Im zauberhaften Garten des Dukes

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Maddie Ravenwood ist überzeugt: William Hart, der Duke of Ashmore, ist ein Griesgram, wie er im Buche steht. Dummerweise besitzt er ein Herrenhaus, das für ihre geplante Gartenausstellung ideal wäre. Wie soll sie ihn nur überzeugen, ihr kurzzeitig sein Anwesen zur Verfügung zu stellen? Zu allem Überfluss lebt der Duke auch noch in London! Als er unerwartet bei ihr in Cornwall auftaucht, hält Maddie die Gelegenheit für günstig. Doch der attraktive Adlige kommt ihr zuvor und unterbreitet ihr ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann …


  • Erscheinungstag 30.03.2024
  • Bandnummer 160
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526821
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christy Carlyle

Guter Kaffee und britische Serien mit aufwendigen historischen Kostümen sind die Dinge, die Christy Carlyle antreiben. In ihren Romanen schreibt sie am liebsten über Helden und Heldinnen, die ihrer Zeit voraus sind. Da sie selbst einen Abschluss in Geschichte hat, liebt die Autorin es, beim Schreiben ihre Leidenschaft fürs Historische und ihren unerschütterlichen Glauben an ein Happy End zu vereinen.

1. KAPITEL

Februar 1894

St. James’s Square, London

William Hart, Duke of Ashmore, war ein praktisch veranlagter Mann. Er hatte keine Zeit für modischen Schnickschnack und glaubte nicht an das Unmögliche. Er brauchte Fakten und Zahlen. Er brauchte etwas, das er sehen, anfassen und ausmessen konnte.

In den letzten zwei Jahren hatten die Pflichten eines Dukes und der Tod seiner Mutter den impulsiven jungen Mann, der er einst gewesen war, vollkommen fortgespült.

Zumindest hatte er das geglaubt. Heute Abend jedoch schossen ihm unkontrolliert wilde Gedanken durch den Kopf.

Geh fort. Triff eine bessere Wahl.

Er blickte hinaus in die Londoner Nacht und dann zu seiner Begleitung auf der anderen Seite seiner geräumigen Kutsche. Er hatte zwei Möglichkeiten. Der praktische Will drängte ihn, den Kutscher anzuweisen, umzukehren, die Dame zu ihrer Residenz zurückzubringen und sich den Konsequenzen dieser Entscheidung zu stellen. Ein Überbleibsel des rebellischen Will dagegen flackerte auf und wollte am liebsten die Kutschentür aufreißen, aus dem rollenden Fahrzeug springen und in die Nacht entfliehen.

Er spielte die Idee in Gedanken durch und stellte sich vor, wie die Klatschpresse darüber schreiben würde.

In der langen Tradition der Ashmores, Torheiten zu begehen …

Niemand wäre überrascht, den Namen Ashmore erneut auf diesen Seiten zu finden. Sein Vater hatte ihnen jede Menge Stoff geboten, und die Londoner Gesellschaft hatte von Will erwartet, mit dem Titel auch den ausschweifenden Lebensstil des alten Wüstlings zu übernehmen.

Die Klatschmäuler beobachteten ihn bei allen gesellschaftlichen Zusammenkünften und warteten nur darauf, dass er einen Skandal auslöste.

Will war fest entschlossen, sie alle eines Besseren zu belehren.

Sein Vater hatte etwas Zerstörerisches an sich gehabt; er hatte Versprechen gegeben und jeden Tag seines Lebens das in ihn gesetzte Vertrauen gebrochen. Schwelgerei, Ausschweifungen und Triebhaftigkeit waren sein Lebensinhalt gewesen.

Will hatte sich geschworen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Lügen seines Vaters aufzudecken, Wiedergutmachung zu leisten und jene zu entschädigen, die der alte Teufel hintergangen und betrogen hatte.

Er wollte nur erreichen, dass der Name Ashmore in der Londoner Gesellschaft nicht mehr in aller Munde war. Und deshalb war es ausgeschlossen, dass er jetzt und hier aus der Kutsche sprang.

Doch damit stand ihm immer noch eine Schlacht bevor, die er weder austragen wollte noch gewinnen konnte. Sein Kiefer schmerzte, so fest hatte er während der viertelstündigen Fahrt durch den dichten Londoner Nebel jeden Muskel seines Körpers angespannt.

Das Scharmützel würde kommen. Er wusste nur nicht, wann.

Er holte tief Luft, um das Schweigen zu brechen, das schon viel zu lange andauerte.

Bevor er etwas sagen konnte, erwachte Lady Davina Desmond zum Leben. „Wir müssen uns wenigstens kurz blicken lassen, ehe wir wieder gehen können“, sagte sie in eiskaltem Tonfall.

„Wie Sie wünschen.“

Daraufhin stieß sie ein merkwürdiges Geräusch aus, ein Schnauben, das äußerste Verachtung ausdrückte. Endlich drehte sie sich zu ihm um, den Rücken kerzengerade, ihr Gesicht eine gefühllose Maske. Sie war die vollendete wohlerzogene Dame von Stand.

Deswegen hatte er schließlich auch in ihre Verlobung eingewilligt.

„Diese Einladung wurde schon vor Wochen angenommen“, sagte sie, während sie in seine Richtung starrte, ohne ihm in die Augen zu schauen. Soweit er es beurteilen konnte, starrte sie auf das blaue Samtpolster hinter seinem Kopf. „Es wäre nicht klug, der Countess of Trenmere abzusagen.“ Energisch zog sie ihre Handschuhe über die Ellenbogen, als wollte sie ihre Aussage unterstreichen.

Mit jedem Wort und jeder Bewegung brachte die Dame ihren Zorn zum Ausdruck.

„Wir müssen natürlich unseren Verpflichtungen nachkommen.“ Das war das Ziel, das er sich jeden Tag aufs Neue setzte.

„Verpflichtung?“, spottete sie.

Er runzelte die Stirn.

Bei ihrer Verlobung ging es um nichts anderes als Pflichterfüllung. Der Vertrag war von Will und ihrem Vater ausgehandelt worden, und sie stimmten beide überein, dass es eine Vernunftehe werden würde. So etwas Überspanntes wie Vernarrtheit oder Schwärmerei gab es zwischen ihnen nicht. Dieser Unsinn hielt niemals lange an. Ihre Übereinkunft war besser. Ein Arrangement, von dem beide Seiten auf höchst praktische Weise profitierten.

Es war eine einfache Rechnung. Er hatte einen Titel, und ihr Vater hatte ihm eine beneidenswerte Mitgift angeboten. Zu der Zeit hatte der Familienbesitz dringend finanzielle Mittel benötigt, doch jetzt waren die Truhen von Ashmore gut gefüllt. Seine Schwestern konnten sich endlich etwas sicherer fühlen, gesellschaftlich und finanziell. Will hatte es geschafft, einiges von dem, was ihr Vater in fragwürdigen Investitionen verprasst hatte, zurückzugewinnen.

Diese Verlobung war für ihn nicht mehr so nötig, wie es anfangs den Anschein hatte, was ihm erlaubte, eine überaus wichtige Tatsache zu erkennen: Seine Verlobte verabscheute ihn. Vielleicht lag es daran, dass er zu freudlos war, wie sie ihm einmal vorgeworfen hatte, oder Gesellschaften nicht so sehr genoss wie sie. Vielleicht hatte seine eigene Notlage ihn blind und taub gemacht für die Zurückhaltung, die sie ihm von Anfang an entgegengebracht hatte – im Gegensatz zu ihrer Familie, die über die Verbindung ihrer Tochter mit einem Duke geradezu entzückt war.

Die Ironie darin entging ihm nicht: Lady Davina hasste ihn für eben jenen Anstand, der es ihm überhaupt erst ermöglicht hatte, sie zu heiraten.

„Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Pflichterfüllung, Ashmore.“

„Zum Beispiel?“, fragte er herausfordernd. Er bevorzugte klare Worte, und sie machte seit Tagen Ausflüchte.

„Die Familie“, sagte sie mit Nachdruck und reckte ihr Kinn in die Höhe.

„Familie ist eine Verpflichtung, Davina. Vielleicht die wichtigste von allen.“

„Das können Sie unmöglich ernst meinen. Nicht nach dem, was Sie meiner Familie angetan haben.“

Will seufzte und rieb sich den Nasenrücken. „Dafür ist Ihr Onkel verantwortlich.“ Der Mann hatte seinen Freundeskreis belogen und jeden Gentleman um mehrere Tausend Pfund erleichtert. Genug, um mindestens zwei von ihnen in den Ruin zu treiben. Will hatte das Vergehen des Mannes aufgedeckt, als er die Verbrechen seines eigenen Vaters untersucht hatte. Er hatte keiner Menschenseele davon erzählt, aber er hatte Davinas Onkel zur Rede gestellt – sowohl zur Warnung als auch um herauszufinden, wie weit sein Vater in dieses Treiben verstrickt war. Aus welchem Grund auch immer hatte der Mann anschließend die elende Geschichte der ganzen Familie Desmond gebeichtet.

Ihr Vater hat damit angefangen“, zischte Davina.

„Zusammen mit Ihrem Onkel. Sie waren gleichberechtigte Partner.“

„Hätten Sie Ihren eigenen Onkel ebenfalls ruiniert?“

„Liebend gern.“ Manchmal träumte er davon, die Zeit zurückdrehen zu können und die Missetaten seines Vaters vor dessen Tod aufzudecken. Wie er es genossen hätte, diesen Mann irgendeiner Form von Gerechtigkeit zuzuführen für den Schaden, den er seiner Familie und dem Ansehen der Familie und des Titels zugefügt hatte.

„Du liebe Güte, Sie sind ein grausamer Mann.“

Vielleicht war er das, jedenfalls hatte man ihm das schon öfter gesagt. Doch es fiel ihm schwer, jenen zu vergeben, die andere nur zum Zeitvertreib verletzten. Er konnte unmöglich über das Leid hinwegsehen, das seiner Familie angetan worden war. „Mein einziger Wunsch ist es, das Richtige zu tun.“

Sie lachte verbittert. „Ach ja, der ach-so-korrekte Sohn des teuflischen Dukes.“

Will biss die Zähne zusammen und schmeckte Blut. Jede Erwähnung seines Vaters schwemmte einen unerschöpflichen Strom an Wut in ihm nach oben.

„Er ist kein Duke mehr. Und mir fällt die Aufgabe zu, den Ruf meiner Familie wiederherzustellen.“

Davina blieb beängstigend still, als würde sie den Atem anhalten.

Er war auf Tränen vorbereitet, auf Geschrei oder sogar darauf, dass sie sich quer durch die Kutsche auf ihn stürzen und auf ihn einschlagen würde, denn ihr Blick verriet, dass sie am liebsten genau das tun würde. Die Worte schienen in ihrer Kehle steckengeblieben zu sein. Sie schluckte und öffnete den Mund, sagte aber nichts. Nur ihre Hände bewegten sich, die Finger in den Handschuhen bohrten sich in das Polster ihrer Sitzbank.

„Sagen Sie, was Sie sagen müssen. Heraus damit, damit wir es hinter uns bringen“, sagte er schließlich.

Ihre blauen Augen wurden schmal. „Sind Sie jemals gescheitert, Ashmore? Haben je einen Fehler gemacht? Einen Skandal für sich und Ihre Familie ausgelöst?“ Ihr tiefer Flüsterton ließ ihn erschaudern.

„Niemals“, sagte er krächzend.

Sie fasste seine größten Ängste in Worte.

„Eines Tages werden Sie es.“ Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. „Es liegt Ihnen im Blut. Es ist sozusagen Ihr Geburtsrecht. Wenn dieser Tag kommt, werden Sie verstehen, dass ein Mann einen Fehler machen kann und es trotzdem nicht verdient hat, dass sein Leben ruiniert wird.“

„Ich habe lediglich die Wahrheit über Ihren Onkel herausgefunden, Davina.“

„Was, wenn sein Name den Weg in die Zeitungen findet? Er würde von der Gesellschaft verstoßen werden und jeden Freund verlieren, den er je hatte.“

„Ich habe mit niemandem gesprochen, doch er darf sich anvertrauen, wem er will. Aber zum Wohle meiner Familie und meines Titels musste ich die Dinge richtigstellen“, wiederholte Will. Das war weniger eine Erklärung als eine Bitte an sie, sie möge seine Beweggründe verstehen.

Doch das tat sie nicht.

Davina beugte sich vor und zielte mit einem Finger auf seine Brust. Im selben Moment hielt die Kutsche an, und sie ließ sich in das Polster zurückfallen. Mit einem tiefen Atemzug schien sie sich in die selbstsichere junge Dame zurückzuverwandeln, als die er sie einige Monate zuvor kennengelernt hatte. Es gelang ihr sogar, etwas Ähnliches wie ein Lächeln aufzusetzen.

Ein Lakai öffnete die Tür der Kutsche und reichte ihr die Hand, um ihr herauszuhelfen. Doch sie wartete und starrte Will noch einen Moment an.

„Sie sind nicht so perfekt, wie Sie vorgeben. Eines Tages werden Sie von Ihrem Sockel stürzen, Ashmore, und ich hoffe nur, dass ich dabei sein werde, um es zu sehen.“

Madeline Ravenwood war nach London gekommen, um das zu tun, was sie am meisten liebte.

„Kommen Sie zu mir nach London, um Trenmere House mit Pflanzen und Blüten zu schmücken“, hatte die Countess of Trenmere ihr angeboten. Der Garten ihres Londoner Stadthauses sollte neu gestaltet und für die Gesellschaft an diesem Abend mit Hunderten von Blüten geschmückt werden.

Maddie konnte keiner Gelegenheit widerstehen, bei der sie ihrer Leidenschaft für Blumen und Gartengestaltung frönen konnte. In Cornwall warteten Sorgen und Geschäfte auf sie, doch sie versuchte, für die Dauer ihres kurzen Besuchs in der Stadt nicht daran zu denken. Vergeblich. Der Gedanke an die Ravenwood-Gärtnerei lastete schwer auf ihrem Herzen. Sie hatte die Gärtnerei übernommen, um die harte Arbeit ihrer Eltern nach deren Tod in Ehren zu halten, doch damit blieb ihr nur wenig Zeit für irgendetwas anderes.

Ihr erster Ausflug in die Stadt war ein wahres Geschenk gewesen.

In zwei Tagen hatte sie ein halbes Dutzend von Lady Trenmeres Freundinnen kennengelernt, von denen einige versprochen hatten, sie für die Neugestaltung ihrer eigenen Gärten zu rufen. Gestern hatte sie sich davongestohlen, um das British Museum zu besuchen und sich den Vortrag eines berühmten Botanikers anzuhören. Heute war ihr letzter Abend in der Stadt, und es erschreckte sie, wie wehmütig sie angesichts ihrer Abreise war.

„Sie können sich eine nehmen, wenn Sie möchten“, sagte Maddie zu dem Dienstmädchen, das stehen geblieben war, um an einem Strauß mit Freesien zu riechen, als sie mit einem Tablett mit Erfrischungen daran vorbeikam.

„O nein, Miss, das steht mir nicht zu.“

„Ich habe sie selbst heute Morgen in Covent Garden gekauft, wegen ihres Dufts.“ Maddie kam näher, nahm eine duftende Blüte aus der Vase und reichte sie dem Mädchen. „Also darf ich sie auch verschenken.“

Strahlend ging das Mädchen davon. Maddie lächelte ebenfalls.

Wenn die Freude spendende Macht der Blumen doch nur jedes Problem lösen könnte!

Als sie im Speisesaal an dem Tafelaufsatz arbeitete, der die Mitte des Tisches schmücken sollte, hallten die Vibrationen der angeheuerten Musiker durch die Halle. Unwillkürlich tippte Maddie mit den Zehenspitzen zum Takt der Musik, unter die sich das heitere Geplauder aus dem Salon mischte.

Maddies Neugier nagte an ihr wie eine Raupe an einem Blatt.

Sobald das Dienstmädchen verschwunden und sie im Speisesaal fertig war, schlich sie sich zu einer Stelle, die sich gegenüber der offenen Salontür befand. Gegenüber der Tür standen zwei hohe, dicht gewachsene Kentia-Palmen. Maddie trat hinter sie, teilte zwei der großen Wedel, um in den belebten Raum zu spähen.

Die Farbmischung konnte es mit einem Garten in voller Herbstblüte aufnehmen. Gentlemen, gekleidet in Schwarz mit steifen Halsbinden, bildeten einen schönen Kontrast zu den Damen in Samt und Seide in vollen, dunklen Farbtönen: Pflaume, Grün in allen Schattierungen, Rot. Sie standen in Gruppen zusammen, manche saßen auf den Sofas, während andere sich in den Ecken unterhielten.

Eine kleine Soiree, hatte die Countess gesagt, dabei zählte Maddie nicht weniger als fünfundzwanzig Gäste.

„Die Blumen sehen perfekt aus. Vielen Dank, Maddie.“

Beim Klang der Stimme der Countess fuhr Maddie zusammen, drehte sich um und sah die Frau an, die sie inzwischen recht gut kannte. Lady Trenmere war jung verwitwet, und der Altersunterschied zwischen ihnen betrug nur sieben Jahre. Ihr Umgang war weniger förmlich, als es für eine Gönnerin und ihre Beraterin in Gartenangelegenheiten üblich war.

„Gern geschehen. Ich dachte, Sie wären schon im Salon.“

„Oh nein, meine Liebe. Betreten Sie niemals einen Raum als Erste.“ Lady Trenmere lächelte und zwinkerte ihr aus ihren glockenblumenblauen Augen zu. „Warten Sie immer ab, bis Sie Ihren Auftritt bekommen.“

Maddie lächelte, sowohl über den Rat als auch über die Andeutung, dass sie ihn jemals umsetzen könnte. Ein großartiger Auftritt oder die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, passte einfach nicht in ihr Leben. Es sei denn, sie gewann den ersten Preis für ihre Rosen bei der bevorstehenden Blumenschau in Haven Cove. Das war die Anerkennung, die sie wollte. Wenn sie mit ihren Blumen Interesse wecken konnte und die Aufmerksamkeit auf die Ravenwood-Gärtnerei lenken könnte, könnte sie vielleicht retten, was ihre Eltern in so vielen Jahren aufgebaut hatten.

Doch Lady Trenmere glaubte beharrlich daran, dass auf Maddie eine andere Zukunft wartete. Sie sind die Enkelin eines Viscounts, rief sie ihr häufig in Erinnerung. Sie und Maddies Mutter waren Freundinnen gewesen. Vermutlich wusste Lady Trenmere, dass Mama enterbt wurde, weil sie Maddies Vater, einen Gärtner, geheiratet hatte, aber sie war zu höflich, um das jemals zu erwähnen.

„Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht zu uns gesellen wollen?“ Die Countess bot ihr einen Arm, als wollte sie Maddie einladen, mit ihr durch den Hydepark zu flanieren.

„„Ja.“ Maddie erwiderte ihr warmes Lächeln. „Mein Zug fährt morgen in aller Frühe.“

„Also gut.“ Sie seufzte theatralisch. „Es ist vermutlich unangebracht, Ihren Fleiß zu bewundern und Sie gleichzeitig von Ihren Pflichten abzuhalten.“

„Wenn Sie das nächste Mal eine Gesellschaft in Allswell geben, werde ich kommen, wenn Sie es wünschen. Versprochen.“

Allswell war für den Großteil des Jahres der Zufluchtsort der Countess. Ihr verstorbener Gatte hatte ihr das Herrenhaus in Cornwall kurz nach der Hochzeit geschenkt. Maddie hatte die Gärten gepflegt und Lady Trenmere jahrelang geholfen, preisgekrönte Kamelien zu züchten.

„Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Ruhe und eine sichere Reise. Und denken Sie in Haven Cove an mich.“ Sie durchquerte das Foyer, blieb aber noch einmal stehen, um sich umzudrehen. „Eine Kutsche wird morgen früh bereitstehen, um Sie zum Bahnhof zu fahren.“

„Vielen Dank, Mylady.“

Maddie sah ihr nach, wie sie durch die Halle glitt, und unterdrückte den Wunsch, ihr zu folgen. Es war die Musik, die sie anzog. Ihre Mutter hatte ihr Tanzen und das Violinspiel beigebracht, aber sie fand nur selten Gelegenheit, eines von beiden zu üben.

Heute Abend gab es keinen Tanz für sie. Was sollte sie auch zu Damen sagen, die ihre Tage damit verbrachten, ihre gesellschaftlichen Verbindlichkeiten vorzubereiten? Maddie war eine Geschäftsfrau, auf die in Cornwall ein Haufen Arbeit wartete. Am Morgen würde sie nach Hause fahren und aufhören, sich vorzustellen, wie es wohl wäre, elegante Abendeinladungen zu besuchen.

Trotzdem zogen die Farben, die Musik und das Lachen aus dem Salon sie an wie Nektar eine hungrige Biene. Sie trat wieder zwischen die riesigen Palmen und hoffte, von dort aus sehen zu können und gleichzeitig unentdeckt zu bleiben. Aufgeregtes Stimmengewirr hatte sich erhoben, als Lady Trenmere den Raum betreten hatte. Bevor sie ging, wollte Maddie einen letzten Blick auf die glückliche Countess erhaschen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog, die sie ersehnte.

Gäste umschwärmten die Countess, und Maddie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ein Mann hob sich vom Rest ab. Hochgewachsen und breitschultrig versperrte er ihr den Blick auf alle anderen. Sie stellte sich etwas weiter nach links, um die Countess zu sehen, doch der vermaledeite Kerl ging ebenfalls einen Schritt nach links. Eine junge Dame trat zu ihm, und das Paar versperrte Maddie endgültig den Blick.

Na gut.

Sie wollte sich aus dem Winkel stehlen, vor dem die eingetopften Palmen standen, stolperte jedoch über den Messingfuß eines Pflanzkübels. Unwillkürlich griff sie nach einer Palme, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Blätter zitterten, Maddie stieß einen leisen Schrei aus und betete, dass niemand sie im Salon gehört hatte. Sobald sie wieder sicher stand, vergewisserte sie sich mit einem Blick, dass niemand von ihrer Ungeschicklichkeit Notiz genommen hatte.

Dann drehte er sich um. Der große dunkelhaarige Koloss mit den breiten Schultern, die ihr die Sicht genommen hatten. Sie stand in einer Ecke. Im Schatten. Und trug ein dunkles Kleid. Er konnte sie unmöglich sehen. Trotzdem ruhte sein Blick auf ihr, fest und intensiv und von einer so samtigen Dunkelheit wie das Innere einer Mohnblüte.

Eine Braue, dunkel wie sein Blick, schoss in die Höhe, als er sie abschätzig musterte, von dem Palmwedel neben ihrem Kopf bis zu ihrem Kleidersaum, der über dem Fuß des Pflanzkübels hängen geblieben war.

Ihr stockte der Atem, und sie erstarrte. Der Mann hatte ein hartes Gesicht mit scharfen Linien und eleganten Kanten, als sei er aus Stein gemeißelt. Nur sein Mund könnte möglicherweise etwas weicher sein. Vielleicht, wenn er lächelte. Doch sein Blick und die erbarmungslose Eckigkeit seines Kinns wirkten nicht einmal andeutungsweise heiter oder freudvoll.

Maddie blieb ganz still stehen, ohne sich zu rühren oder auch nur zu atmen. Am liebsten würde sie die Flucht ergreifen, doch sie fürchtete sich davor, sich zu bewegen und die Aufmerksamkeit von mehr als diesem einen Mann auf sich zu ziehen.

Wenn er sie und ihr albernes Gestolpere doch einfach vergessen würde.

Wenden Sie sich ab. Grundgütiger, warum starrte er sie so an, wenn er so eine hübsche junge Frau an seiner Seite hatte? Mit diesen breiten Schultern und dem auffälligen Kinn war es ein Wunder, dass nur eine einzige Dame seine Aufmerksamkeit suchte.

Endlich wandte er sich ab, um die Dame neben sich anzuschauen, doch sein Stirnrunzeln blieb. Er schien ein ausgesprochen mürrischer Mann zu sein, auch wenn er verwirrend gut aussah.

Maddie nutzte den Moment, in dem er unaufmerksam war, um aus der Halle in den Wintergarten der Countess zu schlüpfen. Der warme Raum mit der hohen Decke war der einzige Ort, an dem sie nie ins Straucheln geriet. Der Geruch von feuchter Erde und das Grün der frischen Blätter beruhigten ihre Nerven.

Dem Himmel sei Dank, dass sie Lady Trenmeres Einladung, an der Soiree teilzunehmen, nicht angenommen hatte. Sie hätte es gehasst, sich mit jemandem unterhalten zu müssen, der so grantig und arrogant war wie dieser schrecklich aufmerksame Mann.

2. KAPITEL

Will schaute wieder in die Halle. Die junge Frau war verschwunden.

Was für ein merkwürdiges, unbeholfenes Geschöpf! Mit ihren roten Haaren war jedes Versteckspiel vergebens, egal, wie groß die Pflanze wäre, hinter der sie sich verbergen würde.

Er hoffte nur, dass sie keines dieser betrügerischen Mauerblümchen war, die bei gesellschaftlichen Anlässen still am Rand standen, um anschließend nach Hause zu ihrer Schreibmaschine zu eilen und sich die wildesten Geschichten auszudenken, die in den Klatschzeitungen abgedruckt wurden.

Ehrlich gesagt hatte er die rothaarige Beobachterin beneidet, kaum dass er sie entdeckt hatte. Umso mehr jetzt, da sie verschwunden war. Wenn er diesem überfüllten Salon und den rasiermesserscharfen Blicken, die Davina immer wieder in seine Richtung warf, entkommen könnte, wäre er der reinste Glückspilz.

Seine Eingebung in der Kutsche war richtig gewesen. Es war ein Fehler gewesen, Davina zu dieser Soiree zu begleiten. Sobald sie neben ihm stand, vibrierte sie förmlich vor Enttäuschung, und selbst ihre wohl einstudierte Fassade konnte ihren Kummer nicht verbergen. Die Unterredung, die er unbedingt mit ihr führen musste, war längst überfällig.

Als eine befreundete Dame sie zu sich rief, seufzte er vor Erleichterung unwillkürlich auf, was vermutlich alle in seiner Nähe hörten.

Er schaute erneut in die Halle. Immer noch keine Dame in den Palmen.

„Sie haben einen ungemütlichen Abend vor sich, Ashmore. Ihre Braut wirkt ungehalten.“ Lord Esquith klang ganz und gar nicht mitfühlend, als er Will in vertraulichem Tonfall ansprach und sich neben ihn an die Tür stellte.

Der Mann hatte einmal ein gewisses Interesse an Davina gezeigt, dabei war er dreißig Jahre älter als sie und erst seitKurzem verwitwet.

„Vielleicht ist es nicht der beste Abend für eine Soiree.“ Will hatte Davinas Onkel schon vor Monaten zur Rede gestellt, aber anscheinend hatte sie erst kürzlich davon erfahren. Den Schein zu wahren und so zu tun, als wären sie immer noch verlobt, wurde für sie beide zunehmend schwieriger.

„Haben Sie Gesellschaften jemals genossen?“ Lord Esquith schien nicht anders zu können, als zu spotten. Er war ein Gefährte von Wills Vater gewesen, doch Will hatte keine Vergehen des Lords aufgedeckt – abgesehen von einer Vorliebe für ausschweifende Feste ohne Begleitung seiner Gemahlin.

„Sehr selten.“

„Ganz anders als Ihr Vater.“

Will entfernte sich ein paar Schritte, damit er nichts Unbedachtes sagte, und nahm sich einen eleganten Aperitif von einem vorbeikommenden Diener. Ein Whiskey wäre ihm lieber, aber das hier musste reichen.

Er musste unbedingt eine Terrasse finden und etwas frische Luft schnappen, also ließ er seinen Blick im Raum umherschweifen.

Lord Esquith war entgangen, dass Will die Unterhaltung nicht fortführen wollte, und folgte ihm stattdessen.

„Wenigstens konnte ihr Vater jede Gesellschaft aufmuntern.“

„Während er Sie hinter Ihrem Rücken betrogen hat.“ Will riss sich zusammen, um das kleine Kristallglas in seiner Hand nicht zu zerbrechen.

„Er war ein großzügiger Gastgeber und ein fröhlicher Mann. Die Leute mochten ihn.“ Esquith schnaubte hochnäsig und vernehmlich. Aus irgendeinem Grund wollte dieser Narr eine Szene machen.

Will drehte sich um und trat einen Schritt näher. „Wenn Sie mich dazu provozieren wollen, im Salon der Countess of Trenmere gewalttätig zu werden, machen Sie ruhig weiter.“

Der Gentleman war klug genug, einen Schritt zurückzuweichen, doch er verschwand nicht und schwankte kurz, ob er noch mehr sagen sollte.

„Wie können Sie es wagen, mir zu drohen? Sie sind nichts als ein Flegel, der niemals auch nur ein Quäntchen vom Charme Ihres Vaters haben wird.“

„Ich brauche seinen Charme nicht.“ Irgendwie schaffte Will es, seine Hand lange genug zu lockern, um einem Diener sein leeres Glas zu geben. „Ich habe seine Titel, sein Vermögen und eine Auflistung all seiner Vergehen.“

Esquith wurde so weiß wie sein Kragen. Vielleicht war er bei irgendeinem ruchlosen Unterfangen von Wills Vater doch mit von der Partie gewesen. Was auch immer der Grund war, Lord Esquiths Unterlippe zitterte, als er Will einen letzten verächtlichen Blick zuwarf, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte und sich entfernte.

Will wollte keinen Skandal. Es würde alle Achtbarkeit zunichtemachen, die er seit Jahren zu erreichen versuchte. Noch schlimmer, jeder unbesonnene Fehler von ihm würde nicht nur den Titel beflecken, sondern auch seinen Schwestern schaden.

Ihre Zukunft galt es um jeden Preis zu schützen.

Er sah sich um und fing Davinas Blick auf, aber nur so lange, dass sie ihn wütend anstarren und ihm dann den Rücken zukehren konnte.

„Entschuldigen Sie mich.“ Will blaffte einen Gast an, der ihm im Weg stand.

Will erkannte in ihm einen Viscount, der sich an einer Investition seines Vaters beteiligt hatte. Gab es einen einzigen Adligen in ganz England, der diesem Mann nicht verfallen war?

Will ging um ihn herum und schob sich durch eine Schar von Paaren, um zur Tür zu gelangen und in die Halle zu entkommen. Er starrte auf die prächtigen Palmen, hinter denen die junge Frau gestanden hatte.

Wohin war sie geflüchtet?

Er schlenderte die Halle hinunter, auf der Suche nach wahlweise einer Terrasse oder einem Getränk. Er fand keines von beiden, stattdessen entdeckte er einen weiß getünchten, nach Erde riechenden Wintergarten. Schwaches Licht fiel in die Halle, und der Raum erschien ihm wie eine brauchbare Zuflucht.

Zehn Minuten im Wintergarten, und Maddies Gedanken waren vollständig von den Pflanzen und Ideen zur Gestaltung des Gartens der Countess eingenommen. Nur ein gelegentlicher leiser Widerhall der Musik erinnerte sie daran, dass die Soiree in vollem Gange war. Sie gab sich große Mühe, den abscheulichen Mann mit dem Marmorkinn zu vergessen, der sie durch die Halle so finster angeschaut hatte.

Ein letztes Mal schlenderte sie durch die Sammlung aus Palmen, Geranien und blühendem Wein, den die Countess bevorzugte. Als sie auf die Tür zusteuerte, die zum Treppenhaus führte, hörte sie schwere Schritte auf den Bodenfliesen des Wintergartens.

Sie drehte sich um, um zu sehen, wer sie in diesem friedlichen Moment störte.

Es war er. Die grimmige Statue von einem Mann.

Ihr Herz pochte heftig, als ihr der Gedanke kam, dass er sie vielleicht suchen könnte.

Doch als sie ihn beobachtete, wurde ihr klar, dass er nichts und niemanden suchte außer Einsamkeit. Er schaute hinter sich, als hätte er Angst, jemand könnte ihm folgen. Dann ging er zum Rand des Wintergartens, legte eine Hand an das kühle Glas und strich sich mit der anderen durch sein Haar.

Mit der Faust schlug er einmal gegen das Fenster und wandte sich dann ab.

Maddie verspürte den dringenden Wunsch, sich ihm zu zeigen und in Erfahrung zu bringen, warum er sie in der Halle angestarrt hatte. Und vor allem, warum er so elend aussah.

Sie holte tief Luft und machte einen Schritt auf ihn zu. Und blieb wieder stehen.

„Wie können Sie es wagen!“ Die Stimme einer Frau hallte von den Glaswänden wider. Als sie in Sicht kam, erkannte Maddie die junge Frau, die im Salon neben ihm gestanden hatte. „Ich wollte gerade mit Ihnen sprechen, und Sie sind einfach gegangen.“

Der Mann wirbelte herum, um sie anzusehen, ging aber nicht zu ihr.

„Ich habe den Salon Ihnen zuliebe verlassen“, sagte er ruhig. „Sie sind aufgewühlt, und wir wollen den Gerüchten doch keinen Vorschub leisten. Wenn es Ihnen lieber ist, werde ich gehen. Ich kann Sie morgen Vormittag aufsuchen, oder Sie können zu mir kommen.“

Die Dame schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Wir werden das jetzt klären. Ich wünsche keine weiteren Besuche von Ihnen und habe auch kein Verlangen, Sie zu besuchen.“

„Wie Sie wünschen.“ Er nickte einmal, anscheinend vollkommen ungerührt. Doch sein Kinn wurde noch fester und die Falten auf seiner Stirn tiefer. „Ich halte Sie nicht zurück und werde sagen, was immer Sie wünschen.“

Wütend zerrte sie an einem ihrer langen weißen Handschuhe und nestelte an den Perlenknöpfen herum. „Was immer ich wünsche?“

„Natürlich. Ich hege keinen Groll gegen Sie.“

Sie riss am letzten Knopf und streifte ihren linken Handschuh ab. Ihre Wangen glühten, als sie einen Ring von ihrem Finger zog und das glänzende Silber von sich schleuderte. Es prallte von der breiten Brust des Mannes in der eng anliegenden Weste ab und schlug leise klirrend auf den Bodenfliesen auf.

„Ich wünsche, dass Sie sagen, ich hätte unsere Verlobung gelöst. Manche mögen mich für töricht halten, einen Mann Ihres Ranges abzuweisen, aber dann werden sie an Ihre Grausamkeit und Freudlosigkeit denken. Am Ende werde ich damit umso besser dastehen.“

Er holte tief Luft, und beim Ausatmen sackten seine Schultern sichtlich nach unten. „Es ist also abgemacht. Ich werde sagen, Sie hätten die Verlobung gelöst. Ich werde sogar meine Freudlosigkeit zugeben.“ Merkwürdigerweise lächelte er sie bei diesen Worten an, und an seinen Mundwinkeln bildeten sich Grübchen. Doch es war ein trauriges Lächeln, schwer von den Worten, die sie ihm gerade an den Kopf geworfen hatte.

„Sie sind ein herzloser Mann. Er gehört zu meiner Familie. Sie hätten nie mit ihm über das reden dürfen, was Sie herausgefunden haben.“

Er seufzte tief und strich sich noch einmal mit der Hand durchs Haar. „Er besaß Informationen über die Geschäfte meines Vaters, die ich benötigte.“

„Ihr Vater ist tot und kann nicht mehr für seine Fehler bezahlen. Mein Onkel lebt, und was immer Sie aufgedeckt haben, wird für immer an ihm hängen bleiben.“

„Das tut mir leid.“

„Das tut es nicht. Man hat mich vor Ihrer Unnachgiebigkeit gewarnt, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich Sie so sehr verabscheuen könnte.“ Die Dame machte auf dem Absatz kehrt und rauschte in einer Wolke aus Taft und Seide aus dem Wintergarten.

Maddie wich zurück und bemühte sich, kein Geräusch dabei zu machen. Wenn sie es zum Ende des Wintergartens schaffte, könnte sie von dort ins Treppenhaus gelangen. Doch ihre Stiefel waren nicht leise, gleichgültig, wie vorsichtig sie auftrat.

Der Kopf des Gentleman fuhr in die Höhe, und er drehte sich in ihre Richtung um. „Wer immer Sie sind, zeigen Sie sich!“

Maddie biss sich auf die Lippe und beschloss, dass es wesentlich demütigender wäre, herumzuschleichen und erwischt zu werden, als dem Mann gegenüberzutreten und ihn darauf hinzuweisen, dass er sie in ihrer Einsamkeit gestört hatte. Sie trat hinter einem dicht gewachsenen Wein hervor und sah ihn an.

„Natürlich, Sie sind es.“ Er zerrte an seiner Halsbinde, bis sie lose herunterhing. „Die Dame, die sich in der Palme versteckt.“

„Der Gentleman, der mir die Sicht in den Salon versperrt.“

Eine dunkle Braue schoss nach oben. Er wirkte fast beleidigt von diesem Vorwurf. Dann ließ er seinen Blick über sie wandern, als suchte er etwas. „Arbeiten Sie für die Staatspolizei oder eine Zeitung oder ist das Lauschen für Sie lediglich ein Hobby?“

„Ich habe nicht gelauscht. Ich habe nur …“

„Sie hätten den Salon betreten können, anstatt sich hinter einer Pflanze zu verstecken. Sind Sie kein Gast von Lady Trenmere?“

„Doch, das bin ich.“ Den Rest wollte sie lieber nicht erklären. Er war kein Mann, mit dem sie sich länger als nötig unterhalten wollte.

Er starrte sie erwartungsvoll an, sein Blick sprang zu ihrem Mund. „Vielleicht sind Sie klug. Ich hätte diesen Salon selbst meiden sollen.“

Maddie schaute kurz in die Richtung, in welche die Dame verschwunden war. „Sollten Sie ihr nicht folgen?“

Er lachte kurz auf, doch Maddie konnte nicht sagen, ob er ihre Frage absurd oder amüsant fand.

„Einer Dame nachlaufen, die mich verabscheut? Scheint mir nicht die beste Idee zu sein. Außerdem bin ich herzlos, schon vergessen?“ Er hob diese breiten Schultern, bis der Stoff seines Jacketts so sehr spannte, dass sie die Fäden am Saum sehen konnte. „Die Dame war vollkommen im Recht.“

Er klang kalt, genau wie die Frau gesagt hatte, aber in seiner Miene schwang noch etwas mit. Maddie kannte nicht einmal den Namen des Mannes, aber sie erkannte Kummer.

„Stimmt es denn?“

„Dass ich herzlos bin? Vollkommen.“ Er drückte die Schultern durch, hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Stoff seines Abendanzugs spannte erneut, und es schien fast, als würde er den Atem anhalten. Er war zu einer steinernen Statue geworden, unempfindlich gegen so etwas Weiches wie die Verleumdung einer Dame.

Bis auf seine Augen.

Maddie ertappte sich dabei, dass sie in seine unergründlichen Augen starrte. Dann stellte sie fest, dass sein Haar nur schwarz wirkte, als ein paar braune Strähnen vom Licht der Gaslampe angestrahlt wurden.

Der Aristokrat schien ein genauso aufmerksamer Beobachter zu sein wie sie. Vielleicht sogar ein besserer. Es war beinahe unerträglich, von ihm gemustert zu werden. Gewiss fiel ihm auf, wie fehl am Platze sie hier in Trenmere House war. Sein Blick flog über ihre Kleidung und streifte kurz ihre altmodischen Stiefel. Vermutlich waren ihm auch schon die Flecken vom Blumenschneiden an ihren Fingern aufgefallen.

Maddie richtete ihren Blick auf ein Spalier in der Nähe, nur um seiner abschätzigen Musterung zu entkommen. Schlaf war das, was sie jetzt am meisten brauchte. Diese stumme Pattsituation war lächerlich, und wenn jemand sie entdeckte, würden die Fragen es ebenso sein.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen.“ Sie nickte und hoffte, das genügte als Abschied nach einer Begegnung mit einem herzlosen Fremden in einem Wintergarten.

„Warten Sie!“ Es klang wie ein Befehl, und Maddie hatte den deutlichen Eindruck, dass er sehr daran gewöhnt war, andere herumzukommandieren.

Dann machte er einen Schritt, der ihn noch näher zu ihr brachte, und stellte sich ihr in den Weg.

„Sie haben ein …“ Er hob eine Hand und deutete auf ihren Kopf. „Da oben.“ Er deutete auf eine Stelle oberhalb ihrer Schläfe.

Maddie hob die Hand, um ihr zerzaustes Haar abzutasten. Sie hatte stundenlang gearbeitet, und ihre roten Locken ließen sich nie für lange ordentlich zähmen.

Er kam noch näher. Maddie wich einen Schritt zurück.

Ein winziges Lächeln flackerte an seinen Mundwinkeln auf. „Sie brauchen mich nicht zu fürchten.“

„Sie hat gesagt, Sie wären grausam.“ Maddie hielt seinem Blick stand, als er seine Hand ausstreckte und etwas aus ihrem Haar zog.

„Das hier klebte an Ihnen.“ Auf seinem Handteller lag ein kleines vertrocknetes Blatt.

„Es muss heruntergefallen sein“, erklärte sie für den Fall, dass er glaubte, sie hätte sich absichtlich damit geschmückt. Sie schaute zu dem Zierbaum, der fast in der Mitte des Raumes stand.

Er hielt seine Hand immer noch ausgestreckt und wartete darauf, dass sie das Blatt nahm. Sie tat es und sog scharf die Luft ein, als sie seine warme, nackte Haut berührte.

„Ein Ficusblatt.“ Plötzlich klang sie atemlos, und ihr Herz schlug so furchterregend laut, dass sie sich fragte, ob er es hören konnte.

Wie lange war es her, dass sie so nah vor einem Gentleman gestanden hatte? Dass sie mit einem Gentleman allein gewesen war? Sehr lange. Und selbst damals war der fragliche junge Mann ganz anders gewesen als dieser Fremde.

In diesem Moment stellte sie fest, dass er ebenfalls ein Blatt abgekommen hatte. Bei seiner Größe war es ein Wunder, dass es nur eines war. Es war unmöglich, beim Betreten des Wintergartens den Ficus nicht zu streifen, der zudem laufend Blätter abwarf.

„Sie haben auch eines.“ Sie deutete mit dem Kinn in seine Richtung.

„Wirklich?“ Er schaute an seiner Weste herunter.

„Hier.“ Maddie hob den Arm, um das Blatt von seiner Schulter zu zupfen, doch er war größer, als ihr klar gewesen war, und stand weiter entfernt als geschätzt. Sie beugte sich zu weit vor, verlor das Gleichgewicht und stützte sich mit der Hand an seiner Brust ab, um nicht umzufallen. Er drückte eine Hand in ihre Taille, um sie festzuhalten, doch gleich darauf ließen sie sich beide wieder los.

Es war eine kurze Berührung gewesen, so schnell, dass sie sich das nur eingebildet haben könnte, wenn da nicht dieses Kribbeln an der Stelle wäre, an der er sie berührt hatte.

Jetzt, wo sie so nahe beieinanderstanden, schien ihm nicht das Geringste zu entgehen.

Sie spürte, wie er die verblasste Narbe an ihrem Kinn musterte. Er sah den Schönheitsfleck an ihrer Unterlippe und die Haarsträhnen, die den Nadeln entwischt waren.

Aus dieser Nähe fiel ihr ebenfalls das eine oder andere auf. Dinge, die sie nicht bemerkt hatte, als sie vom Anblick seiner gemeißelten Schönheit gebannt gewesen war, die sie quer durch die Halle erblickt hatte. Seine Augen waren nicht wirklich schwarz. Sie waren vom dunkelsten Braun, das sie je gesehen hatte. Und trotz der tiefen Furchen auf seiner Stirn war sein Mund von Lachfältchen umgeben.

Vielleicht war er doch gar nicht so mürrisch, wie er schien, oder war es zumindest früher nicht gewesen.

„Ich …“ Sie war nicht sicher, was sie eigentlich sagen wollte. Sie musste gehen. Das war das Einzige, was sie mit Gewissheit sagen konnte.

Er sah viel zu gut aus, und ihr Herz veranstaltete merkwürdige Dinge in ihrer Brust. Doch nichts davon zählte. Sie würde nach Cornwall zurückkehren, und er wurde im Salon erwartet.

„Sie sind eine eigenartige junge Frau.“

Nicht ganz die Einschätzung, die sie erwartet hätte, aber sie konnte es schlecht leugnen.

„Ja, nun, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“ Sie hätte schon vor fünf Minuten gehen sollen. Als sie dieses Mal versuchte, sich an seiner stämmigen Gestalt vorbeizuwinden, berührte er sie kurz am Arm, um sie zurückzuhalten.

„Ich muss Sie um etwas bitten.“

Maddie erwog, einfach aus dem Raum zu stürmen.

Mit diesem Mann zu sprechen, war töricht gewesen. Noch törichter war es, noch länger in seiner Nähe zu bleiben. Sich von ihm berühren zu lassen, war alles andere als anständig. Es überschritt, wie Lady Trenmere sagen würde, die Grenzen des Erlaubten. Sie schuldete diesem herrischen Aristokraten nichts, außer ihn allein zu lassen.

Gleichwohl blieb sie wie angewurzelt stehen, und der Wunsch zu entkommen, verschwand.

„Und das wäre?“ Die Worte klangen gereizter als beabsichtigt.

Sie standen viel zu nah beieinander. Sie hatten sich bereits berührt, und sie kannte nicht einmal seinen Namen.

„Ich habe vor, durch diese Tür hinten im Wintergarten zu flüchten und meiner ehemaligen Verlobten weiteren Kummer zu ersparen.“

Das schien ein vernünftiges Vorgehen zu sein. Maddie konnte sich allerdings nicht vorstellen, was ihre Rolle dabei sein sollte.

„Und was wollen Sie von mir?“

„Ihre Diskretion.“

„Natürlich.“ Was sie beobachtet hatte, hätte die meisten Menschen beschämt. Vor allem Angehörige des Adels hielten sich an Verhaltensregeln, die in verstaubten Benimmbüchern festgeschrieben standen. Er und die Dame würden sich beide höfliche Geschichten ausdenken, warum sich ihre Wege getrennt hatten, und nur sie beide kannten die Wahrheit.

Und Maddie.

„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Sir. Ich werde nichts sagen. Ich werde London morgen verlassen und wahrscheinlich nie wieder zurückkommen.“

„Niemals?“ Er runzelte die Stirn. Lag in seiner Stimme nicht so etwas wie Enttäuschung?

Maddie beschloss, dass es nur ihre fantasievolle Natur war, die sie so alberne Schlüsse ziehen ließ. Sollte ihre Abreise ihn nicht über alle Maßen erfreuen?

„Wahrscheinlich.“ Ihr Leben, ihre Arbeit und die Gemeinschaft, zu der sie gehörte – all das befand sich in Cornwall. Auch wenn sie mit einer wehmütigen Traurigkeit zu kämpfen hatte, sobald sie daran dachte, London zu verlassen.

Von allem, was sie gesehen und erlebt hatte, würde ihr diese merkwürdige Begegnung am seltsamsten in Erinnerung bleiben.

„Leben Sie wohl, herzloser Gentleman.“

Der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht gefror kurz, doch dann überraschte er sie. Seine Lippen zuckten, und die Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, das ihn völlig verwandelte. Heiterkeit ließ ihn lebendig werden. Seine Augen hellten auf, das Kinn wurde weicher, und er war plötzlich mehr als gut aussehend. Er war betörend.

„Auf Wiedersehen, Herrin des Laubs.“ Seine Stimme war nicht mehr das schroffe Bellen von zuvor. Sie war wärmer, vertraulicher, nur für ihre Ohren bestimmt.

Nichts davon spielte eine Rolle. Weder seine samtige Stimme noch sein bis ins Mark gehende Lächeln.

Sie würde diesen Mann nie wiedersehen. Sie würde gehen. Und das tat sie schließlich auch.

Nach einem letzten Blick auf ihn ging sie davon.

3. KAPITEL

Drei Monate später

Grosvenor Square, London

Eine Dame schrie, und das Geräusch bohrte sich durch Wills schlaftrunkenes Hirn wie eine heiße Klinge.

Stopp. Hatte er das Wort laut ausgesprochen oder rumpelte es nur in seiner Kehle herum und wollte heraus? Er brachte keinen Ton hervor. Sein Verstand war verschwommen und benebelt. Außer dem Echo der jammernden Dame hörte er nur ein Wort. Den Titel seines Vaters, der jetzt seiner war. Dann den Ehrentitel, den er immer verabscheut hatte, weil er als Kind gehört hatte, wie andere seinen Vater nannten.

Euer Gnaden. Die beiden Wörter kamen immer wieder, erbarmungslos und mit zunehmender Lautstärke.

„Euer Gnaden.“ Die Stimme eines Mannes. Ebenfalls vertraut.

Will öffnete die Augen und zuckte zusammen, als hätte er eine Ladung von Mr. Edisons Spannung abbekommen. Alles tat weh – die schmerzhafte Verspannung in seinem Nacken, die Schmerzen in seinem Rücken und der Kopfschmerz, der einen Reigen in seinem Kopf tanzte.

Blinzelnd sah er sich in seinem schwach erleuchteten Studierzimmer um und erkannte den Eigentümer der Stimme, die ihn geweckt hatte.

„Whittier.“ Er hatte den Butler eingestellt, weil er dem, der jahrzehntelang seinem Vater gedient hatte, nicht länger vertrauen konnte. „Du lieber Himmel, haben Sie mich etwa während einer Besprechung einschlafen lassen?“

„Sie haben nur für einen Moment die Augen geschlossen, Sir.“ Whittier hob seine sehr dünnen und sehr blassen Brauen. „Sie schienen es nötig zu haben. Außerdem …“, er hob ein Kristallglas mit einem Fingerbreit bernsteinfarbener Flüssigkeit in die Höhe, „… gab es mir die Gelegenheit, an meinem Whiskey zu nippen.“

„Es ist Nachmittag.“

„Es ist Abend.“ In den Augen des Mannes im mittleren Alter blitzte Sorge auf. „Sie haben mir ein Glas angeboten, als ich Ihr Studierzimmer betrat, Sir. Wir sprachen über die Vorbereitungen für das Dinner heute Abend.“

„Haben wir das?“ Will konnte sich nicht erinnern. Er fand schon seit Wochen keinen ruhigen Schlaf mehr. Seit Monaten. Die ständige Müdigkeit machte ihn vergesslich, und er hasste es. Er verabscheute es, sich irgendein Versagen eingestehen zu müssen.

„In der Tat, Sir.“

Sein eigenes Getränk war nicht angerührt, ein großzügig bemessener Schluck, verglichen mit Whittiers Finger breit, stand auf der Schreibunterlage vor ihm. Er griff nach dem Glas, und das Kristall lag wohltuend kühl in seiner Hand.

„Fühlen Sie sich unwohl, Euer Gnaden?“ Der Butler musterte ihn besorgt.

„Mir geht es gut. Ich bin nur etwas müde. Ich werde das Dinner hinter mich bringen und früh zu Bett gehen.“ Ob er dort Schlaf finden würde, war eine andere Frage. „Wie viele Gäste erwarten wir heute Abend?“ Will kippte seinen Whiskey herunter. Er sollte aufhören, die Zeit des Mannes zu vergeuden und stattdessen seinen Pflichten als Gastgeber nachkommen.

„Die übliche Anzahl, Euer Gnaden.“

„Was war das für ein grässliches Geräusch?“ Die Stimme der Dame, die ihn geweckt hatte, war nicht länger zu hören, aber ihren Gesang konnte man beim besten Willen nicht harmonisch nennen.

„Es war die Sopranistin, die Lady Daisy für ihre bevorstehende Verlobungsfeier in Betracht zieht. Ich glaube, sie wurde für heute Abend zu einer Probevorstellung eingeladen.“

„Wunderbar.“ Will unterdrückte ein Stöhnen.

„Wenn das alles wäre, Sir? Ich muss mich vergewissern, dass alles an seinem Platz ist, bevor die Gäste eintreffen.“

„Sehr gut.“ Will sah zu, wie der Butler sein Glas leerte und es zu einer einsamen Kaffeetasse auf sein Tablett stellte, bevor er zur Tür ging.

Sobald Whittier verschwunden war, gestattete Will sich das Stöhnen, das er sich bislang verkniffen hatte. Ihm graute vor dem heutigen Dinner, obwohl es nur ein kleiner und vertrauter Kreis sein würde – verglichen mit der Feier, die seine Schwestern in wenigen Tagen ausrichten wollten.

Es war nicht allein dieses Dinner oder dieser Abend, an dem es wie bei allen solchen Anlässen nur um Heuchelei und den Austausch von Nichtigkeiten ging. Da er seit Wochen unruhig schlief, begannen die üblichen gesellschaftlichen Verpflichtungen allmählich, an seiner Geduld zu nagen.

„Für Daisy“, sagte er leise zu sich. Alles war erträglich, wenn es um das Wohl seiner Schwester ging. Welche finanziellen Schwierigkeiten oder gesellschaftlichen Skandale sein Vater ihnen auch hinterlassen haben mochte, Daisy würde niemals unter den Folgen zu leiden haben. Nicht, solange Will es verhindern konnte. Das Familienvermögen war groß genug, um ihr den Tag zu bescheren, den sie verdient hatte.

Ihre Hochzeit würde ein rauschendes Fest werden. So ausschweifend, dass niemand aus der Londoner Gesellschaft auf die Idee käme, ihr Vater könnte die Truhen der Ashmores vollständig geleert haben.

Will schloss die Augen und presste seine Handballen gegen die Schläfen, wo der Schmerz in seinem Schädel hämmerte.

Er seufzte tief und versuchte, sich nicht zu bewegen oder zu atmen oder irgendetwas zu tun, dass diesen Moment der Ruhe stören könnte. Er hatte Bälle, Soireen, Teegesellschaften und dergleichen noch nie gemocht, hatte nie die Fähigkeit entwickelt, leichthin zu plaudern und im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Er hatte einfach keine Zeit für diese Oberflächlichkeiten, auch wenn seine Schwestern zu glauben schienen, es sei die Pflicht ihrer Familie, halb London so zu amüsieren, wie ihr Vater es getan hatte. Seine Schwester Cora bestand sogar darauf, dass die Teilnahme an feinen Gesellschaften zur Wiederherstellung des guten Namens der Ashmores unbedingt dazugehörte.

Will stand auf und ging zum Salon.

„Bitte verzeihen Sie, Euer Gnaden.“

Wenige Schritte von seinem Studierzimmer entfernt, rief ein Lakai ihn an, und Will trat näher zur Wand, damit die Prozession aus Hausmädchen und Dienern mit silbernen, mit Laub und Blüten gefüllten Schalen an ihm vorbeiziehen konnte. Ein Mädchen kämpfte mit einem hoch aufragenden Blumenarrangement und stieß Will mit einer riesigen rosafarbenen Blüte an, als sie an ihm vorbeikam. Der Diener hinter ihr schnappte nach Luft, blieb stehen und starrte Will mit weit aufgerissenen Augen an, als erwarte er, dass sie jetzt allesamt gefeuert werden würden.

„Weiter“, sagte Will durch zusammengebissene Zähne zu dem jungen Mann.

Kurz darauf betrat er den großen Salon von Ashmore House.

Köpfe wandten sich um. Stimmen erstarben. Eine Gruppe Damen drehte sich auf einmal zu ihm um und wedelte mit ihren Fächern, als würden sie eine Waffe schwingen.

Er erkannte zwei von ihnen, es waren enge Freundinnen von Davina. Noch Monate später hielt man ihn in ihren Kreisen für ein Ungeheuer, und selbst Gentlemen, die er einmal für freundlich gesonnene Bekannte gehalten hatte, schienen ihm nicht mehr in die Augen schauen zu können.

Als sich ein unbehagliches Schweigen im Raum ausbreitete, trat Daisy auf die Mitte des Teppichs. Sie heuchelte Fröhlichkeit, doch Will bemerkte die gekräuselte Stirn, selbst als sie breit lächelte.

„Lass uns noch etwas der Musik lauschen, bevor wir essen.“ Sie warf einen Blick auf das Piano, wo eine ihrer Freundinnen auf der Bank Platz genommen hatte.

Auf das Stichwort hin tanzten die Finger der jungen Dame über die Tasten, als würde sie ein schwungvolles Konzert geben.

Schließlich verloren die Gäste das Interesse an Will, bis auf ein paar Damen, die ihn musterten, als wäre er ein Rätsel, das entschlüsselt werden musste.

Offensichtlich stellte er eine Ablenkung dar, und zwar keine willkommene. Seine Anwesenheit warf einen Schatten auf die ganze Veranstaltung, dabei wünschten sich seine Schwestern, dass jede ihrer Dinnereinladungen ein Erfolg sein möge.

Cora würde ihn später vielleicht zur Rede stellen, doch er nutzte es als Ausrede, um sich zurückzuziehen.

Er gelangte ohne Verzögerung in sein Studierzimmer, schenkte sich ein Glas ein und ließ sich auf den Lehnsessel vor dem Kamin fallen, bis es an der Tür klopfte.

„Nicht jetzt.“

Er brauchte nur eine halbe Stunde einigermaßen Ruhe, und mit etwas Glück würde der Whiskey helfen.

Noch ein Klopfen. Etwas lauter. Mit mehr Nachdruck. Er wusste genau, wer das war.

„Geh weg“, sagte er schwach.

„Wir sollten zusammen hineingehen.“ Daisys Stimme war durch die geschlossene Tür zu hören. Sie konnte ihre überbordende Lebhaftigkeit nicht einmal durch Flüstern bändigen.

„Ich rede zuerst mit ihm und werde den Weg ebnen.“ Cora war die mittlere der Geschwister und vernünftiger als alle anderen. Ihr Tonfall verriet Will, dass sie keine Weigerung akzeptieren würde.

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, starrte auf die Holzkassetten der Tür und wünschte, eine der beiden möge endlich eintreten und mit ihm reden, damit er entweder trinken oder schlafen konnte. Gerade als er so weit war, aufzustehen und die beiden hereinzuholen, klopfte Cora zwei Mal an, bevor sie allein den Raum betrat.

„Du hast uns gehört“, sagte sie nüchtern.

„Vor allem Daisy, aber ja.“ Will fiel auf, wie seine Schwester die Hände verschränkte und wieder löste. Sie war nervös, sah aber schrecklich entschlossen aus. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. „Was habt ihr beiden vor?“

Schon einzeln war jede seiner Schwestern überaus beeindruckend. Wenn sie ihre Kräfte vereinten, könnte er sich gut vorstellen, dass sie die Themse aufhalten könnten, wenn es ihnen in den Sinn käme.

Cora lächelte, und Wills Magen sackte hinunter in seine Stiefel. Sie war eine Dame, die ihr Lächeln nicht freizügig verschenkte, und dieses war ein wenig zu breit, um auch nur andeutungsweise glaubwürdig zu sein.

„Du hast den Salon ziemlich überstürzt verlassen.“

„Ich hielt es für das Beste, nachdem ich Davinas Freundinnen gesehen habe.“

„Sie sind die Nichten von Lady Tidwell. Es wäre ein Affront gewesen, sie nicht einzuladen.“

„Natürlich, und ich bin in meinem Studierzimmer vollauf zufrieden.“

„Was hältst du von der Sopranistin, die Daisy ausgewählt hat?“ Ihr Tonfall verriet, dass Musik das Letzte war, über das sie mit ihm reden wollte.

„Zwing mich nicht zu Zweideutigkeiten, Cora. Sie ist schrecklich.“

„Ich ziehe es vor, sie als bemerkenswert zu bezeichnen.“

„Du bist nicht hier, um mit mir über Musik zu reden.“

„Oh doch.“ Cora war eine kluge junge Frau. Sie begeisterte sich für die Oper, ging leidenschaftlich gerne im Hydepark spazieren und konnte besser organisieren und planen als jede Person, die er kannte. Aber sie war die schlechteste Lügnerin von ganz London. „Zumindest war es eines der Dinge, die ich erwähnen wollte.“

Mit prüfendendem Blick erfasste sie die Stapel mit den Notizen und Korrespondenzen auf Wills Schreibtisch, aus denen er die Intrigen ihres Vaters in allen Einzelheiten zusammengesetzt hatte. Will drehte den Brief um, den er gelesen hatte, damit sie den Inhalt nicht sehen konnte.

„Woran arbeitest du? An einem Vortrag für die Architectural Society?“

Er hatte nur ein Mal einen einzigen Vortrag gehalten. An der Universität hatte er zwar Architektur studiert, und das Thema faszinierte ihn noch immer, doch es reizte ihn nicht im Geringsten, am Rednerpult zu stehen und zu versuchen, das Interesse eines Publikums aus voreingenommenen Gelehrten zu wecken.

„Oder zeichnest du wieder?“, fragte sie mit einem hoffnungsvollen Trällern in der Stimme. „Ich glaube, seit wir Mama verloren haben, hast du nichts mehr getan, das dir wirklich Freude bereitet.“

Die Einschätzung war hart, vor allem, weil sie zutreffend war. Will verspürte den heftigen Wunsch, mit einem bissigen Kommentar zu antworten, was für eine Last es sei, ein großes Familienvermögen zu verwalten. Doch das wusste sie ohnehin.

„Nein. Es hat etwas mit Vater zu tun.“

„Du hast noch etwas herausgefunden, was er getan hat. Etwas Schreckliches.“

Die Sorge in ihrem Tonfall hätte er gerne vermieden. Das Meiste von dem, was er über die Niedertracht ihres Vaters herausfand, behielt er für sich, so wie ihre Mutter zeitlebens alles von ihnen ferngehalten hatte. Doch er konnte nicht aufhören, das ganze Ausmaß der Missetaten dieses Mannes aufzudecken. Wiedergutmachung zu leisten, war der einzige Weg, den er kannte, um ungeschehen zu machen, was ihr Vater getan hatte.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde mit all dem fertig.“

Autor

Christy Carlyle
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