Im Zauber des Frühlings: Wer bist du, schöner Fremder?

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Das Frühjahr mit einem attraktiven Mann in den Bergen genießen eigentlich kann sich Lauren nichts Romantischeres vorstellen. Was sie nicht weiß: John hütet ein gefährliches Geheimnis.


  • Erscheinungstag 10.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495298
  • Seitenanzahl 120
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maura Seger

Wer bist du, schöner Fremder?

 

Aus dem Amerikanischen von
Louisa Christian

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:
Man Without a Memory
Copyright © 1995 by Seger Inc.
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.á.r.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München / _chupacabra_
Redaktion: Maya Gause

ISBN ebook 978-3-95649-529-8

www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Es war nichts Besonderes an dem Mann, der auf dem Behandlungstisch in der Notaufnahme lag. Er war dreimal angeschossen worden: einmal in den Bauch und zweimal in die Brust. Sein Oberkörper war nackt, und er war mit einem halben Dutzend Monitoren, einigen Infusionsschläuchen und einem Beatmungsgerät verbunden.

Das Notärzteteam schwirrte um ihn herum. Alle taten, was sie unzählige Male getan hatten: Sie versuchten, Leben zu retten.

In diesem Fall wurden ihre Anstrengungen durch die Tatsache erschwert, dass der Mann schon klinisch tot war. Nicht zum ersten Mal war jemand in diesem Zustand ins St. Mary’s Hospital eingeliefert worden, und nur die Verlierer verließen es auch tot.

Dieser Mann würde dazugehören, wenn sich nicht bald etwas änderte. Felix begann bereits zu schwitzen. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Wenn Felix schwitzte, beschäftigte er sich innerlich mit dem Gedanken, dass seine Wiederbelebungsversuche vergeblich sein könnten. Vielleicht – aber nur vielleicht – musste er bei diesem Menschen aufgeben.

„Elf Minuten“, sagte Lauren Walters. Ihre Stimme klang ebenso sachlich wie resignierend. Sie besaß eine Menge Erfahrung. Acht Jahre Tätigkeit als Schwester, davon sechs in der Notaufnahme und zwei als stellvertretende Oberschwester der Station, bedeuteten, dass ihr kaum noch etwas fremd war. Zuviel davon tauchte seit Kurzem in ihren Träumen auf. Aber daran dachte sie in diesem Moment nicht.

Elf Minuten waren seit Beginn der Wiederbelebungsmaßnahmen vergangen. Hinzuzählen musste man die Zeit im Notarztwagen, wo der Kreislauf künstlich aufrechterhalten worden war, bis der Mann in den Behandlungsraum Nr. 3 und damit in Felix’ kompetente Hände gekommen war. Sie hatten ihm bereits einen Tubus in die Luftröhre geschoben. Schon während des Röntgens waren die Blutuntersuchungen und die sonstigen erforderlichen Tests angestellt worden. Jetzt sah es aus, als wären alle Bemühungen vergeblich gewesen.

Lauren betrachtete den kleinen grünen Monitor. Nichts. Die Kurve des Patienten war absolut flach. Felix blieben nicht mehr viele Möglichkeiten. Er konnte sich rittlings auf den Brustkorb des Mannes setzen, die Rippen brechen und das Herz mit der Hand massieren, während er ihn in den OP bringen ließ. Aber das war kaum mehr als eine große Schau. Alle wussten, dass es praktisch niemals klappte. Die Zeit lief ihnen davon.

Lauren warf dem Arzt einen kurzen Blick zu. Er nickte, richtete sich auf und griff nach den Polen des Schockgerätes. „Fertig.“

Alle traten zurück. Felix legte die Pole an, durch die genügend Strom floss, um einen Toten zu wecken, wie es in einem alten, wenn auch nicht sehr geschmackvollen Scherz hieß. Die Linie auf dem Monitor zuckte, bildete Zacken und wurde wieder flach. Felix schwitzte stärker als zuvor. Erneut sah er Lauren an. Sie hielt seinem Blick stand und ließ sich nicht anmerken, dass die Grenze ihrer Ansicht nach praktisch erreicht war.

„Fertig!“

Dieselbe harte Prozedur. Der Patient bäumte sich unter dem Stromstoß reflexartig auf, die weiße Linie bildete Zacken und … Instinktiv hielt Lauren die Luft an und merkte nicht, dass sie die Zähne in die Unterlippe biss. Der Mann war nicht viel älter als dreißig, höchstens fünfunddreißig. Weshalb wollte er schon sterben?

Die Linie schoss wieder in die Höhe, zuckte ein wenig und – lief weiter. Von allein.

„He!“, sagte Felix und blickte äußerst zufrieden drein. „Merkt ihr was?“

Die Spannung im Raum verringerte sich unmerklich. Doch das Arbeitstempo ließ nicht nach. Es war noch ein langer Weg zum Operationssaal und zu den Chirurgen, die den Patienten vielleicht – wie gesagt, vielleicht – wieder zusammenflicken konnten.

Lauren ließ die Linien auf dem Monitor nicht aus den Augen. Im Laufe der Jahre hatte sie eine Art sechsten Sinn entwickelt und entnahm den kleinen Bildschirmen mehr als allgemein üblich. Deshalb hatte nicht nur Felix sie gern bei seinen Noteinsätzen dabei. Sie gab ihnen zusätzliche Sicherheit.

Lauren ahnte nichts davon. Doch sie war sehr zufrieden mit dem, was sie sah. Das Herz des Patienten pumpte das Blut wieder aus eigener Kraft durch die Adern. Immer weniger davon tropfte auf den Boden der Notaufnahme. Vielleicht gehörte der Mann am Ende doch zu den Gewinnern.

Zwanzig Minuten später wurde er hinausgerollt, um rasch nach oben in den OP gebracht zu werden, und Lauren hatte die leise Hoffnung, dass er es schaffen könnte. Sie hatte ihren Mundschutz schon abgelegt und zog gerade die Gummihandschuhe und den Schwesternkittel aus, da trat Felix zu ihr. Er sah richtig glücklich aus.

„Ich fürchtete schon, wir könnten nichts mehr für ihn tun.“

Lauren nickte. „Er ist ein ziemlich zäher Bursche.“

„Man ist nie ganz sicher. Manchmal erstaunen einen die Patienten wirklich. Hatte er Papiere bei sich?“

Felix empfand ein natürliches Bedürfnis, den Namen desjenigen zu erfahren, dessen Leben sie – vielleicht – soeben gerettet hatten.

„Keine Ahnung“, antwortete Lauren. „Ich sehe einmal nach. Eine Brieftasche oder eine Geldbörse müsste er eigentlich bei sich gehabt haben.“ Sie wollte ins Behandlungszimmer zurückkehren, wo die Helfer schon wieder Ordnung schufen, da ertönte es aus den Lautsprecher: „Verkehrsunfall mit vier Fahrzeugen auf der Fifth Avenue. Die Verletzten sind auf dem Weg hierher. Soll ziemlich schlimm aussehen.“

Noch während die Ansage lief, heulten draußen schon die Sirenen der Krankenwagen. Felix ergriff frische Gummihandschuhe und eilte zur Tür. Lauren folgte ihm. Sollte sich jemand anders darum kümmern, wer der vorige Patient gewesen war.

Laurens Nacken tat entsetzlich weh. Zum dritten Mal in dieser Woche spürte sie einen pochenden Schmerz, als hätte jemand ein Messer zwischen ihren ersten und zweiten Halswirbel getrieben. Natürlich lag es am Stress. Aber deshalb schmerzte es nicht weniger.

In Gedanken ging sie die Liste der Medikamente durch, die sie einnehmen könnte, und zog ihren Pullover über den Kopf. Der Umkleideraum der Frauen war um diese Zeit leer. Sie war nach Abschluss ihrer Schicht noch eine weitere halbe Stunde geblieben, um bei einem Patienten mit Herzflimmern zu helfen. Es war nach Mitternacht, und ihre nächste Schicht begann um acht. Wie in zahlreichen Krankenhäusern herrschte auch im St. Mary’s Schwesternmangel. Die Verantwortlichen weigerten sich, zusätzliche Leute einzustellen, und zogen es vor, das Stammpersonal bis zur Erschöpfung arbeiten zu lassen. Lauren seufzte stumm. Sie hatte kein Ruhekissen erwartet, als sie ihren Arbeitsvertrag unterschrieb. Aber dies wurde entschieden zu viel.

Vielleicht sollte sie ernsthaft über die Stelle als Betriebsschwester nachdenken, die man ihr angeboten hatte. Dort hätte sie nicht viel mehr zu tun, als den Blutdruck der gehetzten Führungskräfte zu messen und über deren Gesundheitszustand zu wachen. Es gäbe mehr Geld und erheblich weniger Ärger. Das Problem war nur, dass sie sich dort spätestens nach einer Woche zu Tode langweilen würde.

Lauren verließ den Umkleideraum. Sie brauchte dringend etwas Schlaf, sonst drehte sie noch durch.

„Bye-bye, Lauren“, rief Ginny Germaine, die zuständige Nachtschwester der Notaufnahme, ihr nach. Sie war schwarz, als hätte sie Kaffee in den Adern, spindeldürr, unverwüstlich und immer auf dem Posten. Lauren ging an ihrem Schreibtisch vorüber und winkte ihr müde zu.

„Bye-bye, Ginny. Ich bin für heute Nacht weg.“

Ginny lachte leise, und ihr kakaobraunes Gesicht strahlte. „Versuch ein bisschen zu schlafen, Mädchen. Deine Tränensäcke werden immer dicker.“

„Wenn du so etwas sagst, fühle ich mich gleich viel besser.“

„Trotzdem stimmt es. He, ich habe gehört, dass ihr den Kerl retten konntet, der heute Nachmittag im Central Park angeschossen wurde. Es steht auf der Titelseite der Tribune.“

Lauren warf einen Blick auf die Zeitung, die Ginny gelesen hatte. Auf der ersten Seite befand sich das Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes in korrektem Anzug, der neben einem teuren Sportwagen auf dem Bürgersteig lag. Die Schlagzeile lautete: „Unbekannter das 500ste Opfer eines Schusswechsels in diesem Jahr.“

„Man weiß nicht, wer er ist?“, fragte Lauren nicht besonders neugierig. Sie war zu müde, um ein größeres Interesse für den Mann aufzubringen.

Ginny zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich nicht. Irgendjemand wird den Kerl schon erkennen. Er sieht verdammt gut aus.“

Lauren betrachtete das Foto erneut. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass der Mann, der nackt vor ihr in der Notaufnahme gelegen hatte, nicht nur ein Fall mit schrecklichen Verletzungen und beunruhigenden Kreislaufdaten war. Er sah ausgesprochen gut aus. Selbst das grobkörnige Bild und die Tatsache, dass er bewusstlos gewesen war, als das Foto aufgenommen wurde, änderten nichts daran.

Dichtes schwarzes Haar, ein markantes Gesicht. Seine Augen waren geschlossen. Er hatte eine gerade Nase, einen wohlgeformten Mund und ein ausgeprägtes Kinn. Außerdem wirkte er sehr sportlich.

Felix hatte gesagt, der Mann wäre in Topform, während er ihn wiederzubeleben versuchte. Jemand in dieser Verfassung durfte seiner Meinung nach einfach nicht an einer Kleinigkeit wie drei Kugeln im Körper sterben.

„Ist er schon aus dem Operationssaal heraus?“, fragte Lauren und interessierte sich plötzlich mehr für den Mann, als sie sich normalerweise erlaubte. Es belastete zu stark.

Ginny nickte. „Ja, er ist auf der Intensivstation. Sie haben einen Polizisten davor postiert.“ Die ältere Schwester verzog das Gesicht. Sie hatte selber viele Jahre auf der Intensivstation gearbeitet und ebenso wie die anderen häufig darüber geklagt, dass die Beamten nur ihm Weg stünden.

„Ich bin froh, dass er es geschafft hat“, sagte Lauren. In ihren Ohren begann es seltsam zu rauschen.

Ginny sah sie aufmerksam an. „Mach, dass du nach Hause kommst, Mädchen. Sonst müssen wir dich am Ende auch noch bei uns aufnehmen.“

Damit hast du nicht ganz unrecht, dachte Lauren. Anstatt sich der Gnade des Personals vom St. Mary’s auszuliefern, ging sie lieber zum Ausgang. Als sie das Haus vor mehr als siebzehn Stunden betreten hatte, war draußen ein schöner Vorfrühlingstag gewesen. Jetzt war es dunkel, kalt und regnerisch.

Lauren zog ihre Jacke enger, senkte den Kopf und eilte die Straße hinab. Das Licht der Laternen spiegelte sich in den Pfützen, die von den vorüberfahrenden Autos aufgespritzt wurden. Wütend starrte sie die Fahrer an, die sie nicht beachteten und ungerührt weiterfuhren.

Sie hatte das Glück oder das Pech – sicher war Lauren sich nicht –, ein Apartment gefunden zu haben, das dem Krankenhaus gehörte und keinen Block weit entfernt lag. Es war zwar nur winziges Studio mit papierdünnen Wänden und bedenklich brüchigen Wasserinstallationen. Aber es war nicht zu teuer, und sie brauchte nicht stundenlang mit der U-Bahn zu fahren wie zahlreiche Freundinnen.

Das hatte allerdings auch einige Nachteile. Wen rief die Krankenhausverwaltung an, sobald eine Lücke im Einsatzplan für die Schwestern gefüllt werden musste? Natürlich die gute alte Lauren, die ganz in der Nähe wohnte und zu Überstunden nie Nein sagen konnte. Vielleicht sollte sie es endlich lernen.

Lauren betrat die Eingangshalle mit ihrem viel zu hellen Neonlicht an der Decke und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Als sich die Türen öffneten, zuckte sie heftig zusammen und merkte, dass sie buchstäblich im Stehen eingeschlafen war.

Oben stocherte sie mit dem Schlüssel im Schloss, bekam die Tür endlich auf und taumelte ins Innere. Die Versuchung, in Kleidern zu schlafen, war äußerst verlockend. Doch Lauren wusste aus bitterer Erfahrung, wie elend sie sich am nächsten Morgen fühlen würde.

Es fiel ihr nicht leicht, unter der Dusche wach zu bleiben, aber am Ende gelang es ihr. Sie vergaß nicht einmal, ihr kurzes kastanienbraunes Haar zu waschen. Es war beinahe so fein und lockig wie zu ihrer Kinderzeit und trocknete daher schnell.

Heute war das Lauren allerdings egal. Ihretwegen hätte das Haar klatschnass bleiben können. Kaum hatte sie den Kopf auf das Kissen gelegt, schlief sie fest ein.

Sie träumte, wie sie es in letzter Zeit jede Nacht tat. Es schien auch diesmal nichts Besonderes zu sein, absolut kein Albtraum.

Sie war im Krankenhaus und ging ihren Pflichten in der Notaufnahme nach. Es war Tag, und überall herrschte die übliche Betriebsamkeit. Leute kamen und gingen. Büroarbeiten mussten erledigt werden. Nichts Beunruhigendes geschah. Es war ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag.

Plötzlich veränderte sich die Szene. Schreie ertönten in der Nähe, vielleicht die eines Kindes. Jemand hatte furchtbare Angst und litt entsetzliche Schmerzen. Ein Arzt schimpfte mit jenem Unterton in der Stimme, der besagte, dass nichts mehr zu machen sei.

Lauren musste zu dem Patienten. Sie musste helfen, aber sie konnte sich nicht rühren. Wie angewurzelt blieb sie stehen, und die Schreie gingen durch sie hindurch. Die Kollegen schienen nichts zu hören. Sie liefen hin und her und lachten über sie, weil sie wie gelähmt dastand und vor Entsetzen keine Luft bekam.

Nein, sie stand gar nicht wie angewurzelt da. Sie lag auf einem Behandlungstisch, der senkrecht an der Wand stand, damit alle sie sehen konnten, und war mit zahlreichen Schläuchen verbunden und mit Gurten gefesselt. Gefangen! Mit beinahe übermenschlicher Kraft riss sie sich los und rannte den Korridor hinab, der die beiden Seiten der Notaufnahme trennte.

Die Schreie waren immer noch zu hören. Lauren schaute in einen Raum nach dem anderen, um herauszufinden, wer dringend Hilfe brauchte.

Alle Zimmer waren belegt. Doch die Patienten waren tot. Trotzdem saßen sie aufrecht da und lachten sie aus. Ihre Brust schmerzte, und sie eilte schluchzend weiter, bis sie sich in Vorhängen verfing, die von der Decke hingen. Sofort packten die Patienten sie und wickelten sie so fest in den Stoff, dass sie keine Luft mehr bekam. Wie wild schlug sie um sich, doch es wurde enger und enger. Sie konnte sich nicht befreien und musste jeden Moment ersticken. Und die Schreie gingen immer weiter.

Die eigene Stimme weckte sie schließlich auf, und Lauren fuhr entsetzt in die Höhe. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen, und ihr Atem ging stoßweise. Hoffentlich musste sie sich nicht übergeben.

Lauren eilte ins Bad, machte Licht und starrte in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Ein kreideweißes Gesicht mit weit aufgerissenen kornblumenblauen Augen und unzähligen Sommersprossen auf der Nase, die sich unnatürlich von der blassen Haut abhoben, blickte ihr entgegen.

Sie war achtundzwanzig, wurde aber oft für gut zehn Jahre jünger gehalten und musste sich regelmäßig ausweisen, wenn sie mit Freunden ausging. Heute Nacht – nein, es war schon morgen – hätte sich allerdings niemand verschätzt. Sie war nichts als eine übermüdete, überarbeitete Frau, die viel zu viel um die Ohren hatte – so viel, dass selbst der Schlaf zu einer unerträglichen Qual wurde und keine Erholung brachte.

Erschöpft schüttelte Lauren den Kopf und verstand nicht, weshalb sie ausgerechnet jetzt einen Albtraum gehabt hatte. Seit Jahren verlief ihr Leben in normalen Bahnen. Nichts hatte sich geändert.

Sie hatte immer schwer arbeiten müssen. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, aus der kleinen Industriestadt im Mittleren Westen herauszukommen, wo eine Fabrik nach der anderen schloss und die Zukunft alles andere als rosig aussah. Viele junge Leute, mit denen sie aufgewachsen war, lebten heute noch dort und wohnten in Reihenhäusern aus Holz, von denen die Farbe abblätterte und die nichts als Hoffnungslosigkeit ausstrahlten. Einige waren sogar im Gefängnis gelandet.

Nicht sie. Sie, Lauren, hatte immer mehr gewollt. Die absehbaren Veränderungen hatte sie sogar angespornt. Sie war herausgekommen, aber sie hatte das Elend nicht vergessen. Die Fähigkeit, sich zu erinnern, hatte sie zu einer guten Krankenschwester gemacht. Zumindest war das bisher so gewesen. In letzter Zeit schien es allerdings, als wäre die Erinnerung ihr schlimmster Feind geworden.

Lauren strich mit der Hand über ihre Wange und verzog das Gesicht. Vielleicht sollte sie mit jemandem reden. Die Klinik stellte dem Personal für solche Fälle Psychologen zur Verfügung. Die Gespräche waren kostenlos und absolut vertraulich, was bewies, wie ernst ein Problem wie ihres werden konnte.

Lauren erschauderte schon bei dem Gedanken, in einem Sprechzimmer zu sitzen und ihre tiefsten, finstersten Gefühle ausbreiten zu müssen. Hoffentlich fand sie einen anderen Ausweg.

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und warf einen Blick auf den Wecker. Es war kurz nach fünf. Erneut ins Bett zu gehen und einen weiteren Albtraum zu riskieren, kam nicht infrage.

Deshalb ging sie in ihre winzige Küche, bereitete ihr Frühstück zu und konzentrierte sich auf jeden Handgriff. Möglicherweise konnte sie sich dadurch von den anderen Gedanken ablenken.

Anschließend brauchte sie nur noch achtzugeben, dass sie nicht wieder einschlief. Es war so einfach, dass sie unwillkürlich lachen musste. Sie lachte und lachte, bis sie ihre eigene Stimme hörte und sich erschrocken mit Hand auf den Mund schlug.

2. KAPITEL

Er konnte nicht schreien. Das Bedürfnis war unwiderstehlich, aber etwas in seinem Hals hinderte ihn daran. Nur ein schwaches Gurgeln kam über seine Lippen. Der Laut reichte nicht aus, um ihn davon zu überzeugen, dass er noch lebte.

Er konnte sehen – aber was? Ringsum war alles grau. Das Licht war gerade hell genug, um einige undefinierbare Formen zu erkennen, die ihm keinen Hinweis darauf lieferten, wo er sich befand.

Irgendwo piepte etwas. Es war ein gleichmäßiger hoher Ton. Plötzlich wurde ihm klar, dass er den Laut schon lange hörte, ohne ihn richtig wahrgenommen zu haben. Das Piepen klang hartnäckig, sagte ihm aber nichts.

Auch die scharfen Gerüche konnte er nicht einordnen. Sie waren nicht unangenehm, hatten allerdings auch nichts Anheimelndes.

Vielleicht war dies die Hölle – eine seltsame Hölle, in der sein Körper an allen Ecken und Enden unglaublich wehtat. Seltsamerweise machte es ihm nichts aus. Zwischen dem Schmerz und ihm schien eine dicke gepolsterte Wand zu sein. Sie war nicht stabil genug, um das Wissen um diesem Schmerz ganz auszusperren, sorgte aber dafür, dass er beinahe den Eindruck hatte, es ginge um jemand anders.

Was ganz entschieden nicht zutraf, dessen war er gewiss. Er lag hier in diesem Dämmerlicht inmitten des Piepens und der strengen Gerüche. In seinem Hals steckte dieses merkwürdige Ding, und sein Körper schmerzte unerträglich.

Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: die verschwommene Gestalt eines Mannes mit einem Revolver. Ungläubig zuckte er zusammen und erinnerte sich plötzlich, dass die Waffe auf ihn gerichtet gewesen war. Er hatte gewusst, dass sie losgehen würde.

Er konnte immer noch nicht schreien, doch er versuchte es verzweifelt.

„Es tut mir unendlich leid, dass ich dich darum bitten muss“, sagte Martha Morrissey. „Eine Schwester hat eine Lungenentzündung bekommen, eine zweite hat sich den Knöchel gebrochen, und eine dritte leidet unter dem üblichen morgendlichen Unwohlsein einer Schwangeren. Die Intensivstation ist völlig unterbesetzt. Wenn du zumindest eine Schicht übernehmen könntest …“ Die Oberschwester sah Lauren flehentlich an.

„Ich habe in letzter Zeit furchtbar viele Überstunden gemacht“, antwortete Lauren.

„Ich weiß, und wir sind dir dafür aufrichtig dankbar. Aber wir haben einen schrecklichen Engpass, und ich rechne fest mit dir.“

„Wenn das Krankenhaus mehr Schwestern einstellen würde, passierte so etwas nicht.“

Martha Morrissey verzog das Gesicht. „Meinst du, ich wüsste das nicht? Keine Woche vergeht, ohne dass ich mich beim Verwaltungsrat über die Personalsituation beklage. Doch man bezahlt lieber Überstunden, als neue Leute ins Haus zu holen. Wir bekommen kein zusätzliches Personal. Trotzdem wollen die Patienten versorgt werden. Ich habe letzte Woche selber drei Sonderschichten auf der Gynäkologie, der Pädiatrie und im OP neben dem üblichen Bürokram eingelegt. Und ich habe drei Kinder, einen verärgerten Ehemann und Eltern, die erwarten, dass ich ihnen beim Umzug nach Florida helfe. Bitte, Lauren, spring für mich ein.“

Wäre Martha Morrissey einer jener verbissenen pedantischen Drachen gewesen, die Lauren im Laufe ihres Berufslebens kennengelernt hatte, hätte sie wahrscheinlich geantwortet, die Oberschwester solle sich zum Teufel scheren. Aber Martha war ein fabelhafter Kerl. Sie sprang ein, sobald Not am Mann war, und sie sorgte sich aufrichtig um das Wohlergehen ihrer Schwestern. Ein Magengeschwür war der Beweis dafür.

„Also gut, ich übernehme die Schicht. Intensivstation, hast du gesagt?“

Martha atmete erleichtert auf. „Die Arbeit wird dir bestimmt gefallen. Die Station ist zurzeit beinahe leer. Kaum zu glauben, nicht wahr?“

„Was ist passiert? Sind alle Patienten plötzlich gesund geworden?“

„Genieß es, solange du kannst. Der Zustand wird nicht lange anhalten.“

Nein, das wird er bestimmt nicht, dachte Lauren, während sie auf den Fahrstuhl wartete. Wenn man sich auf eines im St. Mary’s Hospital verlassen konnte, dann auf die Tatsache, dass der Patientenstrom niemals nachließ.

Auf der Intensivstation war es tatsächlich ruhiger als gewöhnlich. Lauren trat hinaus auf den Korridor und staunte, wie friedlich es hier im Vergleich zur Notaufnahme war. Abgesehen von zwei Schwestern und einem Angestellten, die sich leise an der Empfangstheke unterhielten, schien niemand da zu sein.

Zumindest hatte Lauren diesen Eindruck, bis sie den Polizisten vor einem Krankenzimmer entdeckte. Oh ja, dieser Unbekannte … Sie unterdrückte ihre freudige Erregung darüber, dass der gut aussehende Mann noch lebte, und trat zu den beiden Schwestern. Es war an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.

Die Dunkelheit war gewichen, und es war heller geworden. Er konnte die Formen jetzt besser erkennen. Ein leerer Stuhl stand so nahe, dass er ihn hätte berühren können. Doch der Arm wollte ihm nicht gehorchen. Außerdem war da ein Kasten auf Rädern, der ständig piepte – irgendein Apparat, mit dem er verbunden war.

Krankenhaus. Er war angeschossen worden und lag im Krankenhaus. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Einen Moment bekam er furchtbare Angst, verdrängte das Gefühl aber sofort. Wenn er im Krankenhaus lag, lebte er zumindest noch.

Dies war kein gewöhnliches Zimmer. Es gab keine Fenster, sondern nur Glasscheiben, hinter denen ein größerer Raum lag, von dem weitere Zimmer wie dieses abzugehen schienen. Menschen liefen auf der anderen Seite hin und her.

Eine Schwester kam in seine Richtung. Sie blieb stehen, sprach mit jemandem, den er nicht sehen konnte, und trat ein. Mit konzentrierter Miene nahm sie das Krankenblatt vom Fuß seines Bettes und betrachtete es aufmerksam.

Er wartete. Ein oder zwei Minuten vergingen. Dann sah sie auf und merkte, dass er sie beobachtete.

„He, Sie sind ja bei Bewusstsein“, sagte sie.

Er versuchte zu nicken, und es gelang ihm beinahe.

„Das freut mich sehr. Sie sind auf der Intensivstation des St. Mary’s Hospital in New York. Ich bin Lauren Walters. Sie wurden gestern Abend hier eingeliefert und mussten sofort operiert werden. Im Moment sind Sie an ein Beatmungsgerät angeschlossen, deshalb können Sie nicht sprechen. Aber Sie wissen, was passiert ist, nicht wahr?“

Er nickte und sah sie eindringlich an. Lauren war sehr jung und ziemlich hübsch. Sie beobachtete ihn ebenfalls aufmerksam. Langsam hob er die Hand, war froh, dass es ihm gelangt, und machte eine Schießbewegung.

„Ja, das stimmt, Mr … Tut mir leid, Sie hatte keine Papiere bei sich. Könnten Sie mir Ihren Namen vielleicht aufschreiben?“

Er nickte erneut und ließ sie nicht aus den Augen. Lauren suchte in ihrer Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und breitete es neben seiner Hand aus. Anschließend drückte sie ihm behutsam einen Stift in die Finger und berührte ihn zum ersten Mal.

Er sollte seinen Namen aufschreiben. Ihr sagen, wie er hieß. Nichts einfacher als das. Sein Griff um den Stift verstärkte sich. Weshalb konnte er nicht …?

„Was ist los?“, fragte Lauren.

Er schüttelte den Kopf und bekam erneut furchtbare Angst.

Freundlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Das macht nichts. Entspannen Sie sich erst einmal. Sie haben eine Menge durchgemacht. Wir wollen nichts erzwingen.“ Sie nahm ihm das Papier und den Stift wieder ab und steckte beides zurück in die Tasche. „Ich werde der Ärztin sagen, dass Sie bei Bewusstsein sind. Sie wird sicher gleich kommen.“

Diesmal war ihr Lächeln rein professionell. Sie drehte sich um und eilte aus dem Raum.

„Irgendwelche Probleme?“, fragte der junge Polizist und richtete sich ein wenig auf.

Lauren schüttelte den Kopf. „Nichts Ungewöhnliches“, antwortete sie und schlüpfte an ihm vorüber. Vielleicht stimmte es sogar. Zahlreiche Patienten litten nach einer Operation an Nebenwirkungen, auch an unterschiedlichen Stadien der Verwirrung. Doch die Miene dieses Unbekannten, der seinen Namen aufschreiben wollte, war so seltsam gewesen, dass sie fürchtete, es könnte mehr dahinterstecken.

Entschlossen nahm sie den Hörer auf und wählte die Nummer der diensthabenden Ärztin. Pat Merkle hatte die Operation des Unbekannten nicht vorgenommen. Aber sie war eine ausgezeichnete Kraft. Falls es ein Problem bei dem Mann gab, würde sie es bestimmt erkennen.

„Wir werden jetzt den Luftschlauch entfernen, Sir“, sagte Pat drei Stunden später. Der Unbekannte war inzwischen von Kopf bis Fuß untersucht worden – Röntgenaufnahmen, Blutsenkung, EEG etc. Für einen Mann, der vorige Nacht auf dem besten Weg ins Jenseits gewesen war, ging es ihm erstaunlich gut.

„Wilson hat ein wahres Meisterwerk vollbracht“, fuhr sie, an Lauren gewandt, fort. Wilson war der Kollege, der den Unbekannten gestern Abend wieder zusammengenäht hatte. Er war ebenfalls gerufen worden und der Ansicht gewesen, dass der Patient wieder aus eigener Kraft atmen könnte.

„Es wird ein bisschen unangenehm für Sie sein“, fuhr sie fort. „Aber es tut nicht weh und dauert nicht lange.“

Lauren stand neben ihr, um zu helfen. Doch Pat hatte geschickte Hände, und der Schlauch war rasch heraus. Anschließend drückte sie das Stethoskop auf die Brust des Patienten.

„Sehr gut“, erklärte sie, nachdem sie ihn abgehorcht hatte. „Ihre beiden Lungenflügel funktionieren wieder. Sie werden vermutlich einen anderen Eindruck haben, aber sie arbeiten tatsächlich.“

Pat richtete sich auf und wandte sich an Lauren. „In Ordnung. Folgendes werden wir jetzt tun …“ Sie unterhielten sich eine Weile, dann zog sie Lauren beiseite. „Falls ihm sein Name weiterhin nicht einfällt, rufen Sie bitte Dr. Litzer aus der Neurologie. Er soll sich den Mann einmal ansehen.“

Lauren nickte. „Wahrscheinlich ist es nichts Ernstes.“

„Der Kerl war praktisch klinisch tot, Lauren. Wie lange musste Felix ihn wiederbeleben?“

„Elf Minuten.“

Pat zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist tatsächlich alles in Ordnung. Rufen Sie dennoch Dr. Litzer, falls Sie Zweifel bekommen.“

Die Möglichkeit eines Hirnschadens war trotz aller Bemühungen von Felix und seinem Team nicht auszuschließen, das wussten sie beide. Schon bei dem Gedanken daran drehte sich Lauren beinahe der Magen.

Pat wandte sich weiteren Pflichten zu und ließ Lauren mit dem Kranken allein. Der Mann hatte die Augen geschlossen, und sie hoffte, dass er eingeschlafen war. Doch als sie sich über ihn beugte, um sich zu überzeugen, öffnete er plötzlich die Lider.

„Was haben Sie …?“ Seine Stimme klang leise und heiser. Das lag an dem Schlauch, der in seiner Luftröhre gesteckt hatte. Er hielt inne und sah sie erstaunt an.

„Keine Sorge, das ist normal“, versicherte Lauren ihm sofort. „Ihr Hals wird noch eine ganze Weile wund sein. Ich werde Ihnen etwas dagegen besorgen.“

Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. „Ich habe schon genügend Medikamente bekommen.“ Jedes Wort war eine Qual, aber er war entschlossen, sie auszusprechen. „Wie lautete noch Ihr Name?“

„Lauren Walters. Sagen Sie mir auch Ihren?“

Er stieß einen Laut aus, der Lachen bedeuten konnte. „Das würde ich gern, aber es geht leider nicht.“

„Erinnern Sie sich nicht daran?“

„Geben Sie zu, dass das an irgendwelchen Drogen liegt, die Sie mir eingeflößt haben.“

„Ehrlich gesagt, Sie haben seit gestern Abend diverse Medikamente bekommen. Bei dieser Kombination können sich alle möglichen Nebenwirkungen einstellen. Versuchen Sie einfach, sich eine Weile zu entspannen. Wahrscheinlich kommt die Erinnerungen von ganz allein zurück.“

Wie jemand mit einem Hirnschaden klingt er bestimmt nicht, dachte Lauren, während sie das Zimmer verließ. Der Mann wirkte erschöpft, schwer krank, aber nicht hirngeschädigt. Trotzdem würde sie Dr. Litzer anrufen, falls seine Erinnerung nicht bald zurückkehrte.

„Na, ist unser Mr Unbekannt aufgewacht?“, fragte der Polizist, als Lauren herauskam.

„Ja, er ist bei Bewusstsein. Aber …“

„Dann muss ich meine Dienststelle anrufen. Die Kriminalbeamten wollen sobald wie möglich mit ihm reden.“

„Ich bin nicht sicher, ob er ihnen schon viel erzählen kann. Außerdem muss die Ärztin ihre Zustimmung geben, bevor er Besuch bekommen darf.“

Der Polizist runzelte die Stirn. „War nicht gerade eine Ärztin bei ihm?“

„Ja, aber von Besuchen hat sie nichts gesagt.“ Zum Glück hatte Pat diesen Punkt nicht erwähnt. Lauren war ziemlich sicher, dass ihr mysteriöser Patient dankbar wäre, wenn man ihn noch ein wenig in Ruhe ließe. Zumindest so lange, bis er seine Gedanken besser geordnet hatte.

„An irgendetwas muss er sich doch erinnern“, beharrte der junge Mann. „Immerhin ist es auch in seinem Interesse, wenn wir den Täter so bald wie möglich fassen.“

Damit hatte der Polizist natürlich recht. Ihr selber würde es nicht anders gehen, wenn man ihr drei Kugeln in den Körper gejagt hätte. „Ich werde die Ärztin fragen“, versprach sie.

„Könnten Sie das sofort tun? Wir haben schon fast einen Tag verloren. Je länger wir warten, desto geringer wird die Chance, den Kerl zu erwischen.“

„Wird die Spur so schnell kalt?“, fragte Lauren. Sie hatte diesen Ausdruck im Fernsehen gehört.

„Ja, das auch. Außerdem wissen Sie ja, wie das ist. Ein weiterer Tag, weitere Schießereien, und schon ist der Fall nicht mehr aktuell.“

Ähnlich wie in der Notaufnahme, überlegte Lauren. Man tat sein Bestes für den Menschen auf dem Behandlungstisch. Doch anschließend kamen der nächste und der übernächste an die Reihe, und niemand dachte mehr an den ersten.

„Er ist ein bisschen verwirrt“, sagte sie. „Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Wie heißt er eigentlich?“

„Äh … Das habe ich nicht verstanden. Wie gesagt, er ist ein bisschen verwirrt.“

Der Polizist sah sie scharf an. „Er erinnert sich nicht an seinen Namen?“

„Er kann kaum reden. Wir haben ihn gerade erst vom Beatmungsgerät gelöst. Können Sie ihm nicht etwas Zeit lassen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er noch am Leben ist?“

„Also gut, einverstanden. Aber tun Sie, was Sie können, um …“

Lauren versicherte ihm, dass sie sich so bald wie möglich mit der Ärztin in Verbindung setzen würde. Pat war in die Chirurgie zurückgekehrt. Sie würde die nächsten Stunden nicht erreichbar sein. Wilson, der den Patienten gestern operiert hatte, wurde nicht vor vier Uhr im Haus erwartet. Vielleicht erinnerte sich dieser Mr Unbekannt bis dahin wieder daran, wer er war.

Und an den Kerl, der ihn umbringen wollte.

Er erinnerte sich nicht an seinen Namen. Rumpelstilzchen hieß er nicht, dessen war er gewiss. Sonst konnte er beinahe jeden Namen tragen: Tom, Dick, Harry, Juan, Pierre, Woo Lee … Es war zum Verrücktwerden. Außerdem hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er aussah. Unter gewaltigem Kraftaufwand hob er eine Hand in die Höhe, um sie betrachten zu können.

Seine Haut war hell. Nicht weiß, sondern eher olivfarben mit dunklen Härchen auf dem Unterarm. Er konnte ebenso gut lateinamerikanischer wie italienischer Herkunft sein. Allerdings dachte er auf Englisch und war ziemlich sicher, dass dies seine Muttersprache war.

Er war also Amerikaner und männlichen Geschlechts. Das traf auf höchstens fünfzig bis sechzig Millionen weitere Weiße in den Vereinigten Staaten zu. Es musste eine Kleinigkeit sein, herauszufinden, welcher er davon war.

Wie war es möglich, dass er sich nicht an seinen Namen erinnerte? Was war passiert, dass er ihn vergessen konnte?

Allerdings fehlten ihm noch einige weitere Dinge. Zum Beispiel seine Brieftasche, falls er richtig verstanden hatte. Die hübsche junge Schwester hatte erzählt, er hätte keine Papiere bei sich gehabt.

Noch wichtiger war, dass er beinahe sein Leben verloren hätte. Inzwischen war er wieder so weit hergestellt, dass er aus eigener Kraft atmen konnte. Trotzdem war ihm klar, dass er dem Tod erst im letzten Moment von der Schippe gesprungen war.

Jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Er hatte der Gestalt gegenübergestanden, sie direkt angesehen und gemerkt …

Der Revolver … Er sah die Waffe noch deutlich vor sich. Eine neun Millimeter Smith & Wesson mit Schalldämpfer. Nicht gerade ein Kinderspielzeug. Aber dahinter war – nichts, zumindest fast nichts. Nur ein dunkelblauer Fleck.

Er holte tief Luft und stöhnte leise. Die Ärztin hatte behauptet, dass seine beiden Lungenflügel einwandfrei arbeiteten. Sie hatte gut reden. Trotzdem würde er alles daran setzen, damit man ihn nicht noch einmal an dieses Beatmungsgerät anschloss.

Eine Bewegung an der Glasscheibe erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte den Kopf ein wenig und blickte in das Gesicht eines Polizisten.

Eines stand fest: Er mochte keine Polizisten. Und dieser sah aus, als würde er gern zu einem kleinen Plausch hereinkommen. Damit es nicht geschah, wandte er den Kopf wieder ab und schloss die Augen.

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