Im funkelnden Licht der Liebe

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Der süße Duft von Lebkuchen, ein Berg liebevoll eingepackter Geschenke und eine Ehefrau, so anbetungswürdig wie ein Engel! Eigentlich der perfekte Heiligabend. Doch Lucas weiß genau: Wenn er Freyas Leben nicht zerstören will, muss er sie noch diese Nacht verlassen …


  • Erscheinungstag 30.11.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745753769
  • Seitenanzahl 116
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Es würde das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten werden! Das hatte Freya sich fest vorgenommen.

Als sie hörte, wie Lucas die Haustür aufschloss, richtete sie mit einer unbewussten Geste ihr Haar und hoffte inständig, der köstliche Duft des Bratens würde ein Lächeln auf sein Gesicht zaubern.

„Ich bin in der Küche!“, rief sie mit heller Stimme, froh, dass sie sich den heutigen Tag hatte freinehmen können.

Lucas war in letzter Zeit nicht gerade bester Laune gewesen, was sicherlich damit zu tun hatte, dass er Weihnachten arbeiten musste. Und wohl auch mit ihrer Ungeschicklichkeit, heikle Themen anzusprechen, während er überarbeitet und übernächtigt war. Trotzdem hätte sie nie erwartet, dass ihr Wunsch nach einem eigenen Baby bei ihm, als engagiertem Kinderarzt, eine derart kontroverse Diskussion lostreten würde. Zumal er bei seinen kleinen Patienten ausgesprochen beliebt war.

Bisher war eine eigene Familie zwischen ihnen kein Thema gewesen.

Trotzdem hatte Freya angenommen, Lucas sehne sich danach ebenso wie sie. Doch seine negative Reaktion von heute Morgen, sagte etwas ganz anderes. Da hatte er wortlos die Tür hinter sich zugeworfen und sich ins Krankenhaus geflüchtet, als sie ihn gefragt hatte, ob Weihnachten nicht der perfekte Zeitpunkt sei, ein Baby zu zeugen. Und das, während er offensichtlich unter Druck stand und keinen Kopf dafür hatte, über eine Vaterschaft nachzudenken.

Besser, sie besprachen dieses sensible Thema später, wenn sie beide Zeit und Muße für langfristige Zukunftspläne hatten.

Als Lucas zu ihr in die Küche kam, immer noch mit demselben finsteren Blick, den er seit Tagen zur Schau trug, sank ihr Herz. Wie es aussah, war ihr Timing immer noch nicht perfekt, genauso wenig, wie ihre Beziehung dem romantischen Märchen glich, als das sie sich ihre Ehe vorgestellt hatte. Ihr Traum von der eigenen kleinen Familie schien weiter entfernt denn je.

Lucas jüngste Stimmungsschwankungen ließen sie fast ihre Abmachung bedauern, die Festtage in diesem Jahr ganz allein zu verbringen, nur sie beide. Es würde ihr erstes Weihnachten ohne ihre deko- und weihnachtsverrückten Eltern sein. Erschwerend kam hinzu, dass ihr Ehemann Freyas eigene Begeisterung für das Christfest so gar nicht teilte.

Je mehr sie versuchte, ihn dafür zu begeistern, desto heftiger schien er sich dagegen zu wehren. Dennoch war sie entschlossen, das Fest und ihre Ehe zu einem Erfolg zu machen. Sie hatte bereits zu viel verloren, um sich alles wieder aus den Händen nehmen zu lassen …

Lucas lehnte mit dem Rücken am Kühlschrank. „Wie ich sehe, warst du fleißig“, stellte er mit einem flüchtigen Blick auf den Berg Plätzchen fest, ehe er weiter auf seinem Handy herumtippte.

Freya schluckte. Das war weit weg von der romantischen Wiedervereinigung, die sie sich den ganzen Tag über ausgemalt hatte: Nachdem sie beide zugegeben hätten, im Unrecht gewesen zu sein, würden sie ihre Versöhnung ganz sicher in einem heißen Küchen-Quickie feiern. Denn in Sachen Sex hatte es zwischen ihnen früher nie Probleme gegeben.

Klar hatte sie davon gehört, dass Leidenschaft nachlassen konnte, sobald man verheiratet war. Aber doch nicht bereits nach wenigen Monaten! Da sollte man sich eigentlich noch bei jeder Gelegenheit die Kleider vom Leib reißen! Dass es offensichtlich nicht so war, verunsicherte Freya und ließ sie an sich zweifeln.

Ihre Mutter schien nie ein Problem damit gehabt zu haben, ihren Beruf als Krankenschwester und ihre Ehe perfekt unter einen Hut zu bringen. Warum hatte nur sie, Freya, offensichtlich solche Probleme damit?

Alles, was sie tun konnte, war, dieses erste Weihnachten für sich und ihren Ehemann zu etwas ganz Besonderem zu machen.

„Der Truthahn ist so gut wie fertig, falls du schon Appetit hast. Ich habe ihn genauso gefüllt, wie meine Mutter es immer macht. Vielleicht kann ich diese Familientradition ja auch eines Tages weitergeben …“

Es war heraus, ehe sie es verhindern konnte. Angespannt wartete sie auf eine neue heftige Reaktion wegen ihrer Vision von einer fröhlichen Kinderschar unterm Christbaum.

„Momentan habe ich keinen Hunger … vielleicht später“, murmelte Lucas geistesabwesend und starrte weiter mit gerunzelter Stirn auf sein Handy-Display.

Freya schluckte mühsam und ermahnte sich streng, nicht überzureagieren. So war es eben, wenn man einen engagierten Kinderarzt heiratete, der rund um die Uhr in Bereitschaft war. Trotzdem konnte sie den nagenden Zweifel nicht abschütteln, dass sich möglicherweise noch etwas anderes hinter seinem Verhalten verbarg. Besonders, seit sie mehrfach miterlebt hatte, wie Lucas Telefonate abrupt beendete, sobald sie das Zimmer betrat.

„Ich habe sogar Lebkuchen gebacken“, verkündete sie mit erzwungener Fröhlichkeit. „Du weißt doch, diese kleine Armee von Lebkuchenmännern, ohne die es einfach kein richtiges Weihnachten ist. Auch wenn man sich nach Silvester die Zähne daran ausbeißt. Ich dachte, du könntest mir dabei helfen, sie zu dekorieren, ehe Santa Claus …“

Sie brach ab, als sie merkte, dass ihr kindlicher Eifer ihn nicht wie erhofft zum Schmunzeln brachte, sondern Lucas nur entnervt mit den Augen rollte.

Er ist wahrscheinlich zu erschöpft, um sich von mir in Weihnachtsstimmung bringen zu lassen, versuchte Freya sich einzureden. Das war allemal besser, als die Vorstellung, Lucas könne sie und ihre Ehe bereits satt haben.

„Großartig …“, murmelte er, ohne sie anzusehen. „Ich … äh, ich geh dann mal duschen.“ Damit strebte er aus der Küche und wischte mit der Hand gedankenlos die schillernden Papiergirlanden am Türrahmen zur Seite.

Freya erstarrte. Es erschien ihr wie ein Synonym dafür, dass er in ihr auch nichts anderes sah, als eine hübsche aber bedeutungslose Dekoration, die man ignorieren oder aus dem Weg räumen konnte, um sein Leben wie gewohnt fortzuführen.

Und erneut rotierte ihr Gedankenkarussell.

Selbst, wenn er nicht arbeitete, kam Lucas erst spät zu ihr ins Bett und war meist schon aufgestanden, wenn sie aufwachte, sodass ihnen nur wenig Zeit als verheiratetes Paar blieb. Okay, die Ehe war für sie beide noch Neuland, doch Freya hatte sich geschworen, alles dafür zu tun, dass sie funktionierte. Dies war ihre Chance, endlich eine eigene Familie zu bekommen, und sie wollte kein zweites Mal scheitern.

Lucas schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und überließ es dem strömenden Wasser, alle verdächtigen Spuren von seinen Wangen zu wischen.

Ein Mann, der heulte!

Und das am ersten Weihnachtsfest mit seiner wunderschönen Frau. Müsste das nicht die glücklichste Zeit seines Lebens sein? Aber wie sollte er sich an der vor ihnen liegenden Zukunft freuen, wenn seine Vergangenheit ihn derart brutal einholte? Er konnte unmöglich daran denken, eine eigene Familie zu gründen, während er immer noch damit kämpfte, den Tod seines Vaters zu verkraften – des einzigen Elternteils, das er kannte.

Dabei trauerte er nicht um den Mann, sondern um seine eigene Kindheit. Die leidvollen Erfahrungen, die ihn immer noch nicht losließen und verhinderten, dass er sein neues Leben, seine Ehe mit Freya genießen konnte.

Alles, was er sich so hart erarbeitet hatte, erschien ihm als Lüge, seit er sich dem stellen musste, wer er eigentlich war – abgesehen von seiner Karriere und dem sichtbaren Erfolg. Ein verbitterter Sohn und zutiefst verunsicherter potenzieller Vater. Es wäre einfach nicht fair, ein Kind in diese Welt zu setzen, während seine eigene um ihn herum zusammenzubrechen drohte …

Lucas fluchte lautlos, schrubbte sein Selbstmitleid erbarmungslos weg und stellte die Dusche ab.

Dass er Freya gegenüber nicht fair war, quälte ihn besonders. Ein normaler Mann hätte seiner Frau bestimmt von dem entfremdeten Vater erzählt, der schließlich seiner Lebererkrankung erlegen war. Und sie gebeten, an seiner Seite zu sein, um die verdammte Beerdigung durchzustehen.

Dann hätte sie sicher verstanden, dass er nicht über ein eigenes Kind nachdenken konnte, solange er vor Angst verging, genauso zu versagen, wie sein Vater es bei ihm getan hatte. Aber die Beziehung zu seinem Erzeuger war so krank und vergiftet gewesen, dass er sie damit nicht konfrontieren wollte. Freyas rosarote Brille, was ihre Ehe und Zukunft betraf, sollte nicht durch die hässliche Wirklichkeit getrübt werden.

Er hätte wissen müssen, dass man dem Fluch der Vergangenheit nicht so einfach entkommen konnte.

Die Nachricht vom Tod seines Vaters hatte ihn wie mit einer Zeitmaschine in eine Vergangenheit zurückgebeamt, von der er glaubte, sie endgültig bewältigt zu haben. Stattdessen wurde er plötzlich von Erinnerungen eingeholt, die er so vehement zu unterdrücken versucht hatte, bis selbst seine wachen Momente von dunklen Gedanken und der Notwendigkeit, ihnen zu entkommen, dominiert wurden.

Freya war es als Einziger gelungen, ihn aus dieser Falle zu befreien – leider nicht endgültig, wie er sich jetzt eingestehen musste. Anstatt sein neues Leben zu genießen, drohte er in Verzweiflung zu ertrinken und stieß seine Frau von sich, während sie versuchte, ihr Haus zu dem Heim zu machen, das er nie gehabt hatte.

Sobald er sich abgetrocknet und umgezogen hatte, ging Lucas zu ihr nach unten.

Dort erwartete ihn ein liebevoll gedeckter Tisch. Doch anstatt die Bemühungen seiner Frau wertschätzen zu können, erinnerte es ihn nur schmerzhaft daran, worauf er in seiner Kindheit und Jugend hatte verzichten müssen. Wie es aussah, war es seinem Vater gelungen, ihm neben allem anderen auch noch Weihnachten für immer zu zerstören …

„Ich dachte, wir könnten jeder schon heute Abend eines der Geschenke unterm Christbaum öffnen“, schlug Freya ihm mit strahlendem Lächeln vor. „Zu Hause haben wir es immer so gemacht, und für gewöhnlich war darin ein Pyjama, den man dann schon vor dem Weihnachtsmorgen tragen durfte.“ Sie setzte sich ihm gegenüber, immer noch so aufgekratzt, als erwarte sie tatsächlich, dass der Weihnachtsmann jeden Moment durch den Schornstein purzeln würde, um ihnen Gesellschaft zu leisten.

Er hatte sich derartigen Wahnvorstellungen noch nie hingegeben, weder als Kind noch als Erwachsener. „Klingt gut.“ Wenn er gewusst hätte, dass sie so eine Weihnachtsfanatikerin war, hätte er sich vielleicht auch etwas überlegt, um sie zu überraschen, aber dies war alles so schrecklich neu für ihn. Geschenke waren bisher nicht mehr als Gesten gewesen, um seinem Gegenüber Wertschätzung, Dank oder sonst was zu vermitteln.

Für seine Frau schienen sie einen anderen Stellenwert zu haben, angesichts des kunterbunten Geschenkebergs unterm Weihnachtsbaum.

„Ich weiß, dass wir eigentlich ein ruhiges Fest geplant haben, aber ich dachte … wenn es für dich okay ist …“ Freya brach ab, räusperte sich und gab sich einen Ruck. „Könnten wir nicht morgen zusammen mit meinen Eltern essen? Wir haben sie seit der Hochzeit kaum gesehen.“

Während sich Lucas’ Magen zusammenzog, fiel sein Besteck scheppernd zu Boden. Damit war auch sein letztes bisschen Appetit verflogen. „Ich dachte, du wolltest unser erstes Weihnachtsfest unbedingt in trauter Zweisamkeit verbringen?“, erinnerte er seine Frau. Jetzt auch noch den Tag im Kreis ihrer anscheinend perfekten Familie zu verbringen, war das Letzte, was er wollte.

„Ich weiß. Es wäre nur schön, sie zu sehen und den Tag irgendwie ein wenig …“

Die Enttäuschung in ihren großen braunen Augen war nicht zu übersehen. Weihnachten galt offenbar als Symbol für alles, was ihrer Familie wichtig war. Alles, worauf er ein Leben lang hatte verzichten müssen.

Freya liebte es, mit ihren Eltern zusammen zu sein und konnte es nicht abwarten, selbst Mutter zu werden. Und er hasste den Gedanken, der dunkle Schatten über ihrem Leben und dem ihres Kindes zu sein. Was, wenn sich herausstellte, dass er wie sein Vater keine anderen Emotionen als Bitterkeit, Kälte oder Hass zeigen konnte?

War er nicht schon auf dem besten Weg dahin? Würde er sonst so gereizt auf die Liebesbeweise seiner Frau reagieren und sich lieber in die Schrecken der Vergangenheit flüchten? Sie verdiente einen besseren, stärkeren Mann als ihn. Einen, der sich nicht wie ein ängstlicher kleiner Junge verhielt, und der sich immer noch von seinem Vater einschüchtern ließ, selbst nach dessen Tod …

Er hatte nichts mehr gemein mit dem Mann, den Freya geheiratet hatte und mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte, auch wenn sie das nicht zugab. Ihre Liebe mochte perfekt sein, was die physische Seite betraf, doch ihre unterschiedlichen Zukunftsvisionen und Sehnsüchte würden sie unweigerlich voneinander entfernen.

Lucas schob seinen Teller zurück und stand auf. „Tut mir leid, Freya, aber ich halte das nicht länger aus.“ Jedes Wort schmerzte wie ein Dolch, der sich immer tiefer in seine Brust bohrte und eine Wunde riss, die nie wieder heilen würde.

Aber dies war die einzige Möglichkeit, sie beide zu retten, auch wenn es sich momentan nur brutal und grausam anfühlte. Freya war jung und idealistisch, die Zeit würde für ihn arbeiten und ihr klarmachen, dass er das Richtige getan hatte. Ihr offenes Wesen würde ihr helfen, eines Tages die große, wahre Liebe zu finden, die sie verdiente und die er ihr von Herzen gönnte … irgendwann, mit dem nötigen Abstand.

„Lucas …?“ Ihre Stimme erstarb. „Wir müssen nicht zu ihnen fahren, wenn du nicht willst. Lucas … ?“

Er kam nicht weiter als bis zur Haustür, bevor er ihre hastigen Schritte hinter sich hörte, schaute aber nicht zurück. Seine Knie zitterten, sein Brustkorb war so eng, dass der unerträgliche Druck ihn zu sprengen drohte. Er musste von hier weg, bevor noch etwas passierte, das er später bereute.

Freya konnte immer noch alles haben, wonach ihr Herz sich sehnte, aber mit jemand anderem. Das Beste zurückzulassen, was ihm je passiert war, erschien ihm unerträglich, und trotzdem musste es sein, zu ihrem Wohl …

1. KAPITEL

Zehn Monate später …

Freya klingelte testhalber mit den Glöckchen an ihrem Hut, richtete ihre Elfenohren auf und zog die gestreiften Strümpfe hoch. Weihnachten sollte die schönste Zeit des Jahres sein, und sie war fest entschlossen, genau das den kleinen Patienten vom Princes-Street-Kinderkrankenhaus zu vermitteln.

Egal, ob sie sich schon jetzt im Oktober auf den Weg nach Lappland machten, um den Mann im roten Anzug zu treffen. Sobald sie ihn sah, wollte Freya ihn daran erinnern, dass er ihr fürs letzte Weihnachten noch einen großen Gefallen schuldete …

„Na, ist dir überhaupt schon weihnachtlich zumute?“, wollte Gillian wissen, die wie sie als Krankenschwester in der Notaufnahme arbeitete und, ebenfalls als Elf verkleidet, jetzt neben Freya Stellung bezog. Zusammen mit der Crew wollten sie die aufgeregten Kinder an Bord begrüßen, die sie dann auch während des Fluges betreuen würden.

„Ich gebe mein Bestes.“ Tatsächlich fiel es ihr schwer, sich darauf zu besinnen, wie sehr sie dieses Fest geliebt hatte, bis sie ihr Mann im letzten Jahr am Weihnachtstag verlassen hatte und ihr damit die schlimmste Zeit ihres Lebens bescherte. Aber hier ging es nicht um sie, weshalb Freya ein betont fröhliches Lächeln auf ihre Lippen zauberte, während sie rot-weiß geringelte Zuckerstangen mit dem Aufdruck MERRY X-MAS an die kleinen Patienten verteilte, die das Ärzteteam für die von einer Wohltätigkeitsorganisation gesponserte Flugreise zum offiziellen Weihnachtsmanndorf am Polarkreis ausgewählt hatte.

„Auf jeden Fall steht dir dieses heiße Outfit!“, lachte Gillian und zupfte an dem weißen Kunstpelzsaum, der den Rock von Freyas grünem Elfenkostüm zierte.

„Ich wusste, dass er zu kurz ist!“, stöhnte sie auf. „Das kommt davon, wenn man gezwungen ist, in der Kinderabteilung einzukaufen!“ Wobei sie es vermutlich gerade ihrer mangelnden Körpergröße und ihrer zierlichen Figur verdankte, dass man sie als Hilfself für Santa Claus einsetzte. Okay, das und ihre umfassende pflegerische Erfahrung.

Ohne die Unterstützung eines qualifizierten medizinischen Teams würden diese armen Würmchen Edinburgh niemals verlassen können. Für einige von ihnen war es das erste Mal seit Jahren, dass sie das Krankenhaus für eine kurze Zeit hinter sich lassen durften, was diese Reise zu etwas ganz Besonderem machte. Nicht nur für die kleinen Patienten, sondern auch für ihre Familien und für jeden, der daran beteiligt war.

Allein deshalb war Freya wild entschlossen, ihren Kummer und ihre Einsamkeit wenigstens für diese Zeit zu vergessen, um den Trip für jedes der Kinder zu einem einmaligen Erlebnis zu machen.

„Du siehst einfach umwerfend aus. Vielleicht gelingt es dir ja, einem der Rentierzüchter den Kopf zu verdrehen, sodass er dich nie mehr weglassen will.“

Freya biss sich auf die Lippe und versuchte sich zu beherrschen, bis die Kinder außer Hörweite waren. Auf dieser Reise hatten Schmerz und Enttäuschung keinen Platz, und ihr Liebesleben, oder der Mangel desselben, gehörte absolut in diese Kategorie.

„Männer stehen in absehbarer Zukunft definitiv nicht auf meiner Wunschliste. Den letzten habe ich nur knapp überlebt. Alles, was ich mir dieses Jahr zu Weihnachten wünsche, ist, Lucas Brodie zu vergessen und mich daran zu erinnern, dass ich Freya Darrow bin: die personifizierte Weihnacht und nicht irgendein trauriges Scheidungsopfer, das in ihren Eierlikör heult und sich selbst bedauert.“

Wobei, offiziell geschieden waren Lucas und sie noch nicht. Aber da sie ihn nie wieder gesehen hatte, seit er einfach so gegangen war, musste sie wohl akzeptieren, dass ihre Ehe beendet war. So hatte Freya wieder ihren Mädchennamen angenommen, im Bestreben, alles aus ihrem Leben zu verbannen, was sie an ihn erinnern könnte.

In der ersten Zeit ihrer stürmischen Romanze, hatten sie nur Augen füreinander gehabt und sich um nichts und niemand sonst gekümmert.

Deshalb hatte sie Lucas auch nie von dem Verlust erzählt, den sie als Teenager erlitten hatte. Und er hatte offenbar auch nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, über sein Widerstreben zu sprechen, was eine eigene, kleine Familie betraf …

In der ersten Zeit ihrer Ehe war sie so überschäumend glücklich gewesen, dass Freya es nicht riskieren wollte, diese Harmonie zu zerstören, indem sie alte Wunden aufriss. Lieber gab sie sich der Hoffnung hin, mit der Zeit würde schon jedes Puzzleteil automatisch an seinen richtigen Platz fallen.

Dann, als Lucas erste Stimmungsschwankungen auftraten und er zunehmend launenhafter wurde, wollte sie ihn nicht noch zusätzlich aufregen, indem sie sein seltsames Verhalten thematisierte. Naiv wie sie war, dachte sie, ein so positives und optimistisches Thema wie die eigene Familienplanung könne alles wieder richten, nicht wissend, dass er zu dem Zeitpunkt offenbar schon entschlossen war, aus ihrer Ehe zu fliehen.

Er gab sie und ihre Ehe auf, ohne auch nur den Versuch zu machen, eine Lösung zu finden. Was immer ihn auch damals umtrieb, es ließ ihm offenbar keine andere Option, als zu gehen.

„Ich bin froh zu sehen, dass du wieder viel mehr deinem alten Selbst gleichst“, platzte Gillian mitten in ihre schweren Gedanken hinein. „Und … ach übrigens, da ist noch etwas wegen Lucas, das ich dir vielleicht sagen sollte …“

„Ich will nichts hören“, bremste Freya ihre Freundin gleich wieder aus und hielt sich die Ohren zu. „Nur glückliche Impulse an diesem Wochenende, okay?“

Gerüchte, dass Lucas zurück sei und im Krankenhaus am anderen Ende der Stadt arbeiten würde, waren natürlich auch bis zu ihr durchgedrungen. Doch Freya zog es vor, sie zu ignorieren. Und verbot sich selbst rigoros, auch nur eine Minute ihres neuen Lebens zu verschwenden, indem sie der Vergangenheit nachtrauerte.

„Die Kinder scheinen jetzt schon ungeheuren Spaß zu haben“, stellte sie mit einem Lächeln fest, das niemand als künstlich hätte entlarven können.

War es wirklich schon ein Jahr her, dass sie verzweifelt sämtliche Freunde und Krankenhäuser angerufen hatte, um herauszufinden, ob der Mann, den sie liebte, überhaupt noch lebte? Tage voller Panik und Unglauben hatte sie ertragen müssen, bevor ihr zu Ohren kam, dass er sich in der Klinik krankgemeldet hatte und nicht kontaktiert werden wollte. Anscheinend schloss das auch sie mit ein, weil angeblich niemand seine neue Adresse und Telefonnummer kannte oder sie ihr nicht geben durfte.

Bis heute wusste Freya nicht, ob er sie wegen einer anderen verlassen hatte oder ob ihr Kinderwunsch schuld an seiner Flucht gewesen war.

Er hatte ja leider darauf verzichtet, sich ihr zu erklären.

Nicht, dass es jetzt noch etwas ändern würde, nachdem sie die letzte Woche auf der Couch liegend verbracht hatte, mit einer gefährlichen Überdosis von schmalzigen Weihnachtsfilmen und heißer Schokolade, im verzweifelten Versuch, ihre lebenslange Begeisterung für Weihnachten nach der Katastrophe des letzten Jahres wiederzubeleben.

Diese Reise an den Polarkreis war genau das, was sie brauchte, um ihren Glauben an das Gute im Menschen wiederherzustellen und ihr inneres Kind zu wecken.

„Frohes Fest!“, wünschte Freya jedem kleinen Patienten, dem an Bord geholfen wurde und schämte sich für unsinnige Gedanken, die sich nur um sie selbst drehten.

Dies war eine Pause vom Alltag für sie alle. Selbst Eltern und Geschwister, die zu Hause blieben, würden an diesem Wochenende einen von der Wohltätigkeitsorganisation finanzierten Ausflug ins schottische Hochland unternehmen, um zu entspannen und Kräfte zu sammeln für die nächsten Herausforderungen.

„Ist der Weihnachtsmann schon an Bord?“, wollte ein aufgeregter Knirps wissen.

Gillian lächelte. „Keine Panik, Sam. Ich habe dir doch gesagt, wir sehen ihn erst am Ende der Reise. Versuch bis dahin Ruhe zu bewahren.“

Posy, eine weitere freiwillige Helferin, die Sams Asthmagerät hinter ihm hertrug, schnitt eine hilflose kleine Grimasse und folgte ihrem Patienten zu seinem Platz.

„Wenigstens einer, der es kaum abwarten kann“, schmunzelte Freya, die Sams Enthusiasmus gut nachvollziehen konnte, wenn er ihr selbst auch abhandengekommen war.

Ihre Aufgabe war es jetzt, ihre Schützlinge so lange im Zaum zu halten, bis sie Santas Zuhause tief im Winterwunderland der finnischen Wälder erreichten. Und am Ende des Wochenendes würde ja vielleicht etwas von der Magie und dem Zauber dieser Reise auf sie abgefärbt haben.

„Seine Mutter sagte, Sam hätte sich seit Wochen derart auf diesen Trip gefreut, dass sie ihn kaum bändigen konnte.“

Posy bedachte den mageren kleinen Kerl, der inzwischen wieder mit seinem Sauerstoff-Inhalator verbunden war, mit einem liebevollen Blick. „Noch einmal so jung und offen für alles Zauberhafte zu sein …“, murmelte sie leise.

„Ich denke wirklich, dass du es wissen solltest …“, nahm Gillian erneut Anlauf, doch Freya winkte ab.

Wollte Gillian ihr vielleicht erzählen, dass sie Lucas mit einer anderen Frau gesehen hatte? Nach so einer langen Trennung kein Grund für sie zu verzweifeln, oder doch? Egal, nur wollte sie heute und morgen nicht darüber nachdenken. Es hatte ihr schon gereicht zu erfahren, er sei wieder in der Stadt. Dass er sich bisher nicht bei ihr gemeldet hatte, sagte ihr alles, was sie wissen musste.

„Ich glaube, jetzt sind alle an Bord. Wir sollten unsere Plätze einnehmen, damit der Pilot starten kann. Sobald wir in der Luft sind, geht’s mit dem Unterhaltungsprogramm los.“ Damit steuerte Freya energisch auf ihren Sitz zu, der glücklicherweise weit weg von Gillians lag. So würde ihre Freundin ihr wenigstens nicht weiter mit Gerüchten über Lucas in den Ohren liegen. Sobald sie saß und angeschnallt war, schloss sie demonstrativ die Augen.

Kurz darauf berührte jemand ihr Knie, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. „Wir warten nur noch auf den Arzt. Danach schließen wir die Türen, und die Party kann loslegen“, informierte sie die nette, blonde Stewardess, die ihr geholfen hatte, den Innenraum mit Lametta und Girlanden zu schmücken.

Autor

Karin Baine
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Gudrun Bothe
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