Im Dienste der Comtesse

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Paris, Juli des Jahres 1789: Pierce Cardew, Viscount Blackspur, tritt unerkannt in die Dienste der Comtesse Mélusine. Er will sie ausspionieren, denn alles spricht dafür, dass sie seine Familie erpresst! Nur ein Beweis fehlt ihm noch. Doch dass diese zarte Schönheit tatsächlich eine habgierige Verbrecherin ist, kann Pierce mit jedem Tag weniger glauben. Im Gegenteil: Sie selbst wird seit dem mysteriösen Tod ihres Gatten bedroht. Und während die Revolution das Land in blutige Unruhen stürzt, rettet Pierce Mélusines unschuldiges Leben - und stürmt in einer leidenschaftlichen Nacht kühn ihr Herz … ...


  • Erscheinungstag 02.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769444
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mittwochmorgen, 8. Juli 1789

Wenn es um ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit ging, war eine Frau auf die Männer in ihrem Leben angewiesen; es war die Pflicht eines Mannes, für die zu sorgen, die von ihm abhängig waren. Diese Lektion lernte Pierce im Alter von siebzehn Jahren, als die Schulden seines Vaters seine Mutter und seine Geschwister in bittere Armut stürzten. Elf Jahre später hatte er immer noch nicht das Leid seiner Mutter nach dem Tod des Vaters vergessen, und auch nicht die verzweifelten Maßnahmen, zu denen ein Mann oder eine Frau unter Umständen greifen mussten, um überleben zu können.

Doch trotz seines natürlichen Mitgefühls für Witwen in misslichen Situationen – Erpressung duldete er nicht. Wenn lang gehütete Geheimnisse an die Öffentlichkeit gerieten, waren die Folgen nicht nur skandalträchtig, sondern möglicherweise verhängnisvoll für mindestens eine der darin verwickelten Personen.

Die Comtesse de Gilocourt war seit acht Monaten verwitwet. Bis zum Tod ihres Mannes war sie Herrin eines prachtvollen Stadthauses im elegantesten Viertel von Paris gewesen. Jetzt hatte sie offenbar eine Wohnung in einem Haus an der Place Vendôme gemietet, auf der anderen Seite der Seine. Die Place Vendôme war zwar auch eine vornehme Adresse, aber hier lebten eher Bankiers, nicht die Mitglieder der elitären Gesellschaft, der die Comtesse während ihrer Ehe angehört hatte.

Pierce stand in dem leeren Flur des ersten Stocks und wartete darauf, vorgelassen zu werden. Die Treppe, die hinab zum Erdgeschoss und hinauf in die höheren Etagen führte, war geschmackvoll und großzügig angelegt. Die Franzosen machten das Treppenhaus häufig zu einem wichtigen architektonischen Blickfang in ihren Häusern, da es für gewöhnlich das Erste war, was ein Besucher erblickte. Die Comtesse jedoch hatte nichts unternommen, den Bereich vor ihrer Wohnung behaglicher und einladender zu gestalten.

Die Tür ging auf, und der vorherige Kandidat kam heraus. Pierce warf ihm einen raschen, abschätzenden Blick zu. Der Mann hatte die Räume mit selbstgefälliger Zuversicht betreten. Jetzt wirkten seine Bewegungen etwas fahrig, als sei das Vorstellungsgespräch anders verlaufen als geplant. Im Vorbeigehen wich er Pierces Blick aus.

Pierce hörte Schritte und wandte sich wieder der Tür zu. Plötzlich stand eine Dame in einem taubengrauen Musselinkleid und mit einer Flut kastanienroter Locken vor ihm, die ihr wild über die Schultern fielen. Beinahe hätte er nach Luft geschnappt angesichts dieser feurigen, wirren Haarmähne. Locken waren durchaus in Mode – Haarpuder allerdings auch, denn Weiß galt allgemein als der schmeichelndste Ton. Er hatte gewusst, dass Bertiers zweite Frau zwanzig Jahre jünger war als ihr Mann, also überraschte ihn ihre Jugend nicht. Allerdings hatte er überhaupt nicht damit gerechnet, dass sie so farbenfroh wirkte. Sie hatte moosgrüne Augen und eine zarte, blasse Haut mit Sommersprossen auf Nase und Wangen, die nicht übergeschminkt waren. Auch hatte er nicht erwartet, sie könne aussehen wie der Inbegriff von jugendlich frischer Unschuld. Er fragte sich, ob ihr wohl schon zu Lebzeiten ihres Mannes bekannt war, dass dieser als ein höchst erfolgreicher Schmuggler galt, oder ob sie erst nach seinem Tod die Beweise dafür entdeckt hatte, die sie nun für ihre Erpressung benutzte.

Trotz seiner anfänglichen Überraschung nahm er eine unterwürfige Haltung ein, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte, und ließ sich nichts von seinen Gedanken anmerken. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, andere nur das sehen zu lassen, was er sie sehen lassen wollte, und nun kam es ihm gelegen, dass die Comtesse nur einen Bediensteten vor sich sah, der eine Anstellung suchte.

Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen funkelten aufgebracht. Pierce fragte sich, was der andere Bewerber wohl getan haben mochte, um sie so in Rage zu versetzen. Ihr Blick fiel nur flüchtig auf die sorgfältig geflickte Tasche des Mantels, den er gebraucht erstanden hatte. Sein ursprünglicher Besitzer war Angehöriger des gehobenen Bürgerstands und ein wenig größer als Pierce gewesen. Er war sich im Klaren, dass er jetzt genauso aussah wie die vielen anderen Bediensteten, die die abgelegten Kleidungsstücke ihrer Arbeitgeber auftrugen.

Die Comtesse schaute an ihm vorbei in den Flur. „Sind Sie der Letzte?“

„Jawohl, Madame.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber es hatte nur weniger wohlformulierter Bemerkungen bedurft, um den mit ihm wartenden jungen Mann zum Aufgeben zu bewegen.

„Hm.“ Sie runzelte die Stirn und drehte sich so ungestüm um, dass ihre Röcke raschelten. „Treten Sie ein“, sagte sie.

Als er ihr folgte, nahm er anerkennend den Schwung ihrer Hüften wahr, doch dann wurde sein Blick wieder von ihrem Haar angezogen. In langen, üppigen Strähnen fiel es ihr über den Rücken. Viele Damen trugen es auf diese Weise, doch meistens benötigten sie Haarteile, um eine solche Fülle zu erzielen. Die auffällige Farbe und das Fehlen jeglichen Puders deuteten jedoch darauf hin, dass diese Dame hier solche Hilfsmittel nicht nötig hatte. Pierce verspürte das unerklärliche Verlangen, die seidig schimmernden Locken zu berühren. Ein flüchtiges, leicht ironisches Lächeln umspielte seine Lippen und verschwand wieder, ehe die Dame sich umdrehen und es sehen konnte. Seit Rosalies Tod war er völlig unempfänglich für weibliche Reize. Nun kam es ihm etwas absurd vor, dass die erste Frau, die wieder sein Interesse weckte, ausgerechnet eine Erpresserin war. Er hatte nicht vorgehabt, an die von ihm benötigten Informationen durch Verführung heranzukommen, aber er war durchaus anpassungsfähig. Und die Comtesse war wirklich … überraschend reizvoll.

Sie trug eine weich fallende grüne Schärpe um die Taille, die farblich zu ihren Augen passte. Das war eindeutig keine Trauerkleidung. Ihr Mann war erst vor acht Monaten gestorben, also hätte sie eigentlich immer noch in schwarzer Seide auftreten und schwarzen Schmuck anlegen müssen. Sie jedoch trug keinerlei Schmuck, nicht einmal – wie Pierce mit scharfem Blick feststellte – ihren Ehering. Was hatte das zu bedeuten?

Die üppigen Röcke bildeten eine kleine Schleppe hinter ihr auf dem Boden und dämpften so ihre Schritte, Pierces hingegen hallten laut auf dem Holzboden wider. Sie führte ihn in einen großen Salon, der sogar noch größer wirkte, weil er fast vollständig unmöbliert war. An den Wänden befanden sich keine Bilder – obwohl Pierce an den helleren Stellen erkennen konnte, dass dort einst welche gehangen hatten –, und an den hohen Fenstern, von denen aus man eine schöne Aussicht auf den Platz hatte, befanden sich keine Vorhänge. Die einzigen Möbelstücke im Raum waren ein Tisch und ein Stuhl mit hoher Rückenlehne. Pierce nahm diese Hinweise auf die missliche Lage der Comtesse mit leidenschaftslosem Interesse wahr.

Sie setzte sich an den Tisch, auf dem zahlreiche Papiere verstreut waren, die meisten Blätter eng beschrieben. Irgendwo entdeckte sie ein leeres Blatt, zog es zu sich heran und griff nach der Feder. „Wie heißen Sie?“, fragte sie knapp.

„Pierre Dumont“, erwiderte Pierce und sah zu, wie sie den Namen notierte.

„Welche beruflichen Erfahrungen haben Sie als Diener?“

„Ich habe für die Duchesse de la Croix-Blanche gearbeitet und für die Comtesse de Dreux“, gab er Auskunft.

Sie schrieb auch das nieder, und als sie dann aufsah, überraschte ihn ihr eindringlich prüfender Blick. Sie hatte eben noch so ungeduldig gewirkt, dass er geglaubt hatte, sie würde sich nicht die Zeit nehmen, ihn genauer zu betrachten. Der Mann, der Pierce vorgab zu sein, hätte sich unter diesem Blick wahrscheinlich vor Unbehagen gewunden, aber diesen Gefallen wollte er ihr nicht tun. Daher fixierte er mit den Augen einen Punkt irgendwo über ihrer Schulter und wartete ab.

Trotzdem entging ihm nicht, wie sie die Breite seiner Schultern und den Sitz seines Mantels begutachtete. Sie sah auf seine Hände. Schließlich huschte ihr Blick zu seinen Schenkeln, zögerte – und verharrte dort.

Gütiger Gott! Die Frau suchte anscheinend gar keinen Diener – sie wollte herausfinden, ob er ihren Anforderungen als Liebhaber gerecht wurde! Einen Augenblick lang war Pierce schockiert über ihre Kühnheit, doch dann empfand er kühle Belustigung. Wie es aussah, war er nicht der Einzige, der mit dem Gedanken an eine Verführung spielte.

Draußen im Flur hatte er sich noch gewappnet, kein Mitgefühl mit einer armen Witwe zu bekommen, die vielleicht einer Fehleinschätzung erlegen war. Aber eine Comtesse, die sich ihre Liebhaber dreist aus den Reihen beschäftigungsloser Bediensteter auswählte, brauchte seine Sympathie nicht. Er sah ihr geradewegs in die Augen.

Der Vormittag war nicht gut verlaufen. Mélusine hatte noch nie eigenmächtig einen Bediensteten eingestellt, und sie empfand auch jetzt keine wirkliche Lust dazu. Ihrem Anwalt, Monsieur Barrière, hatte sie es überlassen, sich um die Einstellung des Hauspersonals zu kümmern, doch die Auswahl des Dieners wollte sie dann doch selbst vornehmen. Es wäre ihr am liebsten gewesen, gar keinen zu benötigen, aber eine Dame brauchte nun einmal einen Bediensteten in Livree, der sie in die Stadt begleitete, Besorgungen für sie erledigte und hinter ihrem Stuhl stand, um ihr zu servieren, wenn sie zu Gast in einem anderen Haus war. Da dieser Mann jedes Mal, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, an ihrer Seite sein würde, wollte sie wenigstens jemanden, den sie halbwegs erträglich fand.

Sie betrachtete Pierre Dumont und versuchte, durch die teilnahmslose Fassade hindurch den Menschen dahinter zu erkennen. Der letzte Bewerber hatte ihre mangelnde Erfahrung in solchen Vorstellungsgesprächen gespürt und sofort begonnen, selbst die Regie zu übernehmen. Mélusine war mit dem festen Vorsatz nach Paris gekommen, sich nie wieder ihre Entscheidungen von einem Mann abnehmen zu lassen. Ihr gefiel die Aussicht nicht, sich Vorschriften von einem Diener machen zu lassen, und so war ihre Antwort kurz und bündig ausgefallen. Sie wusste nicht, wen von ihnen beiden die Begegnung wütender gemacht hatte; sie war nur froh, als er ging.

Dumont hatte keinerlei Anstalten gemacht, das Gespräch an sich zu ziehen. Er war nur ihren Aufforderungen gefolgt und hatte geduldig ihre Fragen abgewartet. Trotz seiner unbeweglichen Miene hielt sie ihn nicht für dumm. Ihr war nicht entgangen, wie sein Blick erst auf ihr ungepudertes Haar und dann auf ihr Kleid gefallen war. Er wunderte sich, warum sie nicht Trauer trug. In Bordeaux hatte sie das getan, acht Monate lang – schwarze Kleider, schwarze Gürtel, schwarze Hüte, schwarze Handschuhe, schwarze Schuhe … sie konnte Schwarz nicht mehr ausstehen.

Es würde noch vier weitere Monate dauern, bis sie sich in der Öffentlichkeit wieder in farbenfrohen Gewändern zeigen durfte. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben war sie die unangefochtene Herrin in ihrem eigenen Haus, und hier konnte sie anziehen, was sie wollte. Kein Schwarz. Kein Haarpuder. Und nur zu gern wäre sie auch ohne Diener ausgekommen, aber das kam leider nicht infrage.

Dumont starrte auf irgendeinen Punkt über ihrer Schulter. Nein, sie glaubte nicht, dass er schwer von Begriff war. Er zeigte keinerlei Nervosität vor ihr, und seine Haltung ließ nichts von seinen Gedanken erahnen. Genau das machte sie jedoch stutzig. Schon zu oft hatte sie sich in einer solchen Situation befunden – teilnahmslos in Gegenwart einer einflussreicheren Person –, um tatsächlich zu glauben, dass er an nichts dachte. Was mochte in seinem Kopf vorgehen?

Sie ließ sich Zeit, ihn zu betrachten. Es war verwirrend, gleichzeitig aber auch sehr befriedigend, diejenige zu sein, die die Machtposition innehatte. Sie schätzte ihn ungefähr einen Meter achtzig groß. Seine einfache Perücke war von einem unscheinbaren Braun; zweifellos hatte er eine weitaus prachtvollere getragen, als er noch in den Diensten der Duchesse de la Croix-Blanche gestanden hatte. Seine Augenbrauen waren viel dunkler, weshalb sie sich wunderte, dass er die jetzige Perücke beibehalten hatte, obwohl er ohne Anstellung war. Vielleicht wurde sein Haar langsam schütter und er war zu eitel, das zu zeigen?

Sein Mantel saß nicht besonders, aber er war sorgfältig ausgebessert. Die Farbe stand dem Mann nicht, auf den ersten Blick vermittelte sie einen falschen Eindruck von seiner Figur. Er hielt sich gerade und war schlank, doch sie vermutete, dass er über einige Kraft verfügte. Er hatte nicht viel mehr getan, als still dazustehen und einmal quer durch den Salon zu gehen, aber sie hatte dieses unbestrittene Vertrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten schon bei anderen Männern wahrgenommen und erkannte es wieder.

Mélusine faszinierte so etwas, aber sie war zu der Überzeugung gelangt, dass sie diese Eigenschaft an Marmorstatuen lieber mochte als an Männern aus Fleisch und Blut. Jetzt warf sie einen Blick auf Dumonts Hände, denn Hände vermochten wichtige Geschichten zu erzählen. Dumonts hingen locker und entspannt herab. Sie betrachtete seine Beine und musste an die klassischen Statuen denken, die sie im Louvre und in anderen Museen gesehen hatte. Ob unter den Breeches seine Oberschenkelmuskeln wohl ebenso ausgeprägt waren wie die dieser Statuen? Plötzlich wurde sie ganz aufgeregt bei der Erkenntnis, dass es eventuell ungeahnte Vorteile haben konnte, einen Diener einzustellen. Sie würde ihre Bitte natürlich sehr vorsichtig formulieren müssen – schließlich waren es nicht seine Oberschenkel, die sie besonders interessierten. Aber vielleicht …

Zu spät wurde ihr klar, dass sie seine Beine viel zu lange angestarrt hatte. Sie sah auf – und ihm geradewegs in die Augen. Ihr stockte der Atem, als ihr bewusst wurde, dass ihm ihre Blickrichtung nicht entgangen war. Seine grauen Augen funkelten spöttisch, und vor Verlegenheit schoss ihr die Röte in die Wangen.

„Besitzen Sie Referenzen?“, erkundigte sie sich kurz angebunden.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Hinsichtlich welcher Fähigkeiten?“

„Als Diener!“ Sie widerstand nur mit Mühe dem Bedürfnis, mit den Zähnen zu knirschen. „Sie nutzen mir nichts, wenn Sie die letzten zehn Jahre als Lehrer gearbeitet haben.“

Er runzelte leicht die Stirn. Ihre Bemerkung musste ihn entweder verärgert oder verwirrt haben. Sie wusste selbst nicht, wie sie auf diese Idee gekommen war; vielleicht lag es daran, dass er dieses langweilige Braun trug und sein reserviertes Auftreten ihm eine gewisse Ausstrahlung von Strenge verlieh.

„Ich bin kein Lehrer.“ Er zog ein paar zusammengefaltete Bögen aus der Innentasche seines Mantels und reichte sie ihr mit einer anmutigen Verneigung, die Mélusine auf unangenehme Weise daran erinnerte, wie sehr es ihr selbst an Anmut mangelte. Als Tochter eines Kaufmanns war sie im Konvent zusammen mit Töchtern von Adeligen erzogen worden und hatte dann sogar einen Comte geheiratet. Aber diese selbstverständliche, fließende Eleganz der Bewegungen hatte sie sich nie ganz aneignen können.

Sie versuchte sich auf das Schreiben zu konzentrieren, aber die Tatsache, dass er sie dabei beobachtete, lenkte sie ab. Es entsprach vollkommen ihren Standesunterschieden, dass er vor ihr stand, während sie saß. Nur die Art, wie er sie musterte – durchaus beherrscht, aber mit einer gewissen Ironie –, missfiel ihr zutiefst.

„Setzen Sie sich!“, forderte sie ihn auf.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sich in dem schmucklosen Raum um. „Wünschen Sie, dass ich auf dem Boden Platz nehme?“

„Ach, um Himmels willen!“, rief Mélusine verzweifelt aus. „Es überrascht mich nicht, dass Sie eine neue Anstellung suchen, wenn Sie immer so unerträglich arrogant sind.“ Sie stand auf und stellte ihren Stuhl mitten in das Zimmer. „Hier, setzen Sie sich! Auf der Stelle!“

Eine innere Stimme riet ihr, dass es wohl klüger wäre, dieses Gespräch zu beenden, aber Dumont war der letzte Bewerber für diese Stelle. Er brachte sie zwar aus der Fassung, verursachte ihr jedoch keine Gänsehaut. Nachdem sie zwei Jahre lang Jean-Baptistes Dienste hatte erdulden müssen, war das eine entscheidende Voraussetzung für jeden künftigen Diener. Außerdem war es zum Teil auch eine Frage des Stolzes. Sie war mit dem festen Vorsatz nach Paris gekommen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Da sollte sie zumindest imstande sein, einen Bediensteten einzustellen!

Sie entfernte sich ein paar Schritte von Dumont und drehte sich anschließend zu ihm um. So, das war schon besser. Er saß und sah zu ihr auf, während sie sich frei im Zimmer bewegen konnte.

„Warum suchen Sie nach einer neuen Stellung?“, fragte sie und hatte das Gefühl, die Situation wieder im Griff zu haben.

„Ich bin mit meiner vorherigen Herrin nach Amerika gereist. Sie beschloss, dort länger zu bleiben, aber ich wollte zurück nach Frankreich.“ Er zuckte leicht die Achseln. „Und hier bin ich.“

„Amerika?“ Bertier war einer der französischen Offiziere gewesen, die an der Seite der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten. In den letzten Jahren waren viele amerikanische Besucher nach Paris gekommen, und Mélusine hatte stets fasziniert ihren Erzählungen gelauscht. Sie wollte Pierre schon nach seinen Erlebnissen in der Neuen Welt fragen, besann sich dann aber eines Besseren. Stattdessen stellte sie sich vor den erloschenen Kamin und las die Zeugnisse, die er ihr überreicht hatte. „Die Duchesse de la Croix-Blanche äußert sich sehr lobend über Sie.“ Die Bemerkungen von Madame de la Croix-Blanche grenzten schon beinahe an maßlose Übertreibungen.

„Sie war so gnädig, mir Referenzen mitzugeben, als ich aus ihren Diensten schied“, erwiderte Dumont.

„Hm.“ Mélusine klopfte mit den zusammengerollten Papieren auf ihre Handfläche und sah ihn abschätzend an. „Falls ich Sie einstelle – und im Moment hege ich noch ernsthafte Zweifel an Ihrer Befähigung –, erwarte ich von Ihnen unbedingte Loyalität, Verschwiegenheit und Gehorsam in jeder Hinsicht.“

„Könnten Sie sich ein besseres Bild von meiner Befähigung machen, wenn ich mich meiner Breeches entledige?“, fragte Dumont.

„Wie bitte?“ Mélusine war fest davon überzeugt, sich verhört zu haben, doch zu ihrem Entsetzen stand er jetzt auf.

„Das sind schließlich die Eigenschaften, für die Sie sich am meisten interessieren, nicht wahr?“, fuhr er fort und machte sich am Gürtel seiner Hose zu schaffen.

„Halt!“ Sie streckte abwehrend die Arme aus. „Wagen Sie es nicht, sich zu bewegen.“

Er gehorchte, zog aber spöttisch eine Augenbraue hoch.

Mélusine atmete tief durch und fächelte sich mit seinen Zeugnissen Luft zu. „Sie sind ein unverschämter Filou. Ein Schurke. Ein …“ Ihr gingen die Worte aus. „Setzen Sie sich sofort wieder hin. Und lassen Sie die Finger von Ihrer Kleidung. Gütiger Gott!“ Zu ihrer Erleichterung tat er, wie ihm geheißen. Sie zitterte, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Misstrauisch beäugte sie ihn und fragte sich, ob sie nach Paul, dem Pförtner, rufen oder ihn einfach des Hauses verweisen sollte. Er hielt ihrem Blick ungerührt stand, was fast genauso beunruhigend war wie sein Verhalten vorhin. Aus dem Augenwinkel nahm sie das Kaminbesteck wahr. Ohne nachzudenken bückte sie sich und griff nach dem Schürhaken. Dann wandte sie sich wieder Dumont zu.

Er lächelte. „Bewaffnen Sie sich ruhig, Madame, aber ich habe noch nie eine Frau gegen ihren Willen verführt.“

„Verführt …?“ Seine offensichtliche Belustigung nahm ihr etwas von ihrer Furcht, aber nichts von ihrem Entsetzen oder ihrer Verlegenheit.

„Das ist es doch, was Sie von mir wünschen, nicht wahr?“

„Nein!“ Mélusine schauderte. „Niemals!“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie zog sich an eins der Fenster zurück, so weit fort von Dumont wie möglich. „Rühren Sie sich nicht von der Stelle“, befahl sie und überdachte seine Zeugnisse noch einmal unter einem ganz neuen Aspekt. „Ist das der Grund, warum die Duchesse sich so überschwänglich über Ihre Fähigkeiten äußert?“, rief sie aus. Sie sah ihn plötzlich in einem ganz anderen Licht. „Wie lange waren Sie ihr Liebhaber?“ Trotz ihrer Faszination lockerte sie den Griff um den Schürhaken nicht. Sie gab sich keinerlei Illusionen hin – Dumont mochte zwar ein Bediensteter sein, aber der einzige Grund, warum er immer noch still dasaß und ihre Fragen beantwortete, war der, dass er selbst es so wollte.

„Ich war nicht ihr Liebhaber.“

„Wie ich sehe, bleiben Sie immer noch diskret und loyal, obwohl sie längst nicht mehr Ihre Geliebte ist.“

„Meine Arbeitgeberin“, korrigierte Dumont.

„Wenn die Duchesse nicht Ihre Geliebte war, wie kommen Sie dann um Gottes willen darauf, ich könnte solche … solche Dienste von Ihnen verlangen?“, fragte Mélusine argwöhnisch. „Irgendjemand muss Sie doch auf diese Idee gebracht haben.“

„Sie selbst waren das“, gab Dumont zurück.

„Ich …?“ Wahrscheinlich bezog er sich auf die Art, wie sie ihn zu Beginn des Gesprächs betrachtet hatte. „Von meinem Diener erwarte ich, dass er mich begleitet, wenn ich das Haus verlasse, dass er mir Nachrichten übermittelt und mich frisiert – aber das sind auch die einzigen Dienste, die ich von ihm verlange“, fügte sie betont hinzu.

„Sie frisiert?“

„Ja.“ Es war allgemein verbreitet, dass ein Diener die Rolle des Friseurs mitübernahm. Eine so elegante Frau wie die Duchesse hätte niemals jemanden eingestellt, der nicht beide Funktionen erfüllen konnte. Mélusine wollte schon die nächste Frage stellen, als ihr etwas einfiel. Wenn die Duchesse Dumont wegen seiner anderen Talente im Schlafgemach eingestellt hatte, war es vielleicht nicht so gut bestellt um seine Frisierkünste. „Sie können doch frisieren, oder?“ Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

„Selbstverständlich.“

„Sie sagten, Sie hätten Ihre Arbeit bei der Duchesse aufgegeben, weil Sie nach Frankreich zurückkehren wollten. Was war der Grund dafür?“ Sie konnte ihn nicht einstellen. Natürlich nicht. Einen so flegelhaften Mann, der damit drohte, sich vor ihren Augen seiner Hose zu entledigen! Aber sie wollte das Gespräch mit Würde zu Ende bringen, ihn nicht völlig kopflos und verschreckt aus dem Haus werfen. Sobald sie wieder die Kontrolle über dieses Gespräch hatte – und wenn vor allem er sich dessen ganz klar bewusst war –, würde sie ihn entlassen.

Er ließ sich mit einer Erwiderung einige Zeit. „Wegen meiner Mutter und meiner Schwester“, erklärte er, als sie schon fast gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte.

„Wegen Ihrer Mutter?“ Das war das Letzte, womit sie gerechnet hatte.„Ich nehme an, Ihr Vater lebt nicht mehr und Sie müssen sie versorgen?“

„Ja.“

Mélusine starrte ihn an. Ihn umgab eine Aura großer Unabhängigkeit, sodass sie nie auf die Idee gekommen wäre, er könnte so etwas wie Familiensinn haben. „Lebt Ihre Familie in Paris?“

„Nein.“

„Wo dann? Und warum sind Sie nicht dort?“

„In der Bretagne“, erwiderte er knapp. „In Paris bieten sich mir mehr Möglichkeiten.“

„Es ist auf jeden Fall einfacher, ihnen von hier aus Geld zu schicken als von Amerika“, meinte Mélusine. „Sicher empfinden Sie Ihre Familie als große Last.“

Jetzt war es an ihm, die Stirn zu runzeln. „Nein!“ Er sah sie so missbilligend an, dass sie beinahe zurückgewichen wäre.

„Gewiss wäre sie völlig schockiert, wenn sie Ihr Benehmen von vorhin miterlebt hätte“, vermutete sie. Er hatte kein Recht, sich über sie ein Urteil zu bilden, wo er doch selbst keinerlei Gefühl für Anstand besaß.

Seine Miene hellte sich flüchtig auf, und er lächelte. „Wahrscheinlich. Was ist aus Ihrem letzten Diener geworden?“

Mélusine hatte gerade gedacht, dass sein Lächeln unerwartet anziehend war, daher überrumpelte seine Frage sie jetzt. Plötzlich sah sie wieder Jean-Baptiste vor sich, aber sie wollte nicht an ihn denken und schon gar nicht über ihn reden. „Er ist weg“, teilte sie Dumont kurz angebunden mit. „Seinetwegen brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen.“

„Kommt er zurück?“, fragte er sanft, aber sein Blick war eindringlich.

„Ich habe noch nicht einmal beschlossen, Sie einzustellen“, wies sie ihn kühl zurecht, nicht gewillt, sich von ihm ausfragen zu lassen. „Daher ist es vermessen von Ihnen, darüber zu spekulieren, wie lange Sie in meinen Diensten stehen werden.“

Er senkte den Kopf, und wieder war nichts Unterwürfiges an dieser Haltung.

Sie sollte ihn eigentlich fortschicken. Ein Diener, der so tat, als sei er ihr ebenbürtig, war das Letzte, was sie brauchte. Soweit sie das bisher einschätzen konnte, würde Dumont im Fall einer Einstellung schon bald die Herrschaft über ihren Haushalt übernehmen und jede Anweisung von ihr hinterfragen, wenn sie nicht vorsichtig war. Zugleich war er aber nichts anderes als ein Bediensteter, der auf seinen Lohn angewiesen war, und das bedeutete, dass die entscheidende Macht am Ende doch bei ihr lag. Und er war weder respektlos noch hinterlistig. Zwar hatte er gedroht, seine Breeches auszuziehen, aber er gehorchte, als sie ihm Einhalt geboten hatte, und er war während des restlichen Gesprächs wie verlangt auf dem Stuhl sitzen geblieben. Ob sie seine Hände wohl jeden Tag in ihrem Haar ertragen konnte? Sie betrachtete diese, mit den Flächen nach unten ruhten sie auf seinen Oberschenkeln.

Er streckte sie aus und hielt sie Mélusine zur Begutachtung hin. Sie unterdrückte nur mit Mühe einen erstaunten Ausruf, denn sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihre Gedanken lesen konnte. Seine Hände waren sauber, gut geformt und die Fingernägel waren ordentlich geschnitten. Mélusine stellte sie sich beim Frisieren vor, und ein kleiner, nicht unangenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie würde sich weder ihn noch einen anderen Mann zum Liebhaber nehmen, aber mit dem Gedanken, sich von ihm frisieren zu lassen, konnte sie sich unter Umständen anfreunden.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie kühl. „Ich bin sicher, Sie verstehen mit Kamm und Pomade ebenso gut umzugehen wie mit Worten. Ich werde es mit Ihnen versuchen“, fuhr sie energisch fort. „Wenn Sie sich bis zum Ende der Woche als zufriedenstellend erwiesen haben, werde ich Sie fest einstellen. Erregen Sie vorher mein Missfallen, sind Sie auf der Stelle entlassen.“

„Vielen Dank, Madame.“ Er verneigte sich im Sitzen.

„Gut. Stehen Sie auf und warten Sie, bis ich eine Nachricht an Monsieur Barrière geschrieben habe. Sie werden sie ihm überbringen, sobald ich fertig bin.“

„Monsieur Barrière?“ Dumont erhob sich und rückte ihr den Stuhl vor dem Tisch zurecht.

„Mein Anwalt. Sie müssen elegant und eindrucksvoll aussehen – und einen ordentlich sitzenden Mantel tragen! Außerdem brauchen Sie eine bessere Perücke. Da ich Sie erst einmal nur zur Probe eingestellt habe, werde ich noch keine vollständige Livree für Sie anfertigen lassen. Ich habe noch etwas Litze“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Sobald Sie einen passenden Mantel haben, werde ich sie annähen.“

Mélusine folgte Pierre Dumont zur Tür und sah ihm nach, als er die Treppe hinunterging. Paul, der Pförtner, öffnete ihm den Hauseingang, und er verließ das Haus. Paul zog sich wieder in die Dienstbotenunterkünfte im Erdgeschoss zurück, und plötzlich wirkte das Haus sehr leer. Mélusine merkte, dass sie zitterte, und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. Sie befürchtete, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben, doch dann sagte sie sich, dass sie ihren Entschluss ja jederzeit wieder rückgängig machen konnte. Wenn Pierre Dumont ihr als Diener nicht zusagte, würde sie ihn einfach entlassen. Nach so vielen Jahren, in denen sie kaum ein Mitspracherecht bezüglich der Einstellung ihrer Bediensteten gehabt hatte, würde es wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich an ihre neue Freiheit gewöhnt hatte.

Trotzdem ging sie in Gedanken immer wieder die Unterhaltung mit Dumont durch. Noch immer war sie ganz schockiert über seine offensichtliche Bereitschaft, sich seiner Beinkleider zu entledigen – wenn er so etwas noch einmal wagte, würde sie ihm auf der Stelle kündigen. Aber vielleicht war es ja auch nur ein Missverständnis gewesen, weil sie den Blick so lange auf seine Beine gerichtet hatte. Und wie stand es mit seinen Liebesdiensten bei der Duchesse? Er hatte das zwar energisch abgestritten, doch das konnte er aus Loyalität seiner früheren Herrin gegenüber getan haben.

Sie straffte die Schultern. Es war eine seltsame Vorstellung, den Liebhaber einer anderen Frau einzustellen, damit er ihr das Haar frisierte und Besorgungen für sie erledigte. Andererseits war sie mit einem Mann verheiratet gewesen, der die meiste Zeit seiner Ehe im Bett einer anderen Frau verbracht hatte. In Paris war Untreue weit verbreitet. Zweifelsohne konnten alle männlichen Bediensteten, die sie je gehabt hatte, als der Liebhaber von irgendjemand bezeichnet werden. Der Unterschied bei Dumont bestand nur darin, dass sie in diesem Fall den Namen der Dame kannte.

Sie lächelte versonnen vor sich hin. Es war allerdings sehr unwahrscheinlich, dass auch nur einer ihrer früheren Diener eine so berühmte Geliebte gehabt hatte. Kein Wunder, dass Dumont so arrogant war. Allerdings hatte er die Duchesse verlassen, um näher bei seiner Mutter und seiner Schwester zu sein, und er schien aufrichtig gekränkt zu sein, als Mélusine angedeutet hatte, die beiden könnten eine Last für ihn sein. Als er von ihnen gesprochen hatte, waren seine Gesichtszüge vorübergehend weicher geworden und von echter Zuneigung erfüllt gewesen. Diese eine Tatsache hatte mehr als alles andere dazu beigetragen, dass ihre Entscheidung zu seinen Gunsten ausgefallen war. Sie fragte sich, wie er wohl in ihrer Gesellschaft war. Er hatte zugegeben, dass sie über sein schamloses Verhalten schockiert wären. Mélusine war davon überzeugt, dass er ihnen Anweisungen erteilte und zu wissen glaubte, was das Beste für sie sei, aber sie konnte sich durchaus vorstellen, dass er diese mit freundlicher Stimme und Rücksicht auf ihre Empfindungen formulierte …

Was um alles in der Welt dachte sie da nur! Sie malte sich seine vollständige Familiengeschichte nur aufgrund von ein paar Andeutungen und dem Anflug eines Lächelns aus!

Sie erhob sich und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Haus zu widmen. Schließlich gehörte es jetzt ihr. Anfang letzten November war ihr Mann im Bois de Boulogne am Stadtrand von Paris tot aufgefunden worden. Niemand konnte genau sagen, wer ihn umgebracht hatte, aber der Polizeiinspektor vertrat die Meinung, er sei Räubern zum Opfer gefallen. Die Ernte sei schlecht ausgefallen, der Winter schon früh gekommen, mit der Folge, dass die Zahl der Raubüberfälle auf Kutschen sprunghaft angestiegen sei.

Mélusine hatte Bertiers Tod tief getroffen, im selben Maße wie sie es überrascht hatte, dass er ihr dieses Haus und noch zwei weitere in Paris hinterließ. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie finanziell völlig unabhängig. Bis vor einem Monat war das Haus an der Place Vendôme noch an die Champiers vermietet gewesen, die wiederum in der Wohnung im ersten Stock ihre Cousins und Cousinen untergebracht hatten. Als der Mietvertrag dann ausgelaufen war und die Champiers das Haus verließen, war das die Gelegenheit für Mélusine. Ausnahmsweise war ihr Vater zu beschäftigt gewesen, um sich in ihre Angelegenheiten einmischen zu können, und so hatte sie in aller Stille die nötigen Vorkehrungen getroffen, aus seinem Haus in Bordeaux auszuziehen und nach Paris zurückzukehren. Das mittlerweile leere Haus war ihr wie ein sicherer Hafen vorgekommen. Das Einzige, was sie hatte tun müssen, war, Monsieur Barrière zu schreiben und ihn zu bitten, verlässliches Personal einzustellen und für die ihrer Meinung nach nötigsten Einrichtungsgegenstände zu sorgen. Sie wollte ein ganz neues Leben anfangen.

Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Eine ihrer ersten Entscheidungen, die sie treffen musste, bestand darin, ob sie die erste Etage nun vermieten sollte oder nicht. Allerdings war sie auf die Miete nicht angewiesen, also war es vorerst vielleicht besser, die Zahl der Fremden in ihrem Haus möglichst gering zu halten.

Jemand klopfte an die Eingangstür. Zuerst schenkte sie dem keine Beachtung, doch als das Klopfen drängender wurde, kam sie zu dem Schluss, dass Paul wohl gerade außer Hörweite war, und ging selbst die Treppe hinunter.

Mélusine öffnete die Tür und sah sich Daniel Blanc gegenüber. Ganz spontan freute sie sich, sein vertrautes Gesicht wiederzusehen, doch dann krampfte sich ahnungsvoll ihr Magen zusammen und sie spähte an ihm vorbei, ob ihr Vater wohl draußen in seiner Kutsche wartete. Sie kannte Daniel seit ihrer Kinderzeit, er war einer der vertrauenswürdigsten Angestellten ihres Vaters. Sie hatte ihn nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nach Paris ziehen wollte, und auch die Bediensteten gebeten, ihn nicht zu informieren. Aber einer von ihnen musste das doch getan haben, sobald sie Bordeaux verlassen hatte.

Daniel riss die Augen auf, als sie ihm persönlich die Tür öffnete, aber er fand rasch seine Haltung wieder. „Eine Nachricht von Ihrem Vater, Madame.“

„Wo ist er?“

„In Versailles, Madame.“

Ihre Anspannung löste sich ein wenig bei dem Gedanken, dass Raoul Fournier wenigstens noch zwölf Meilen von ihr entfernt war, trotzdem verursachte ihr die Handschrift auf dem Umschlag leichte Übelkeit. Sie hatte gehofft, seine Verpflichtungen als einer der Abgeordneten in der Nationalversammlung würden all seine Gedanken und seine gesamte Zeit beanspruchen. Doch er war nicht einer der reichsten Männer von Bordeaux geworden, weil er immer nur eine Sache nach der anderen in Angriff nahm.

Mélusine trat zurück und zog die Tür weiter auf. „Danke“, sagte sie. „Gehen Sie in die Küche. Ich weiß zwar nicht genau, was an Essen da ist, aber es wird bestimmt etwas geben.“

„Ich soll auf die Antwort warten“, wandte Daniel fast entschuldigend ein.

Sie umfasste den Brief fester und hätte ihn am liebsten ungeöffnet zerrissen. „Gehen Sie und essen Sie etwas“, wiederholte sie so ruhig wie möglich.

Erst als sie allein war, brach sie das Siegel auf. Wie erwartet war der Tonfall zornig und ungeduldig. Sie überflog die in eckiger Schrift abgefassten Zeilen, bis sie zum Kern der Sache kam. Ihr Vater befahl ihr, ihn sofort in Versailles aufzusuchen, sobald sie in Paris eingetroffen sei.

Vor Zorn und Verzweiflung drehte sich ihr fast der Magen um, und sie zerknüllte den Brief. Sie war erst einen Tag in Paris, und schon versuchte ihr Vater wieder, über sie zu bestimmen. Sie war es so leid, von Männern beherrscht und benutzt zu werden, nur damit diese ihre eigenen Ziele erreichen konnten. In einem plötzlichen Wutanfall warf sie den zusammengeknautschten Brief an die Wand. Sie würde sich nie wieder Vorschriften machen lassen. Von niemandem.

2. KAPITEL

Mittwochnachmittag, 8. Juli 1789

Pierce stand teilnahmslos da, während der Anwalt den Brief von Mélusine und die Zeugnisse durchlas.

„Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein“, sagte Barrière endlich. Er lehnte sich zurück und sah Pierce an. „Der verstorbene Gatte der Comtesse hat mich damit beauftragt, ihre Interessen wahrzunehmen. Seien Sie versichert, Sie wären schlecht beraten, Ihre Situation in irgendeiner Weise auszunutzen.“

Pierce betrachtete den Anwalt gleichermaßen interessiert, aber weniger auffällig. Er gewann den Eindruck, dass Barrière ein scharfsinniger, intelligenter Mann war. Etwas anderes hätte er aber auch nicht erwartet von einem Mann, den Bertier mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hatte. Aber war der Anwalt auch in dieses Komplott verwickelt?

Der Erpresserbrief war auf Latein geschrieben und von einem Mann überbracht worden, den man als Diener der Comtesse de Gilocourt identifiziert hatte. Während des Bewerbungsgesprächs hatte sich Mélusine geweigert, über ihren früheren Diener zu reden, aber Pierce wusste, dass sein Vorgänger in London als Bote des Erpressers gesehen worden war. Pierce vermutete, dass der Brief deswegen in Latein verfasst worden war, um den Inhalt vor dem überbringenden Diener geheim zu halten. War es der Anwalt gewesen, der den Brief für Mélusine aufgesetzt hatte?

„Warum hat der letzte Diener der Comtesse gekündigt?“, wollte Pierce wissen.

Barrière runzelte die Stirn. „Madame de Gilocourt wurde im letzten November Witwe“, erwiderte er. „Jetzt, da sie wieder in Paris ist, braucht sie Personal für ihr neues Etablissement. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Etablissement war eine ziemlich hochtrabende Bezeichnung für eine nicht möblierte Wohnung im ersten Stock, aber Pierce verzichtete auf eine entsprechende Bemerkung. „Also arbeiten Sie erst seit dem Tod ihres Ehemanns für die Comtesse“, stellte er fest, was ihm ein neuerliches Stirnrunzeln eintrug. „Ich möchte nur sichergehen, dass mein Gehalt auch bezahlt wird“, fügte Pierce hinzu, weil jetzt offensichtlich war, dass Barrière nicht dazu zu verleiten war, über seine vornehme Mandantin zu plaudern.

„Madame de Gilocourt hat veranlasst, dass Ihnen das Gehalt der ersten Woche im Voraus ausbezahlt wird“, teilte der Anwalt ihm eisig mit. „Sollten Sie ihre Großzügigkeit ausnutzen, werde ich dafür sorgen, dass Sie strengstens zur Rechenschaft gezogen werden. Rufen Sie Ladoux aus dem Vorzimmer herein.“

Ladoux war wesentlich eher zu Klatsch und Tratsch aufgelegt als sein Arbeitgeber, und so erfuhr Pierce, dass Monsieur Barrière Mélusine erst zweimal begegnet war. Das erste Mal, als er sie gleich nach dem Tod ihres Mannes aufgesucht hatte, unmittelbar bevor sie von Paris nach Bordeaux zog; das zweite Mal erst ganz kürzlich nach ihrer Rückkehr nach Paris. Es war zwar alles möglich, doch Pierce hielt es eher für unwahrscheinlich, dass die beiden einen kriminellen Bund nach nur so flüchtiger Bekanntschaft geschlossen haben sollten.

Nachdem alle Vereinbarungen für seine neue Livree getroffen waren, machte Pierce sich auf den Weg zum Palais Royal. Schon vor seiner Ankunft in Frankreich hatte er gewusst, dass sich das Land mitten in einer politischen und finanziellen Krise befand. Aber erst in Paris war ihm klar geworden, wie unberechenbar die Stimmung im Volk war. Das Palais Royal befand sich im Besitz des Duc d’Orléans, eines Verwandten des Königs, und lag im Brennpunkt heftigsten Widerstands gegen die Regierung. Pierce war zwar in erster Linie daran gelegen, den Erpresser zu entlarven und nicht, sich in die Feinheiten französischer Politik zu vertiefen, aber er hatte keine Lust, sich von den Ereignissen überraschen zu lassen. Daher machte er sich daran, die aktuellsten Pamphlete zu lesen und die neuesten Gerüchte zu erfahren.

Es schien, als drängte sich die Hälfte der Pariser Bevölkerung im Garten und unter den Arkaden des Palais Royal. Hier gab es Buchverkäufer, Cafés, Hutmacher, ja, sogar ein Wachsfigurenkabinett. Pierce schlenderte durch die Menge und hielt wachsam Ausschau nach Taschendieben.

„Nelken, Monsieur! Kaufen Sie meine wunderschönen Nelken!“

Pierce betrachtete die kümmerlichen Blumen, die ihm vor die Nase gehalten wurden, und sah dann in die Augen des Blumenmädchens. Er brauchte keine Blumen, aber das Mädchen war sehr dünn, und in seinem Blick lag etwas Verzweifeltes. Brot war selten und überdies sehr teuer geworden, wahrscheinlich litt das Mädchen Hunger. Er warf einen Blick in den Blumenkorb. „Hm, lassen Sie mich mal sehen. Ich glaube, ein Strauß reicht nicht aus, um die Gefühle für meine Liebste richtig zum Ausdruck zu bringen. Ich nehme einen, zwei, drei … ja, vier kann ich gut in einer Hand tragen. Nein, die Vier ist keine gute Zahl, ich nehme fünf Sträuße.“

Das Mädchen sog geräuschvoll die Luft ein. „Monsieur!“

„Ich muss sie nur einen Moment ablegen, damit ich mein Geld hervorholen kann“, erklärte er und legte die Sträuße zurück in den Korb. „So, hier ist das Geld.“ Es amüsierte ihn ein wenig, dass er sich von seinem Dienergehalt als Erstes eine Handvoll Nelken kaufte. Er steckte seine Geldbörse wieder ein und wandte sich zum Gehen.

„Monsieur!“, rief das Mädchen ihm nach. „Sie haben Ihre Sträuße liegen gelassen!“

„Wenn ich es genau bedenke, fürchte ich, sie könnte mich für übereifrig halten, wenn ich ihr fünf Sträuße schenke, einer reicht“, erwiderte er bedauernd. „Behalten Sie die anderen, ich hole sie mir ein anderes Mal, nicht heute.“ Er lächelte die junge Frau an und konnte bemerken, dass sie verstanden hatte. Er würde die Blumen niemals abholen, es stand ihr frei, sie erneut zu verkaufen.

„Vielen Dank, Monsieur“, wisperte sie, und ihre Augen schimmerten plötzlich feucht. „Möge das Glück immer auf Ihrer Seite sein.“

„Dasselbe wünsche ich Ihnen auch.“ Er ging weiter und fragte sich, was er mit dem Strauß Nelken anfangen sollte, den er behalten hatte.

Ein Flugblattverteiler drückte ihm das neueste boshafte Pamphlet gegen die Königin in die Hand. Bei seiner Ankunft in Paris war Pierce erstaunt gewesen, dass so reißerisch obszöne Darstellungen von Marie Antoinette ganz offen in den Straßen verkauft wurden. Englische Illustratoren verspotteten auch prominente Mitglieder der Gesellschaft, und diese Karikaturen konnten bisweilen grausam sein. Aber in London hatte Pierce noch nie Schmähreden gesehen, die ihr Opfer so hoffnungslos verderbt und verkommen porträtierten. Obwohl Marie Antoinette mehr als die Hälfte ihres Lebens in Frankreich verbracht hatte und mit Ludwig XVI. verheiratet war, nannte das Volk sie immer noch l’Autrichienne, die Österreicherin, und belegte sie häufig mit noch weitaus schlimmeren Bezeichnungen.

Aber die Feindseligkeit der Königin gegenüber war nur ein Teil der unberechenbaren Stimmung in Paris. Frankreich befand sich in einer Krise. Der vorangegangene Winter war streng und die Ernte schlecht gewesen, weshalb Brot nun so teuer geworden war, dass viele es sich einfach nicht mehr leisten konnten. Vor nicht langer Zeit war der König gezwungen gewesen, die Generalstände einzuberufen – die Bezeichnung für die aus den drei Ständen der französischen Gesellschaft bestehende Versammlung –, und zwar zum ersten Mal nach fast zweihundert Jahren.

Noch vor der ersten Zusammenkunft der Generalstände hatte es Streit über das Votum gegeben. Wenn jeder Stand über eine gleiche Anzahl von Stimmen verfügte, konnten die ersten beiden den dritten Stand jederzeit übertrumpfen. Die Eröffnungsfeier, bei der die beiden ersten Stände, die Geistlichkeit und der Adel, ihre prunkvollsten Roben trugen, während sich der dritte Stand, das Volk, mit schlichtem Schwarz begnügen musste, hatte dem allgemeinen Unmut noch neue Nahrung gegeben. Seither hatte es unaufhörlich Auseinandersetzungen zwischen dem dritten Stand und den beiden anderen gegeben. Der Konflikt war eskaliert, als dem dritten Stand der Zutritt zur Versammlungshalle verweigert worden war. Die Vertreter des Volkes erklärten sich daraufhin zur Nationalversammlung. Sie kamen geschlossen im nahe gelegenen Ballhaus zusammen – einer Halle, in der sonst eigentlich Tennis gespielt wurde – und legten einen Schwur ab, sich niemals zu trennen, bis man eine annehmbare Verfassung verabschiedet hatte.

Über all das war in England berichtet worden, aber es war eine Sache, über die dramatischen Ereignisse in der Zeitung berichtet zu bekommen, eine ganze andere jedoch, sich im Herzen dieser Geschehnisse zu befinden. Pierce war fasziniert von allem, was er las und hörte.

Der Ballhausschwur war am 20. Juni abgelegt worden. Mittlerweile war der 8. Juli, und die Spannungen hatten immer weiter zugenommen. Die Generalstände tagten in Versailles, und Neuigkeiten über die Ereignisse dort wurden dem Palais Royal berichtet, wo man heftig darüber debattierte. Der König hatte darauf reagiert, indem er Truppen rund um und in die Stadt entsandte. Dadurch wuchsen natürlich das Misstrauen und der Unmut der Menschen. Pierce blieb eine Weile stehen, um einem Mann zuzuhören, der auf einen Tisch gesprungen war und die Menge mit einer leidenschaftlichen Rede davon überzeugte, wie wichtig es war, den dritten Stand jetzt zu unterstützen. Viele der Anwesenden scharten sich um ihn und gaben lauthals Bemerkungen dazu ab. Pierce kam es so vor, als wäre jeder in Paris zum Politiker geworden, der eine eigene Meinung hatte. Von seinem Naturell her galt seine Sympathie dem dritten Stand, aber er war in Frankreich, um einen Erpresser zu stellen, und er konnte es sich nicht leisten, sich zu lange ablenken zu lassen.

Er verließ das Palais Royal und machte sich auf den Weg in die Rue Saint Honoré. Sein Ziel war das Geschäft der marchande des modes, Clothilde Moreau. Clothildes Laden war einer der elegantesten in einer sehr noblen Straße. Hier erhielt man alle möglichen prachtvollen Accessoires, die dem Geschmack und den Ansprüchen der feinen Damen gerecht wurden. Pierce war leicht schwindelig geworden angesichts der großen Auswahl an Schleifenbändern, Blumen, Federn, Flore und Spitzen, die Clothilde anzubieten hatte. Während seines ersten Besuchs bei ihr hatte er mitbekommen, wie sie ihre Kunden beriet und manchmal auch dazu überredete, mal einen ganz neuen Stil auszuprobieren oder mit einem ungewohnten Zierwerk zu experimentieren.

Clothilde war aber auch Pierces Kontaktperson zu England. Sie kannte seinen wirklichen Namen nicht und hatte auch keine Ahnung, wer die Hintermänner all der anderen Leute waren, die über sie miteinander kommunizierten. Aber, so teilte sie Pierce unbeschwert mit, sie war eben eine praktisch veranlagte Geschäftsfrau, die gern Gewinne erzielte. Und sie wurde durchaus großzügig bezahlt für ihre geheimen Aktivitäten. Pierce vermutete, dass sie auch Intrigen nicht abgeneigt war, aber das behielt er für sich.

„Ach, Monsieur, Sie sind wieder da.“ Sie kam auf ihn zu, als er den Laden betrat. „Hatten Sie Erfolg mit Ihrem Einkauf? Gefiel der Dame, was Sie Ihr anzubieten hatten? Oh, Sie haben ihr Blumen gekauft?“ Sie schaute auf die Nelken in seiner Hand. Verglichen mit all dem überwältigenden Putz in den Auslagen wirkten die Blumen ziemlich armselig. Pierce war nicht überrascht, dass Clothilde sie skeptisch betrachtete.

„Ich glaube, sie war ganz entzückt über das Geschenk“, erwiderte er lächelnd. „Ihre Beratung war wirklich höchst hilfreich. Bitte nehmen Sie dies als kleines – ganz kleines – Zeichen meiner Dankbarkeit.“ Mit einer fast anmutigen Geste überreichte er ihr die Nelken.

„Vielen Dank, Monsieur! Ich freue mich, dass ich Ihnen behilflich sein konnte. Kann ich vielleicht noch etwas für Sie tun? Wie wäre es mit ein paar Seidenbändern oder vielleicht einem Duftwasser für ihr Haar?“

„Das geht genau in die Richtung, an die ich dachte“, antwortete er und sah zu einem prächtigen, mit Federn verzierten Hut hinüber.

„Sie wollen ihr einen Hut schenken?“, fragte Clothilde, die seinem Blick gefolgt war.

„Nein, Mademoiselle. Ich möchte lernen, ihr das Haar zu frisieren.“

Donnerstagmittag, 9. Juli 1789

„Danke, Suzanne, Sie brauchen nicht zu bleiben, während Pierre mich frisiert“, teilte Mélusine ihrer Zofe mit.

Da Monsieur Barrière ihr neues Personal für sie ausgesucht hatte, kannte sie keinen der Bediensteten gut. Suzanne hatte bislang kaum ein Wort gesprochen. Zwar hatte Mélusine keine offen gezeigte Feindseligkeit an ihr wahrgenommen, aber ihr war nicht entgangen, dass die Zofe sie ständig verstohlen anschaute, wenn sie zusammen waren. Sie hatte keine Lust, unter so genauer Beobachtung zu stehen, wenn Pierre sie das erste Mal frisierte.

Mélusine saß ganz still da und verschränkte angespannt die Hände unter ihrem Frisiermantel, als Pierre sich ihr näherte. Obwohl sie sich alle Mühe gab, gelassen zu wirken, wurde sie eher noch verspannter, als er das Band löste, das sie sich nach dem Aufstehen ins Haar geflochten hatte. Er zog es langsam heraus und ließ es auf den Frisiertisch fallen. Dann schob er die Hände unter die Fülle ihres Haars, und sie schrak zusammen, als seine Fingerspitzen ihren Nacken streiften. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Es war das erste Mal seit Jean-Baptiste, dass ein Mann wieder ihr Haar berührte. Das erste Mal, dass ein Mann sie überhaupt berührte nach Bertiers Tod.

Sie wagte es nicht, tief durchzuatmen, weil er so dicht hinter ihr stand, dass er sofort bemerkt hätte, wie nervös sie war. Sie hielt den Kopf gesenkt. Aus den Augenwinkeln konnte sie Pierre im Spiegel sehen, aber sie wollte es lieber nicht riskieren, dass ihre Blicke sich trafen.

Mélusine hatte die zwei Stunden oder mehr, die es dauern konnte, eine ordentliche Frisur zustande zu bringen, schon immer nur mit Mühe ertragen. Manche verheirateten Damen scharten eine Gruppe von Bewunderern zur Unterhaltung in ihrem Boudoir um sich, während sie toilette machten. Zu Mélusines großer Erleichterung hatten immer nur wenige Herren so viel Interesse an ihr gezeigt, um ihr bei derartigen Gelegenheiten ihre Aufwartung zu machen. Und die wenigen, die kamen, waren danach nie wieder erschienen. Ihre Unfähigkeit, ihre Verlegenheit zu verbergen, hatte allen Beteiligten Unbehagen verursacht. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach keinen Gefallen daran finden, Gäste zu unterhalten, wenn sie sich nur halb bekleidet fühlte. Dabei hätte Bertier nicht einmal etwas dagegen gehabt; in dieser Hinsicht verhielt er sich so aufgeschlossen wie jeder andere Franzose auch.

Pierre wog ihr schweres Haar behutsam in den Händen. Sie unterdrückte einen leichten Schauer bei diesem unerwartet angenehmen Gefühl und hob den Kopf gerade so, dass sie Pierre besser im Spiegel sehen konnte. Er betrachtete ihr Haar mit ausgesprochen konzentriertem Gesichtsausdruck. Mélusine stellte sich vor, wie die langen kastanienroten Strähnen über seine Handgelenke fielen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Jean-Baptiste je so etwas getan hätte oder so versunken in seine Aufgabe gewesen wäre. Zu ihrer Erleichterung konnte sie in Pierres Miene nicht diese sorgfältig kaschierte Verachtung entdecken, die sie so oft bei Jean-Baptiste wahrgenommen hatte.

Pierre griff an ihr vorbei nach dem Kamm auf dem Frisiertisch und fing vorsichtig an, sie zu kämmen. Er trug eine schwarze Weste über einem weißen Hemd und dazu eine weiß gepuderte Perücke. Im Gegensatz zu Jean-Baptiste, der in ihrer Anwesenheit niemals auch nur ein Teil seiner Livree ablegte, hatte Pierre seinen Gehrock ausgezogen. Nach anfänglichem Erschrecken wurde ihr bewusst, dass das eine sehr praktische Entscheidung war. In dem locker sitzenden Hemd fiel ihm die Arbeit viel leichter. Jetzt, wo er gut geschnittene Kleidung trug, konnte sie sehen, dass sie recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung, er wäre stark und kräftig gebaut. Sie fragte sich, wie er wohl ohne sein Hemd aussehen würde. Der Gedanke war faszinierend und ein wenig aufregend, aber natürlich gab es keine Möglichkeit, das herauszufinden.

Mélusine hatte den Morgen damit verbracht, silberne Litzen an seinen Rock zu nähen. Alle anderen im Haus hatten dringendere Pflichten zu erledigen gehabt, aber sie konnte zu ihrer ersten Gesellschaft seit ihrer Rückkehr nach Paris nicht ohne einen Diener in Livree gehen, und sie wollte, dass er beeindruckend wirkte.

„Sie werden niemandem verraten, dass ich die Litzen angenäht habe“, verlangte sie.

„Nein, Madame.“ Irgendetwas an seinem Tonfall bewirkte, dass sie sich wieder wie das unerfahrene Mädchen vom Land fühlte, das durch Heirat in die höheren Ränge der Pariser Gesellschaft katapultiert worden war.

Pierre hatte einer Duchesse gedient, war wahrscheinlich sogar deren Liebhaber gewesen, obwohl er das nicht bestätigen wollte. Für ihn war es sicher ein Abstieg, nun ihr zu dienen. Sie hatte ihm hochmütig mitgeteilt, die erste Woche wäre seine Probezeit, aber sah er sich womöglich schon nach einer eleganteren, vornehmeren Herrin um?

Er war immer noch ganz auf ihr Haar konzentriert, daher wagte sie es, ihn direkt im Spiegel zu betrachten. Auf den ersten Blick unterschied ihn nichts von den vielen anderen männlichen Bediensteten, die sie bislang gesehen hatte – ordentlich gekleidet, zurückhaltend in seinen Bewegungen, berufserfahren und ausdruckslos. Nur war das ihrer Erfahrung nach das Ideal, nicht die Wirklichkeit. Ihrem Vater mochte der Anflug von Gereiztheit entgangen sein, wenn er einen Lakaien hinaus in den Regen geschickt hatte, ihr jedoch niemals. Genauso hatte sie auch Jean-Baptistes Geringschätzung gespürt und darunter gelitten. Er hatte niemals etwas Unangebrachtes gesagt oder getan, abgesehen von gelegentlichen Seitenblicken und geringschätzigem Fingerschnalzen, und doch hatte sie gewusst, dass er sie für ein verachtungswürdiges Subjekt hielt.

Heute hingegen hatte Pierre sich wie ein perfekter Diener verhalten. Selbst bei seiner kühlen Antwort auf ihre Befürchtungen wegen der Silberlitze hatte sie nur das unbestimmte Gefühl gehabt, dass er derlei Klatsch und Tratsch für unter seiner Würde hielt. Sie beobachtete seine ausdruckslose Miene, während er ihr das Haar kämmte, und kam zu dem Schluss, dass sie schon Automaten auf Jahrmärkten gesehen hatte, die mehr Persönlichkeit gezeigt hatten als er. Doch sie wusste, dass er auch anders sein konnte.

Immer wieder musste sie an ihre erste Begegnung denken, und diesen Augenblick hatte sie mit einer Mischung aus unschicklicher Aufregung und Panik entgegengesehen, überzeugt davon, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Seit dem Betreten ihres Boudoirs hatte er jedoch nichts Herausforderndes gesagt oder getan. Abgesehen von seinem kurz angebundenen „Nein, Madame“ hatte er tatsächlich gar nichts gesagt, seine ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Haar.

Sie betrachtete ihn nun eingehender, und da fiel ihr auf, was ihr vorher entgangen war, weil sie zu angespannt auf irgendeine anzügliche Bemerkung von ihm gewartet und zum Teil sogar befürchtet hatte, er könnte sie auf unschickliche Weise berühren. Er konzentrierte sich wirklich sehr auf ihr Haar und auf das, was er damit anstellte. Jean-Baptiste wäre zu diesem Zeitpunkt längst mit dem Kämmen fertig gewesen und hätte damit begonnen, das Haar zu einer hochmodischen, kunstvollen Frisur zu legen. Die vielen verschiedenen Arten von Haartrachten hatten so viel Zeit erfordert, nicht der Mangel an Können. Auch war es Jean-Baptiste gleichgültig gewesen, wenn er bisweilen zu fest an den Strähnen zerrte.

Pierres Hände waren größer als die von Jean-Baptiste, aber Mélusine spürte, dass er genau darauf achtete, nicht zu fest zu ziehen. Der Blick seiner grauen Augen war über alle Maßen konzentriert, und als er eine schwere Strähne durch seine Finger gleiten ließ, war sie plötzlich auf unerklärliche Weise fest davon überzeugt, dass er das tat, weil er das Gefühl genoss.

Pierre legte den Kamm zur Seite und schob die Hände in ihr Haar, um ihr die Kopfhaut zu massieren. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und beinahe hätte sie hörbar den Atem angehalten. Plötzlich war sie sich überdeutlich bewusst, dass er nur wenige Zentimeter hinter ihr stand. Wenn er sich nur ein winziges Stück nach vorn bewegte, würde er sie mit dem Körper berühren. Das Haar fiel ihr über die Augen, und nun spürte sie nur noch seine Fingerspitzen auf ihrer Kopfhaut, das seidig raschelnde Geräusch, als ihr Haar durch seine Finger glitt.

Ihr Kopf war nach vorn gebeugt, ein Vorhang kastanienroter Locken nahm ihr die Sicht, und sie fühlte sich viel verletzlicher, als ihr lieb war, und doch empfand sie die Massage für eine Weile als so wohltuend, dass sie sich nicht aufraffen konnte, ihm Einhalt zu gebieten. Dann allerdings fiel ihr wieder ihr Verdacht ein, er ließe sich deshalb so viel Zeit, weil er keine Erfahrung im Frisieren hatte. Bei dem Vorstellungsgespräch hatte er sich etwas überrascht angehört, als sie gesagt hatte, sie erwartete von ihm, ihr das Haar zu frisieren. Ihre kurze Bekanntschaft mit ihm hatte sie glauben lassen, dass er ein Mann war, der nicht gern Gebiete enthüllte, auf denen er sich nicht so kompetent fühlte. Aber vielleicht verhielt er sich einfach schweigsamer als gewöhnlich, wenn er versuchte, eine Aufgabe zu bewältigen, die ihm nicht vertraut war? Möglicherweise setzte er seine Fähigkeiten als Liebhaber ein, um sie von seinem Mangel an Kompetenz abzulenken?

„Wissen Sie eigentlich, was Sie da tun, Monsieur?“, fragte sie mit leicht gedämpft klingender Stimme.

„Ja.“

„Drücken Sie sich bitte etwas präziser aus.“ Es war schwierig, respekteinflößend zu klingen mit nach vorn gebeugtem Kopf und ins Gesicht hängenden Haaren, aber sie bemühte sich dennoch, ihrer Stimme eine etwas gebieterische Note zu verleihen.

„Ich stimuliere die Wurzeln Ihres Haars, damit es noch üppiger wächst.“

„Indem Sie mich massieren? Sie haben keine Ahnung, wie man frisiert, nicht wahr?“ Sie hob den Kopf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Sie wollen mich nur ablenken, damit ich das nicht bemerke. Die Duchesse hat Sie eingestellt wegen Ihrer … wegen … kurz gesagt, jedenfalls nicht wegen Ihrer Frisierkünste.“

„Madame, das ist ein sehr seltsamer Schluss, den Sie da ziehen“, erwiderte Pierre kalt.

„Ich wüsste nicht, warum. Jean-Baptiste hätte schon vor einer halben Ewigkeit die Haarnadeln gesteckt – und er brauchte insgesamt nur zwei Stunden. So wie Sie arbeiten, sitzen wir hier noch um Mitternacht.“

„Haarnadeln?“, wiederholte Pierre. „Was für ein Frevel!“

„Ach, um Himmels willen!“ Mélusine griff nach dem Kamm. „Wenn Sie nicht frisieren können, dann ist das eben so. Das stört mich nicht, Hauptsache, Sie können Türen öffnen, mir beim Einsteigen in die Kutsche behilflich sein und so aussehen wie ein Diener. Sie können doch sicher Wein einschenken und Gemüse servieren, ohne dabei etwas zu verschütten, oder?“

„Sogar im Bett“, erwiderte Pierre ironisch. „Um jedoch den guten Ruf der Duchesse zu schützen – wenn schon nicht meinen eigenen –, muss ich wiederholen, dass sie nie, zu keinem Zeitpunkt meine Geliebte war, Madame!“

„Das war vielleicht nicht richtig ausgedrückt, denn weil sie Sie offiziell eingestellt hatte, waren Sie wohl eher ihr …“

„Ich bin noch nie dafür bezahlt worden, dass …“ Pierre atmete tief durch und brummte etwas vor sich hin, das Mélusine nicht verstehen konnte. „Sitzen Sie still und lassen Sie mich arbeiten“, fuhr er sie an.

Sie zuckte zusammen und straffte sich unwillkürlich bei diesem Befehl. Erst dann fiel ihr ein, dass sie sich nie wieder von irgendjemandem Vorschriften machen lassen wollte. „Für die Rolle des Untergebenen sind Sie von Ihrem Naturell her nicht besonders geeignet“, stellte sie fest. „Das fiel mir schon beim Vorstellungsgespräch auf. Dienstbotentätigkeiten sind nicht Ihre Stärke. Ich könnte Sie mir viel eher als Lehrer vorstellen, oder … Sie können doch lesen. Oder?“

Allerdings, Madame de Gilocourt.“

„Sie brauchen nicht gleich beleidigt zu sein. Viele Menschen können nicht lesen, außerdem würde das erklären, warum Sie es in der Welt nicht weitergebracht haben. Ich könnte es Ihnen beibringen, wenn Sie möchten.“

„Nein, ich …“ Er verstummte. „Natürlich vermag ich Französisch zu lesen und zu schreiben“, erklärte er. „Ich kann sogar etwas Englisch, obwohl ich es nicht schriftlich beherrsche. Es könnte ganz nützlich sein, diese Sprache besser zu können. Wäre es möglich, dass Sie mir dabei behilflich sind?“

„Ich spreche kein Englisch“, gab Mélusine seufzend zu. „Bertier hat mir bei unserer Hochzeit versprochen, mir Unterricht zu geben, aber dazu kam es nie. Ich kann allerdings ein wenig Latein. Das könnte für einen Lehrer ganz nützlich sein.“

„Ja“, stimmte Pierre zu. Sein Tonfall hatte sich verändert, obwohl Mélusine keine Ahnung hatte, warum er so abwesend klang, als er ihr Angebot annahm. „Es wäre schön, wenn Sie mir Latein beibringen könnten. Wo haben Sie es gelernt?“

„Bei den Nonnen“, erklärte sie. „Ich wurde in einem Konvent erzogen. Sie müssen aber kein Lehrer werden, wenn Sie das nicht wollen.“

Eine Weile sagte er gar nichts. Sie beobachtete ihn im Spiegel und fragte sich, warum plötzlich ein Anflug von Grimmigkeit auf seinen Zügen lag, den sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Er streckte die Hand nach der Brennschere aus, und mit einem Mal hatte sie eine Schreckensvision von sich mit abgesengtem Haar.

„Halt!“, rief sie entsetzt. Pierre schrak heftig zusammen und fluchte halblaut.

„Madame, wenn Sie mich weiterhin ständig unterbrechen, sitzen wir hier tatsächlich bis Mitternacht. Sitzen Sie bitte still, und schreien Sie nicht, wenn ich die heiße Brennschere in der Hand halte.“

Mélusine schluckte eingeschüchtert, und es widerstrebte ihr, ihn noch weiter zu verärgern. Aber die Sorge um ihr Haar war größer. „Sind Sie sich wirklich vollkommen sicher, dass Sie wissen, was Sie da tun?“, fragte sie erneut.

Autor

Claire Thornton
Claire Thornton ist in der englischen Grafschaft Sussex geboren und aufgewachsen. Schon früh wurde Lesen für sie zum wichtigsten Lebensinhalt. Später studierte sie Geschichte an der Universität von York, wusste jedoch immer, dass ihr Herz der Schriftstellerei gehört. Ihr erster historischer Liebesroman erschien 1992 mit großem Erfolg. Seitdem hat Claire...
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