Im Blütenmeer von Rhodos

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Es sind traumhafte Flitterwochen, die Alison mit Nicholas in der Ägäis verbringt. Auf einer Jacht fahren sie nach Rhodos, und bei zärtlichen Küssen unter blühenden Bäumen ist Alison unendlich glücklich. Doch als sie wieder in England sind, hat Alison plötzlich eine Rivalin - ihre eigene Schwester …


  • Erscheinungstag 30.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757809
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Was macht denn dieser Mann hier?“, flüsterte Mrs. Mortimer. Hoffentlich hat niemand Mutters Worte verstanden, dachte Alison Mortimer beklommen. Die Orgelmusik setzte ein, und Alison blickte verstohlen zur Seite.

Natürlich hatte sie sofort begriffen, wen ihre Mutter meinte. Nicholas Bristow, von vielen auch Nick genannt, stand nur ein paar Schritte von den übrigen Trauergästen entfernt. Er war ein Mann, den man nicht so einfach übersah. Dunkelhaarig, schlank und hoch gewachsen, strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die ihn ziemlich überheblich, dabei aber auch sehr sinnlich wirken ließ.

Seine Anwesenheit hatte Alison seltsam beunruhigt. Verwirrt schrieb sie dieses Gefühl ihrer Überraschung darüber zu, dass Nicholas Bristow hier unverhofft aufgetaucht war.

In der Todesanzeige hatte gestanden, dass die Beerdigung im engsten Familien- und Freundeskreis stattfinden würde. Alison konnte sich nicht vorstellen, dass Nicholas Bristow zu den wichtigsten Geschäftspartnern ihres Vaters gehört hatte. Er hätte also den Hinweis akzeptieren müssen und nicht kommen dürfen.

Alison blickte zu ihrem Onkel hinüber, der tröstend die Hand ihrer Mutter hielt. Mrs. Mortimer weinte still vor sich hin und bemerkte daher nicht den seltsamen Blick, den ihr Bruder Hugh seiner Frau Beth zuwarf.

Aber Alison war die stumme Verständigung zwischen Onkel Hugh und Tante Beth nicht entgangen. In die Trauer um ihren Vater mischte sich das merkwürdige Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Alison hatte nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters vor wenigen Tagen noch keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Ihre Mutter war einem Nervenzusammenbruch nahe und daher unfähig gewesen, sich um die Beerdigung zu kümmern. Wie schon so oft hatte alle Verantwortung in Alisons Händen gelegen. Die Zeit war mit Vorbereitungen für die Begräbnisfeierlichkeiten schnell vergangen. Dennoch hatte Alison den leisen Verdacht, dass Onkel Hugh etwas vor ihr verbarg. Mehr als einmal ertappte sie ihn dabei, wie er seine Schwester mit einem seltsamen Ausdruck betrachtete.

Alison nahm sich vor, ihren Onkel so bald wie möglich nach dem Grund für sein ungewöhnliches Verhalten zu fragen. Noch einmal blickte sie zu ihrer Mutter hinüber, die sich ganz ihrem Schmerz hingab. Unentwegt spielte sie mit dem spitzenbesetzten schwarzen Taschentuch, das sie in der Hand hielt. Soweit Alison sich erinnern konnte, war ihre Mutter nie eine starke Frau gewesen. In all den Jahren ihrer Ehe hatte Catherine Mortimer sich immer auf ihren Mann gestützt. Als Alison alt genug war, musste auch sie erfahren, dass ihre Mutter sich lieber auf andere als auf sich selbst verließ. Zweifelnd fragte Alison sich, ob ihre Mutter ein Leben ohne ihren geliebten Mann überhaupt ertragen würde.

Mrs. Mortimer hatte die gesellschaftliche Stellung, die ihr die Position ihres Mannes verschaffte, immer sehr genossen. Anthony Mortimer war einer der führenden Industriellen des Landkreises gewesen. Es gehörte zu den Lieblingsbeschäftigungen seiner Frau, Dinnerpartys, Gartenfeste und dergleichen zu organisieren, und so war Ladymead, der Wohnsitz der Familie Mortimer, oft voller Gäste. Darüber hinaus übernahm Catherine Mortimer nur zu gern den Vorsitz oder auch eine Ehrenmitgliedschaft bei diesem oder jenem ortsansässigen Verein. Bei alldem beschränkte sie sich jedoch in der Regel streng darauf, nur ihre Pflichten in und vor der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Die Arbeit, die die Vorbereitung ihrer Feste oder Bridgenachmittage erforderte, überließ sie lieber Alison.

Es wird sich nun in Mutters Leben einiges ändern, dachte Alison. Zum Glück wird sie nicht unter Geldmangel leiden müssen. Die Maschinenfabrik, die sich seit Generationen im Besitz der Familie Mortimer befand, war unter Anthony Mortimers Leitung zu einem florierenden Unternehmen geworden. Für Alison war es sehr beruhigend zu wissen, dass ihr Vater sie, ihre Schwester und ihre Mutter wohl versorgt zurückließ. Mutter wird als Witwe zwar etwas zurückgezogener leben, aber sich finanziell nicht einschränken müssen, dachte sie. Wenn erst einmal der größte Schmerz vorbei ist, wird sie wieder beim Bridgespiel mit ihren Freundinnen Ablenkung finden. Da war sich Alison ganz sicher.

Vielleicht wird sie sich sogar etwas mehr um den Haushalt kümmern, hoffte Alison.

Im Grunde genommen wusste sie jedoch, dass ihre Mutter sich kaum für die täglichen Hausfrauenpflichten begeistern würde. Catherine Mortimer hatte sich dafür nie besonders interessiert, sondern diese Arbeiten immer ihrer ausgesprochen tüchtigen Haushälterin überlassen. Als Mrs. Wharton starb, musste Alison ihre Aufgaben übernehmen.

„Mein liebes Kind, wenn du erst einmal deinen eigenen Haushalt zu führen hast, wirst du froh sein, hier bereits Erfahrungen gesammelt zu haben“, hatte Mrs. Mortimer ihrer Tochter erklärt und sich danach zurückgezogen.

Alison hatte zwar nichts dazu gesagt, sich aber auch nicht täuschen lassen. Sie wusste genau, dass ihre Mutter nicht die geringste Lust verspürte, sich mit Haushaltsdingen zu belasten. Melanie, Alisons jüngere Schwester, lebte im Internat, und Mrs. Mortimer weigerte sich nach Mrs. Whartons Tod, wieder eine ‚fremde Person‘, wie sie sich ausdrückte, ins Haus zu nehmen.

Eine Zeit lang hatte Alison mit dem Gedanken gespielt zu studieren, aber ihr Abschlusszeugnis wies keine überdurchschnittlichen Noten auf. Also fügte sie sich wohl oder übel dem Willen ihrer Mutter. In einem Punkt hatte sie sich allerdings durchgesetzt. Sie wollte nicht ausschließlich den Haushalt führen und beschloss daher, eine Arbeit anzunehmen. Alison versprach sich davon mehr Selbstständigkeit, Kontakt mit anderen Menschen und nicht zuletzt eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. So hatte sie sich bei einem Grundstücksmakler im Ort um eine Halbtagsstelle beworben und war auch angenommen worden.

Bald fand sie heraus, dass sie ein sicheres Gespür für den richtigen Umgang mit Kunden besaß. Ihrem Chef, Simon Thwaite, entging dies nicht. Nachdem sie sich auch die nötigen fachlichen Kenntnisse angeeignet hatte, wurde sie für Simon Thwaite nahezu unentbehrlich. Er gewährte ihr eine Gehaltserhöhung und bot ihr sogar an, ganztägig bei ihm zu arbeiten. Leider musste Alison ablehnen. Sie hätte sonst ihren häuslichen Pflichten nicht mehr nachkommen können.

Simon Thwaite, der nicht nur geschäftlich von Alison angetan zu sein schien, lud sie einige Male zum Abendessen ein. Alison nahm diese Einladungen gern an, da Simon ein angenehmer Begleiter und charmanter Unterhalter war. Aber sie machte ihm keine weiteren Hoffnungen. Sie wusste genau, mehr als ein guter Freund würde er ihr nie sein können. Auch die anderen Männer, die sie privat oder durch ihre Arbeit kennengelernt hatte, bedeuteten ihr nichts.

Die Orgelmusik wurde leiser und verklang, und Alison kehrte in die bedrückende Gegenwart zurück.

„Was soll ich nur ohne meinen Anthony tun“, schluchzte Mrs. Mortimer auf der Rückfahrt nach Ladymead. „Ach, wenn ich Hugh nicht hätte, ich wüsste nicht, wie ich das alles überstehen sollte. Am liebsten würde ich mich in meinem Bett verkriechen und niemanden mehr sehen wollen.“

Onkel Hugh versuchte sie zu beruhigen. Mrs. Mortimer wandte sich einem anderen Thema zu.

„Ich hoffe nur, dieser Mr. Bristow ist nicht so unverfroren, sich auch noch zum Essen einzuladen. Meiner Meinung nach ist es schon unverschämt genug, dass er überhaupt zur Beerdigung erschienen ist. Er tut ja gerade so, als gehörte er zur Familie“, nörgelte sie. „Falls er tatsächlich kommen sollte, musst du dich um ihn kümmern, Hugh.“

Ihr Bruder räusperte sich. „Es ist vielleicht klüger, nichts zu übereilen, Catherine“, meinte er bedächtig. „Du darfst nicht vergessen, dass Anthony mit Mr. Bristow recht viele Geschäfte getätigt hat.“

„Wirklich?“ Mrs. Mortimer tupfte ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln. „Anthony hat mit mir selten über die Fabrik gesprochen. Allerdings muss ich gestehen, dass es mich auch nie sonderlich interessiert hat.“ Wieder schluchzte sie auf. „Und ich verstehe nicht, warum Mr. Liddell mir unbedingt Anthonys Testament vorlesen will. Ich weiß doch, was darin steht. Schließlich hat er mir damals, als er es aufsetzte, alles erklärt.“ Sie weinte nun still vor sich hin. „Ach, und ich war sicher, ich würde als Erste …“, stieß sie nach einer Weile hervor. Hugh Bosworth strich ihr über das Haar, wich aber Alisons fragendem Blick aus.

Nachdem sie auf Ladymead angekommen waren, ging Alison sofort in die Küche, um sich davon zu überzeugen, dass das Essen vorbereitet war. Im Esszimmer begutachtete sie noch einmal die Tafel. Es fehlte nichts, und Alison begab sich auf ihr Zimmer. Kaum hatte sie sich ein wenig frisch gemacht, da hörte sie auch schon die ersten Wagen vorfahren. Im Geiste ging sie noch einmal die Gästeliste durch. Außer den engsten Familienangehörigen waren nur noch einige wenige treue Mitarbeiter ihres Vaters geladen.

Alison warf einen letzten Blick in den Spiegel, aus dem ihr ein fein geschnittenes, blasses Gesicht entgegenblickte. Den großen, ausdrucksvollen Augen sah man den Schmerz über den erlittenen Verlust deutlich an. Alison seufzte und stand auf. Die Pflicht rief.

Da fiel ihr Nicholas Bristow wieder ein. Er war vor längerer Zeit einmal zum Abendessen bei den Mortimers gewesen. Allerdings hatte Alisons Mutter ihn nicht in bester Erinnerung. Sie nahm es ihm immer noch übel, dass er sich gleich nach dem Essen zu einer geschäftlichen Besprechung mit ihrem Mann zurückgezogen hatte.

„Ein unmögliches Benehmen“, hatte sie empört festgestellt. „Ein gemeinsames Abendessen ist doch ein geselliges Ereignis. Dein Vater weiß genau, wie sehr ich es hasse, wenn Geschäft und Familienleben miteinander verknüpft werden.“

Alison erinnerte sich daran, dass Nicholas Bristow einen herablassenden und arroganten Eindruck auf sie gemacht hatte. Ihr war es daher nur recht gewesen, dass die beiden Männer sich bald nach dem Essen entschuldigt hatten.

Trotzdem musste sie sich auch heute eingestehen, dass er ein Mann war, der eine starke Anziehungskraft auf Frauen besaß. Er war selbstsicher, sah ausgesprochen gut aus und schien ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Wenn er wollte, konnte er überaus charmant sein, und der Ausdruck seiner stahlblauen Augen wirkte dann sehr erregend. Alison war damals noch ziemlich jung, das mochte der Grund dafür gewesen sein, dass er ihr nur ein paar flüchtige Blicke schenkte. Sie hatte sich jedoch in dem schwierigen Alter befunden, in dem man jede Nichtbeachtung persönlich nimmt, und sich entschlossen, Nicholas Bristow nicht zu mögen.

Aus dem Gesellschaftsteil einiger Zeitungen erfuhr Alison später mehr über Nicholas Bristow. Er wurde dort als ein Mann beschrieben, der außer einem scharfen Verstand auch über das nötige Glück verfüge. Seine Geschäfte waren ausgesprochen erfolgreich. Über sein Privatleben wurde beinahe noch mehr geschrieben als über alles andere. Nicholas Bristow war nicht verheiratet, stand aber in dem Ruf, Frauen so oft zu wechseln wie seine Anzüge. Ein recht zweifelhafter Lebenswandel, fand Alison. Sie schob die Erinnerungen beiseite, als sie seinen Wagen vorfahren sah. Alison nahm sich vor, mit Mr. Bristow zu sprechen, bevor ihre Mutter ihm begegnete.

Rasch ging Alison in die Halle hinunter. Nicholas Bristow übergab gerade Mrs. Horner, einer der Hausangestellten, seinen Mantel.

„Danke, Mrs. Horner“, sagte Alison kühl, als sie auf die beiden zutrat. „Ich werde mich weiter um Mr. Bristow kümmern.“

Bei dem Klang ihrer Stimme wandte Nicholas Bristow sich um und musterte sie eingehend. Alison war gegen ihren Willen wieder von ihm beeindruckt. Es fiel ihr schwer, vor seinem prüfenden Blick nicht die Augen niederzuschlagen.

„Guten Tag, Mr. Bristow“, begrüßte sie ihn mit unbewegter Miene. „Ich nehme nicht an, dass Sie sich an mich erinnern.“

„Aber natürlich erinnere ich mich, Miss Mortimer.“

Alison errötete leicht und hoffte inständig, er würde es nicht bemerken. So ruhig wie möglich sagte sie: „Es ist mir etwas unangenehm, aber mir scheint, es liegt ein Missverständnis Ihrerseits vor. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie meinem Vater am Grab die letzte Ehre erwiesen haben, und ich weiß Ihre Geste selbstverständlich zu schätzen.“ Alison machte eine kurze Pause, um ihre Worte sorgfältig zu wählen. „Es tut mir jedoch leid, Ihnen sagen zu müssen, dass das nun folgende Essen nur für die allernächsten Angehörigen und Freunde bestimmt ist …“

„Und zu denen gehöre ich natürlich nicht“, stellte er gelassen fest. „Das ist mir durchaus bewusst, Miss Mortimer.“

„Sie werden sicher verstehen, dass ich Sie nicht zum Essen bitten kann.“ Alison hob herausfordernd das Kinn. „Die Gesundheit meiner Mutter ist durch den Tod meines Vaters angegriffen, und ich möchte es ihr daher nicht zumuten, sich ungebetenen Gästen gegenüberzusehen.“

„Sie sind auf bewundernswerte Weise um Ihre Frau Mutter besorgt.“ Ein ironisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, verschwand aber sogleich wieder. „Aber das Missverständnis liegt auf Ihrer Seite, Miss Mortimer. Ich bin eingeladen worden, und zwar von Mr. Liddell und auch von Ihrem Onkel, Colonel Bosworth.“

Überrascht blickte Alison ihn an. „Das ist mir unverständlich“, entfuhr es ihr.

„Ich schlage vor, Sie klären die Angelegenheit mit Ihrem Onkel. Um Ihnen entgegenzukommen, werde ich mich außerhalb der Sichtweite Ihrer sehr verehrten Frau Mutter halten, um ihr Aufregungen zu ersparen.“ Er zögerte kurz und fügte noch hinzu: „Ich dränge mich niemandem auf, Miss Mortimer. Das ist nicht mein Stil. Aber ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier.“

„Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht recht folgen kann“, antwortete Alison ruhig. „Ich möchte Sie daher bitten, im Arbeitszimmer meines Vaters auf mich zu warten, bis ich mit meinem Onkel gesprochen habe.“

Alison ging voraus und zeigte Nicholas Bristow den kleinen Raum. Nach dem Tode ihres Vaters waren die dunklen Vorhänge zugezogen und noch nicht wieder geöffnet worden. Alison hatte das Zimmer seit Tagen nicht betreten. Als sie den mächtigen Eichenholzschreibtisch, die holzgetäfelten Wände mit den vielen Bücherregalen sah, schien es ihr, als lebte ihr Vater noch. Sie erwartete fast, er müsse jeden Augenblick hereinkommen und sich hinter den Schreibtisch setzen. Unwillkürlich blieb Alison auf der Schwelle stehen.

Nicholas Bristow warf ihr einen schnellen Blick zu. „Sie werden sicher nichts dagegen haben, dass ich die Vorhänge öffne, oder?“ Ohne jedoch ihre Antwort abzuwarten, zog er den schweren Stoff beiseite, und helles Tageslicht flutete herein.

Inzwischen hatte Alison sich wieder gefasst. „Danke“, sagte sie mit rauer Stimme. „Dort drüben im Wandschrank stehen Whisky und Cognac. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, sich selbst zu bedienen.“

„Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Miss Mortimer“, entgegnete er trocken. Er kam zu ihr herüber und sah sie an. „Ich bedaure es aufrichtig, dass Ihr Vater … nicht mehr am Leben ist“, sagte er schließlich. „Ich mochte ihn.“

„Danke.“ Ihre Stimme klang nun sicherer. „Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich bin bald wieder bei Ihnen.“

Langsam schloss Alison die Tür des Arbeitszimmers hinter sich und lehnte sich einen Moment gegen die Wand. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich über ihrem Kopf etwas zusammenbraute. Die Angelegenheit Nicholas Bristow hätte sie jetzt am liebsten jemand anderem überlassen. Die letzten Tage waren einfach zu viel für sie gewesen. Alison fühlte sich schlicht überfordert, sich jetzt mit diesem unleugbar charmanten und auf beunruhigende Weise faszinierenden Mann auseinanderzusetzen.

Dennoch riss sie sich zusammen und machte sich auf die Suche nach ihrem Onkel. Im Salon traf sie auf ihre jüngere Schwester Melanie.

„Sag mal, wer ist denn dieser aufregende Mann, mit dem ich dich gerade eben noch gesehen habe?“, flüsterte sie Alison zu. „Wo hast du ihn versteckt?“

„Von wem sprichst du überhaupt?“, fragte Alison, aber Melanie ließ sich nicht so leicht abweisen.

„Komm schon, tu doch nicht so, Alison! Groß und schlank, mit Augen wie Paul Newman. Genügt die Beschreibung?“ Melanie zwinkerte Alison zu. „Ich habe ihn gesehen, als er kam.“

„Mich überrascht gar nichts mehr“, seufzte Alison. Sie wunderte sich insgeheim über ihre Schwester, aber Melanie war schon immer ein Mensch gewesen, bei dem Schmerz und Freude einander schnell abwechselten. „Also, sein Name ist Nicholas Bristow, und er scheint ausgerechnet heute aus geschäftlichen Gründen gekommen zu sein.“ Sie legte ihrer Schwester den Arm um die Schulter. „Bist du nun zufrieden? Nun muss ich aber Onkel Hugh suchen“, fügte sie hinzu und verließ Melanie.

Alison traf ihren Onkel in der Halle.

„Hallo, Alison.“ Es klang, als wäre es ihm unangenehm, ihr zu begegnen. „Ist alles in Ordnung? Oder brauchst du noch Hilfe?“

„Nein, danke, Onkel Hugh. Was das Essen betrifft, so werden wir die Gäste in einer Viertelstunde zu Tisch bitten können. Mir liegt aber etwas ganz anderes am Herzen. Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?“

„Aber natürlich, Alison, um was geht es denn?“

„Onkel Hugh, ich möchte wissen, warum ihr Mr. Bristow eingeladen habt. Zumindest behauptet er, du und Mr. Liddell hätten ihm eine Einladung geschickt.“

„Ja, das stimmt. An sich war es Mr. Liddells Idee.“ Er sah Alison nicht an. „Mr. Liddell meinte, diese Geste könnte einige Dinge einfacher machen.“

„Wie meint er das?“ Alison runzelte die Stirn. „Nun sag mir schon, worum es geht.“

Onkel Hugh schwieg eine Weile. „Ich hätte dir die Wahrheit gern erspart“, begann er schließlich. „Aber ich habe auch nicht das Recht dazu, sie dir zu verheimlichen. Wahrscheinlich brauche ich dich sogar dazu, deiner Mutter alles schonend beizubringen.“ Onkel Hugh machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. „Hat dein Vater jemals mit dir über Geld gesprochen?“

Alison schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihn zwar ab und zu danach gefragt, aber immer, wenn das Gespräch auf die Fabrik kam, versicherte er mir, es sei alles in bester Ordnung. Die allgemein schlechte Wirtschaftslage in unserem Land hätte unserer Firma nicht geschadet.“

Onkel Hugh zog sie beiseite. „Leider hat er dir nicht die Wahrheit gesagt“, meinte er leise. „Alison, die Firma hat Verluste gemacht. Noch schlimmer kann es nicht werden. Dein Vater hat in den letzten zwei Jahren jeden Penny, den er besaß, ins Geschäft gesteckt. Aber das hat das Unternehmen nicht gerettet. Er hätte natürlich Leute entlassen können, brachte es jedoch nicht übers Herz. Dein Vater fühlte sich für seine Angestellten verantwortlich und mochte niemanden auf die Straße setzen.“

„Das ist sozusagen Tradition in unserer Familie“, pflichtete Alison ihm bei. „Schon mein Urgroßvater hat so gedacht.“

„Leider ist diese noble Haltung deinem Vater zum Verhängnis geworden“, erklärte Onkel Hugh bedauernd. „Die Unterhaltskosten für Ladymead und nicht zuletzt der aufwendige Lebensstil deiner Mutter taten ein Übriges.“

„Onkel Hugh, willst du damit sagen, dass mein Vater pleite war?“, fragte Alison beherrscht.

Er nickte. „Das Erbe deiner Mutter ist natürlich nicht angegriffen worden. Sie wird zumindest versorgt sein. Aber was den Rest des Besitzes betrifft …“

„Oh nein“, rief Alison aus. „Was ist mit den Aktien der Firma?“

„Die sind nur etwas wert, solange die Firma Gewinne macht, und das ist leider nicht der Fall, Alison. Wir werden nicht darum herumkommen, einen Konkursverwalter einzusetzen.“

Alison dachte nach. „Aber wir haben doch noch das Haus“, meinte sie schließlich. „Wir hängen natürlich alle an Ladymead, aber wenn die Umstände es erfordern, werden wir es eben verkaufen. Vater hat es doch erst vor Kurzem schätzen lassen, und ein kleines Haus genügt uns völlig.“

Er schüttelte den Kopf. „Alison, versteh mich doch. Dein Vater hat das Haus als Sicherheit benutzt, um einen Kredit aufnehmen zu können. Mit dem Geld wollte er neue Maschinen anschaffen, die er für einen Großauftrag aus China, der bereits so gut wie zugesagt war, brauchte. Mit den Erträgen aus diesem Auftrag wäre die Firma aus dem Schlimmsten heraus gewesen. Dein Vater hat oft alles auf eine Karte gesetzt, weißt du das? Diesmal hatte er kein Glück. Der Auftrag wurde an ein anderes Unternehmen vergeben, und dein Vater bekam die Absage kurz vor seinem …“

„… seinem Herzinfarkt“, führte Alison den Satz zu Ende. Niedergeschlagen strich sie sich über die Stirn. „Ich verstehe. Ladymead gehört uns nicht mehr, nicht wahr? Ich … ich kann es noch gar nicht glauben, Onkel Hugh.“ Einen Augenblick schloss sie verzweifelt die Augen. „Arme Mutter. Wird sie diesen Schlag auch noch ertragen können? Wohin soll sie gehen?“

„Darüber müssen wir alle gemeinsam sprechen, Alison. Aber es besteht kein Grund, übereilte Entscheidungen zu treffen. Ich bin sicher, die Angelegenheit wird von dem neuen Besitzer mit größtmöglicher Rücksichtnahme behandelt werden.“

„Der neue Besitzer?“, fragte Alison verwundert. „Aber du hast doch gesagt, das Haus sei als Sicherheit für einen Kredit gegeben worden. Es gehört wohl nun einer Bank, oder?“

„Nein, du irrst.“ Onkel Hugh blickte betreten drein. „Dein Vater fand zum Schluss keine Bank mehr, die ihm Geld geben wollte. Also bemühte er sich um einen privaten Kredit.“

Jetzt verstand Alison alles. „Er bekam ihn von Nicholas Bristow, nicht wahr?“

„Ja.“

„Deswegen ist er hier“, flüsterte sie. Nun wurde ihr das volle Ausmaß des Schicksalsschlages bewusst, der ihre Familie getroffen hatte. Alison kämpfte um ihre Fassung. „Wie konnte Vater nur unser Heim als Sicherheit für einen Kredit hergeben?“ Alison hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. „An einen Fremden …“

„Dein Vater war eine Spielernatur, Alison“, erklärte Onkel Hugh behutsam. „Versteh mich bitte nicht falsch. Kartenspiel oder Pferderennen interessierten ihn nicht. Aber im Geschäftlichen spielte er unüberlegt hoch und ging Risiken ein, die einfach nicht nötig gewesen wären. Meistens hatte er Glück, und ich glaube, er hat sich einfach nicht vorstellen können, dass auch er eines Tages einmal verlieren würde. Wenn alles nach seinem Plan gegangen wäre, hätte das Chinageschäft die Firma gerettet, und ihr hättet niemals davon erfahren.“

„Leider hatte er sich diesmal verrechnet, nicht wahr?“, entgegnete Alison. „Das Problem ist nun, wie bringen wir es Mutter bei? Wie sollen wir es ihr klar machen, dass sie kein Heim mehr besitzt? Es wird sie nicht gerade trösten, dass ein Mann, den sie nicht ausstehen kann, Ladymead übernehmen wird. Ist Mr. Bristow gekommen, um es ihr persönlich zu sagen?“

„Nein, Alison. Du tust ihm Unrecht. Mr. Bristow zeigte sich äußerst besorgt um deine Mutter.“

„Wie freundlich von ihm.“ Alison strich sich mit zitternder Hand eine Haarsträhne aus der Stirn. „Aber das ändert nichts daran, dass ihm dieses Haus längst gehört. Er wird es uns wohl auch nicht zurückgeben, oder?“

„Ich weiß, es ist nicht einfach, mein Kind, aber versuch bitte, vernünftig zu sein. Niemand kann von einem Menschen erwarten, dass er einen solchen Betrag einfach abschreibt. Nein, ich fürchte, dein Vater hat gewusst, was er riskierte, als er die Vereinbarung traf. Entgegen dem dringenden, wohlüberlegten Rat von Mr. Liddell, muss ich hinzufügen.“

„Guter Mr. Liddell“, sagte Alison müde. „Wo ist er eigentlich?“

„Er müsste bald hier sein. Nach dem Essen sollten wir im engsten Familienkreis in aller Ruhe überlegen, was zu tun ist.“

„Und von nun an zählst du Mr. Bristow zur Familie, oder verstehe ich das falsch, Onkel Hugh?“, fragte Alison ein wenig schärfer als gewollt.

Onkel Hugh runzelte leicht die Stirn. „Nein, das natürlich nicht“, antwortete er. „Aber ich dachte, angesichts der unerfreulichen Lage wäre es durchaus angemessen. Es mag dazu beitragen, die Situation ein wenig zu entschärfen. Soweit ich weiß, möchte er eure Mutter sogar beruhigen und ihr persönlich sagen, dass er nicht verlangt, dass ihr sofort auszieht.“

„Ach, es ist furchtbar, Onkel Hugh!“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, Alison, aber du musst dich mit der Wirklichkeit vertraut machen. Auch wenn sie noch so bitter ist. Ladymead gehört nun Nicholas Bristow.“

„Das wird er noch bereuen“, rief Alison wuterfüllt aus.

Als Alison sich dem Arbeitszimmer näherte, hörte sie Melanies Stimme. Entschlossen drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür. Melanie saß in einem der großen, bequemen Sessel, hatte die langen, wohlgeformten Beine lässig über die Lehne gelegt und erzählte gerade eine anscheinend heitere Geschichte.

Nicholas Bristow lehnte am Fenster und hörte ihr aufmerksam zu. Dabei lächelte er leicht. Sicher war ihm nicht entgangen, dass Melanie ihn nahezu anbetete.

Autor

Sara Craven
Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis. In ihren Romanen entführt sie...
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