Inselnächte voller Glück

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Auf einer einsamen Insel vor der Küste Kanadas genießt Kit Stunden der Liebe in Johns Armen. Sie träumt davon, für immer bei ihm zu bleiben. Doch als sie in ihr Forschercamp zurückkehren, scheint ihr Glück zu zerbrechen. Kits Jugendfreund Ivor erwartet sie und behauptet Ungeheuerliches …


  • Erscheinungstag 25.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756703
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war himmlisch.

Einfach paradiesisch.

Kathrin Selby musste über sich selbst lachen. Nur sehr wenige Leute wären wohl der Meinung gewesen, dass ihr gegenwärtiger Aufenthaltsort Ähnlichkeit mit dem Paradies aufwies. Vielmehr hätten die meisten von ihnen die Landschaft, die sich vor Kathrin ausbreitete, eher mit der Hölle gleichgesetzt. Aber für sie war diese Gegend wirklich wunderschön.

Kathrin machte es sich auf dem Felsblock etwas bequemer, der hoch über die Wiesen eines weiten Tals hinausragte. Weit und breit war kein anderes menschliches Wesen zu sehen. Hinter ihr lag ein weiteres Tal, durch das ein Fluss toste, der von den Gletschern der schneebedeckten Berge gespeist wurde. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie ihn ebenso wenig sehen wie das Meer, das Packeis oder das Camp, in dem sie und die anderen Wissenschaftler lebten. Die einzigen Lebewesen in dem weiten Tal waren Moschusochsen, die auf dem Abhang unterhalb des Felsens grasten.

Kathrin hatte die letzten fünf Tage allein hier in der Tundra verbracht und die Herde beobachtet. Sie hatte zahlreiche Notizen und viele Fotos gemacht. Und sie hatte dem Leitbullen wegen seiner Furcht einflößenden Hörner und seines herrischen Gehabes den Spitznamen „Macho“ verliehen. Nun nahm sie das Fernglas zur Hand und nahm ihn noch einmal ins Visier.

Macho fraß gerade an einer winzigen, krumm gewachsenen Weide, der einzigen Baumart, die so hoch im Norden noch wuchs. Der Wind ließ seine langen Deckhaare fliegen, und so wie der Bulle sich mit dem riesigen Buckel und dem fahlen Rücken massig gegen die Abendsonne abhob, sah er einem Felsen sehr ähnlich.

Kathrin schaute auf die Uhr. Es war schon fast sieben, und sie hatte noch einen dreistündigen Marsch vor sich, um zum Camp zu gelangen. Da sie keinen Proviant mehr hatte, blieb ihr keine Wahl. Sie musste zurückgehen, obwohl es ihr widerstrebte, dieses friedliche Tal zu verlassen. Es widerstrebte ihr auch, die Herde zu verlassen, die sie nach vielen Stunden genauer Beobachtung so gut kennen gelernt hatte. Die drei Kühe, die zwei Jährlinge und die beiden Kälber wirkten in der Weite der Tundra wie kleine Sprenkel. Die Kühe bewegten sich mit würdevoller Anmut, und die Kälber sprangen ausgelassen zwischen den Felsen herum.

Erneut empfand Kathrin ein ungeheures Glücksgefühl. Im Alter von vierundzwanzig Jahren hatte sie ihre Bestimmung gefunden. Sie verrichtete eine Arbeit, die sie liebte, in einer Umgebung, deren ungeheure Weite und Abgeschiedenheit sie zutiefst anrührten. Nur wenige Menschen haben solch ein Glück, dachte sie ergriffen, stand auf und atmete tief die frische, reine Luft ein. Langsam wandte sie sich um und ging zu ihrem kleinen gelben Zelt.

Morgen komme ich ja wieder, tröstete sie sich. Sie beschloss, das Zelt stehen zu lassen, kroch hinein, stopfte ihre schmutzige Kleidung und die Kameraausrüstung in ihren Rucksack. Sorgfältig verschloss sie die Zeltöffnung und beschwerte die Heringe mit großen Steinen. Dann setzte sie sich den schweren Rucksack auf. In diesem Augenblick hörte sie den klagenden Ruf eines Regenpfeifers und fühlte auf einmal Tränen in den Augen brennen. Sie war hier so unwahrscheinlich glücklich gewesen.

Sie stand reglos da. Die rotgolden leuchtenden Wolken, die sich am Horizont auftürmten, die großen, sich langsam bewegenden Tiere und der Schrei des Vogels, all das rührte sie zutiefst an. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, mit der Tundra eins zu sein.

Dann rief der Regenpfeifer wieder, und der Bann war gebrochen. Kathrin lächelte unwillkürlich, während sie langsam zum Bergkamm hinaufkletterte. Der kürzeste Weg zum Basiscamp führte über den Kamm und schließlich den Fluss entlang. Sie hoffte, dass man ihr noch etwas vom Abendbrot aufgehoben hatte. Und noch inständiger hoffte sie, dass der Campleiter Garry Morrison heute Abend die Sauna beheizte. Nach fünf Tagen in einem kleinen Zelt hatte sie das dringende Bedürfnis, ihre Bekanntschaft mit warmem Wasser, Seife und Shampoo zu erneuern.

Dank ihrer langen Beine kam Kathrin auf dem ausgetretenen Pfad mühelos voran. Nachdem sie den Bergkamm erklommen hatte, stieg sie auf seiner Rückseite wieder ins Tal hinab. Hier war der Boden morastig, und sie watete mit ihren Gummistiefeln durch kniehohes Wasser, das auf dem Dauerfrostboden nicht versickern konnte. Während sie das Tal nach Tieren absuchte, vernahm sie das ohrenbetäubende Tosen des Flusses. Sie blieb stehen, um die dunkelroten Blüten eines Weidenröschenbusches zu bewundern. Dann marschierte sie weiter zum Basiscamp.

Der offizielle Name des Camps war „Carstairs-Camp“, so benannt nach dem Wissenschaftler, der es vor etwa dreißig Jahren an der Westküste von Hearne Island im hohen Norden Kanadas errichtet hatte. Vor ihrer Ankunft dort hatte Kathrin es sich wesentlich imposanter vorgestellt, als es in Wirklichkeit war: einige Holzhütten in Leichtbauweise und verstreut liegende Zelte, alle leuchtend bunt, damit sie aus der Luft gut sichtbar waren. Als Kathrin nun um eine Felsnase herumkletterte, sah sie in der Ferne die orangefarbene Funkstation und ihre strahlendblaue kleine Hütte leuchten und musste wieder lächeln. Es würde schön sein, die anderen wiederzusehen. Denn auch wenn sie gern allein war, gestaltete es sich doch als etwas mühselig, sich mit einem Moschusochsen zu unterhalten.

Obwohl Kathrin nun schon die einzelnen Gebäude erkennen konnte, wusste sie, dass noch ein harter, etwa einstündiger Marsch vor ihr lag. Sie hatte sehr schnell gelernt, dass man Entfernungen in der klaren nördlichen Luft und in einer Landschaft, in der es keine hohen Bäume als Anhaltspunkte gab, leicht unterschätzte.

Sie begann nun den langsamen Abstieg in das Tal, in dem es zahllose große und kleine Seen gab. Ich freue mich darauf, Pam, Garry, Karl und Calvin zu sehen, und darauf, wieder zu Hause zu sein, dachte Kathrin. Dann runzelte sie die Stirn. Wie, um alles in der Welt, war es in nur vier Wochen dazu gekommen, dass sie diese kunterbunte Ansammlung von Gebäuden als ihr Zuhause ansah?

Es war sehr lange her, seit sie zum letzten Mal das Gefühl gehabt hatte, einen Ort „Zuhause“ nennen zu können. Das hatte sie nie mehr getan, seit sie Thorndean hatte verlassen müssen.

Thorndean … Kathrin konnte nie an die feudale Villa denken, in der ihre Mutter als Haushälterin gearbeitet hatte und in der sie selbst aufgewachsen war, ohne sich an die beiden jungen Männer zu erinnern, die ihr Leben so geprägt und später zerstört hatten – Ivor und John. Sie waren Halbbrüder, Söhne des Eigentümers von Thorndean. Ivor, den sie geliebt, und John, dem sie vertraut hatte.

Seit sieben Jahren hatte Kathrin keinen von beiden mehr gesehen.

Plötzlich stolperte sie über einen Ast und verlor das Gleichgewicht, sodass sie abrupt in die Gegenwart zurückfand. Es waren zwei Flugstunden bis zum nächsten Krankenhaus, das durfte sie nicht vergessen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, unaufmerksam zu sein.

Die Vergangenheit war abgeschlossen. Entschieden lenkte Kathrin ihre Gedanken auf die verlockende Aussicht, bald in einer warmen Küche und in ihrem eigenen bequemen Bett zu sein. Es bedarf offenbar nur eines fünftägigen Aufenthalts in einem Zelt, um eine fünfzehn Zentimeter dicke Schaumgummimatratze als reinen Luxus erscheinen zu lassen, überlegte sie ironisch.

Nicht, dass sie in den letzten vier Nächten viel geschlafen hätte. Hearne Island lag so nahe am Pol, dass die Sonne die Tundra Tag und Nacht erhellte. Für Kathrin schienen die Tage keinen Anfang und kein Ende zu haben – jeder ging nahtlos in den nächsten über, sodass sie den Eindruck hatte, herrlich viel Zeit zu haben. Das hatte zur Folge, dass sie auf regelmäßigen Schlaf verzichtete und lieber den Moschusochsen auf ihrer Wanderung durch das Tal folgte und nur ab und zu ein Nickerchen machte. Ihr war bewusst, dass der arktische Sommer nur sehr kurz war und sie sich in weniger als sechs Wochen wieder auf dem Rückflug nach Calgary befinden würde.

Rotkehlige Eistaucher schwammen auf den Teichen, die sich noch zwischen ihr und dem Camp befanden. Ihr Warnruf klang so unheimlich und klagend, dass sie jedes Mal eine Gänsehaut bekam, wenn sie ihn hörte. Gehorsam hielt sie daher den nötigen Abstand zu ihren Nistplätzen ein. Der eisige Wind, der vom Packeis herüberblies, peitschte ihr ins Gesicht.

In Küstennähe hoben sich die buckeligen Felsen von Whale Island schwarz vom Himmel ab. Garry hatte versprochen, Pamela und sie bald einmal mit dorthin zu nehmen. Es gab dort Behausungen aus alter Zeit mit Knochen von Grönlandwalen, die vor Hunderten von Jahren erlegt worden waren. Auf den Felsen nisteten Gerfalken, die nur noch selten vorkommenden weiß gefiederten Jäger des hohen Nordens. Kathrin nahm die letzte Steigung, und dann knirschten ihre Stiefel auf dem Schotter der Start- und Landebahn. Inzwischen war sie wirklich hungrig.

Sicherlich hatte Pam, die sowohl Campköchin als auch Freundin von Garry war, ihr etwas vom Abendbrot aufgehoben. Endlich wieder eine frisch zubereitete Mahlzeit, überlegte Kathrin verträumt … Auch das konnte man als „himmlisch“ bezeichnen.

Die Hütte, eine Kombination aus Küche, Speisesaal und Bücherei, war in einem knalligen Orange gestrichen. Kathrin stieß die Verandatür auf, lehnte sich gegen die Wand und ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten. Nachdem sie ihre Stiefel auf der Matte abgestellt hatte, betrat sie den Raum.

Die Hitze des Kohleofens umfing sie und ließ ihre ohnehin geröteten Wangen glühen. Kathrin blinzelte leicht und bemerkte genüsslich schnuppernd: „Ich bin sicher, ihr Jungs habt mir etwas zum Essen übrig gelassen.“

In seinem gestelzten Englisch erwiderte Karl: „Wir haben reichlich Essen übrig gelassen.“

„Nicht ein Stück“, widersprach Calvin. „Du bist viel zu dick.“

Pam prustete vor Lachen. Da sie ihrer eigenen Kochkunst nur allzu gern zusprach, war sie eher rundlich. Und deshalb beneidete sie Kathrin darum, gut und reichlich essen zu können und trotzdem schlank zu bleiben. „In ein paar Minuten ist es wieder aufgewärmt“, erklärte sie.

Karl trug eine Brille, war schlaksig, unheimlich clever und immer ernst. Er forschte im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschprogramms mit Schweden. Calvin hingegen war klein, korpulent und fröhlich.

„Ich dachte, du solltest Algenproben im Moor sammeln“, sagte Kathrin streng.

„Meine Socken sind nass geworden“, erwiderte er grinsend. „Und wie geht es deinen Moschusochsen?“

Sie hängte ihre Jacke über eine Stuhllehne und zog ihren Pullover über den Kopf. Dabei lösten sich Haare aus ihrem Zopf und fielen in rötlichen Wellen über ihre Schultern. „Wunderbar“, erklärte sie. „Ich bin der Herde fast fünf Tage lang gefolgt – und ich möchte morgen gerne wieder zu ihnen zurückkehren.“ In diesem Moment erblickte sie Garry, der neben dem Ofen stand, und fügte hinzu: „Nachdem ich in der Sauna war, okay?“

„Sie wird in einer halben Stunde aufgeheizt sein“, antwortete Garry. „Und morgen wirst du wahrscheinlich Gesellschaft haben, wenn du wieder zu deinen Moschusochsen gehst. Wir haben nämlich einen Besucher.“

Als sie fragend die Augenbrauen hochzog, nicht besonders erfreut über die Aussicht auf Gesellschaft bei ihrem erneuten Ausflug in die Tundra, hörte sie plötzlich eine Männerstimme hinter sich sagen: „Hallo, Kit.“

Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der sie jemals „Kit“ genannt hatte!

Kathrin fühlte sich abrupt in die Vergangenheit zurückversetzt und verkrampfte sich unwillkürlich. Sicherlich würde sie in wenigen Minuten aufwachen und feststellen, dass alles nur ein Traum gewesen war – oder eine Wahnvorstellung, hervorgerufen durch akuten Schlafmangel.

Es durfte einfach nicht wahr sein! John konnte nicht hier sein.

Langsam, ohne richtig wahrzunehmen, dass Karl sehr verblüfft schien und Calvin sie neugierig ansah, wandte Kathrin den Kopf. Ein Mann saß in der hintersten Ecke des Raums, den Stuhl nach hinten gekippt, die Daumen hinter den Gürtel gehakt und die Augen auf ihr Gesicht gerichtet.

Kathrin erkannte ihn sofort, obwohl er sich in den vergangenen sieben Jahren stark verändert hatte. Sie wollte lächeln, um ihre wahren Gefühle vor ihm zu verbergen, doch ihre Gesichtszüge schienen wie erstarrt. Sie fühlte sich unwiderstehlich von dem kühlen Blick seiner blauen Augen angezogen. Sie kannte außer ihm niemanden, dessen Augenfarbe so intensiv war. Aber gerade jetzt erinnerten diese Augen sie an nichts so sehr wie an das Schmelzwasser, das sich in kleinen Tümpeln auf den Gletschern ansammelte. Sie flüsterte heiser: „John. John Leighton.“

Im nächsten Moment sagte Pam nüchtern: „Dein Essen ist fertig, Kathrin.“

Das war ihre Rettung. Nur mühsam löste Kathrin den Blick von ihrem Gegner – denn dass er das war, hatte sie sofort erkannt – und fragte sich, ob sie wohl in der Lage war, durch den Raum zu gehen und den Teller entgegenzunehmen, den Pam ihr entgegenhielt. Es sitzt ja nicht Ivor dort am Tisch, dachte sie benommen. Ivor war sein Bruder, den sie geliebt hatte. Er hätte dieses Gefühlschaos in ihr auslösen müssen, nicht John. Denn auch wenn dieser plötzlich und ohne Vorwarnung an einem Ort, Tausende von Meilen von Thorndean entfernt, aufgetaucht war, hätte sie nie damit gerechnet, dass er sie derart aus der Fassung bringen würde. Warum stand sie also unbeweglich da wie eine Wachfigur?

Weil Johns Verrat schlimmer gewesen war als Ivors.

Zehnmal schlimmer.

Diese plötzliche Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag. Das hätte sie schon vor sieben Jahren erkennen müssen. Erst jetzt, da John unvorhergesehen wieder aufgetaucht war, wurde ihr klar, wie tief die Wunde war, die er ihr zugefügt hatte. Viel schlimmer als die körperlichen Verletzungen, die Ivor ihr beigebracht hatte – und schlimmer als ihre Verbannung von Thorndean, so schrecklich diese auch gewesen war. Benommen stellte Kathrin fest, dass Pam nun direkt vor ihr stand und ihr den Teller hinhielt, während sie sie besorgt ansah. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie. „Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.“ Sie warf einen unfreundlichen Blick auf den Mann auf der anderen Seite des Tisches. „John hat uns nämlich nicht erzählt, dass er dich kennt.“

„Ich wollte nichts sagen, bevor ich nicht ganz sicher war. Schließlich gibt es mit Sicherheit mehr als eine Kathrin Selby in Kanada.“

Schlagartig verlor Kathrin die Beherrschung. „Mehr als eine mit rotbraunem Haar und braunen Augen, die urwüchsige Landschaften und wilde Tiere liebt?“

„Du nimmst dich zu wichtig“, spottete John. „Ich habe es nämlich nicht für nötig befunden, irgendwelche Einzelheiten über dich zu erfragen. Nachdem ich deinen Namen gehört hatte, habe ich mich ganz einfach still in die Ecke gesetzt und abgewartet, wer zur Tür hereinkommen würde.“

Sie kannte ihn immer noch gut genug, um zu erkennen, dass seine Beherrschung nur gespielt und er ausgesprochen ärgerlich war. Er hat doch gar kein Recht, ärgerlich zu sein, dachte Kathrin verblüfft. Sie war schließlich diejenige, die man ungerecht behandelt hatte, nicht er.

Als wäre eine alte Wunde wieder aufgebrochen, spürte Kathrin plötzlich wieder die entsetzliche Qual, die sie vor langer Zeit empfunden hatte, als sie siebzehn gewesen war. Damals war in einem einzigen Sommer ihre ganze Welt eingestürzt. Und alles, was sie als selbstverständlich betrachtet und worauf sie gebaut hatte, war auf einmal anders gewesen: entsetzlich und Furcht erregend.

Verzweifelt versuchte sie, die Fassung wiederzugewinnen. Auch wenn sie vor einigen Minuten aus dem Gleichgewicht geraten war, war sie noch nicht so verwirrt, dass sie Johns Ärger in Gegenwart der anderen herausfordern wollte.

Erneut wurde sie wütend, als sie erkannte, wie leicht John sich ihr gegenüber einen Vorteil verschafft hatte, indem er einfach dagesessen und darauf gewartet hatte, dass sie den Raum betrat. Und ihre Gefühle standen ihr ins Gesicht geschrieben.

Pam hielt ihr noch immer den Teller mit dem Essen hin, während Garry, Karl und Calvin in fasziniertem Schweigen auf jedes einzelne Wort lauschten. Kathrin versuchte, so normal wie möglich zu klingen und sagte leichthin: „Was ist? Heute Abend vermisst wohl keiner die Seifenopern im Fernsehen, stimmt’s? Zu eurer Information, John und ich sind zusammen aufgewachsen, wurden dann aber durch unerfreuliche Ereignisse getrennt und haben uns seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. Mehr bekommt ihr aus mir bestimmt nicht heraus.“ Dann wandte sie sich an Pam. „Das Essen sieht fantastisch aus. Vielen Dank.“

Sie nahm den Teller entgegen, konnte aber nicht ganz verbergen, dass ihr die Hände zitterten, und setzte sich schließlich so weit wie möglich von John entfernt an den Tisch. Es gab gebratenes Hühnchen, Kartoffelpüree und grüne Bohnen, aber ihr war der Appetit vollständig vergangen. Verbissen begann sie zu essen.

Garry, der heftige Gefühlsausbrüche nicht leiden konnte, sagte rau: „Ich überprüfe mal die Temperatur in der Sauna.“ Dann verließ er sichtlich erleichtert den Raum. Pam setzte sich neben Kathrin und begann, die letzten Streiche des Polarfuchses zu beschreiben, der jeden Abend an der Küchentür nach Nahrung suchte. Calvin und Karl unterhielten sich mit John. Während Kathrin aß, wurde ihr bewusst, dass sie es John auch übel nahm, ihr die erste richtige Mahlzeit nach fünf Tagen verdorben zu haben.

Als Pam aufstand, um Kaffee für sie zu holen, beobachtete Kathrin, wie John zum Herd ging, um seinen Becher aufzufüllen. Er bewegte sich noch immer mit der Geschmeidigkeit, die schon früher für ihn charakteristisch gewesen war. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie breitschultrig und muskulös er war. Instinktiv fühlte sie, dass er sich mit der tödlichen Schnelligkeit eines Raubtiers bewegen konnte. Wohl das Ergebnis seines Gefängnisaufenthalts, dachte sie matt und blickte angestrengt auf den Rest ihres Kartoffelpürees, als er zu seinem Platz zurückkehrte.

Pam stellte eine Tasse mit dampfendem Kaffee und einen Teller mit einem Stück Apfelkuchen vor sie hin und setzte sich wieder. „Macht es dir wirklich nichts aus, dort draußen ganz allein zu sein?“

„Ich habe es genossen“, erklärte Kathrin bestimmt. „Die Tundra ist ein Ort, der förmlich nach Einsamkeit verlangt.“ Garry hatte vor einer Ewigkeit – so schien es ihr zumindest – bemerkt, dass sie bei ihrer nächsten Expedition zu den Moschusochsen Gesellschaft haben würde. Falls Garry allerdings glaubte, dass sie am nächsten Tag mit John loswanderte, würde er eine herbe Enttäuschung erleben. John sollte jede ihrer Bewegungen beobachten und in einem Zelt nur wenige Meter von ihrem entfernt schlafen? Eher würde sie sterben, als allein mit ihm irgendwo hin zu gehen. Je eher Garry das begriff, desto besser.

Pam ignorierte die Wut, mit der Kathrin ihren Kuchen attackierte, und kicherte. „Du bist ja schon süchtig. Garry sagt, dass er innerhalb von einer Woche weiß, wer von den Neuankömmlingen die Tage bis zum Ende des Sommers zählt und wer im Frühling mit dem ersten Flugzeug hierher zurückkehren wird.“

Kathrin blickte durch das Fenster auf das rechteckige Stück Himmel: „Hier oben habe ich schon fast vergessen, dass es überhaupt so etwas wie Tage gibt.“

„Jeden Morgen das Frühstück zubereiten zu müssen hält mich auf dem Laufenden“, bemerkte Pam trocken. „Möchtest du noch mehr Kuchen?“

Das Stück Apfelkuchen auf ihrem Teller schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Kathrin schüttelte den Kopf. „Er war wirklich köstlich, Pam. Vielen Dank. Aber ich gehe jetzt wohl am besten zu meiner Hütte und suche mir saubere Kleidung … Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich auf die Sauna freue.“

Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, stieß Garry genau in diesem Moment die Tür auf. „Die Sauna hat jetzt genau die richtige Temperatur. Pam und du, ihr geht zuerst, Kathrin. Und eine von euch beiden sagt mir Bescheid, wenn ihr fertig seid.“

Die Sauna, die sich am anderen Ende des Camps befand, musste von einem mit Öl angetriebenen Generator beheizt werden. Die Bewohner des Camps betrachteten sie als Luxus, denn Öl war teuer, da es extra eingeflogen wurde.

Kathrin stand auf, brachte ihr Geschirr zum Spülbecken und verließ den Raum zusammen mit Pam, ohne auch nur einen Blick in Johns Richtung zu werfen. „Ich bin in fünf Minuten fertig“, rief sie Pam zu und eilte über die Straße zu der kleinen blauen Hütte, die sie allein bewohnte. Sie stellte ihre Stiefel auf die Fußmatte und ging hinein.

Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen Raum mit rohen Holzwänden. Ein Etagenbett, ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Bücherregal aus Brettern stellten zusammen mit einem Petroleumofen das gesamte Mobiliar dar. Kathrin hatte ihre Bücher mit einigen schön geformten Steinen vom Strand auf dem Regal arrangiert. Vor dem Bett lag der farbenprächtige Flickenteppich, den ihre Mutter selbst gewebt hatte und der sie überallhin begleitet hatte. Schlichte geblümte Vorhänge verschönerten die beiden kleinen Fenster, und an die nackten Wände hatte sie ihre Lieblingsfotos gehängt. Der Raum war sauber und wirkte trotz des spärlichen Inventars sehr einladend.

Kathrin lehnte ihren Rucksack gegen die Wand. Ihre Toilettenartikel befanden sich auf dem Regal. Sie verstaute sie mit zwei Handtüchern in einem Plastikbeutel und nahm dann aus einem der Bettkästen saubere Kleidungsstücke. Während sie noch vor ihrem Bett stand, wurde ihr plötzlich bewusst, wie weich und warm der Läufer war, den sie durch ihre Wollsocken hindurch spürte. Einer der Streifen leuchtete tiefblau. Er stammte von einem Hemd, das John als Fünfzehnjähriger getragen hatte. Kathrin ließ sich auf den Stuhl sinken und schloss verzweifelt die Augen. John war hier. Dieser Mann, von dem sie geglaubt hatte, ihn niemals wiederzusehen, war plötzlich in ihr Leben eingedrungen und hatte sie mit der Vergangenheit konfrontiert. Noch heute empfand sie genauso viel Schmerz wie vor sieben Jahren.

Die ganzen Jahre über hatte sie versucht, den Schmerz zu vergessen, den Ivor ihr zugefügt hatte. Aber erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie Johns Verrat verdrängt hatte.

Jemand klopfte an die Tür. Kathrin zuckte zusammen, da sie befürchtete, es wäre vielleicht John. Dann hörte sie erleichtert Pams fröhliche Stimme: „Fertig, Kathrin?“

„Ich komme“, rief sie betont munter.

Pam wartete geduldig vor der Tür. Sie blickte Kathrin aufmerksam an, doch falls sie den angespannten Zug in ihrem Gesicht bemerkt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Als sie sich gemeinsam auf den Weg zur Sauna machten, bemerkte sie: „Ich wünschte wirklich, die Versorgung mit Öl wäre hier oben nicht so entsetzlich schwierig und kostspielig. Dann könnten wir dies hier nämlich viel öfter genießen.“

Da alles eingeflogen werden musste, war das Camp nur schwer zu finanzieren. Deshalb war es eine von Garrys vorrangigen Aufgaben als Campleiter, so zu haushalten, dass man jeden Sommer Forschungen betreiben konnte.

„Wenn wir jeden Abend in die Sauna gehen könnten, würden wir es nicht halb so sehr genießen“, widersprach Kathrin.

„Wetten, dass? Was ich dir übrigens noch sagen wollte: Garry wird morgen für ein paar Stunden die Waschmaschine in Gang setzen. Wenn du also noch schmutzige Wäsche hast … Ist der Himmel nicht wunderschön?“

Die Stunden von elf Uhr nachts bis ein Uhr morgens waren Kathrins Lieblingszeit, denn dann war das Licht besonders weich und verbreitete eine friedliche Atmosphäre. Obwohl die Sonne noch hoch über dem Horizont stand, tauchte sie die Wolken in die zartesten Rosa- und Goldtöne. Kathrin wurde bewusst, dass dies der erste friedvolle Augenblick war, seit sie Johns Stimme in der Küche gehört hatte.

Schnell lief sie den Abhang hinunter zur Sauna. Diese war wie ein Iglu geformt und hatte an der Außenwand ein Ofenrohr aus Metall und eine sehr niedrige Eingangstür. Davor befand sich ein Wandschirm, hinter dem die beiden Frauen sich auszogen. Dann stieß Kathrin die Tür auf, und sie traten ein. Drinnen kochte auf dem heißen Felsen Wasser in Töpfen. Kathrin goss etwas davon in eine Plastikschüssel und begann sich die Haare zu waschen, während sie sich in der feuchten Hitze entspannte.

„Möchtest du über John reden?“, fragte Pam beiläufig.

Sie war sowohl diskret als auch äußerst gutherzig. Und sie lebte mit Garry zusammen, der letztendlich entscheiden würde, ob John mit ihr zu den Moschusochsen kommen würde. Deshalb erwiderte Kathrin: „Wenn ich dir sage, was damals passiert ist, könntest du es dann bitte Garry weitererzählen? Ich kann morgen nicht mit John zu den Moschusochsen gehen, ich kann es einfach nicht!“

„Garry fällt seine Entscheidungen selbst, was das Camp betrifft, das weißt du doch genauso gut wie ich – aber er ist auch gerecht. Natürlich werde ich es ihm erzählen.“

Kathrin griff nach der Seife und schäumte sich gründlich ein. „Ich bin im Norden von Toronto aufgewachsen“, begann sie betont sachlich. „Meine Mutter war Wirtschafterin auf einem großen Gut namens Thorndean, das Bernard Leighton gehörte. Vielleicht hast du schon einmal von ihm gehört – er ist ein bedeutender Unternehmer und besitzt Bergwerke, Forstwirtschaftsbetriebe und mehrere Zeitungen. Mein Vater war Gärtner auf diesem Gut. Er starb, als ich erst zwei Jahre alt war, und meine Mutter blieb dort.“

Energisch bearbeitete sie ihre Arme mit der Seife. „Bernard Leighton hatte zwei Söhne: Ivor, der ältere, war von seiner ersten Frau, und John, den du jetzt kennen gelernt hast, von seiner zweiten. Ivor war der attraktivste Mann, den ich jemals gesehen habe.“ Sie lachte traurig. „Ich glaube, ich habe mich bereits in ihn verliebt, als ich sechs Jahre alt war … Ich war damals davon überzeugt, dass die Sonne mit ihm auf- und wieder unterging. Er hat mich allerdings kaum beachtet – immerhin war er acht Jahre älter als ich. Deshalb habe ich meine Zeit mit John verbracht.“

„Ivor sieht noch besser aus als John?“, fragte Pam ungläubig. „Ich würde mit Freuden jeden Morgen um vier Uhr aufstehen, um John das Frühstück zuzubereiten. Wenn ich Garry nicht hätte … John ist einfach umwerfend, Kathrin!“

„Sicherlich hast du recht“, erwiderte Kathrin ohne allzu großes Interesse. Sie hatte John noch nie unter diesem Aspekt betrachtet und auch keine Lust, jetzt damit anzufangen. „Er und ich waren Kumpel. Mehr wie Bruder und Schwester, glaube ich. Wann immer ich Probleme hatte, war John derjenige, bei dem ich Trost und Rat gesucht habe. Meine Mutter und ich standen einander nie sehr nahe. Deshalb war es wohl natürlich, dass ich mich zu John hingezogen fühlte. Außerdem liebten wir beide die gleichen Dinge, zum Beispiel die Natur. Und John war nur vier Jahre älter als ich.“

„John hatte immer einen wilden Zug an sich, irgendetwas Unbezähmbares. Er hat regelmäßig die Schule geschwänzt, denn er ertrug es nicht, eingesperrt zu sein.“

Einen Moment lang versagte ihr die Stimme. Unwillkürlich fragte sich Kathrin, wie John, der schon die Schule als Gefängnis empfunden hatte, den Aufenthalt in einem richtigen Gefängnis ertragen hatte, ohne den Verstand zu verlieren. Aber das geht mich nichts an, dachte sie grimmig und nahm den Erzählfaden wieder auf. „John mochte vielleicht wild sein, aber ich habe ihn für ehrlich und vertrauenswürdig gehalten.“

„Genauso würde ich ihn einschätzen“, meinte Pam nachdenklich.

„Der Eindruck täuscht“, erklärte Kathrin kurz angebunden. „In dem Sommer, in dem ich, siebzehn wurde, hat man ihn dabei erwischt, wie er Geld von seinem Vater unterschlagen hat. Das war offensichtlich schon monatelang so gegangen.“

Pam ging zum Ofen, um noch mehr heißes Wasser zu holen. „Bist du dir absolut sicher? Das traue ich ihm einfach nicht zu.“

Autor

Sandra Field
Sandra Field hätte sich nicht träumen lassen, dass sie mal eine erfolgreiche Romance-Autorin sein würde, als sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Nahrungsmittelforschung tätig war. Es begann damit, dass Sandra Fields Mann als Pfarrer zur Army ging und die beiden deshalb insgesamt drei Mal innerhalb von 18 Monaten umzogen. Endlich wurden...
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