In den Armen des besten Freundes

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Nach dem Tod seiner Eltern soll Duc deren Klinik für Bedürftige in Vietnam übernehmen. Dabei wollte er doch Karriere als Chirurg machen! Einziger Lichtblick ist seine beste Freundin Viv, die ihn begleitet. Aber woher kommt auf einmal dieses Knistern zwischen ihnen?


  • Erscheinungstag 31.10.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536080
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Das Schrillen des Telefons durchschnitt die dunkle Nacht.

Vivienne Kerr befreite sich aus dem zerknüllten Laken und versuchte dabei verzweifelt, das Geräusch einzuordnen. Hatte sie Bereitschaft? Handelte es sich um eine Hausgeburt?

Noch während sie nach dem Telefon langte, schüttelte sie den Kopf. Nein. Heute Nacht hatte sie keine Bereitschaft, denn sie hatte die letzten drei Nächte gearbeitet. Dies war ihre erste freie Nacht. Vielleicht war es auch schon Morgen. Vielleicht hatte sie länger als vierundzwanzig Stunden geschlafen und kam zu spät zur nächsten Schicht …

Vivienne blickte auf die grünen Ziffern ihres Weckers. Es war 3:37 Uhr. Nein. Sie hatte sich nicht verspätet, und kein normaler Mensch rief zu dieser Zeit an – es sei denn, es handelte sich um schlechte Neuigkeiten.

Sie nahm das Telefon in die Hand und atmete tief durch, als könnte sie sich dadurch gegen das wappnen, was kommen würde. Dabei hoffte sie inständig, jemand hätte sich nur verwählt.

„Hallo?“

Da zuerst niemand antwortete, bekam sie eine Gänsehaut. Alarmiert schwang sie die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

„Hallo?“, meldete sie sich wieder.

Dann erklang am anderen Ende der Leitung ein Geräusch, das wie ein Schluchzen klang. „Viv.“

Sofort verstummte er, als hätte es ihn Mühe gekostet, allein ihren Namen auszusprechen. Sie hätte diese Stimme überall erkannt.

„Duc?“ Panik ergriff sie. Es war ihr bester Freund. Wo arbeitete er jetzt? In Washington? Philadelphia? Vivienne besann sich auf ihren Professionalismus. Das tat sie immer, wenn alles, was bei einer Geburt schiefgehen konnte, auch eintrat.

„Duc? Was ist? Wo bist du? Geht es dir gut?“

Duc. Während sie die Augen schloss, sah sie sein weiches braunes Haar und seine sanften braunen Augen vor sich. Sie hatten sich in London im Krankenhaus kennengelernt, während sie die Ausbildung zur Hebamme machte und er Medizin studierte. Niemand hätte vorhersehen können, dass die verrückte junge Schottin ohne jegliche Wurzeln sich auf Anhieb mit dem stets fröhlichen jungen Vietnamesen verstehen würde.

Es war Schicksal. Es war … so etwas wie Magie.

Ein Notfall hatte sie beide umgehauen. Eine junge Mutter mit einer vorgelagerten Plazenta, die man nicht diagnostiziert hatte. Sie waren beide nur im Raum gewesen, um die Frau zu beobachten. Und sie hatten beide keinerlei Erfahrung mit derartigen Situationen gehabt. Die werdende Mutter hatte starke Blutungen bekommen, und das Baby war mit Sauerstoffmangel zur Welt gekommen. Sie hatten ihr sofort einen Zugang gelegt und Blutkonserven gegeben. Instinktiv hatten sie alles unternommen, um sie und das Baby zu retten.

Nachdem man die Mutter in den OP und das Baby auf die Neugeborenenintensivstation gebracht hatte, waren sie beide allein in dem Raum zurückgeblieben, in dem überall Blut gewesen war. Vivienne hatte ihr Bestes gegeben, um sich zusammenzureißen. Und sie hatte es fast geschafft.

Bis sie in die Schleuse gegangen war, um Kittel und Handschuhe abzulegen. Dort hatte sie angefangen zu weinen, und im nächsten Moment hatte sie seine Arme um die Taille gespürt, während Duc, der ebenfalls am ganzen Körper zitterte, den Kopf auf ihre Schulter legte. Er hatte nichts gesagt, sondern einfach gehandelt, und so hatten sie fast fünf Minuten einfach nur dort gestanden und ihre Freundschaft für immer besiegelt.

Nun schnürte Angst ihr die Brust zu. Duc hatte nicht geantwortet. Die schlimmsten Szenarien liefen vor ihrem geistigen Auge ab. Er war krank. Verletzt. Ihm war etwas Schreckliches passiert.

„Duc? Bitte sag etwas. Ich muss wissen, wie es dir geht.“

„Ich … ich brauche dich.“

Sofort sprang Vivienne auf und blickte sich hektisch im Raum um. Dann klemmte sie sich das Telefon in die Halsbeuge, kniete sich hin und zerrte eine Tasche aus ihrem Kleiderschrank.

„Ich komme. Wo bist du? Was ist passiert?“

„Es ist … Meine Eltern.“

„Deine Eltern? Duc, was ist passiert?“

Sie war Khiem und Hoa einige Male begegnet. Die beiden waren reizende Menschen und hatten sich völlig ihrer Arbeit verschrieben: der Leitung mehrerer Krankenhäuser in Hanoi und zwei anderen in ländlichen Gegenden in Vietnam.

Ein tiefer Schmerz erfüllte sie. „Duc“, brachte sie stockend hervor. „Nein.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie hörte, wie Duc tief durchatmete. „Ich brauche dich. Es gab einen Autounfall. Ich musste nach Hanoi fliegen. Wir haben keinen Gynäkologen und keine Hebammen. Ich schaffe das nicht, Viv. Kannst du kommen?“

So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf. Sie wusste, dass seine Eltern sehr wählerisch mit ihrem Personal waren. Doch sie wusste auch, dass Duc das im Moment nicht hören musste. Natürlich konnte sie kurzfristig kündigen, auch wenn sie nicht unzuverlässig erscheinen wollte. Allerdings handelte es sich um einen Notfall.

„Ich regle das. Ich komme.“ Während Vivienne wahllos Sachen in die Reisetasche zu stopfen begann, empfand sie tiefes Mitgefühl für ihn. Als sie vor wenigen Wochen das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, war er begeistert gewesen. Er hatte einen Monat zuvor ein Stipendiat als Arzt und Dozent in einer Großstadt in den USA angetreten. Sie war fast ein wenig eifersüchtig gewesen, weil er so glücklich geklungen hatte. Duc war nett und charmant und gut in seinem Job. Egal, wo sie vorher zusammengearbeitet hatten, sie war immer ein wenig auf seiner Erfolgswelle mitgeschwommen. Er war derjenige, der schnell Freunde fand und sie auf alle möglichen Veranstaltungen mitschleppte, als wäre ihm früh klar geworden, dass sie Probleme damit hatte, Beziehungen aufzubauen.

„Danke“, stieß er hervor.

„Das ist doch selbstverständlich“, erwiderte sie. „Ich fahre sofort zum Flughafen. Sobald ich einen Platz bekommen habe, schicke ich dir eine Nachricht.“

Am liebsten hätte sie ihn jetzt umarmt und den vertrauten Duft seines Aftershaves eingeatmet, der ihr immer in die Nase stieg, wenn er in ihrer Nähe war.

„Duc?“, flüsterte sie und blickte dabei auf den gekrümmten kleinen Finger ihrer rechten Hand. Vor Jahren hatten sie nach dem Vorbild in einem Kinderfilm ihre kleinen Finger ineinandergehakt und dabei „Freunde fürs Leben“ gesagt, was dann Tradition geworden war. Vivienne befeuchtete sich die Lippen. „Freunde fürs Leben“, fügte sie heiser hinzu.

„Freunde fürs Leben“, hörte sie Duc nach einigen Sekunden schon etwas energischer wiederholen, bevor sie das Gespräch beendete.

2. KAPITEL

Obwohl sie London vor drei Tagen verlassen hatte, war Vivienne immer noch nicht in Hanoi gelandet. Sie hatte keinen Direktflug bekommen und außerdem mit Verspätungen, Stornierungen und sogar einem Streik fertig werden müssen.

Duc blickte erst auf seine Uhr und dann zu den Türen der Ankunftshalle im Flughafen. Mit jeder Textnachricht hatte sie etwas verzweifelter geklungen.

Sein Magen krampfte sich zusammen. So ging es ihm ständig, seit er vom Unfall seiner Eltern erfahren hatte. Er hatte völlig neben sich gestanden, als er in Philadelphia seine Wohnung räumte und anschließend nach Hanoi flog. Als er schließlich das May-Man-Krankenhaus erreichte und Lien und ihr frisch angetrauter Ehemann ihm entgegeneilten, war er wie betäubt gewesen.

Er hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um die traditionellen Zeremonien rund um die Beisetzung durchzustehen und die vielen Besucher zu empfangen, die seinen Eltern die letzte Ehre erwiesen hatten. In der Zwischenzeit hatte er den Betrieb im Krankenhaus aufrechterhalten müssen. Die Angestellten waren untröstlich, denn ihre Chefs, mit denen sie jahrelang zusammengearbeitet hatten, waren plötzlich nicht mehr da, und begegneten ihm mit unverhohlenem Argwohn.

Nach der Beisetzung war er völlig erschöpft gewesen. Er wünschte, jemand würde ihn in einem Bereitschaftsraum kneifen und er würde feststellen, dass alles nur ein Albtraum gewesen war.

Plötzlich registrierte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung und hörte ein helles Lachen. Sein Herz schien einen Schlag auszusetzen. Es gab nur einen Menschen, der so lachte. Obwohl er groß war, stellte Duc sich auf die Zehenspitzen, um Vivienne in der Menschenmenge auszumachen.

Da war sie. Sie sprach gerade mit einem älteren, etwas zerbrechlich wirkenden Herrn, den sie untergehakt hatte. Sie trug eine weiße Bluse und Jeansshorts, die ihre langen Beine zur Geltung brachten, und das rote Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern. Mit ihrer lässigen Anmut fiel sie überall auf, vor allem hier, wo sie alle Blicke auf sich zog.

Duc beobachtete, wie sie den älteren Herrn zu seiner Familie führte und dabei wie dessen Enkelin wirkte. Zum ersten Mal seit Tagen lächelte er, denn das war typisch Vivienne. Nachdem sie sich von dem Herrn und dessen Familie verabschiedet hatte, wandte sie sich um und ließ den Blick durch die Halle schweifen, bis sie ihn entdeckte.

Sofort hellte ihre Miene sich auf. Vivienne ließ ihren Rollkoffer stehen, rannte auf ihn zu und sprang ihm in die Arme. Dabei sagte sie kein Wort, sondern barg nur das Gesicht an seinem Hals und hielt ihn eng umschlungen.

Duc bemerkte die amüsierten Blicke der Menschen in der Nähe, die vermutlich glaubten, sie wären ein Paar. Doch er genoss es einfach nur, Vivienne zu spüren. Er schloss ebenfalls die Augen und hielt sie einfach nur fest, während ihre Körperwärme sich auf ihn übertrug und der vertraute Duft ihres Orangenblütenshampoos ihn umfing.

Für einen Augenblick befand Duc sich an einem ganz anderen Ort. An einem Ort, an dem er jenen Anruf nicht erhalten hatte und an dem er seine Eltern, von denen er immer geglaubt hatte, sie würden ewig leben, nicht hatte beerdigen müssen. An dem er seine beruflichen Pläne nicht auf Eis hatte legen müssen.

Nein. Er befand sich wie in einer Blase. Alles, wonach er sich in den letzten Tagen gesehnt hatte, durchflutete ihn: Bestätigung, Geborgenheit. Einfach nur er selbst sein zu können, statt der trauernde Sohn, der sich tapfer geben musste. Viv war hier. Sie würde ihm dabei helfen, all die Probleme hier zu lösen, damit er wieder das Leben führen konnte, das er wirklich wollte.

Duc blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken. Tagelang hatte er darauf gewartet, seine gute Freundin wieder in den Armen zu halten. Er war völlig verspannt, weil es ihn so viel Kraft kostete, sich zusammenzureißen. Er hatte mit so vielen Menschen Hände geschüttelt, doch aus irgendeinem Grund hatte es ihn nicht getröstet.

Dies war das, was er brauchte und sich ersehnt hatte.

Schließlich hob Vivienne den Kopf, die blauen Augen nur wenige Zentimeter von seinen entfernt. „Ich rieche“, flüsterte sie. „Ich laufe schon seit drei Tagen in denselben Sachen herum.“ Dann löste sie sich von ihm.

Sofort war Ducs Gefühl, sich in einer Blase zu befinden, verschwunden.

„Ich habe noch schlimmer gerochen.“ Lächelnd holte er ihren Koffer, und sie hakte sich bei ihm unter.

Sobald sie in die schwüle Luft hinaustraten, begann Viv, sich Luft zuzufächeln. „War es das letzte Mal, als wir hier waren, auch so heiß?“

„Heißer.“ Duc führte sie zu dem Taxi, das vor dem Gebäude stand, öffnete ihr die Tür und wartete, bis sie eingestiegen war. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und deutete zwinkernd auf ihre langen, nackten Beine. „Kein besonders praktisches Outfit, wenn man bedenkt, wie viele Moskitos es hier gibt.“

Nachdem er auf der anderen Seite im Wagen Platz genommen hatte, startete der Taxifahrer den Motor, und die Klimaanlage lief sofort auf vollen Touren.

„Im Krankenhaus ist ein neuer Mitarbeiter, ein Allgemeinmediziner aus Schottland. Ihr beide könnt Glasgower Dialekt miteinander schnattern, dann versteht euch kein Mensch mehr.“

Viv wandte sich zu ihm um und zog eine Braue hoch – eine Geste, die sie schon vor Jahren perfektioniert hatte. „Schnattern?“

Duc lachte, ließ jedoch die Schultern sinken, als wäre irgendwo in seinem Innern ein Schalter umgelegt worden. Als ihm im nächsten Moment die Tränen über die Wangen liefen, rutschte Viv zu ihm herüber und legte die Arme um ihn.

„Oh, Duc“, sagte sie leise. „Was soll ich bloß mit dir machen?“

All die Gefühle, die sich in den letzten Tagen aufgestaut hatten, brachen sich nun Bahn. Der Frust. Der Zorn. Der Schmerz. Und während draußen die Stadt vorbeiflog, hielt Viv ihn fest.

„Zähl bis zehn“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Komm, wir machen es zusammen.“

Ruhig und langsam zählte sie laut bis zehn. Und immer wieder. Dabei strich sie ihm mit der linken Hand über den Nacken, während sie die Finger der rechten Hand mit seinen verschränkte.

Als der Fahrer schließlich vor dem May-Man-Krankenhaus hielt, schien es Duc, als wäre er wieder er selbst, falls er das überhaupt sein konnte. Er fuhr sich durchs Haar und schüttelte den Kopf. Fast war es ihm peinlich, Viv in die Augen zu sehen.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich heiser.

„Warum?“ Sie rutschte wieder auf die andere Seite und nahm ihre Handtasche. „Ich bin deine beste Freundin. Wenn du dich bei mir nicht ausweinen kannst, bei wem dann?“ Ehe er noch etwas sagen konnte, öffnete sie die Tür und stieg aus. „Jetzt brauche ich erst mal eine Dusche.“

Er verließ ebenfalls den Wagen, und zum ersten Mal seit Tagen sah er wieder etwas Licht am Horizont.

3. KAPITEL

Da sie in den letzten drei Tagen in Flughäfen auf Sesseln oder sogar auf dem Boden geschlafen hatte, tat Vivienne alles weh.

Im Krankenhaus war es geradezu unheimlich still. Die Angestellten, die ihr begegnet waren, hatten ihr höflich die Hand geschüttelt und waren Duc gegenüber reserviert gewesen.

Sie hatte das May-Man-Krankenhaus, dessen Name Viel Glück bedeutete, immer geliebt. Hier, wo man in erster Linie die Armen behandelte, hatte früher immer eine fröhliche Atmosphäre geherrscht. Doch das schien nun nicht mehr der Fall zu sein.

Duc führte sie durch den Hinterausgang zu einem der drei weißen Bungalows, die auf dem Anwesen erbaut waren. Dieser hatte eine hellgelbe Tür. Es war Khiems und Hoas Haus.

Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, er würde nicht im Haus seiner Eltern wohnen. Vivienne blinzelte, weil ihre Augen sich unerwartet mit Tränen füllten. Duc hatte sie einige Male mit nach Hanoi genommen. Khiem und Hoa waren sehr herzlich gewesen und hatten sich ganz ihrer Arbeit und ihren Patienten gewidmet.

Ihr war sofort aufgefallen, wie stolz sie auf ihren Sohn waren. Sie hatten sie herzlich aufgenommen und sich sehr für sie, die einsame junge Schottin, interessiert. Nie hatten sie ihr das Gefühl vermittelt, dass sie ihre Gastfreundschaft überbeanspruchte oder nicht jederzeit bei ihnen willkommen wäre. Hoa hatte ihr einige Male gemailt, wenn im Krankenhaus eine Stelle frei geworden war, und Vivienne hatte es sehr zu schätzen gewusst, auch wenn sie nicht geplant hatte, hier anzufangen.

Nun befand sie sich wieder in Khiems und Hoas Haus, ohne dass sie Zeit gehabt hätte, um die beiden zu trauern. Sie hatte die Beisetzung verpasst, und allein das Haus zu betreten, überwältigte sie nun förmlich.

Nervös sah Vivienne ihren Begleiter an und fragte sich dabei, wie ihm zumute sein mochte. An diesem Tag hatte sie ihn zum ersten Mal überhaupt so erlebt. Kein Wunder, dass er die Fassung verloren hatte, denn er hatte gerade seine Eltern durch einen Verkehrsunfall verloren. Und in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, wie schlimm es für ihn gewesen war, in ihrer Gegenwart zu weinen. Doch genau deswegen war sie hier.

Bisher hatte er diese Rolle immer für sie gespielt. Als sie sich kennenlernten, waren ihre Adoptiveltern schon tot gewesen. Er hatte sie bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern unterstützt – und war für sie da gewesen, als man ihr zum zweiten Mal das Herz brach. Natürlich würde sie für ihn da sein. Es tat sehr weh, ihn so zu erleben. Doch hier musste sie stark sein. Selbst wenn sie alles in diesem winzigen Haus an seine Eltern erinnerte.

Vivienne atmete tief ein. Sie konnte sogar den typischen Duft wahrnehmen: Den Jasmintee, den die beiden immer getrunken hatten, das Aftershave seines Vaters mit der Sandelholznote und das Rosenwasser, das seine Mutter in den Räumen versprüht hatte. Eigentlich rechnete sie damit, die beiden jeden Moment hereinkommen zu sehen.

Spontan nahm sie Ducs Hand. „Duc, willst du hier wirklich wohnen?“

Auf einem Tisch stand ein gerahmtes Foto, das ihn zusammen mit seinen Eltern zeigte. In einer Ecke lag ein Stapel Bücher.

Nachdem Duc ihren Koffer mitten im Wohnzimmer abgestellt hatte, drehte er sich zu ihr um. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie erschöpft er wirkte. „Wohin sollte ich sonst gehen? Ich muss ihre Schichten im Krankenhaus übernehmen.“ Beinah reumütig sah er sie an. „Und du auch.“

Vivienne nickte. „Natürlich. Ich kann gleich morgen anfangen. Sag mir nur, was ich tun soll.“ Forschend blickte sie ihn an. „Du kannst nirgendwo anders wohnen?“

Nun schaute er sich um und streckte die Hände aus. „Dies ist nicht mein Zuhause, aber ihres. Außerdem kann ich nirgendwo anders unterkommen.“ Dann machte er einen Schritt nach vorn und zog ihren Koffer hinter sich her. „Ich habe dich auch hier untergebracht. Mai Ahn, unsere Dolmetscherin, hat alles hergerichtet. Ich glaube, sie wollte einfach nur helfen, und ehrlich gesagt, bin ich froh darüber.“

Er nahm Hilfe an. Gut. Manchmal konnte er ziemlich dickköpfig sein, weil er so stolz war. Sie wusste nicht genau, wie sein Verhältnis zu den Mitarbeitern im Krankenhaus war, aber wenigstens schloss er die anderen nicht aus.

Als sie ihm in das Zimmer folgte, stellte sie sofort fest, dass es sich um Khiems und Hoas Schlafzimmer handelte. Unter einem Stuhl stand ein Paar Schuhe, auf einem Nachttisch lag ein Buch und neben dem Telefon ein Notizblock. Sie schluckte. Doch wenn sie sich weigerte, hier zu schlafen, würde sie Duc alles nur noch schwerer machen.

Nachdem sie flüchtig die Lippen zusammengepresst hatte, wandte sie sich zu ihm um und lächelte ihn strahlend an. „Okay, ich dusche schnell, dann können wir reden.“

Duc zögerte kurz. Offenbar wollte er nicht reden, aber nur dadurch konnte sie ihm helfen.

Sie ging auf ihn zu und blieb dicht vor ihm stehen. „Nein, ich bin nicht müde. Mach mir eine Kleinigkeit zu essen, danach gehöre ich dir.“ Dann stupste sie ihn mit dem Ellbogen an. „Keine Ausreden.“

Er seufzte. „Keine Ausreden“, bestätigte er, bevor er sich abwandte und in die Küche ging.

In den letzten drei Tagen hatte Duc kaum etwas gegessen. Doch als er nun einige Zutaten herausnahm und Öl in den Wok tat, rumorte sein Magen.

Duc hörte Wasser in der Dusche laufen und kurz darauf das Geräusch des Föhns. Vivienne war schnell. Zehn Minuten später erschien sie in einem weißen Pyjama auf der Schwelle. Nachdem sie einen Blick auf den Tisch geworfen hatte, ging sie zum Sofa und sank darauf, wobei sie die Füße anzog. Er reichte ihr eine Schüssel mit geschmortem Hähnchen und Nudeln und setzte sich neben ihr aufs Sofa.

Argwöhnisch schnupperte sie an dem Gericht. „Ist das essbar?“

Er lächelte. „Was willst du mir damit über meine Kochkünste sagen?“

„Dass du noch nie gekocht hast, solange ich dich kenne.“

Gespielt gekränkt blickte er sie an. „Probier es. Es ist ein Rezept von meiner Mutter.“ Bei der Erinnerung an seine Mutter verdüsterte seine Stimmung sich sofort wieder.

Spontan streckte Viv die Hand aus und drückte sein Knie. „Es ist bestimmt lecker“, erwiderte sie leise, bevor sie zu essen begann.

Und tatsächlich erinnerte jeder Bissen ihn an seine Mutter, denn er hatte ihre Gewürze und Öle benutzt. Sofort verging ihm der Appetit. Nun wusste er, warum Trauernde oft Gewicht verloren.

Vivienne hingegen aß mit großem Appetit und leerte die Schüssel innerhalb von fünf Minuten. Dann stand sie auf und ging zum Kühlschrank. Nachdem sie den Inhalt inspiziert hatte, nahm sie eine Flasche Mineralwasser heraus. „Ich hatte mir zwar etwas anderes vorgestellt, aber das ist okay.“

Duc beobachtete, wie sie eine Hand auf den Stuhl stützte. Ihr weißer Baumwollpyjama unterstrich ihre Kurven. Kurven, die er bisher noch nie wirklich registriert hatte –, und nun fragte er sich, warum.

Von Anfang an hatten zwischen ihnen klare Verhältnisse geherrscht. Sie waren Freunde – beste Freunde. Er hatte sie gepflegt, wenn sie krank gewesen war, sie hatte ihn bei sich aufgenommen, als sein Mitbewohner ihre gemeinsame Wohnung ruiniert und der Vermieter sie hinausgeworfen hatte. Von Anfang an hatten sie sich in der Gesellschaft des anderen äußerst wohlgefühlt. Im Lauf der Jahre hatten sie unzählige Gespräche über Vivs katastrophale Beziehungen geführt. Sie war klug. Sie sah toll aus. Sie war nicht auf den Mund gefallen. Doch sie hatte einen furchtbaren Geschmack, was Männer anging.

Jeder Loser schien ihren Weg zu kreuzen, und jeder bereitete ihr noch mehr Liebeskummer als sein Vorgänger. Natürlich hatte sie im Lauf der Jahre auch seine Partnerinnen begutachtet. Einige hatte sie widerstrebend akzeptiert, andere hatte sie mit einer abfälligen Geste und ebensolchen Bemerkungen abgetan.

Er hatte widerstrebend zugeben müssen, dass sie meistens mit ihrer Einschätzung richtiggelegen hatte. So hatte er sie irgendwann als Wahrsagerin bezeichnet. Dies hatte sie allerdings nicht kommen sehen.

Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet, und Lien stürmte herein. „Gut, dass du hier bist. Ich brauche dich.“

Als sie Vivienne bemerkte, erschrak sie ein wenig.

Duc ging auf sie zu. „Lien, das ist Vivienne Kerr, meine Freundin, die Hebamme, von der ich dir erzählt habe.“

Nun nickte sie schnell. „Perfektes Timing.“ Sie fragte nicht, warum Vivienne im Pyjama in seinem Haus stand. „Zieh dich schnell um. Du wirst gebraucht.“

Alles ging so schnell. Eben war Vivienne noch im Begriff gewesen, sich zu Duc zu setzen und herauszufinden, wie sie ihm am besten helfen konnte. Nun aber zog sie schnell ihren Pyjama aus und einen ihrer dunkelroten Kittel an, dann griff sie sich ihre Clogs und folgte Duc und Lien über den Rasen zum Krankenhaus.

Obwohl es mitten in der Nacht war, waren alle Flure hell erleuchtet. Lien redete schnell auf Vietnamesisch, während Duc ab und zu nickte. Vivienne versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hatte einige Male hier gearbeitet und dabei einige Brocken aufgeschnappt.

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