Im Wunderland der Liebe

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Ungläubig starrt die hübsche Alice auf den Mann, der vor ihrer Tür steht: Er heißt Gabriel MacAllister, ist der Bruder des Verlobten ihrer Schwester - und außerdem der Mann, mit dem sie vor drei Jahren eine unglaublich leidenschaftliche Begegnung hatte. Wie ein wilder Traum kommt ihr jene Nacht vor, in der sie sich Gabriel, damals noch ein namenloser Fremder, so willentlich in einem Hotel hingegeben hat. Damals schlich sie sich, entsetzt über ihre eigene Hemmungslosigkeit, heimlich aus dem Zimmer und war überzeugt davon, dass sie ihn nie wieder sehen würde! Und jetzt das! Gabriel gibt ihr klar zu verstehen, dass er ihr Verhalten von damals noch immer bedauert. Dabei weiß er nicht mal, dass er in jener Nacht mit Alice einen Sohn gezeugt hat, den kleinen William, die Sonne in Alices Leben! Was soll sie nur machen - alles gestehen und hoffen, dass Gabriel sie verzeihend in die Arme nimmt?


  • Erscheinungstag 27.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746407
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Nun rück schon heraus mit der Sprache!“

„Wieso?“ Aus alter Gewohnheit setzte Greg MacAllister die Miene gekränkter Unschuld auf, obwohl er es für unwahrscheinlich hielt, dass sein älterer Bruder, der ihn bisher noch immer durchschaut hatte, darauf hereinfallen würde.

Gabriels entspannte Haltung – er saß bequem zurückgelehnt in einem Ledersessel und hatte die langen Beine ausgestreckt – konnte Greg nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem scharfen Blick des Älteren nichts entging.

„Die Anwerbung von Arbeitskräften läuft doch prima. Ich dachte, du wärst mit mir zufrieden?“

„Niemand bestreitet, dass du großartige Öffentlichkeitsarbeit geleistet hast, Greg. Ich frage mich nur, warum du plötzlich von nervösen Gesichtszuckungen heimgesucht wirst?“

„Ich?“ Unwillkürlich musterte Greg sein Gesicht im Spiegel gegenüber und fühlte sich ertappt, als er seinen Bruder ironisch lächeln sah. „Sehr witzig!“ Tief aufseufzend sank er auf einen Stuhl. „Also gut. Es handelt sich um ein Mädchen.“

„Wie leicht du doch zu durchschauen bist, Greg!“ Gabriel bemerkte, wie der andere rot wurde, und milderte seinen scharfen Ton etwas. „Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Wir können es uns nicht leisten, die Leute hier zu verärgern. Du weißt ja selbst, welche Widerstände wir überwinden mussten, bis man uns die Baugenehmigung für unseren Bürokomplex erteilt hat.“

Etwas Schlimmes? Zweifellos würde Gabriel es so sehen. Andere hätten Greg sicher mildernde Umstände zugebilligt, weil er sich unsterblich verliebt hatte, doch von seinem älteren Bruder durfte er solche Rücksichtnahme nicht erwarten. Er war ein harter Mann, der weder sich noch andere schonte.

„Sie ist schwanger“, gestand Greg und bemühte sich, nicht allzu schuldbewusst auszusehen. „Nun sag schon was!“, platzte er ungeduldig heraus, als Gabriel nicht antwortete, sondern nur nachdenklich die auf Hochglanz polierten Spitzen seiner maßgefertigten Schuhe betrachtete. „Nenn mich meinetwegen einen Dummkopf, aber spiel nicht den großen Schweiger!“

„Es ist müßig, bestehende Tatsachen zu bestätigen“, erwiderte Gabriel ironisch, was für Greg schwerer zu ertragen war als heftige Vorwürfe. „Am besten erzählst du mir alles der Reihe nach.“

Aufmerksam lauschte er dem Bericht des jüngeren Bruders und ließ sich seinen Unmut nicht anmerken, als Greg sich in weitschweifigen Erklärungen erging, die wundersamerweise darin gipfelten, dass er an allem eigentlich keine Schuld trug.

„Habe ich richtig gehört? Sie ist erst achtzehn?“

„Aber schon sehr reif für ihr Alter.“

Immerhin besaß Greg den Anstand, rot zu werden.

„Du kommst doch mit, wenn ich es Mum und Dad erzähle?“, bat Sophie und schob sich gedankenlos eine Handvoll der von ihrer Schwester soeben geschälten Erbsen in den Mund. „Falls sie sich aufregen, bist du die Einzige, die sie beruhigen kann.“

„Falls?“, fragte Alice trocken. Sie war zehn Jahre älter als Sophie, die nach Ansicht der Eltern einfach vollkommen war und von ihnen geradezu vergöttert wurde. Zum Glück hatte sie sich trotz deren allzu nachsichtiger Erziehung zu einer liebenswerten jungen Frau entwickelt, die vielleicht manchmal ein wenig zu impulsiv war, aber gerade deshalb auf andere auch besonders anziehend wirkte.

„Du verstehst es wirklich, mir Mut zu machen, Alice!“

Sophies vorwurfsvoller Blick war an ihre Schwester verschwendet, da Alice ihren Gartenstuhl so gedreht hatte, dass sie ihren zweijährigen Sohn Will im Auge behalten konnte, der wenige Meter entfernt im Sandkasten saß. Umgeben von buntem Spielzeug, das er jedoch keines Blickes würdigte, füllte er mit den Händen Sand in seine Schuhe. Sein kleines Gesicht mit den großen braunen Augen zeigte einen Ausdruck höchster Konzentration, und wieder einmal war Alice überzeugt, dass es kein hübscheres Kind gab als ihn. Aber so dachte wohl jede Mutter.

Sie ging zu ihm hin und setzte ihm den zu Boden gefallenen Sonnenhut auf, den er sich sofort wieder vom Kopf riss und sie dabei engelsgleich anlächelte. Sie seufzte. „Ich geb’s auf!“ Obwohl er ein recht friedfertiges Kind war, besaß er für sein Alter schon einen sehr ausgeprägten Willen.

„Lass ihn doch, Ally“, meinte Sophie. „Ihm macht die Sonne nicht so viel aus wie dir. Er ist ein dunkler Typ wie Oliver.“

Schweigend zog sich Alice die Baseballkappe über ihre mit vereinzelten Sommersprossen bedeckte Nase. Nur zu gut erinnerte sie sich noch an ihre Flitterwochen in der Karibik, als Oliver sich gleich am ersten Tag einen schrecklichen Sonnenbrand geholt hatte und für den Rest des Urlaubs im wahrsten Sinn des Wortes unberührbar gewesen war.

Sie setzte sich wieder neben ihre Schwester. „Machen wir uns nichts vor, Sophie. Mum und Dad werden aus allen Wolken fallen, wenn sie die Neuigkeit erfahren. Du darfst froh sein, wenn es bei Tränen und Vorwürfen bleibt!“

Sophies Oberlippe begann verdächtig zu zittern, und Alice legte ihrer Schwester begütigend eine Hand auf die Schulter. Sie konnte gut nachempfinden, wie ein junges Mädchen, dessen bisher einschneidendstes Erlebnis das Tragen einer Zahnspange gewesen war, sich in so einer Situation fühlen mochte.

„Du weißt, wie stolz die beiden auf dein Oxfordstipendium sind. Was glaubst du, wie sie reagieren werden, wenn du ihnen nun plötzlich eröffnest, dass du ein Baby erwartest? Hast du dir alles wirklich gut überlegt?“

„Soll ich das Kind etwa wegmachen lassen?“ Unwillig schüttelte Sophie die Hand ihrer Schwester ab. „Wie hättest du denn reagiert, wenn man dir dazu geraten hätte, als Will unterwegs war?“ Sie sah, wie Alice zusammenzuckte. „Du hast schließlich auch allein dagestanden. Oliver war tot …“ Sophie biss sich auf die Lippe. „Entschuldige, das war …“

„Es stimmt“, entgegnete Alice ruhig. „Aber gerade deshalb weiß ich, wie hart es ist, ein Kind allein großzuziehen. Was glaubst du, welche Ängste ich jedes Mal ausstehe, wenn Will plötzlich hohes Fieber hat, was bei Kindern ja öfter vorkommt. Wie gern hätte ich da jemanden, der mir zur Seite steht und die Verantwortung mit mir teilt …“ Alice verstummte. Sie war selbst überrascht von ihrem jähen Gefühlsausbruch, musste aber gleichzeitig wegen Sophies betretener Miene ein Lächeln unterdrücken.

„Ich dachte … du wirkst immer, als würdest du alles spielend bewältigen, Ally.“

„Was bleibt mir anderes übrig? Insgeheim habe ich mir jedoch schon manches Mal gewünscht, nicht immer alles allein entscheiden zu müssen“, bekannte Alice. Sie wollte auf keinen Fall dazu beitragen, dass Sophie sich falsche Vorstellungen vom Leben einer alleinstehenden Mutter machte. „Dabei war ich nach Olivers Tod zumindest finanziell einigermaßen abgesichert. Aber ich will dich nicht beeinflussen. Letztendlich liegt die Entscheidung allein bei dir.“

Leicht verunsichert blickte Sophie ihre Schwester an, aus deren tiefblauen Augen ihr jedoch nur Liebe und Mitgefühl entgegenstrahlten. „Ja, ich weiß.“

„Willst du das Kind allein aufziehen?“, hakte Alice behutsam nach.

„Oh, Greg möchte aus mir eine ehrenwerte Frau machen.“

„Er will, dass ihr heiratet?“ Alice bemühte sich, möglichst sachlich zu klingen, obwohl sie ernsthafte Bedenken gegen eine so frühe Heirat ihrer Schwester hegte. „Sehr begeistert scheinst du davon nicht zu sein.“

„Nun ja, zuerst wollte er ja auch, dass ich … du weißt schon.“ Auf Sophies blassen Wangen erschienen zwei rote Flecken. „Wahrscheinlich bin ich deshalb vorsichtiger geworden. Er behauptet zwar, dass er mich liebt …“ Sophies Zweifel waren unüberhörbar.

„Und du? Liebst du ihn?“

„Das habe ich geglaubt. Aber dann musste ich ihn trösten, statt dass er mir … Irgendwie hatte ich ihn für erwachsener gehalten, für entschlossen und männlich.“

Durchtrieben würde besser auf ihn passen, dachte Alice grimmig, doch sie war ja auch keine achtzehn mehr. Und schließlich war nicht nur Sophie auf Gregs aalglatten Charme hereingefallen. Sogar die erbittertsten Gegner des am Rand des idyllischen Marktfleckens geplanten Bürokomplexes hatte er mit sanfter Überredungskunst und durch geschicktes Taktieren für das Bauprojekt gewonnen.

Bei Alice hatte es solcher Überzeugungsarbeit nicht bedurft. Für sie waren allein die vielen qualifizierten und gut dotierten Arbeitsplätze ausschlaggebend gewesen, die durch die Ansiedlung der von den MacAllisters betriebenen Softwarefirma entstehen würden.

„Er wirkte immer so selbstbewusst!“, sagte Sophie. „Doch nun scheint seine Hauptsorge zu sein, was sein angebeteter großer Bruder – genau genommen ist er ja nur sein Halbbruder – dazu sagen wird! Wie ich mich fühle, kümmert ihn wenig!“ Mit zittrigen Fingern fuhr sie sich durch das schulterlange blonde Haar und rang sich ein Lächeln ab. „Wahrscheinlich vergleiche ich alle Männer unbewusst mit Oliver. Er war so perfekt. Ihr beide seid für mich das ideale Paar gewesen.“

Der Ausdruck unverhüllter Qual in Alice’ Augen ließ Sophie ihre schwärmerischen Worte sofort wieder bereuen. „Wenigstens hast du Will“, fügte sie tröstend hinzu. „Er sieht Oliver mit jedem Tag ähnlicher.“

„So sagt man.“ Unwillkürlich blickte Alice zu ihrem Sohn, der, falls die Erinnerung ihr keinen Streich spielte, seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war.

„Dann kommst du also mit, um mich moralisch zu unterstützen?“

„Natürlich“, bestätigte Alice, wohl wissend, dass ihr allein die undankbare Aufgabe zufallen würde, ihre schockierten Eltern zu beruhigen.

Der Anruf kam völlig überraschend.

„Mrs. Lynn?“

Es folgte eine Pause, und da Alice schwieg, wiederholte der Anrufer seine Frage, diesmal leicht ungeduldig.

Seine raue Baritonstimme rief in Alice verdrängte Erinnerungen wach. Die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich, doch klangen Stimmen derselben Tonlage am Telefon ja immer irgendwie gleich.

„Ja, hier ist Alice Lynn“, bestätigte sie ruhig, aber ihre Handflächen fühlten sich plötzlich feucht an.

„Mein Name ist Gabriel MacAllister. Ich bin Gregs Bruder.“

„Ich weiß, wer Sie sind, Mr. MacAllister.“

„Wir sollten uns unterhalten.“

„Worüber?“

Er zögerte mit der Antwort, als hätte ihn ihre schroffe Frage ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Finden Sie, dass Ihre Schwester meinen Bruder heiraten sollte?“ Es klang so unbeteiligt, als würde er mit ihr über Aktienkurse sprechen, und Alice fasste instinktiv eine heftige Abneigung gegen ihn.

„Nein“, erwiderte sie kühl.

„Interessant.“

Sie fragte sich, inwiefern.

„Ich wohne im ‚Grange‘.“

Alice war nicht mehr im „Grange“ gewesen, seit sie dort mit Oliver ihren letzten gemeinsamen Hochzeitstag gefeiert hatte. Er hatte zu viel Alkohol getrunken und ihr dann gestanden … Sie verspürte einen pochenden Schmerz im Kopf.

„Was halten Sie davon, dort mit mir zu Mittag zu essen?“

„Ich kann nicht … mein Sohn …“ Du meine Güte, sie hörte sich an, als würde sie krampfhaft nach einer Ausrede suchen. Wieso hatte sie nicht einfach abgelehnt?

„Gut, dann komme ich zu Ihnen.“

„Sie wissen ja nicht, wo ich wohne.“ Irgendwie hatte sie das dumme Gefühl, dass er sie zu überrumpeln versuchte.

„Da irren Sie sich, Mrs. Lynn.“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern legte einfach auf.

Arroganter Kerl! Außer der allgemein bekannten Tatsache, dass er ein erfolgreicher Unternehmer war, wusste sie über Gabriel MacAllister nur, was Sophie durch Greg erfahren hatte. Dieser hatte nach Alice’ Meinung einen übertriebenen Respekt vor seinem älteren Bruder, der, wie es schien, ein selbstherrlicher Tyrann war.

Alice überlegte, ob sie diesem Fiesling eine Tasse Tee anbieten sollte, und musste lächeln. Wahrscheinlich würde er über ihre Teebeutel aus dem Supermarkt nur hochnäsig die Nase rümpfen.

„Und ich bezweifle, dass er sich etwas aus klebrigen Fingern macht, Will“, sagte sie zu ihrem Sohn und wischte ihm mit einem nassen Tuch das Möhrengemüse vom Mund und den Patschhändchen. Dann hob sie ihn aus dem hohen Kinderstuhl. „Zeit für deinen Mittagsschlaf, junger Mann.“

Nachdem sie ihn ins Bett gebracht hatte, räumte sie das in Küche und Flur verstreute Spielzeug auf und rätselte dabei über den Grund von Gabriel MacAllisters unerwarteten Besuch.

Ging es Gregs Bruder darum, die MacAllister-Millionen vor dem Zugriff eines Schulmädchens zu schützen? Nach Alice’ Ansicht war Greg zwar der Letzte, mit dem sie Sophie verheiratet sehen wollte, doch es empörte sie, dass Gabriel MacAllister ihre Schwester offenbar für geldgierig hielt.

Wütend warf Alice die eingesammelten Bauklötze in die Kiste im Flur. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick in den Spiegel, und sie musterte sich ohne großes Interesse. Früher einmal hatte sie sich durchaus attraktiv gefunden und sich über mangelnde Bewunderung nicht beklagen können. Man hatte sie wegen ihrer perfekten Figur und des wirkungsvollen Kontrasts von tiefblauen Augen, heller Haut und langem kastanienbraunem Haar sogar oft als „echte Schönheit“ bezeichnet.

Nach Olivers Tod hatte sie jedoch auf ihr Äußeres nur noch wenig Wert gelegt, und seit der Geburt ihres Sohnes ging sie ganz in ihrer Mutterrolle auf und wählte ihre Kleidung hauptsächlich nach praktischen Gesichtspunkten aus.

Sie sah an sich hinunter und betrachtete lächelnd ihr verwaschenes T-Shirt und die alten Jeans. Ihr Besucher würde wohl kaum auf die Idee kommen, sie hätte sich seinetwegen in Schale geworfen. Ein Leben ohne Sex hat eben auch gewisse Vorteile, dachte sie mit einem Anflug von Selbstironie.

Hätte sie nicht befürchtet, Will könnte aufwachen, dann hätte sie den hohen Besuch einige Male klingeln lassen. So aber begnügte sie sich damit, ihm mit einer betont gleichgültigen Miene die Tür zu öffnen.

Im nächsten Augenblick spielte die Welt verrückt – oder war vielleicht nur sie, Alice, verrückt geworden?

Abwehrend schüttelte sie den Kopf und presste die Finger gegen die pochenden Schläfen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging sie langsam rückwärts, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Ihre Knie gaben nach, sie glitt an der Wand entlang nach unten und fand sich plötzlich mit angezogenen Knien auf dem Boden sitzend. Benommen blickte sie zur offenen Haustür. Niemand war zu sehen. Hatte sie sich alles nur eingebildet?

„Du solltest nicht so hektisch atmen, sonst verlierst du noch das Bewusstsein“, mahnte in diesem Moment eine spöttische Männerstimme.

Es war also keine Halluzination gewesen! Der Mann kniete rechts neben ihr. Lieber Himmel, sogar den Duft seiner Haut erkannte sie wieder und auch sein teures After Shave!

Unter den gegebenen Umständen hatte eine kleine Ohnmacht durchaus etwas Verlockendes. Alice riss sich zusammen. „Ich werde niemals ohnmächtig.“

Einmal war sie allerdings einem solchen Zustand sehr nahe gekommen, als sie im Rausch sexueller Leidenschaft … Ob er sich daran erinnerte? Das Aufblitzen in seinen dunklen Augen – Schlafzimmeraugen würde ihre scharfzüngige Mutter dazu sagen! – bestätigte, dass er nichts vergessen hatte.

„Vermutlich hat es wenig Sinn, so zu tun, als wären wir uns noch nie begegnet.“ Sie wollte den ironischen Worten ein ebensolches Lächeln hinzufügen, doch ihre Gesichtsmuskeln spielten nicht mit.

Geschmeidig erhob sich der „selbstherrliche Tyrann“ aus seiner knienden Stellung. Er sah leider viel zu gut aus in seinem eleganten hellen Sommeranzug, und Alice hielt es für sicherer, den Blick auf seine Schuhe zu richten, während sie um Fassung rang.

„Du bist die erste Frau, die mir buchstäblich zu Füßen gesunken ist.“

Soweit Alice sich entsann, war dies so ziemlich das Einzige, was sie beim letzten Mal nicht getan hatte. Ihr wurde ganz heiß, als sie daran dachte, wie sie seine straffe, gebräunte Haut liebkost …

„Dass meine Reaktion überzogen war, weiß ich selbst.“ Sie strich sich energisch das kinnlange Haar hinter die Ohren. „Aber ich war eben überrascht.“ ‚Zu Tode erschrocken‘ hätte in diesem Fall wohl besser gepasst. Sie stemmte sich gegen die Wand und richtete sich langsam auf, wobei sie seine helfend ausgestreckte Hand geflissentlich übersah.

Gabriel hieß er also. Wie seltsam, nach drei Jahren den Namen des Mannes zu erfahren, dessen Gesicht sich ihr unauslöschlich eingeprägt hatte – ganz zu schweigen von seinem Körper!

Im Nachhinein hatte sie ihr unbegreifliches Verhalten in jener Nacht mit dem Schock zu entschuldigen versucht, unter dem sie damals gestanden hatte. Und sie war sicher gewesen, dass der Fremde keineswegs eine so magische Anziehungskraft besessen hatte, wie es ihr die Erinnerung vorgaukelte.

Aber sie hatte sich geirrt. Er war tatsächlich der aufregendste Mann, den sie je kennengelernt hatte, und das hatte nur wenig mit seinem guten Aussehen zu tun. Viel mehr faszinierte Alice seine Geschmeidigkeit, die ungeheure Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, und die wache Intelligenz und Durchsetzungsfähigkeit, die seine dunklen Augen verrieten.

So manches Mal hatte sie sich vorzustellen versucht, was geschehen würde, wenn sich ihre Wege zufällig noch einmal kreuzten. Würde er sie wieder erkennen? Würde sie sich fragen, was sie an ihm jemals gereizt hatte? Dass ihre zweite Begegnung sich als wahrer Albtraum erweisen würde, hatte sie allerdings nicht ahnen können!

Auf den ersten Blick sah er aus wie Oliver, und deshalb war sie an jenem Abend überhaupt auf ihn aufmerksam geworden. Aber diese flüchtige Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Mann war keineswegs der Grund für das gewesen, was dann folgte …

Er war wie Oliver über einen Meter neunzig groß und breitschultrig. Jedoch im Gegensatz zu Oliver, der in den letzten Jahren wegen mangelnder Bewegung um Taille und Hüften fülliger geworden war, hatte Gabriel MacAllister kein überflüssiges Gramm Fett am sonnengebräunten Körper. Weder damals noch heute. Wieder spürte Alice eine Hitzewelle aufsteigen.

„Wusstest du Bescheid?“, fragte sie misstrauisch.

„Woher denn?“ Gabriel lachte zornig auf. „Glaubst du, ich hätte in den letzten drei Jahren nichts Besseres zu tun gehabt, als nach der Unbekannten zu forschen, die so bereitwillig mit mir ins Bett gehüpft ist und am nächsten Tag spurlos verschwunden war?“ In seiner linken Wange begann ein Nerv zu zucken. „Wären nicht die Kratzer auf meiner Haut gewesen, hätte ich alles für einen Traum gehalten.“ So erotisch und aufregend wie keiner zuvor und danach.

„Alice …“ Er ließ das Wort förmlich auf der Zunge zergehen. „Was für ein reizender Name für eine unschuldige kleine Ehefrau!“ Er ließ den Blick zu ihrer linken Hand schweifen, die sie auf den rechten Arm gelegt hatte. „Wie ich sehe, trägst du noch immer keinen Ehering. Weiß dein Mann von deinen kleinen Eskapaden?“

Unwillkürlich sah sie vor ihrem inneren Auge Olivers verzerrtes Gesicht, als sie ihm ihren Ehering vor die Füße geworfen hatte.

„Eskapade in der Einzahl“, sagte sie.

Wollte Gabriel ihr etwa weismachen, dass sie mit einem Ring am Finger vor seinen Verführungskünsten sicher gewesen wäre? Soweit ihr bekannt war, galten sinnliche Männer wie er nicht gerade als Hüter bürgerlicher Moral. Er hatte bekommen, was er wollte, weshalb beschwerte er sich also? Und sie hatte ebenfalls ein ständiges Andenken an jene Nacht zurückbehalten.

Vielleicht hätte sie ihn besser in dem Glauben lassen sollen, er sei einer von vielen gewesen. Lieber sollte er sie für ein Flittchen halten als für ein willensschwaches, leicht zu beeindruckendes Dummerchen.

„Ich war der Einzige?“ Gabriel gab sich keine Mühe, zu verbergen, dass er ihr nicht glaubte. „Wie schmeichelhaft für mich!“

„Keineswegs. Du warst nur im richtigen Moment zur Stelle.“

Sie hatte mit ihren harschen Worten keine Lanze für die sexuelle Befreiung der Frau brechen wollen, doch sein zorniger Blick verriet, dass ihm ihre Antwort nicht gefiel.

„Du bist sehr direkt … Alice.“

„Mir gefällt nicht, wie du meinen Namen aussprichst.“ Es war, als würde er die Finger über ihre Haut gleiten lassen oder die Lippen oder … Ein angenehmer Schauer durchrieselte sie.

„Zitterst du deshalb?“, spottete Gabriel. „Beim letzten Mal hast du ebenfalls gezittert.“

„Vor Kälte, weil ich zwei Stunden mit dem Auto in einer Schneewehe gesteckt habe“, unterbrach sie ihn heiser und zwang sich, seinem Blick standzuhalten.

Die Rettungsdienste hatten sie und andere vom Schneesturm überraschte Autofahrer an jenem Abend in das nächstgelegene Hotel gebracht. Wie oft in Notsituationen, hatte das gemeinsame Missgeschick unter den im Foyer zusammengedrängten Menschen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen. Sie prosteten einander mit dem vom Hotelmanagement großzügig gespendeten Whisky zu und erzählten sich gegenseitig ihre Erlebnisse.

Seltsam unbeteiligt von dem sie umgebenden Trubel stand Alice in einer Ecke und hielt ein unberührtes Glas Whisky in der Hand. Sie empfand eine Kälte, die weit über eisige Fingerspitzen hinausging. Eher so, als wäre jedes Gefühl in ihr erloschen.

Irgendwann würde der Schmerz einsetzen, doch sie wollte diesen unausweichlichen Moment so lange wie möglich hinauszögern. Sie war nach der Beerdigung der um das Grab versammelten Verwandtschaft entflohen, in ihr Auto gestiegen und ohne bestimmtes Ziel losgefahren. In normaler Verfassung wäre sie sicher umgekehrt, als sich das Wetter zusehends verschlechterte, doch an diesem Abend war sie sogar noch bei dichtem Schneetreiben unbeirrt weitergefahren.

Gelangweilt ließ sie den Blick über die Menge schweifen und bemerkte, dass der dunkelhaarige Fremde an der Bar, der ihr schon zuvor wegen seiner Ähnlichkeit mit Oliver aufgefallen war, sie ungeniert und sogar ein wenig abschätzend musterte. Hatte er ihren Blick vorhin falsch gedeutet? Aus einem unerfindlichen Grund war sie darüber nicht verärgert, und es machte sie auch nicht nervös, als er nun direkt auf sie zusteuerte. Je näher er kam, desto weniger glich er Oliver, was aber seine Wirkung auf sie eher noch verstärkte. Er hatte ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, dunkle Augen und einen sehr sinnlichen Mund.

„Sind Sie auch im Schnee gestrandet …?“ Seine tiefe, etwas raue Stimme klang ungemein sexy.

Alice überging die unausgesprochene Frage nach ihrem Namen. „Ja.“

„Für wie lange?“

Sie zuckte die Schultern und spielte mit der Perlenkette, die sie zu dem hochgeschlossenen schwarzen Kleid trug, das unter dem aufgeknöpften dunklen Webpelzmantel zu sehen war. „Das weiß ich nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Er wies auf ihr volles Glas. „Schmeckt Ihnen der Whisky nicht?“

Als sie verneinend den Kopf schüttelte, löste sich ihre Haarspange, und eine seidige Flut kastanienbraunen Haares fiel ihr über die Schultern.

„Mir schon.“

Wollte er damit andeuten, dass er betrunken war? Auf Alice wirkte er nicht so, wenngleich seine Augen recht mutwillig funkelten. Und noch etwas las sie darin. Ihre Kehle war plötzlich ganz trocken. „Hat Sie auch der Schneesturm hierher verschlagen?“

„Nein, ich war schon vorher da und habe noch ein Zimmer bekommen.“

„Man will für uns das Foyer in ein Schlafquartier umwandeln.“ Alice war es egal, wo sie schlief. Ihretwegen konnte es auch ein Billardtisch sein.

„In der Not zeigt sich das Improvisationstalent der Briten.“ Während er mit ihr sprach, hatte er sie unverwandt angesehen. „Hätten Sie Lust, mein Zimmer mit mir zu teilen?“

„Ja.“

Diesem ersten Ja waren noch viele weitere gefolgt, geflüstert und gestöhnt, und manchmal noch ergänzt durch ein flehentliches „Bitte!“.

Alice musste all ihre Willenskraft aufbieten, um die Bilder jener Nacht zu verdrängen und in die Wirklichkeit zurückzufinden. „Das kommt von dem Schock“, erklärte sie kühl ihr jetziges Zittern. „Ich hatte nicht erwartet …“

„Dass deine lasterhafte Vergangenheit an die Tür klopft?“, ergänzte er sarkastisch und erntete dafür einen bösen Blick. „Was glaubst du, wie mir zumute war? Nach Gregs Beschreibung hatte ich eine biedere Hausfrau erwartet, deren Alltag sich zwischen Kuchenbacken für das Kirchenfest und …“ Er zog spöttisch die Brauen hoch. „Verzeih, wenn ich als Städter mit den gesellschaftlichen Aktivitäten in der Provinz noch nicht völlig vertraut bin.“

Zähneknirschend ertrug Alice sein gönnerhaftes Gehabe.

„Und wen treffe ich?“, fuhr er fort, und seine Stimme bekam einen heiseren Klang. „Die hemmungsloseste Geliebte, die ich je hatte.“

Alice wurde feuerrot und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. „Ich verbiete dir, so mit mir zu sprechen!“

„Hast du Angst, dein Mann könnte unerwartet nach Hause kommen und mich hören? Ich dachte, du liebst die Gefahr?“ In ihren Augen spiegelte sich blankes Entsetzen, und er blickte rasch weg. „Keine Angst, ich schlafe nicht mit einer Frau und erzähle es dann weiter.“

Mit dem ihr verbliebenen Rest an Würde versuchte Alice dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. „Mir scheint, du hast vergessen, weshalb du gekommen bist.“

„Um ehrlich zu sein, es interessiert mich nicht mehr.“

„Ich finde es reichlich zynisch von dir, so über meine Schwester zu reden!“, erwiderte Alice empört.

„Du hast mich missverstanden.“ Er folgte ihr in die geräumige Wohnküche und hob einen braunen Plüschteddy mit angeknabbertem Ohr vom Boden auf, den Alice vorhin übersehen hatte. „Ich habe Greg bereits die Hölle heißgemacht. Schlimm genug, dass deine Schwester noch ein halbes Kind ist, aber sich dann nicht einmal um Empfängnisverhütung zu kümmern war von Greg mehr als verantwortungslos.“ Irritiert bemerkte Gabriel ein leichtes Zucken um Alice’ Mundwinkel. „Was ist daran so komisch?“

„Nichts.“ Es gelang ihre gerade noch, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken. Sie konnte nur hoffen, dass Gabriel MacAllister sich nie der unfreiwilligen Ironie seiner scharfen Kritik an Gregs Verhalten bewusst werden würde.

„Ist sie dir ähnlich?“, fragte er unvermittelt.

„Wer?“

„Deine Schwester.“

„Nein, sie ist ganz anders als ich, hochintelligent und sehr liebenswert.“

„Doch wohl eher naiv und leicht beschränkt, sonst wäre sie nicht auf Greg hereingefallen“, spottete er.

Autor

Kim Lawrence
Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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