In Venedig weint man nicht

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Hand in Hand auf dem Markusplatz, Arm in Arm in der Suite des romantischen Hotels am Canal Grande – so stellt Caterina sich ihre Flitterwochen in Venedig vor. Aber dann belauscht sie ein Gespräch und fürchtet: Niccolò hat sie nicht aus Liebe geheiratet ...


  • Erscheinungstag 25.07.2024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751530507
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Niccolò liebte sie nicht. Mit tränenverschleiertem Blick sah Catie aus dem Bordfenster des Flugzeugs, das sich im Augenblick irgendwo hoch über Europa auf dem Weg nach Venedig befand, wo ihre Flitterwochen beginnen sollten. Der strahlend blaue, wolkenlose Himmel stand in unmittelbarem Gegensatz zu dem Aufruhr in ihrem Herzen. Nervös spielte sie mit dem kostbaren, mit Diamanten und Rubinen besetzten Ring an ihrer linken Hand. Um zehn Uhr hatte sie sich noch für die glücklichste Frau der Welt gehalten, als der attraktive Mann, der kurz, aber heftig um sie geworben hatte, ihr diesen Ring an den Finger gesteckt hatte.

Mit jeder Faser ihres Körpers war Catie sich der Nähe des faszinierenden Mannes an ihrer Seite bewusst, doch sie lenkte ihre Gedanken energisch in andere Bahnen, indem sie sich auf die unter dem Flugzeug dahinschwindende Landschaft konzentrierte. Sie durfte Niccolò Cacciatore nicht ansehen, denn sie fürchtete, die Tränen der Wut und des Schmerzes könnten ihre wahren Gefühle verraten. Wie habe ich es nur fertiggebracht, meinen Kummer so lange zu verbergen?, fragte sie sich immer wieder. Vielleicht hatte die Ahnungslosigkeit ihres Großvaters, als dieser sich von ihr verabschiedet hatte, sie in eine Art Starre versetzt. So ließ sie die Formalitäten am Flughafen mechanisch über sich ergehen. Als angekündigt wurde, dass der Flug nach Venedig Verspätung hatte, nahm sie kaum Notiz davon. Unter dem Vorwand, unendlich müde zu sein, hatte sie die Augen geschlossen und sich in dem Aufenthaltsraum für Passagiere der ersten Klasse in Heathrow ausgeruht.

Anfänglich hatte Catie Zweifel an ihrer wachsenden Zuneigung zu Niccolò gehegt. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn durch das ruhige Leben, das sie mit ihrem Großvater und ihrer Großtante Becky in einer Kleinstadt in Suffolk führte, bot sich ihr nur wenig Gelegenheit, junge Männer kennenzulernen. Und später, während ihres ersten Jahres als Physiotherapeutin an einem bekannten Londoner Krankenhaus, vermochte kein Mann tiefere Gefühle in ihr zu wecken. Als sie mit zweiundzwanzig Jahren ihre Ausbildung beendet hatte, war sie mit ihrem Leben rundum zufrieden gewesen.

Vielleicht, überlegte Catie bedrückt, wäre ich ja Niccolò Cacciatore besser gewachsen gewesen, wenn ich mich schon als Teenager einmal Hals über Kopf verliebt hätte. Aber sie hatte nicht gegen die strengen Moralvorstellungen von Großvater und Tante Becky verstoßen wollen, die sie als Baby bei sich aufgenommen hatten. Sexuelle Freiheit, die vielen ihrer Bekannten so wichtig schien, hatte ihr nie etwas bedeutet. Catie wusste, was passieren konnte, wenn die Gefühle irgendwann erloschen. Ihrer Ansicht nach waren die wenigen Stunden des Glücks den nachfolgenden Schmerz nicht wert.

Aber gerade ihre mangelnde Erfahrung in der Liebe hatte sie dem ersten Mann hilflos ausgeliefert, der auf sie wirklich Eindruck gemacht hatte. Niccolò Cacciatore hatte Catie zwei Monate zuvor im Sturm erobert.

Unwillkürlich bohrte sie die Fingernägel in die Handflächen, als sie sich daran erinnerte, wie Niccolò und sie sich kennengelernt hatten. Lächelnd hatte Nonno, wie sie ihren Großvater zärtlich nannte, sie an der Haustür des Landhauses begrüßt. Dort lebten sie zu dritt, nachdem Catie mit zwei Jahren ihre Eltern in Italien auf tragische Weise verloren hatte. Da ihr Großvater seit einigen Monaten niedergeschlagen und bedrückt wirkte, hatte sie ihren Jahresurlaub aus Sorge um seine Gesundheit früher genommen. Erleichtert stellte sie nun fest, dass er so gelöst wirkte wie seit Langem nicht mehr.

Kaum hatte sie ihn und Tante Becky begrüßt, ging die Tür zu dem gemütlichen, sonnendurchfluteten Wohnzimmer auf, und ein Fremder erschien auf der Türschwelle. Und was für ein Fremder! Die überwältigende Männlichkeit dieses attraktiven Fremden verschlug ihr die Sprache. Er war ungefähr eins neunzig groß und sehr muskulös. In dem beigefarbenen Tweedanzug, dem dazu passenden karierten Hemd und einer dezent gemusterten Seidenkrawatte wirkte er ganz wie der erfolgreiche Geschäftsmann, der er auch war, wie Catie später feststellen sollte.

„Niccolò Cacciatore“, stellte Nonno ihn strahlend vor. „Meine Enkelin Caterina.“

Niccolò streckte ihr die Hand hin, nickte kurz und musterte sie eindringlich aus dunklen Augen. Als sie fast mechanisch den Händedruck erwiderte, fiel ihr auf, dass seine dichten, langen Wimpern an den Spitzen golden waren.

Durch ihren Beruf hatte sie mit vielen, oft völlig gegensätzlichen Menschen zu tun. Daher war ihr sofort klar, dass er Anfang dreißig sein musste und perfekt gebaut war. Was seinen Körper betraf, gehörte er zu den attraktivsten Männern, die ihr je begegnet waren.

„Es freut mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, Signorina.“ Er lächelte sie herzlich an, und der Ausdruck seiner Augen ließ ihr Herz schneller schlagen.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Großvater mir von Ihnen erzählt hat, Signor“, antwortete sie kühl und blickte Antonio Laurence vorwurfsvoll an.

„Vermutlich, weil wir uns heute zum ersten Mal buchstäblich in Fleisch und Blut gegenüberstehen“, erwiderte Niccolò gelassen. „Unsere Familien kennen sich allerdings bereits seit Langem. Sie können versichert sein, dass Ihnen Ihr Ruf, schön und charmant zu sein, vorausgeeilt ist.“ Seine dunklen Augen hatten unergründlich gefunkelt, als er auf ihre herausfordernden Worte reagiert hatte.

Dieser Mann war mit allen Wassern gewaschen und aalglatt! Jetzt, da es zu spät war, erkannte Catie, wie naiv sie gewesen war, sich so von ihm einwickeln zu lassen. Aber damals hatte Niccolò Cacciatore sie mit seiner starken Ausstrahlung in den Bann geschlagen.

Als ihr Großvater sie in das Wohnzimmer geführt hatte, war sein Gesichtsausdruck heiter und entspannt gewesen. Seine siebenundachtzig Jahre sah man Nonno wirklich nicht an. Ebenso wenig war ihm anzumerken, wie sehr ihn das tragische Unglück getroffen hatte, bei dem sein einziger Sohn vor zwanzig Jahren mit dem Schnellboot ums Leben gekommen war.

„Niccolò ist der Sohn eines alten Freundes von mir“, erklärte Nonno fröhlich, als Tante Becky den Raum betrat. Sie trug ein Tablett, auf dem eine Flasche Champagner und vier kostbare Sektgläser standen. „Er hat geschäftlich einiges in England zu erledigen und beschlossen, mir einen kurzen Besuch abzustatten.“ Geschickt öffnete er die Champagnerflasche und goss die schäumende Flüssigkeit in die Gläser.

„Meine Firma in Mailand ist führend in der Automobilkonstruktion“, erwähnte Niccolò beiläufig, während er ein Glas entgegennahm. „Ich bin nach England gekommen, um die besten Maschinenbauingenieure unter Vertrag zu nehmen und gleichzeitig herauszufinden, was ein britischer Autofahrer von einem Neuwagen erwartet.“

„Im Gegensatz zu dem, was er Ihrer Meinung nach erwarten sollte?“, forderte Catie ihn halb scherzend heraus.

Er quittierte ihren Versuch, sein Fachwissen zu hinterfragen, mit einem Lächeln. „Es ist ein Fehler, die Intelligenz des Kunden zu unterschätzen“, antwortete er ungerührt.

„Des Kunden oder der Beute?“ Sie hatte die Frage ganz spontan gestellt, nachdem ihr bewusst geworden war, dass „Cacciatore“ übersetzt „Jäger“ bedeutete. Instinktiv musste sie damals schon erfasst haben, dass dieser Mann gefährlich war. Wie gefährlich, hatte sie allerdings erst vor Kurzem entdeckt.

„Wie man‘s nimmt“, hatte seine Antwort gelautet. Eindringlich blickte er Catie an, während er das Glas an die Lippen hob und ihrem Großvater mit seinem Trinkspruch zuvorkam: „Auf unsere Freundschaft, Caterina.“

Lächelnd hoben auch Nonno und Tante Becky die Gläser. Gehorsam hatte Catie mit allen angestoßen, bevor sie von der prickelnden Flüssigkeit getrunken hatte.

Rückblickend konnte sie nicht mehr sagen, wann genau sie sich in Niccolò verliebt hatte. Vermutlich hatte er bereits vom ersten Augenblick an Gefühle in ihr geweckt, die allmählich immer stärker geworden waren, bis ihr klar geworden war, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Und gerade dieser Augenblick war Catie außerordentlich lebhaft in Erinnerung geblieben. Niccolò wollte ein Fohlen kaufen, es zum Rennpferd ausbilden und dann später für seine Firma bei Rennen in Europa starten lassen. Ein alter Freund und Nachbar der Familie, Richard Carville, hatte angeboten, ihm bei der Suche behilflich zu sein, da er gute Verbindungen zu Züchtern von Vollblutpferden besaß. Zu Beginn von Caties zweiter Urlaubswoche hatte Niccolò sich endgültig entschieden.

Es herrschte wunderbares Frühlingswetter. Überall begann es zu grünen, und die ersten Kirschbäume standen bereits in voller Blüte.

Catie war nach einem berauschenden Galopp auf Treasure, Richards dunkler Fuchsstute, mit glühendem Gesicht in den Stall zurückgekehrt. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Lebensfreude.

Sie war gerade abgestiegen und hatte Richards Stallburschen die Stute übergeben, als sie Niccolòs Stimme hörte. Spontan drehte sie sich zu ihm um, und da wurde ihr die Wahrheit schlagartig bewusst.

Offenbar standen Catie die Gefühle ins Gesicht geschrieben, denn Niccolò nahm sie sofort in die Arme. Von diesem Augenblick an war sie verloren. Als er sie küsste, wurde sie von einem ihr bislang unbekannten stürmischen Verlangen erfasst.

Sie wusste nicht, was erregender war – der männliche Duft seiner Haut, der heiße Kuss oder das Gefühl, wie Niccolò seine Hände sanft, aber bestimmt auf ihre weiche Lederjacke presste. Leidenschaftlich erwiderte sie seine Umarmung.

Behutsam ließ er die Finger durch ihr seidiges blondes Haar gleiten, umfasste dann ihr Gesicht und zog es noch näher zu sich. Wie in Trance spürte sie, wie sich die Wärme seines Körpers auf sie übertrug. Wie lautet noch das erste Gesetz der Thermodynamik? dachte Catie benommen. Ein warmer Körper gibt seine Wärme immer an den kälteren ab …

Schweratmend hatte Niccolò sie schließlich freigegeben. „Wann wirst du mich heiraten?“, hatte er sanft, aber mit dem Selbstbewusstsein des stets erfolgreichen Jägers gefragt. Eigentlich hätte das triumphierende Leuchten seiner schwarzen Augen sie damals schon warnen sollen. Aber da hatte sie bereits alle Vorsicht in den Wind geschrieben. Von einer plötzlichen Schwäche überkommen, klammerte sie sich an seine muskulösen Arme. Hin und her gerissen zwischen dem starken Verlangen nach Niccolò und der Loyalität gegenüber ihrem Großvater, wusste sie nicht, was sie tun sollte.

„Nonno …“, brachte sie mühsam hervor. „Mit einer Heirat wäre er niemals einverstanden.“ Wie sollte sie Niccolò nur klarmachen, was ihr Großvater von seinem Geburtsland hielt, wenn sie seine merkwürdige Einstellung selbst nicht ganz verstand?

Eigentlich erwartete sie, dass Niccolò gereizt oder sogar ärgerlich reagieren würde. Schließlich war sie alt genug, um selbst über ihr Leben zu bestimmen.

„Kein Problem“, sagte er überraschend gelassen, ließ die langen Finger zärtlich durch ihr windzerzaustes Haar gleiten und küsste sie zärtlich auf die Wange. „Ich werde deinen Großvater um deine Hand bitten. Sollte er sich weigern, werde ich, falls du es wünschst, ohne dich nach Italien zurückkehren.“

Am Ende der Woche reiste er dann tatsächlich allein nach Italien. Doch der Grund für seine Abreise war nicht der, dass Antonio Laurence ihn als Bräutigam für seine Enkelin ablehnte. Niccolò hatte seine Geschäfte in Mailand noch vor ihrer Hochzeit im Juni abschließen wollen.

Catie biss die Zähne zusammen und versuchte, den bitteren Geschmack in ihrem Mund loszuwerden. Damals hatte sie gedacht, alles Wichtige über ihren zukünftigen Mann zu wissen. Er hatte ihr erzählt, dass die erste Ehe seines Vaters kinderlos geblieben war. Nach dem Tod seiner Frau hatte sein Vater eine bedeutend jüngere Frau, Niccolòs Mutter, geheiratet. Da er bei Niccolòs Geburt bereits fünfzig war, war seine Freude über die Ankunft eines Stammhalters entsprechend groß. Seine Eltern hatten Niccolò über alles geliebt und verwöhnt, zumal sie keine weiteren Kinder bekommen hatten.

Wäre ihr, Catie, doch damals schon klar gewesen, was sie jetzt wusste: Niccolò hatte von Anfang an gewusst, dass ihr Großvater keine Einwände gegen die Eheschließung erheben würde, da es Umstände gab, auf die Nonno keinen Einfluss hatte. Niccolò hatte also nur so getan, als würde er auf die Wünsche des alten Mannes Rücksicht nehmen.

Nonno hatte darauf bestanden, dass sie noch vor ihrer Abreise nach Italien in England standesamtlich heirateten. Die feierliche kirchliche Trauung, an der auch er und Tante Becky teilnehmen würden, sollte etwas später in Venedig stattfinden.

Catie konnte kaum glauben, dass ihr Großvater der Heirat bereitwillig zugestimmt hatte. Seit dem Tod seines einzigen Sohnes empfand er nichts als Bitterkeit, wenn er an Italien und die Italiener dachte. Seine Abneigung ging sogar so weit, dass er seinen Familiennamen Lorenzo in Laurence geändert hatte, und als Catie sich entschieden hatte, in der Schule Italienisch als zweite Fremdsprache zu belegen, war er furchtbar wütend geworden.

Als sie ihn zögernd fragte, was seinen Sinneswandel bewirkt hätte, antwortete er mit einem gütigen Lächeln: „In den letzten Jahren habe ich öfter das Bedürfnis verspürt, mein Geburtsland wieder zu sehen. Mir ist klar geworden, dass ich viele Dinge aufgrund meiner Voreingenommenheit und Trauer vielleicht falsch beurteilt habe. Auf jeden Fall möchte ich dem Glück meiner einzigen Enkelin nicht im Wege stehen.“ Vertraulich hatte er hinzugefügt: „Niccolò Cacciatore ist sehr wohlhabend und wird dir sicherlich ein guter Ehemann sein.“

Wohlhabend! Als ob das der Schlüssel zum Glück wäre. Doch damals war Catie einfach zu glücklich gewesen, um sich über das seltsame Verhalten ihres Großvaters Gedanken zu machen. Zuversichtlich, dass Niccolò sie ebenso liebte wie sie ihn, hatte sie die Zeremonie wie im Traum durchlebt. Doch ein paar Stunden später war sie ziemlich unsanft auf dem harten Boden der Realität gelandet.

Immer noch fühlte sie den Schmerz, als sie sich an die Szene erinnerte, die sich unmittelbar nach dem kleinen Empfang in Großvaters Haus abgespielt hatte. Niccolò und sie sollten eine Stunde später nach Venedig abfliegen. Catie hatte sich umgezogen und frisch gemacht und kam glücklich die Treppe hinunter, als sie Niccolòs Stimme aus dem Arbeitszimmer ihres Großvaters hörte.

Da sie sich zu ihnen gesellen wollte, ging sie über den dicken Teppich auf die einen Spaltbreit offen stehende Tür zum Arbeitszimmer zu. Doch ihr sechster Sinn ließ Catie innehalten, bevor sie die Tür ganz öffnete.

Aus dem Raum hörte sie die leise, eindringliche Stimme ihres Großvaters. „Sie wissen, dass ich einer Vernunftehe niemals zugestimmt hätte, wenn es nicht zum Besten meiner Enkelin wäre.“

„Seien Sie unbesorgt, Antonio“, antwortete Niccolò ruhig. „Sie haben nichts getan, dessen Sie sich schämen müssten. Caterina wird als meine Frau wohlhabend sein und gesellschaftliches Ansehen genießen. Sie wird alles haben, was Sie sich für sie wünschen.“

„Und Sie schwören, ihr niemals zu erzählen, dass diese Ehe nur aufgrund einer nicht beglichenen Ehrenschuld zwischen unseren Familien zustande gekommen ist?“, fragte ihr Großvater mit einem schuldbewussten Unterton.

„Das wäre wohl kaum in meinem Interesse, stimmt‘s?“, erwiderte Niccolò leicht belustigt.

Daraufhin machte Catie auf dem Absatz kehrt und lief die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Immer wieder klangen die schrecklichen Worte in ihr nach: Vernunftehe, Ehrenschuld …

Sie konnte es einfach nicht glauben! Niccolò war nur nach England gekommen, weil er eine Schuld eintreiben wollte. Ihr über alles geliebter Großvater hatte sie verkauft, um seiner Vorstellung von Ehre gerecht zu werden. Aber weshalb sollte Niccolò gerade sie gewollt haben? Was konnte sie ihm schon bieten, das er nicht auch bei einer Italienerin hätte finden können?

Blind vor Tränen blickte sie in den Spiegel. Ihr Gesicht war kreidebleich, und ihre sonst so strahlenden Augen wirkten stumpf. Noch ist es nicht zu spät, die Verbindung zu lösen, die ich so leichtsinnig eingegangen bin, überlegte sie verzweifelt. Zwar war sie rechtmäßig verheiratet, doch kirchlich war diese Ehe noch nicht besiegelt. Wenn sie, Catie, einfach verschwand, konnte die Ehe annulliert werden, da sie nie vollzogen worden war.

Ein Klopfen an der Tür riss Catie aus ihren Gedanken. Gleich darauf trat Tante Becky ein.

„Bist du fertig, meine Liebe?“, fragte sie lächelnd. „Der Chauffeur wartet bereits, um euch zum Flughafen zu bringen.“

Wie schlimm sich ihr Großvater auch verhalten haben mochte, Catie brachte es nicht übers Herz, das Leben dieser beiden Menschen, die sich seit zwanzig Jahren liebevoll um sie kümmerten, in den Grundfesten zu erschüttern. Außerdem hatte Tante Becky bestimmt nichts von der Täuschung gewusst. Trotzdem würde sie genauso darunter leiden müssen, falls Catie jetzt einen Skandal heraufbeschwor. Und wie war es mit Nonno? Wie viel mochte er der Familie Cacciatore wohl schulden? Handelte es sich bei der „Ehrenschuld“ um Geld, das er nicht zurückzahlen konnte?

Antonio Laurence war siebenundachtzig Jahre alt, und sein gesundes Aussehen täuschte darüber hinweg, dass er in letzter Zeit häufig krank gewesen war. Vielleicht steckte hinter seiner Flucht aus Italien mehr als nur der Tod seines Sohnes. Wie es schien, hatte ihn die Vergangenheit mittlerweile eingeholt, denn er hätte seine einzige Enkelin bestimmt nicht so benutzt, hätte er einen Ausweg gesehen.

„Catie, Liebling, ist alles in Ordnung?“ Besorgt rieb Tante Becky Caties eiskalte Hand.

„Selbstverständlich, Tante Becky.“ Mühsam hatte Catie sich ein Lächeln abgerungen. Nein, es gab kein Zurück. Würde sie erzählen, was sie belauscht hatte, hätte dies für alle Menschen, die sie liebte, fürchterliche Konsequenzen.

„Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten landen wir auf dem Flughafen Marco Polo. Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung vor dem Start …“

Die Stimme aus dem Lautsprecher sprach immer weiter, aber Catie hörte nicht länger zu. Unter ihr erstreckte sich die Stadt der Verliebten, die Stadt der tausend Brücken – Venedig. Da sie noch immer wie betäubt war, bemerkte Catie kaum, wie Niccolò ihren Sicherheitsgurt schloss, während die Maschine den Landeanflug begann.

All ihre Träume waren zerstört. Zum ersten Mal, seit Catie die Unterhaltung zwischen Niccolò und ihrem Großvater zufällig belauscht hatte, spürte sie, wie Zorn in ihr aufstieg. Zwar kannte sie das Spielchen nicht, in dem sie die Hauptfigur zu sein schien, aber sie war bestimmt keine Marionette, an deren Fäden man beliebig ziehen konnte. Was immer Niccolò auch für einen Grund gehabt hatte, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebte, sie würde es herausfinden, das schwor sie sich.

Ihr Entschluss stand fest. Sollte ihr Mann ruhig glauben, er hätte das Spiel gewonnen! Sie würde ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen! Niccolò Cacciatore würde schon bald feststellen, dass seine vormals so nachgiebige und gutgläubige Braut auch ganz andere Saiten aufziehen konnte.

2. KAPITEL

Die Zollabfertigung dauerte nicht lange, und in überraschend kurzer Zeit standen Niccolò und Catie bereits vor dem kleinen Flughafengebäude. Ohne das kleine, sanft schaukelnde Motorboot, auf das sich die anderen Fluggäste zubewegten, zu beachten, führte Niccolò Catie zu einer Anlegestelle, an der seine Barkasse angelegt hatte.

„Signor! Endlich!“ Ein dunkelhäutiger Mann unbestimmten Alters ergriff Niccolòs Hand. „Ich beglückwünsche Sie und die Signora …“

„Haben wir Sie lange warten lassen, Giovanni?“ Niccolò übergab ihm das Gepäck, bevor er Catie in die Barkasse half.

Giovanni verzog das Gesicht. „Ich habe mich beim Flughafen erkundigt, bevor ich den Palazzo verließ. Eine Zeit lang war ich ziemlich besorgt, dass Sie nicht rechtzeitig eintreffen würden, um Ihre Gäste zu begrüßen.“

„Palazzo? Gäste?“, erkundigte sich Catie entsetzt und verwirrt zugleich. Wie sollte sie sich um ihre unbekannten Gäste kümmern, wenn sie den Kopf voller Probleme hatte? Wie in Trance sank sie auf die weichen Polster der Kabine, während die Barkasse langsam ablegte.

Niccolò setzte sich neben sie. „Bald werden wir unser eigenes Luxusapartment in einem der auf den Canal Grande hinausgehenden Palazzi des zwölften Jahrhunderts beziehen.“

„Heißt das, wir müssen uns selbst versorgen? Kannst du es dir etwa nicht leisten, dich in einem angesehenen Hotel einzumieten?“, fragte Catie gespielt verächtlich. „Eigentlich wollte ich meine Flitterwochen nicht damit verbringen, Hausarbeit zu verrichten.“

„Das sollst du auch nicht“, antwortete er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Palazzo und Apartment werden von Personal betreut. Wir müssen keinen Handschlag tun. Falls wir es wünschen, sind sie uns vierundzwanzig Stunden am Tag zu Diensten.“

„Welch ein Glück. Ich dachte schon, ich hätte einen fürchterlichen Fehler gemacht. War es sehr teuer, alles so zu organisieren?“

„Eigentlich nicht“, antwortete er stirnrunzelnd und musterte eindringlich ihr lebhaftes Gesicht. „Der Palazzo gehört im Grunde mir, oder besser gesagt, meiner Firma. Wir haben ihn vor dem Verfall bewahrt, als wir ihn vor etwa zehn Jahren erworben haben. Mit finanzieller Unterstützung der Bank haben wir den alten Glanz wiederhergestellt, zumindest von außen. Von innen …“ Er machte eine ausdrucksvolle Geste. „Na ja, da mussten wir ein paar Zugeständnisse machen. Allerdings ist es uns gelungen, das Erdgeschoss in einen Ballsaal zu verwandeln, der in vielerlei Hinsicht den früheren Prunk des Palazzos widerspiegelt. Er wird zu vielen Festen vermietet. Im ersten Stock befinden sich neben unserem auch Apartments für Besucher und Kunden, und darüber sind Büros eingerichtet.“

„Ich verstehe“, antwortete Catie schwach. Niccolò steckte wirklich voller Überraschungen. Es war ihm nicht nur gelungen, ihren Großvater dazu zu bringen, seine Enkeltochter zu opfern. Jetzt hatte es zudem den Anschein, dass er wesentlich wohlhabender war, als sie gedacht hatte. Es fehlte nur noch, dass er ihr eröffnete, er sei ein Prinz aus einem alten venezianischen Adelsgeschlecht!

„Gut“, meinte er. „Ich bin glücklich, dass ich deine Erwartungen nicht bereits zu Anfang unserer Beziehung enttäuscht habe. Aber du wirst sicherlich verstehen, dass nur sehr wenige Dinge im Leben umsonst sind. Auch der Luxus, der uns erwartet, hat seinen Preis.“

Er blickte sie eindringlich an.

Sie zuckte die Schultern. „Das hört sich ziemlich langweilig an. Ich hoffe wirklich, dass es nicht auch für mich gilt.“

„Leider doch“, entgegnete Niccolò. „Ich bin jedoch sicher, dass du dadurch nicht überfordert sein wirst.“

Catie glaubte, einen leicht gereizten Unterton in seiner Stimme zu hören. Umso besser, dachte sie. Niccolò stellt demnach jetzt schon fest, dass ich nicht so nachgiebig bin, wie er erwartet hat.

„Heute Abend muss ich einen Empfang für die Presse und viele unserer europäischen und nordamerikanischen Kunden geben“, fuhr er fort. „Das meinte Giovanni mit ‚Gästen‘. Eigentlich hatte ich gehofft, dir ungestört den Palazzo zeigen zu können und einen schönen Nachmittag mit dir zu verbringen …“

Obwohl er den Satz unvollendet ließ, zweifelte sie keinen Augenblick, worauf er hinauswollte, denn sein leidenschaftlicher Blick sprach Bände. „Unglücklicherweise …“ Niccolò zuckte gelassen die Schultern, „… haben wir durch die Verspätung lediglich Zeit, uns umzuziehen und frisch zu machen, bevor wir unsere Gäste begrüßen müssen. Und erst nachdem der Letzte gegangen ist, können wir wirklich allein sein. Stört dich das sehr?“

Obwohl er sie nicht liebte, wollte er die Ehe tatsächlich vollziehen! Der Gedanke schockierte Catie. Nur zu gut war sie sich Niccolòs Nähe bewusst. Ihr Herz hämmerte wie wild, und ihre Lippen warteten nur darauf, von seinen berührt zu werden. Doch sie musste der grausamen Wahrheit ins Gesicht sehen: Er hatte ihr nur vorgespielt, in sie verliebt zu sein.

Vermutlich verspürte er im Augenblick nur das durchaus normale Verlangen eines Mannes, der sich seiner Sache sicher war. Für sie war dieser Empfang die Rettung! Je weniger Zeit sie in Niccolòs Gesellschaft verbringen musste, desto besser konnte sie sich seelisch und körperlich gegen ihn wappnen.

„Selbstverständlich nicht“, antwortete sie und versuchte, begeistert zu klingen. „Ich liebe Partys.“ Ihr kam plötzlich ein Gedanke. Sie könnte Niccolò doch glauben machen, sie hätte ihn nur wegen seines Geldes geheiratet und nie tiefere Gefühle für ihn empfunden. Wenn sie ihn in seinem männlichen Stolz verletzte, hielt sie ihn vielleicht von ihrem Bett fern und kam halbwegs ungeschoren davon, bis sie herausfand, warum er sie getäuscht hatte.

„Dio!“, antwortete er mit einem seltsam beunruhigenden Unterton in der rauen Stimme. „Benehmen sich eigentlich alle Engländerinnen so? Es ist nicht gerade schmeichelhaft, wie schnell du dich in die Umstände fügst.“

Sein leidenschaftlicher Kuss kam für Catie völlig überraschend, und sie war wie elektrisiert, als Niccolò von ihrem Mund Besitz ergriff. Es schien, als würde ihr Körper sich in dieser Umarmung verwandeln und von erotischen Empfindungen durchflutet werden, die sie dahinschmelzen ließen.

Autor

Angela Wells
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