblichen Arbeitskleidung eine formellere Garderobe angezogen. Den Blick in den Spiegel über der Kommode fand er deprimierend. Er schaffte es, mit noch halb geschlossenen Augen die Treppe hinunterzugehen, ohne sich den Hals zu brechen.

Weil er immer noch nicht richtig wach war, gelang es ihm nur unter großen Schwierigkeiten, die Filtertüte in der Kaffeemaschine zu platzieren. Es war schwer zu glauben, dass ein Stück Papier solche Probleme bereiten konnte. Er war müde, er war gereizt, und in allzu naher Zukunft würde er sich die Krawatte, die ihm lose um den Hemdkragen hing, binden müssen. Krawattenknoten waren seine persönliche Heimsuchung.

Der Tag fing nicht gerade vielversprechend an.

Wieder hörte er leise Schritte auf der Treppe. Wahrscheinlich war es einer von den Hunden.

Löffelweise tat er gemahlenen Kaffee in den Filter und verzählte sich, füllte den Kaffee wieder in die Dose und begann, laut zählend, von neuem. Bei fünf Löffeln hörte er auf. Im Haus lebten nur drei Menschen, und als er seinen Sohn Tim das letzte Mal gefragt hatte, ob er eine Tasse Kaffee wollte, hatte dieser nur angewidert das Gesicht verzogen.

Die Schritte waren nun von den unteren Treppenstufen zu hören. Er hoffte, dass es sich um Plato oder Sokrates handelte, denn er war nicht in der Stimmung, mit einem menschlichen Wesen zu sprechen.

Er gab Wasser in die Kaffeemaschine, schaltete sie ein und freute sich über das vertraute, gurgelnde Geräusch. Dann öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Orange aus dem unteren Fach. Er war zwar überhaupt nicht hungrig, aber wenn er nichts aß, würde der Kaffee ihm ein Loch in den Magen brennen.

Die Schritte kamen näher. Es war keiner von den Hunden.

„Hallo, Dad“, flüsterte Tim. „Du bist schon wach?“

Gary wandte sich um und betrachtete seinen Sohn. Der schien über Nacht wieder ein Stück gewachsen zu sein. Dieser Junge wuchs entschieden zu schnell. Er war erst vierzehn und brachte es bereits auf eine Größe von einem Meter fünfundsiebzig. Wenn er Gary nachschlug, würde er mit zwanzig ein Riese sein.

„Nein, eigentlich bin ich nicht wach“, antwortete Gary. „Möchtest du Kaffee?“

„Ja, sicher.“ Tim stolzierte in die Küche. Vor einem Jahr hatte er entschieden, dass er zu alt für Schlafanzüge war. Mit seiner Unterwäsche unter dem weiten Bademantel wirkte er auf rührende Weise liederlich. Sein braunes Haar war zerzaust, aber seine graugrünen Augen wirkten hellwach.

„Du trinkst also neuerdings Kaffee?“

„Das tue ich schon lange.“ Lange war für Tim jeder Zeitraum ab fünfzehn Minuten. „Willst du diese Krawatte wirklich tragen?“

„Ja, das will ich.“ Gary zog eine Grimasse und begann die Orange zu schälen.

Tim nahm eine große Schachtel Cornflakes aus dem Schrank und füllte eine enorme Portion davon in eine Schüssel. „Du musst das tatsächlich machen?“

„Ja, das muss ich.“

„Warum sagst du denen nicht, dass du nicht kannst? Dass hier alles zusammenbricht, wenn du nicht da bist?“

„Erstens wird hier nicht alles zusammenbrechen, denn dein Großvater ist da, um aufzupassen. Um diese Jahreszeit gibt es ja auch nicht besonders viel zu tun. Und zweitens habe ich schon zu oft um Aufschub gebeten.“

„Aber wir spielen heute um vier Uhr gegen Acton.“

„Ich werde da sein“, versprach Gary. Er setzte sich gegenüber von Tim an den alten Eichentisch und schob sich ein Stück Orange in den Mund. „Ich fahre nach Cambridge, sitze den ganzen Vormittag in einem Raum, werde entlassen und bin zum Mittagessen wieder zu Hause.“

„Und woher weißt du, dass sie dich nicht nehmen?“

„Ich habe ein gutes Gefühl.“ Er aß ein weiteres Stück der Orange. „Ich sage nicht, dass dein Baseball-Spiel nicht wichtig wäre, Tim. Aber wenn man in einer Demokratie lebt, hat man nun einmal gewisse Verpflichtungen.“

„Oh, nein, nicht schon wieder dieser Vortrag!“ Tim kreuzte die Zeigefinger und hielt sie sich vor das Gesicht, als wollte er einen Vampir abwehren.

Gary grinste. „Aber es ist ein guter Vortrag.“

„Die ersten hundert Male vielleicht.“

„Na, jedenfalls erfülle ich heute meine Pflicht als Amerikaner …“

Tim begann, die Nationalhymne zu summen. Gary nahm eine Serviette und warf sie nach seinem Sohn. Der duckte sich rechtzeitig unter den Tisch. Für einen Moment studierte er Garys Beine und richtete sich dann wieder auf.

„Du hast Jeans an.“

„Es sind meine besten.“

„Du trägst Jeans mit einer Krawatte?“

„Hast du ein Problem damit?“

„Ich nicht, aber vielleicht diese Demokratie. Willst du denn keinen guten Eindruck machen?“

„Wenn ich einen zu guten Eindruck mache, nehmen sie mich als Geschworenen, und ich werde dein Spiel verpassen.“

„Oh, dann sollten wir deine Hosen noch ein bisschen verwüsten. Du könntest über den Komposthaufen gehen.“

„Du bist ein kluger Junge.“

„Klug ist, wer Kluges tut“, erwiderte Tim.

Diese Bemerkung machte für Gary keinen Sinn. Allerdings machte für ihn um diese unchristliche Uhrzeit nichts einen Sinn. Natürlich sollten Landwirte daran gewöhnt sein, den Tag mit dem Sonnenaufgang zu beginnen. Aber gewisse Begleiterscheinungen des Landlebens bereiteten Gary Schwierigkeiten, obwohl er auf der Farm aufgewachsen war, sie seit seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr führte und ein profitables Unternehmen aus ihr gemacht hatte. Es gab keine Overalls in seinem Kleiderschrank und keine Hähne, die ihn morgens weckten. Auch Subventionen aus Washington hatte er nie beantragt.

„Hör mal, Kumpel, ich würde liebend gerne weiter hier sitzen und zusehen, wie du die ganze Schüssel Cornflakes auf einmal verschlingst. Aber ich muss um acht Uhr in Cambridge sein und mich durch den Berufsverkehr quälen.“ Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich.

„Was passiert, wenn du zu spät kommst?“

„Sie sperren mich für einen Monat ein. Dasselbe wird mit dir passieren.“

„Sei doch mal ernst, Dad.“

„Ich bin so ernst, wie ich es um diese Uhrzeit sein kann.“

Plato und Sokrates kamen in die Küche getrottet. Die beiden Labrador Retriever waren ebenso groß wie dumm, hatten aber so freundliche Gemüter, dass Gary ihnen vieles verzeihen konnte.

„Ich muss gehen“, sagte er und strich Plato über den Nacken. „Füttere die Hunde, weck deinen Großvater, falls er den Wecker nicht hört, und verpass den Bus nicht.“

„Ja.“

„Und gib ihnen Wasser in die Näpfe. Großvater vergisst das immer.“

„Er vergisst es nicht. Er hasst die Hunde. Er will, dass sie verdursten. Er sagt, es ist ein langsamer, qualvoller Tod.“

Gary brach in Gelächter aus, und Tim stimmte ein. Er sah seinem Vater sehr ähnlich, das braune Haar, die graugrünen Augen und die leicht gebräunte Haut. Aber manchmal, wie in diesem Moment in Zwielicht des hereinbrechenden Tages, erblickte Gary Meg in seinem Sohn. Tims Mund, seine sanft gerundeten Wangen – Gary konnte es nicht genau sagen. Es war ein wenig unheimlich.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg.“

„Amüsiere dich gut.“

„Ich sehe dich beim Spiel.“

„Hoffentlich.“

Auf seinem Weg zur Küchentür versetzte Gary seinem Sohn einen leichten Schlag auf die Schulter. Das war alles an körperlicher Zuwendung, was ihm Tim, seit er sich zu den Erwachsenen zählte, gestattete.

Im Flur nahm er seine Schlüssel von einem Tischchen und benutzte den Spiegel darüber, um sich die Krawatte zu binden. Er schluckte mehrere Male, um sicherzugehen, dass der Knoten ihm nicht auf die Luftröhre drückte. In der Gerichtsbroschüre war die Bedeutung seriöser Kleidung, dem Ernst der Situation angemessen, unglücklicherweise eindeutig betont worden.

Nun, es war eine ernste Situation. Und Gary war ein guter Staatsbürger. Aber er war auch Rebell genug, um Jeans zu tragen.

Missmutig wandte er sich von seinem Spiegelbild ab und trat hinaus in den kühlen Frühlingsmorgen.

Sophie musterte sich in dem Spiegel an der Kleiderschranktür. Sie trug ein taubenblaues Kostüm mit strengen Linien, gepolsterten Schultern und einem Rock, der über die Knie reichte. Sie fühlte sich darin ein wenig wie eine Gefängnisaufseherin.

Sie hatte das Kostüm für den Tag gekauft, an dem Mitchell sie seinen Eltern vorgestellt hatte.

Für eine Jury geradezu perfekt, dachte sie und wandte sich vom Spiegel ab. Unwillig blickte sie auf die drei Kleider, die sie anprobiert und aufs Bett geworfen hatte, und die Strumpfhose, die halb im Papierkorb gelandet war. Am Boden befanden sich außerdem fünf paar Schuhe, und der Inhalt ihrer braunen Handtasche war auf der Frisierkommode verteilt. Auf der stand auch noch ein offenes Nagellackfläschchen, mit dem sie die Laufmasche in den Strumpfhosen repariert hatte. Der Raum war erfüllt von dem beißenden Geruch nach Azeton.

„Ich will das nicht machen“, sagte Sophie laut.

Sie wollte die Unordnung nicht beseitigen. Sie wollte dieses schreckliche Kostüm nicht tragen. Und sie wollte den Vormittag nicht im Geschworenenraum des Gerichtsgebäudes verschwenden.

„Geh hin und bring es hinter dich“, hatte Lynn sie gedrängt. „Ich bin letztes Jahr vorgeladen worden. Du sitzt herum und tust bis mittags gar nichts, und anschließend schicken sie dich nach Hause. Für die nächsten drei Jahre bist du dann nicht mehr auf der Computerliste. Nimm ein Buch mit und bilde dir ein, du seist am Strand.“

Sophie betrachtete den Stapel Taschenbücher auf ihrem Nachttisch. Gestern Abend hatte sie auf dem Heimweg vom Geschäft in einer Buchhandlung haltgemacht. Mit ein paar Bestsellern wollte sie sich selbst für die Tortur des Geschworenenamtes belohnen. Aber an diesem Morgen hatte sie die Bücher durchgesehen und festgestellt, dass keines passend war.

Bei dem Krimi würde man denken, sie interessiere sich für Strafverfolgung, und sie in die Jury berufen. Durch den Science-fiction-Roman könnte man sie für versponnen halten. Die Liebesgeschichte hatte sehr wahrscheinlich erotische Passagen, und sie konnte sich nicht vorstellen, Liebesszenen inmitten von künftigen Geschworenen zu lesen.

Zwanzig Dollar für Bücher, und sie hatte nichts zu lesen.

„Ich will das wirklich nicht machen“, murmelte sie und schlüpfte in ihre marineblauen Pumps. Dann kletterte sie auf einen Stuhl, um die passende Handtasche aus dem oberen Fach im Schrank zu holen. Weder für ihr erstes Vorstellungsgespräch noch für die Eröffnung ihres Geschäftes oder die Silberhochzeit ihrer Eltern hatte sie solchen Aufwand betrieben, um sich zurechtzumachen. Das einzige Mal, an das sie sich erinnerte, war die sehr gründliche Vorbereitung auf das erste Treffen mit Mitchells Eltern gewesen.

Und was war dabei herausgekommen?

„Ich will es wirklich nicht“, seufzte sie und strich sich die blonde Lockenmähne aus dem Gesicht. Sie bändigte einige widerspenstige Strähnen mit geschickt platzierten Haarspangen. „Ich will nicht, will nicht, will nicht“, wiederholte sie, griff nach dem Telefon und wählte Lynns Nummer. „Ich gehe jetzt“, brummte sie düster in den Hörer.

„Gutes Mädchen. Mach dir keine Sorgen. Ich werde den Laden pünktlich öffnen.“

„Ich bin gegen ein Uhr da. Ich will noch kurz nach Hause, um mir etwas Bequemeres anzuziehen. Du hast doch gesagt, dass sie mich mittags entlassen, nicht wahr?“

„Es sei denn, du wirst in die Jury gewählt.“

„Es gibt doch Möglichkeiten, das zu vermeiden, oder? Ich werden ihnen erzählen, dass mein Geschäft ohne mich zusammenbricht …“

„Das wird es nicht“, erwiderte Lynn.

„Und meine Angestellten werden plötzlich arbeitslos sein.“

„Wir sind zwei bedauernswerte Geschöpfe.“

„Vielleicht kann ich als dumme Blondine auftreten.“

„Dann wirst du dich vor schmachtenden Anwälten nicht retten können. Das solltest du nicht riskieren.“

Sophie seufzte. „Du hast recht. Ich schätze, ich muss da durch.“

„Ertrage es mit einem Lächeln.“

„Ich werde es ertragen, aber ich werde auf keinen Fall lächeln.“

Sie schaute sich um und entschied, dass sie tatsächlich nicht lächeln würde. Um in diesen Raum zu gelangen, den sie eigentlich überhaupt nicht betreten wollte, hatte sie nicht nur ein- oder zweimal, nein, genau dreimal Schlange stehen müssen. Es war unglaublich.

Zuerst war da der Metalldetektor am Haupteingang des Gerichtsgebäudes gewesen, den sie passieren musste. Dort war auch ihre Handtasche nach Waffen durchsucht worden. Dann bei den Fahrstühlen – nur einer von sechs schien in Betrieb zu sein – und schließlich am Eingang zum Geschworenenzimmer, wo ihr eine Karte ausgehändigt worden war, die sie davon in Kenntnis setzte, dass sie Geschworene Nummer eins, Liste fünf, sei.

Die Leuchtröhren an der Decke flackerten. Der Linoleumboden war abgewetzt von unzähligen Geschworenen, die ihn zuvor beschritten hatten. Die Wände waren mit einer undefinierbaren Farbe gestrichen, die Fenster gewährten einen Ausblick auf eine von Cambridges weniger malerischen Wohngegenden, und die Tische und Stühle waren vermutlich die Spende einer staatlichen High-School, die ihre Cafeteria neu eingerichtet hatte.

Sophie war sehr dafür, eine gute Staatsbürgerin zu sein. Aber sie hatte nicht erwartet, es an einem derartig öden Ort sein zu müssen.

Wenigstens hatte sie einen Stuhl ergattert. Der Raum war überfüllt. Offensichtlich beabsichtigte Middlesex County, an diesem Tag ein Dutzend Gerichtsverfahren zu beginnen. Sophie ließ diesen Gedanken jedoch fallen, als sie sich ins Gedächtnis rief, dass viele der Anwesenden einfach wieder nach Hause geschickt werden würden.

Lieber Gott, betete sie stumm, lass mich eine von denen sein, die entlassen werden.

Sie versuchte, das Stimmengemurmel und die abgestandene Luft, die im Raum hing, so gut es ging zu ignorieren, und schlug ihr Buch auf. Sie hatte sich einen populären Roman über eine Gruppe verbitterter geschiedener Frauen ausgesucht. Es war erst zehn Minuten nach acht. Wenn sie Glück hatte, war sie in weniger als vier Stunden erlöst.

Die Leute um sie herum saßen auf den unbequemen Stühlen oder standen, einige gingen umher und verschwanden im Korridor, um eine Zigarette zu rauchen.

Der Gerichtsdiener, der sie in eine Liste eingetragen hatte, wandte sich per Mikrophon an die Menschenmenge: „Willkommen im Gerichtsgebäude von Middlesex. Um acht Uhr dreißig werden wir Ihnen ein Video über die Funktionsweise des Geschworenensystems im Staat Massachusetts zeigen. Danach können Sie nach unten gehen und sich einen Kaffee holen. Ungefähr um neun Uhr beginnen wir damit, die Listen aufzurufen. Bitte halten Sie Ihre Karten bereit. Vielen Dank für Ihre Geduld.“

Sophie war ganz und gar nicht geduldig. Über die Schulter musterte sie den uniformierten Mann, der für ihren Geschmack viel zu fröhlich wirkte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Buch zu. Ihr Blick blieb an einem Mann hängen, der sich ihr gegenüber auf einen Stuhl gesetzt hatte.

Dichtes braunes Haar umrahmte ein kantiges Gesicht mit strahlenden graugrünen Augen, einer kühn vorspringenden Nase, markantem Kinn und einem Mund, auf dem ein leichtes ironisches Lächeln lag, das durch ein einseitiges Grübchen vervollständigt wurde. Ihr kam ein einziges Wort in den Sinn – hinreißend!

Sie wurde sich bewusst, dass sie ihn anstarrte, und senkte die Augen. Er trug einen grauen Blazer, ein blassblaues Hemd und eine scheußliche, braun-grau gemusterte Krawatte. Ein kurzer Blick unter den Tisch sagte ihr, dass seine Garderobe durch Jeans und abgetragene braune Halbschuhe vervollständigt wurde.

„Sind Sie oft hier?“, fragte er.

Seine Stimme war weich und rauchig mit einem heiteren Unterton. Sie war ebenso hinreißend wie der Rest von ihm.

Nun ja, das stimmte nicht ganz. Sein Gesicht war wunderbar. Sein Körper war, soweit sie das sagen konnte, hochgewachsen und athletisch. Die Kleidung war allerdings verbesserungswürdig.

„Ich bemühe mich, es nicht zur Gewohnheit werden zu lassen“, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln.

Er legte eine zusammengefaltete Zeitung auf den Tisch. Es war keine von den beiden großen Bostoner Tageszeitungen, die man für gewöhnlich sah.

„Was ist denn das?“

„Eine Zeitung“, sagte er lakonisch.

„Das sehe ich. Ich habe mich nur gefragt, welche?“

„Die Middlesex News.”

„Davon habe ich noch nie gehört.“

„Wir sind in Middlesex County.“

„Das weiß ich auch. Ich meinte, dass ich von der Zeitung noch nie gehört habe.“ Allmählich fing die Sache an, Sophie peinlich zu werden.

„Da können Sie mal sehen, was man alles lernt, wenn sie einen als Geschworenen drangekriegt haben.“

Sie holte tief Atem. Hier war sie nun und saß dem attraktivsten Mann im Raum, wenn nicht gar in ganz Middlesex County gegenüber, und machte sich lächerlich.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Drangekriegt? Fühlen Sie sich denn drangekriegt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es gibt einige Dinge, die ich jetzt lieber tun würde.“

Sie nickte. „Ich bin selbständig und dachte eigentlich, das wäre eine gute Entschuldigung. Aber sie haben mich nicht vom Haken gelassen. Sie teilten mir mit, ich müsse erscheinen.“

„Wenn man dran ist, ist man dran. Ich wäre der ganzen Sache auch gern entgangen, aber sie haben mir schon zweimal Aufschub gewährt.“

„Zweimal? Ich dachte, es wäre nur ein Aufschub gestattet.“

„Das erste Mal wollten sie mich Ende September, mitten in der Ernte. Das ist für mich die schlimmste Zeit im Jahr. Ich habe um Aufschub gebeten, und sie gaben mir einen neuen Termin in der ersten Januarwoche. Einen Tag, bevor ich hier erscheinen sollte, fiel mein Sohn vom Schlitten und brach sich den Arm. Ich musste ein ärztliches Attest einreichen, damit sie mich nicht verpflichteten. Wenn ich heute nicht gekommen wäre, hätten sie vermutlich die Polizei nach mir ausgeschickt.“

Diese Flut von Informationen musste Sophie erst einmal verarbeiten. Die wichtigste Tatsache schien ihr, dass der einen Sohn hatte. Er war ein Familienvater. Sie musste sofort aufhören, darüber nachzudenken, wie verführerisch seine Augen waren.

„Sie sind Landwirt?“ Sie war noch nicht bereit, ihn sagen zu hören, dass er verheiratet wäre.

„Ich habe eine Apfelplantage. Auf ungefähr zwölf Hektar bauen wir Mais an und außerdem noch ein paar andere Getreidearten.“

Verstohlen schaute sie auf seine linke Hand. Er trug keinen Ehering. Aber er hatte wir gesagt. Es musste also eine Frau geben. „Und Sie haben einen Sohn?“

„Ja, augenblicklich sogar mit völlig intakten Knochen.“

Sie wusste, dass sie nach seiner Frau fragen sollte, aber sie wollte das Unvermeidliche gern noch etwas aufschieben. Dieser Vormittag würde sich bei weitem angenehmer gestalten, wenn sie sich mit einem harmlosen Flirt ablenken konnte. „Ich wusste gar nicht, dass es in Middlesex Farmen gibt.“

„Farmen, Zeitungen – da draußen ist eine große, weite Welt“, scherzte er. Seine Augen blitzten, und auf seiner linken Wange erschien das Grübchen. Sophie beneidete seine Frau, die dieses Grübchen jeden Tag betrachten konnte.

Der uniformierte Gerichtsdiener verlangte, dass alle Anwesenden sich in den Nebenraum begaben, um das Video anzusehen. Der Farmer stand auf, aber anstatt sich den Leuten anzuschließen, die sich zu dem angewiesenen Raum drängten, wartete er zuvorkommend, bis Sophie sich erhob. Mit einer Geste geleitete er sie zur Tür und blieb an ihrer Seite.

Er hat einen Sohn, rief sie sich ins Gedächtnis, er ist nur höflich.

Sie betraten einen Raum, der Sophie an eine Kirche erinnerte. Auf beiden Seiten standen Bänke eng aneinandergereiht. Ein Mittelgang führte zwischen den Bänken hindurch zu einer Art Altar, das war vermutlich der Richtertisch. Vor diesem Tisch, der von zwei Bildschirmen flankiert war, blieb der Gerichtsdiener stehen. „Bitte, meine Herrschaften, setzen Sie sich so eng wie möglich nebeneinander. Es ist ziemlich voll heute Morgen.“

Die künftigen Geschworenen schlüpften in die Bankreihen. Sophie setzte sich, und ihr Begleiter nahm neben ihr Platz. Da immer mehr Menschen auf die Bank drängten, kam er ihr gefährlich nahe. Ihre Oberschenkel berührten sich beinahe, seine Schulter streifte ihre. Sie konnte seinen sauberen, männlichen Duft riechen.

Seine Hände waren auch sauber. Sie hätte erwartet, dass bei einem Landwirt Schmutz unter den Fingernägeln wäre, aber da war nichts zu sehen.

Sie wünschte, er würde nicht so nah bei ihr sitzen. Sie wünschte, sie wäre sich seiner Nähe nicht so deutlich bewusst. Als sich ein Nachzügler auf die Bank quetschte, rückte der Farmer noch näher. Seine Hüfte berührte ihre, und sie spürte die Wärme seines Körpers.

Da ging das Licht aus, und die Videosendung begann. Ein Richter und zwei Rechtsanwälte sprachen über den Unterschied zwischen zivilen und Strafprozessen, über Verfahrensweisen, Beweismaterial, richterliche Anweisungen und den unschätzbaren Dienst, den die Geschworenen leisteten.

Sophie nahm das alles nur mit einem Teil ihres Selbst wahr. Der andere Teil war völlig auf den Mann an ihrer Seite fixiert und beschäftigte sich mit der Länge seiner Beine, seinem Haar, mit seinen Händen, die er auf die Knie gelegt hatte, und mit den Konturen seines markanten Profils. An der ihm zugewandten Körperseite verspürte sie eine stetig zunehmende, prickelnde Wärme. Dieser Mann schien seltsame sinnliche Wellen auszustrahlen.

Er war Landwirt und sie eine echte Großstadtpflanze. Außerdem war er Vater. Dass er keinen Ehering trug, hieß noch lange nicht, dass er nicht verheiratet war. Möglicherweise hatte er seinen Ring abgenommen, als er sich am Morgen die Fingernägel geschrubbt hatte. Möglicherweise lag der Ring jetzt auf dem Bord über dem Waschbecken, und seine Frau schüttelte bei seinem Anblick den Kopf über die Vergesslichkeit ihres Mannes.

Aber warum hatte er Sophie angesprochen? Warum hatte er sie mit so offensichtlichem Interesse angesehen?

Vielleicht hatte er seinen Ehering absichtlich vergessen. Vielleicht war er ein Schürzenjäger, der den Vormittag im Gerichtsgebäude für einen amourösen Streifzug nutzte.

Bei dieser Vorstellung rückte sie unwillkürlich ein wenig von ihm ab und stieß gegen ihre Sitznachbarin auf der anderen Seite, eine stämmige Frau, die sie mit einem bösen Blick bedachte. Sophie lächelte verzeihend und rückte wieder näher an den Farmer. Als ihre Schulter dabei mit seiner kollidierte, hob er seinen Arm und legte ihn hinter ihr auf die Rückenlehne der Bank, um ihr ein wenig mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen.

Für einen kurzen Moment erschien es Sophie nur natürlich, sich zurückzulehnen und in seinen muskulösen Arm zu schmiegen. Sie vertrieb diesen Gedanken und beugte sich entschlossen nach vorn.

Das Video war zu Ende, und der Gerichtsdiener schaltete das Licht wieder an. Sofort begannen die Menschen, von den überfüllten Bänken aufzustehen, um sich gegenseitig Raum zum Atmen zu geben. Sophie wusste, dass auch sie zwischen sich und dem verheirateten Schwerenöter an ihrer Seite Platz schaffen sollte. Aber sie wartete, bis die Bankreihe leer war, bevor sie von ihm abrückte.

Eigentlich war es ja völlig egal, dass er ein verheirateter Schwerenöter war. Denn selbst wenn er ein überaus begehrter Junggeselle wäre, aus diesem zufälligen Treffen im Geschworenenzimmer würde sich ohnehin niemals etwas entwickeln.

Autor

Judith Arnold
Judith Arnold fing mit dem Erzählen von Geschichten an, lange bevor sie schreiben konnte. Sie war vier Jahre alt, als ihre Schwester ihr einen Stift in die Hand drückte und ihr das Alphabet beibrachte. Das war der Beginn, und sie schreibt noch immer. Seit 1983 ihre erste Romance veröffentlicht wurde,...
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