Isle Royale - Insel des Schicksals

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Heiß lodert der Hunger nach Rache, als Tom Silver sich durch die Feuersbrunst kämpft, die in Chicago wütet. Heute soll der Industrielle Arthur Sinclair für seine Untaten bezahlen - mit seinem Leben! Doch Tom hat nicht mit einem blonden Engel gerechnet: Mutig greift die Tochter seines Erzfeindes ihn an, und Sinclair entkommt. Blitzschnell ändert Tom seinen Plan und verschleppt Deborah auf das entlegene Eiland, auf dem Arthur Sinclairs Machenschaften für eine Katastrophe gesorgt haben. Aber welche Antwort kann Tom der verzweifelten Schönheit auf die Frage in ihren Augen geben: Warum? Und wie sich selbst seine wilde Sehnsucht nach ihr erklären?


  • Erscheinungstag 23.06.2020
  • Bandnummer 50
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749576
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Lisa und Bruce – in Liebe

Teil 1

Und der Wind toste, und das Feuer wütete, und London und Paris und Portland wurden überboten, doch kein Milton oder Dante weilten auf Erden, um das Inferno in Worte zu fassen.

Chicago Tribune
(vor Auslieferung verbrannt)

PROLOG

Chicago

8. Oktober 1871

Es war der heißeste Oktober seit Menschengedenken. In drei Monaten war weniger als ein Zoll Regen gefallen. Vieh verdurstete, und die aufgeblähten Kadaver verwesten neben sonnenverbrannten Schlammlöchern. Die für diese Jahreszeit ungewöhnlich hohen Temperaturen führten dazu, dass Frauen den Backtagen mit Widerwillen entgegensahen, und kleine Kinder durch die Hitze quengelig wurden. Männer bei der Arbeit unterbrachen ihre Tätigkeit und hielten inne, schauten zum Himmel empor und bemerkten zueinander, dass sie nichts gegen einen Wintereinbruch einzuwenden hätten.

Trockenheit und Stürme versorgten die Feuerwehren mit mehr als genug Einsätzen. Bis zu sechsmal täglich wurden die Männer zur Bekämpfung von Bränden gerufen. Die Flammen nährten sich von einfachen Holzhäusern, notdürftig zusammengenagelten Hütten, deren Dächer aus mit Teer verklebten Holzschindeln bestanden, und von dem unermüdlichen Nachschub an Holzspänen aus den Sägemühlen von Chicago.

In den rastlosen Strom heißer Präriewinde schwebte ein einzelner Funke.

Später würden manche sagen, der Funke habe aus einem Schornstein über einem Herd gestammt. Viele glaubten auch, dass die unheilvolle Platzierung einer Laterne in der Nähe einer Kuh in Mrs. O’Learys Scheune für die Katastrophe verantwortlich sei. Andere wiederum waren in dem Schrecken, der darauf folgte, bereit zu schwören, dass der Herrgott selbst alles begonnen habe, während andere den Teufel als Schuldigen sahen. Manche gaben sogar einem Kometenschauer die Schuld, der angeblich vom Nachthimmel niedergegangen sei. In der riesigen verkohlten Ruine der Stadt wurden in hallenden Gerichtssälen, im Rathaus und bei Anhörungen vor der Brandschutzbehörde anklagend Finger erhoben und alle möglichen Anschuldigungen vorgebracht.

Unbestritten blieb nur die Tatsache, dass ein einzelner Funke auf einer aufwindigen Böe durch die Nacht tanzte und wirbelte wie eine beschwipste Ballerina. Er segelte hoch über eine Reihe benachbarter Holzhäuser, Scheunen randvoll mit getrocknetem Timotheegras, Schuppen gefüllt mit Kohle und schmalen Holzscheiten zum Feuermachen, aus Fichtenholz errichtete Gehsteige und Straßen aus dicken Kieferschwellen.

Die West Division war ein verästelter Kaninchenbau mit engen, elenden Straßen und behelfsmäßigen Baracken, ein Ort, den keine Dame, die etwas auf sich hielt, je aufsuchen würde. Hier lebten Tagelöhner und Frauen mit zu vielen Babys, Ladenbesitzer und Einwanderer, Säufer und Träumer, Frauenzimmer mit lockeren Moralvorstellungen und streng gläubige Katholiken. Und in dieser dicht bebauten Gegend brachten sie ihre Kinder zur Welt, beteten und aßen, tranken und stritten, liebten … und beerdigten ihre Verstorbenen.

Die trockene Hitze mit dem heißen Wind veranlasste einige der Bewohner dieses Stadtbezirks, sich an diesem Tag früh zu Bett zu begeben, während andere versuchten, ihr mangelndes Wohlbefinden in Trinken und Singen zu ertränken. Die lebhaften hohen Töne von Fiedelmusik und das Klacken von nagelbeschlagenen Schuhen auf Holzdielen drangen aus einigen der Hütten. Geräusche erklangen aus offenstehenden Fenstern und unter dem ausgelassenen Feiern begannen die dünnen Wände zu vibrieren.

Und hoch oben im Nachthimmel beschrieb der Funke einen Kreis und änderte dann die Richtung, vom Wind weitergeweht, der aus der weiten leeren Prärie von Illinois stammte.

Der Funke geriet in eine Scheune, in der fünf Milchkühe und ein Pferd angebunden waren und mit gesenkten Köpfen dastanden; ein Kalb lag zusammengerollt auf einem Strohhaufen.

Die winzige glühende Faser landete auf einem Ballen schimmelnden Heus, und als ein Windstoß in den Stall fuhr und in die Glut blies, leuchtete es orange auf.

Niemand sah, wie sich die Flammen ausbreiteten, so rasch wie verschüttetes Wasser, wie sie gestapelte Heuballen erfassten und die knochentrockenen Holzspäne von Batehams Hobelfabrik entzündeten. Niemand sah, wie der Feuerstrom sich über den ausgetretenen Holzboden ergoss. Niemand bemerkte es, als das Pferd furchtsam die Nüstern blähte, oder hörte es, als es ein hohes warnendes Wiehern ausstieß.

Schließlich fiel einem Bierkutscher mit einem Holzbein, der zufällig gerade des Wegs kam, der unnatürliche Lichtschein auf; er humpelte zu der Scheune. Die Kühe, die angebunden waren, standen stocksteif da, als Holzbein Sullivan den Stall erreichte und sie befreite. Das Kalb, dessen Fell an den Hinterläufen bereits brannte, rannte den Mann fast um und zerrte ihn ein Stück mit sich auf den Hof vor der Scheune.

Hohe Flammenwedel schlängelten sich anmutig über die Seitenwand des Stalles. Grell orangefarbenes Licht leckte an der gestampften Erde zwischen Haus und Scheune.

Schließlich zerriss ein Männerschrei die Nacht. „Kate, der Stall steht in Flammen!“

Der erste Alarm kam von der Brandmeldestelle 342 an der Ecke von Canalport Avenue und Halsted Street.

Über die Gesichter der schlafenden Kinder in der West Division von Chicago flackerte ein seltsam rostrotes Licht.

1. KAPITEL

Was ist mit Deborah los?“, fragte Phoebe Palmer, die in der Mitte einer Suite in Miss Emma Wade Boylans „Pensionat für höhere Töchter“ stand. Der Salon war üppig mit Fransenbesatz, Perlenverzierungen und Brokat ausgestattet. Spitzenbesetzte Unterröcke und mit Bändern verzierte Unaussprechliche lagen durcheinander auf Diwanen und Ottomanen. „Sie will noch nicht einmal ihre Zofe zu sich lassen“, fügte Phoebe hinzu.

„Ich werde nachsehen, was sie aufhält.“ Lucy Hathaway stieß die Tür zum angrenzenden Zimmer auf. Deborahs Kleid, das sie letzte Nacht in Aikens Opernhaus getragen hatte, lag zusammengeknüllt in einem Haufen aus Tüll und Seide auf dem Boden. Zerwühlte Laken bedeckten das Bett und der Duft von teurem Parfüm und von Verzweiflung hingen in der Luft.

„Deborah, geht es dir gut?“, erkundigte sich Lucy leise. Sie ging zum Fenster, teilte den Vorhang, um etwas von dem schwindenden Tageslicht hereinzulassen. In der Ferne zeichneten sich die höheren Gebäude und Türme von Chicago vor dem Abendhimmel ab. Der Himmel war durch den Rauch und Ruß der Fabriken in der Farbe von schmutzigem Bernstein gefärbt. Aber hier bei Amberley Grove, einem vornehmen Vorort von Chicago, in dem sich die Schule befand, versprach der windige Abend angenehm zu werden.

„Deborah, wir liegen dir schon seit Stunden in den Ohren, dich endlich fertig zu machen. Kommst du heute Abend nicht mit uns?“, hakte Lucy nach. Obwohl die Veranstaltung schlicht als Lesung aus der Heiligen Schrift angekündigt war, wussten alle, dass das nur ein Vorwand für die gute Gesellschaft war, sich zu treffen. Obwohl nicht auszuschließen war, dass wichtige spirituelle Themen diskutiert werden würden, würde auch Oberflächlicheres wie Klatsch und Romanzen nicht zu kurz kommen. Das heutige gesellschaftliche Zusammenkommen besaß eine zusätzliche Dramatik, eine Tatsache, die schon die ganze Woche lang die Gerüchteküche anheizte. Der unwahrscheinlich begehrenswerte Dylan Kennedy war auf Brautschau.

„Bitte, Liebes“, sagte Lucy. „Du machst mir Angst, und mir macht so leicht nichts Angst.“

Unter ihrer Decke auf dem Bett zusammengerollt konnte Deborah einfach nicht die Worte finden, um ihre Freundin zu beruhigen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie ihr Leben vor vierundzwanzig Stunden noch gewesen war. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wer sie war, schrieb die Puzzlestücke von sich, die ihr einfielen, im Geiste untereinander, wie Posten in einem Rechnungsbuch. Ein geliebtes Einzelkind. Verlobte des begehrtesten Junggesellen von Chicago. Eine privilegierte junge Frau, vor der ein wunderbares Leben lag.

Letzte Nacht war das alles eingestürzt und zerbrochen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie das Bild wieder zusammensetzen sollte.

„Bitte, mach, dass sie sich beeilt“, bat Phoebe und tanzte aus dem Salon nebenan herein, ein schimmerndes Seidenkleid in der Hand. „Miss Boylans Kutsche wird in einer halben Stunde vorfahren. Man stelle sich nur vor! Dylan Kennedy wird sich eine Frau wählen.“ Sie posierte vor einem frei stehenden Spiegel, plusterte sich auf und strich sich über ihr glänzendes braunes Haar. „Ist das nicht herrlich romantisch?“

„Es ist jedenfalls eindeutig barbarisch“, erwiderte Lucy. „Warum sollen wir uns wie Pferde bei einer Auktion den Männern vorführen lassen?“

„Weil“, antwortete Kathleen O’Leary und kam zu ihnen in Deborahs Schlafzimmer, „Miss Boylan versprochen hat, dass ihr alle dort anwesend sein werdet. Drei perfekte junge Damen“, ergänzte sie mit einem Anflug irischer Ironie. Sie griff nach dem Vorhang am Himmelbett. „Ist alles mit Ihnen in Ordnung, Miss?“, fragte sie. „Ich habe schon den ganzen Tag immer wieder versucht, nach Ihnen zu sehen.“ Die Zofe streckte eine blasse Hand aus und tätschelte zögernd den elend wirkenden Deckenhaufen.

Deborah fühlte sich von ihren wohlmeinenden Freundinnen bedrängt. Am liebsten hätte sie sie angebrüllt, verlangt, dass sie sie in Ruhe ließen, aber sie wusste nicht, wie sie ihre Wünsche zum Ausdruck bringen sollte. Niemand hatte ihr je beigebracht, sich so zu benehmen; zu schreien wurde als höchst undamenhaft angesehen. Sie rollte sich enger unter der Decke zusammen und tat so, als hörte sie die anderen nicht.

„Sie antwortet nicht“, stellte Lucy fest, die nun ernsthaft besorgt klang.

„Bitte, Deborah“, sagte Phoebe. „Rede mit uns. Bist du krank?“

Deborah war klar, dass sie irgendwann nachgeben müsste. Widerwillig zwang sie sich, sich hinzusetzen, und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Reihe Kissen mit Bezügen aus belgischem Leinen. Drei Gesichter, ihr so vertraut wie lieb, musterten sie. Sie waren wunderschön anzusehen, vielleicht, weil sie alle so unterschiedlich waren. Lucy war schwarzhaarig, Kathleen hatte rote Haare und Phoebe hellbraune Locken. Der Gesichtsausdruck der drei verriet dieselbe Unschuld und Vorfreude, die Deborah selbst gestern noch verspürt hatte.

„Ich bin nicht krank“, sagte sie leise, und erkannte selbst kaum die eigene Stimme.

„Du siehst aus wie die Hölle“, erklärte Lucy in ihrer gewohnten Unverblümtheit.

Weil ich dort gewesen bin.

„Ich werde den Arzt rufen.“ Kathleen ging zur Tür.

„Nein!“ Deborahs scharfer Tonfall hielt die Zofe auf. Ein Arzt war unvorstellbar. „Das heißt“, beeilte sie sich zu sagen, „ich versichere euch, ich bin überhaupt nicht krank.“ Um das zu beweisen, gab sie sich einen Ruck, stieg aus dem Bett und stellte sich barfuß in die Zimmermitte.

„Nun, das ist eine Erleichterung.“ In ihrer herrischen Art fasste Phoebe sie bei der Hand und zog sie freundschaftlich mit sich. Deborah stolperte hinter ihr her und betrat so den hell erleuchteten Salon.

„Ich denke, du bist einfach überwältigt, weil du in weniger als zwei Wochen eine verheiratete Frau sein wirst.“ Phoebe ließ ihre Hand los und lächelte verträumt. „Du hast ja so ein fabelhaftes Glück. Wie kannst du nur im Bett liegen in einer derart verzauberten Zeit? Wenn ich mit jemandem wie Philip Ascot verlobt wäre, würde ich vor Aufregung kaum still sitzen können. In der Woche, bevor meine Schwester Mr. Vanderbilt geheiratet hat, hat meine Mutter gerne Witze darüber gemacht, dass ihre Tochter eigentlich einen Anker benötige, um mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben.“

Deborah wusste, Phoebe wollte sie mit diesen Worten nicht verletzen. Deborah war mutterlos aufgewachsen, das bedauernswerteste Schicksal auf Erden, und in einer Situation wie dieser schmerzte der Verlust wie eine klaffende Wunde. Sie fragte sich, was eine junge Frau, die eine Mutter hatte, in dieser Lage tun würde.

„Also“, verkündete Lucy, „lass uns rasch machen. Wir möchten ja keinesfalls zu spät kommen.“

Wie durch einen Nebel der Gleichgültigkeit betrachtete Deborah die Suite mit dem Durcheinander aus Kämmen, Parfümzerstäubern, Spitzenunterwäsche, Bändern und Unmengen Unterröcken – eine Galerie der Weiblichkeit. Normalerweise hätte sie sich an diesem Anblick erfreut, aber jetzt war alles anders. Plötzlich bedeuteten ihr all diese Dinge nichts mehr. Sie hatte das seltsame Gefühl, wie in Eis eingeschlossen zu sein und ihre Freundinnen durch eine Wand gefrorenen Wassers zu sehen. Das Gefühl der Einsamkeit und der Verlorenheit verfestigte sich mit jedem Moment, der verstrich. Gewöhnlich war sie einfach eine von den jungen Damen an Miss Boylans berühmtem Mädchenpensionat, fröhlich, unbekümmert und sich ihres Platzes in der Welt von Chicagos Debütantinnen sicher. Jetzt erschien ihr das alles so künstlich, so witzlos. Sie fühlte sich ihren Freundinnen entfremdet und von dem zufriedenen albernen jungen Ding, das sie früher gewesen war.

„Und was ist mit dir, liebe Kathleen?“, fragte Phoebe, und warf der rothaarige Zofe einen vielsagenden Blick zu. Phoebe nutzte jede sich bietende Gelegenheit, Kathleen daran zu erinnern, dass sie zur Dienerschaft zählte und nur hier leben durfte dank der Großzügigkeit junger Damen aus gutem Hause, wie sie selbst es war. „Was hast du heute Abend vor?“

Kathleen O’Leary wurde tiefrot. Sie hatte die blasse, fast durchscheinende Haut der Iren, und die verriet jedes ihrer Gefühle. „Sie haben mir eine hübsche Unordnung hinterlassen, Miss, die ich jetzt beseitigen muss. Und das wird mich gewiss bis zum ersten Hahnenschrei beschäftigen.“ Keck wie immer betonte sie ihren Dialekt absichtlich.

„Du solltest mit uns kommen, Kathleen.“ Lucy, deren Familie sie zum Freidenkertum erzogen hatte, scherte sich kein bisschen darum, welcher Herkunft jemand war, aber sie wusste, dass wichtige Leute heute Abend bei der Veranstaltung zugegen sein würden. Die Politiker, Industriellen und Gesellschaftsreformer waren wertvolle Kontakte für ihr großes Ziel – mehr Rechte für Frauen.

„Wirklich, Lucy“, schalt Phoebe. „Nur die besten Bürger der Stadt sind geladen. Dr. Moodys Lesungen sind ausschließlich für …“

„Die Einladung gilt für jede junge Dame bei Miss Boylan“, hielt Lucy entschieden dagegen, die sowohl reich als auch unbedarft genug war, sich für Gleichberechtigung einzusetzen.

„Unsinn“, erklärte Kathleen und wurde noch röter.

„Vielleicht solltest du uns wirklich begleiten“, antwortete Phoebe mit einem berechnenden Funkeln in den Augen. „Es könnte Spaß machen, alle mit einer geheimnisvollen jungen Dame zu überraschen.“

Die alte Deborah wäre von dieser Idee begeistert gewesen. Denn die lebhafte, kluge Kathleen bereicherte die oft genug ermüdende Routine gesellschaftlicher Ereignisse mit scharfsinnigen Beobachtungen. Darüber nachzudenken war Deborah jetzt jedoch zu viel; sie strich sich mit zitternder Hand über die Stirn. Die Zelluloid-Haarnadeln, die zu entfernen sie sich gestern Abend erspart hatte, verstärkten die Kopfschmerzen in einem Maß, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste. Der Schmerz pochte so heftig in ihren Schläfen, als ob die Nadeln pulsierten oder gar lebendig wären.

„Phoebe hat recht, Kathleen“, sagte Lucy in dem Moment. „Es wird solchen Spaß machen. Bitte komm mit.“

„Ich habe nichts anzuziehen, das mich nicht sofort als Hochstaplerin entlarven würde“, erwiderte Kathleen, aber ihr Protest vermochte die Sehnsucht in ihrer Stimme nicht zu verbergen. Die gute Gesellschaft hatte sie immer schon insgeheim fasziniert.

„Doch hast du.“ Nur mit Mühe gelang es Deborah, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. „Du kannst mein neues Kleid tragen. Ich brauche es nicht.“

„Dein Kleid von Worth?“, fragte Phoebe. Auf Wunsch ihres Vaters stammten Deborahs Kleider alle aus dem Salon de Lumière in Paris. „Um Himmels willen, das hast du ja noch nie angehabt.“

„Und das werde ich auch nicht.“ Deborah achtete darauf, so ruhig wie möglich zu klingen, auch wenn sie am liebsten geschrien hätte. „Ich muss in die Stadt fahren, um meinen Vater zu sehen.“ Sie konnte selbst nicht sagen, wann genau sie das beschlossen hatte, aber jetzt stand es für sie fest. Sie hatte etwas unendlich Wichtiges mit ihm zu besprechen. Und es ließ sich nicht länger aufschieben.

„Du kannst heute Nacht nicht in die Stadt“, rief Phoebe. „Sei nicht albern. Wer sollte dich begleiten?“

„Komm einfach mit uns“, meinte Lucy sanft. „Komm mit zur Lesung, und danach fahren wir mit dir zu deinem Vater. Philip Ascot wird ebenfalls heute Abend bei dem Vortrag sein, nicht wahr? Er wird mit deinem Kommen rechnen und auf dich warten. Was, um alles auf der Welt, sollten wir ihm nur sagen?“

Der Name ihres Verlobten umwehte Deborah wie ein eisiger Wind. „Ich werde mich entschuldigen.“

„Du bist gar nicht du selbst.“ Lucy berührte sie am Arm, und die leichte Geste der Zuneigung reichte beinahe aus, Deborah die Beherrschung verlieren zu lassen. „Wir werden ja verrückt vor Sorge, wenn du uns nicht sagst, was eigentlich los ist.“

Phoebe streckte einen Fuß aus, sodass Kathleen ihr den Ziegenlederstiefel zuknöpfen konnte. „War es die Oper gestern Abend? Du warst bester Stimmung, als du gegangen bist, aber heute bist du den ganzen Tag im Bett geblieben. Hat dir Don Giovanni nicht gefallen?“

Deborah wandte sich ab, als eine Welle der Übelkeit sie erfasste. Die Noten von Mozarts Meisterwerk hatten sich auf ewig in ihr Gedächtnis gebrannt.

„Es ist der Monatsfluss, nicht wahr?“, flüsterte Kathleen, schenkte Phoebes Stiefel keine weitere Beachtung. „Sie haben dabei immer unter schlimmen Schmerzen gelitten. Lassen Sie mich hierbleiben und Ihnen eine heiße Milch zubereiten.“

„Das ist es nicht“, sagte Deborah matt.

Lucy legte eine Hand flach auf die Tür und lehnte sich dagegen. „Das hier passt gar nicht zu dir. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, solltest du es uns lieber sagen.“

Es ist alles in Ordnung. Sie wollte die Worte aussprechen, aber sie konnte einfach nicht – weil sie gelogen gewesen wären. Nichts war in Ordnung, und nichts konnte mehr wie früher sein. Aber wie sollte sie das ihren besten Freundinnen begreiflich machen?

„Es ist eine private Angelegenheit“, meinte sie schwach. „Bitte. Ich werde alles erklären, wenn ich zurückkomme.“

„Ach, du willst ja nur geheimnisvoll tun“, ereiferte sich Phoebe. „Du versuchst bloß wieder, dich wichtigzumachen und alle Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen, wenn du mich fragst.“

„Niemand hat dich gefragt“, erwiderte Lucy streng.

Phoebe regte sich noch eine Weile weiter auf, aber die anderen hörten ihr nicht mehr zu. Obwohl sie von Beginn an mit ihnen zusammen die Schule besucht hatte, grenzte sie sich gerne von ihnen ab. Ihre Familie war beinahe so reich wie Deborahs Vater und beinahe so blaublütig wie Lucys, und offenbar hatte sie daraus geschlossen, dass diese beiden „Beinahe“ sie über ihre Freundinnen stellten. Sie war ein schrecklicher und unverbesserlicher Snob, gewöhnlich gutmütig, auch wenn ihre Bemerkungen zu Kathleen O’Leary manchmal grenzwertig boshaft waren. Phoebe war der festen Überzeugung, dass man nicht einfach auf ein exklusives gesellschaftliches Ereignis verzichtete. In ihren Augen zeigte die leidige Situation nur wieder die Unterlegenheit eines Mädchens wie Deborah Sinclair. Neureiche verstanden einfach nicht, wie bedeutsam es war, die richtigen Anlässe mit den richtigen Leuten zu besuchen.

„Ich werde am besten meinen Kutscher rufen“, sagte Deborah.

Lucy gab die Tür frei. „Ohne dich wird es nicht dasselbe sein.“

Deborah biss sich auf die Unterlippe, fürchtete, dass das Mitleid ihrer besten Freundin die Eisbarriere zum Schmelzen bringen könnte, die sie so sorgfältig zwischen Gefasstheit und Wahnsinn errichtet hatte. „Hilf Kathleen bitte mit dem Kleid“, sagte sie in der Hoffnung, von sich abzulenken.

Nachdem sie ihre Kutsche bestellt hatte, streifte Deborah sich ein einfaches blaues Sergekleid über, knöpfte es zu und schlang sich einen Schal um die Schultern. Ihre Füße steckte sie in italienische Ziegenlederstiefelchen, allerdings verzichtete sie darauf, sie zu schnüren, sondern wickelte sich einfach die Schnürsenkel ein paar Mal um die Knöchel. Schließlich stülpte sie sich noch einen Hut auf.

Im Salon nebenan kleideten die anderen sich wesentlich sorgfältiger an. Kathleen, deren Augen vor verbotener Freude leuchteten, schlüpfte in das französische Kleid, und ihre Unterwäsche aus grobem Leinen verschwand unter mehreren Lagen kostbarster Unterröcke. Das Kleid aus smaragdfarbener Seide und ihr irischer Teint verliehen ihr das Aussehen einer keltischen Prinzessin, und ihr Gesicht glühte vor Aufregung.

Bevor sie ging, machte Deborah einen Schritt nach hinten und betrachtete die Szene vor sich, sah sie zum ersten Mal wie durch die Augen eines außenstehenden Beobachters. Gegen den Widerstand ihres Vaters hatte sie sein prächtiges Stadthaus verlassen und ihre Zimmer dort gegen die Suite hier in den soliden neugotischen Mauern von Miss Boylans Pensionat eingetauscht. Ihr Vater war der Ansicht, die beste Erziehung erhielten junge Damen zu Hause. Nachdem er jedoch erfahren hatte, dass eine Hathaway und eine Palmer ebenfalls dort sein würden, hatte er nachgegeben und Deborah erlaubt, ihre Erziehung zu einer eleganten jungen Dame in dieser exklusiven Schule für höhere Töchter abzuschließen. Voller Zuneigung betrachtete sie Lucy, Kathleen und Phoebe, die ihre vertrautesten Gefährtinnen waren und – so überlegte sie – vermutlich ihre einzigen Freundinnen. Sie hatten zu viert alles geteilt – ihre Hoffnungen und Träume, ihre gebrochenen Herzen und die romantischen Triumphe.

Jetzt jedoch war Deborah mit etwas konfrontiert, das sie mit ihren Freundinnen nicht teilen konnte. Es ging einfach nicht. Es war zu schlimm. Außerdem musste sie es ihrem Vater sagen. Das war unumgänglich. Lieber Gott, betete sie stumm. Mach, dass er mich versteht, bitte. Nur dieses eine Mal.

„Ich wünsche euch einen wunderschönen Abend“, rief sie von der Tür aus, eine Hand schon auf der Türklinke. „Ich will nachher alles über Kathleens Debüt haarklein erzählt bekommen.“ Das Sprechen fiel ihr schwer, da ihre Kehle vor Angst wie zugeschnürt war.

Kathleen eilte zur Tür. „Miss Deborah, sind Sie sicher, dass …“

„Absolut.“ Das Wort war nicht mehr als ein Hauch.

„Jetzt lasst die Arme doch gehen“, verlangte Phoebe zerstreut. Sie hob einen Arm mit der Anmut einer Ballerina und streifte sich einen Seidenhandschuh über. „Wenn ihr herumsteht und den ganzen Abend streitet, kommen wir noch zu spät.“

Sie und Lucy waren sich nicht einig, wie Kathleens Haar frisiert werden sollte, und Deborah nutzte die günstige Gelegenheit, aus dem Salon zu schlüpfen. Über den Korridor lief sie in das höhlenartige Foyer, wo ihr Kutscher auf sie wartete. Draußen sah sie die schwerfällige Schulkutsche, vor die gerade ein Paar kräftiger Pferde gespannt wurde. Auf den schwarz lackierten Türen prangte das Wappen der Schule.

Deborahs privater bismarckbrauner Clarence mit den glänzenden Glasfenstern vorne und hinten wartete am Straßenrand dahinter. Dank des Hangs ihres Vaters, aus seinem Reichtum kein Geheimnis zu machen, stand ihr das teure Gefährt samt erfahrenem Kutscher und spanischem Pferd stets zur Verfügung. Binnen weniger Minuten war sie unterwegs.

Sie umfasste die Lederschlaufe an der Seite im Inneren der Kutsche, um durch das Schaukeln nicht hin und her geworfen zu werden. Als sie von der Schule mit ihren zahllosen Türmchen und Erkern und dem schmiedeeisernen Tor fortfuhr, fühlte sie sich wie Rapunzel, die ihrem Turmgefängnis entkommen war. Kleine Farmen und Bauernhöfe zogen am Kutschenfenster vorbei, niedrige Häuser, die sich in die Prärielandschaft mit ihren alten Obstgärten und windzerzausten Getreidefeldern duckten. Lichter glommen in den Fenstern, bei deren Anblick sie einen Stich verspürte. Sie stellte sich die Familien darin vor, wie sie sich zum Abendessen um den Tisch versammelten. Deborah hatte solche Familien nur von Weitem beobachtet, glaubte aber, dass sie eine Vertrautheit und Herzlichkeit miteinander verband, wie sie sie in dem förmlichen Klima ihres Vaterhauses nie erlebt hatte.

Sie verdrängte die alte Sehnsucht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Vorteile genossen, von denen die meisten Frauen gar nicht zu träumen wagten. Arthur Sinclair hatte die Zukunft seiner Tochter mit derselben Sorgfalt und Aufmerksamkeit für Details vorbereitet, mit der er seine Geschäfte abwickelte. Seine Rivalen verunglimpften ihn wegen seiner Aggressivität und seines Ehrgeizes, aber Deborah konnte nicht beurteilen, ob sie recht hatten – sie wusste wenig über seine Fabriken und Geschäftsbeteiligungen. Ihrem Vater war es so lieber.

Die Fahrt nach Chicago dauerte nicht lange. Jeremy, der ihr seit ihrem dritten Lebensjahr als Kutscher diente, lenkte das Gefährt erfahren über die langen geraden Straßen, die die Innenstadt durchschnitten. Er lebte in einem Gartenhaus am Nordarm des Chicago River. Er hatte eine rundliche Frau und eine erwachsene Tochter, die kürzlich geheiratet hatte. Deborah fragte sich, was Jeremy wohl tat, wenn er zu ihnen heimkam, spät in der Nacht. Berührte er seine schlafende Frau oder entzündete er einfach eine Lampe und schaute sie einen Moment lang an? Wachte sie auf oder seufzte sie nur im Schlaf und drehte sich zur Wand?

Deborah ließ ihre Gedanken absichtlich schweifen, um nicht an die schwere Aufgabe denken zu müssen, die ihr bevorstand. Rastlos rutschte sie auf ihrem Sitz umher, ließ die Lederschlaufe los, hielt sich die Hände wie ein Fernglas vor die Augen und beugte sich vor, um durch die Glasscheibe zu schauen, als Chicago in Sicht kam. Gewöhnlich war die Luft näher am See kühler, aber heute Abend hielt sich die Hitze noch lange nach Sonnenuntergang.

Das weißlich verschwommene Licht der Gaslaternen beleuchtete die geraden Hauptstraßen. Die Kutsche überquerte den Fluss, rollte an dem eleganten Hotel vorbei, in dem die Lesung heute Abend stattfand. Es waren bereits mehrere gut gekleidete Menschen versammelt. Livrierte Portiers eilten unter dem Stoffbaldachin vor dem Hotel auf und ab, der in dem heftigen Wind hin und her schlug. Riesige Pflanzen in Töpfen standen zu beiden Seiten des gläsernen Eingangs, und innen strahlte ein ausladender Kronleuchter wie die Sonne. Der vergoldete Käfig der guten Gesellschaft war die einzige Welt, die Deborah je gekannt hatte, aber es war eine Welt, in der sie sich nicht länger sicher fühlte. Es erschien ihr unmöglich, jetzt das Hotel zu betreten.

Traditionell für den zweiten Sonntag im Monat angesetzt besaßen die interessanten Vorträge und lebhaften Diskussionen gewöhnlich einen besonderen Reiz für sie. Sie liebte es, Menschen herausgeputzt zu sehen, die zufrieden stärkende Getränke zu sich nahmen, während sie lachten und Gespräche führten. Sie genoss die angeregten Unterhaltungen und den Klatsch. Aber letzte Nacht war Deborah dieser Zauber gestohlen worden.

Egal. Heute Abend, das schwor sie sich, würde sie sich ihre Seele zurückholen.

Sie erschauerte in dem Bewusstsein, dass diese Veranstaltung auszulassen erst der erste Akt der Auflehnung sein würde, den sie heute begehen würde. Nie zuvor hatte sie eine Rebellion angezettelt, und sie wusste nicht, ob ihr Erfolg beschieden sein würde.

Als die Kutsche den Weg über die Michigan Avenue nahm, musste Jeremy langsamer fahren, weil so viele Menschen zu Fuß unterwegs waren; Karren, Gespanne und ganze Familien bevölkerten die Straßen. Sie schienen alle zur Rush-Street-Brücke zu wollen, die den Fluss überspannte. Trotz der späten Stunde hatte sich eine Menschenmenge am kleinen Stadion der Chicago White Stockings versammelt.

Deborah klopfte gegen die Scheiben vorne und rief Jeremy zu: „Ist alles in Ordnung, Jeremy?“

Er antwortete ein paar Augenblicke lang nicht, während er die Kurve zur River Street meisterte und zur nächsten Brücke nach Westen fuhr. Ihnen begegneten immer mehr Menschen, die wie ein Strom im flackernden Licht der Kutschenlampen dahinwogten. Deborah drehte sich auf der gepolsterten Bank um, um einen Blick durch die hintere Fensterscheibe zu werfen. Die Leute waren größtenteils sorgfältig gekleidet, und obwohl niemand trödelte, so hatte es auch niemand erkennbar eilig. Sie erinnerten an Theaterbesucher, die das Schauspielhaus verließen. Dennoch wirkte es seltsam, dass so viele Menschen an einem Sonntagabend auf den Straßen waren.

„Es heißt, in der West Division wütet ein großes Feuer“, berichtete Jeremy ihr schließlich durch das Sprechrohr. „Jede Menge Leute mussten evakuiert werden. Ich habe sie gleich zu Hause, Miss, keine Sorge.“

Sie wusste, Kathleens Eltern wohnten in der West Division, wo sie ein paar Milchkühe hielten. Sie hoffte, den O’Learys ging es gut. Die arme Kathleen. Heute Abend sollte sie sich amüsieren, ihren Spaß haben und den Streich genießen, den sie der Gesellschaft spielte, aber ein großer Brand konnte das alles gefährden.

Sie fragte sich, ob Dr. Moodys Lesung wohl abgesagt werden würde wegen des Feuers. Vermutlich nicht. Die Brandschutzbehörde von Chicago rühmte sich der jüngsten Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Feuermelder und der Brandbekämpfung, wozu auch Hydranten, dampfbetriebene Pumpen und ein ausgeklügeltes System für die Meldung von Bränden sowie eine Reihe von Nebenstellen der Feuerwache gehörten. Viele der Gebäude aus Stein und Stahl galten als feuerfest. Die Elite der Stadt würde sich vermutlich in die nördlichen Stadtteile in Sicherheit bringen, sich angenehm die Zeit vertreiben, während die Feuerwehr die Feuersbrunst in der Ferne unter Kontrolle brachte und schließlich löschte.

Sie starrte zu dem unnatürlichen Lichtschein im Westen. Ihr stockte der Atem – nicht vor Angst, sondern vor Staunen angesichts des ungewohnten, beeindruckenden Anblicks. Der Horizont leuchtete hell wie am Morgen. Doch dem Himmel fehlte die Unschuld des neuen Tageslichts, und in der Gegend jenseits des Flusses regneten Flammen vom Himmel, so dicht wie Schneeflocken in einem Blizzard.

Ein ungutes Gefühl erfasste sie, aber sie schob es beiseite. Das Feuer würde aufhören, wenn es den Fluss erreichte. Viel stärker beschäftigte Deborah die Frage, wie sie ihren Vater dazu bewegen konnte, sie zu verstehen und ihre Entscheidung zu akzeptieren.

Die Kutsche wurde langsamer, rollte aus und blieb vor dem steinernen Stadthaus ihres Vaters stehen. Umgeben von Grünflächen und Gärten nahm das schlossartige Anwesen mit seinen Außengebäuden beinahe einen ganzen Straßenblock ein. Es gab einen Fischteich, auf dem im Winter Schlittschuh gelaufen werden konnte. Das Gebäude selbst hatte neoklassizistische Säulen nach griechischem Vorbild und ein Mansardendach, wie es in Mode war, in französischem Stil. Eine große Kuppel mit einem schlanken Blitzableiter erhob sich in den Himmel. Eine gefällig geformte Veranda säumte die Front des Hauses, von der eine breite Treppe zur Auffahrt davor hinunterführte.

„Sie sind zu Hause, Miss“, verkündete Jeremy. Seine Schritte knirschten auf der Kiesauffahrt, als er zum Kutschenschlag kam, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

Noch nicht einmal in einem gefühlsbetonten Moment hätte Deborah das Anwesen in der Huron Avenue als ihr Heim bezeichnet. Das riesige Gebäude erinnerte viel mehr an eine öffentliche Einrichtung, wie beispielsweise eine Bibliothek oder ein Krankenhaus. Oder eine Irrenanstalt.

Diesen wenig loyalen Gedanken unterdrückend saß sie in der immer noch leicht schaukelnden Kutsche, während Jeremy die Stufen herabließ, die Tür öffnete und ihr eine Hand hinhielt. Heftige Windböen wehten welke Blätter über die Wege und gegen die Mauern.

Selbst durch ihre Handschuhe konnte sie spüren, dass Jeremys Hände eiskalt waren, und Deborah betrachtete ihn überrascht. Obgleich er sich bemühte, eine ausdruckslose Miene zu zeigen, lag um seinen Mund eine gewisse Anspannung, und er blickte immer wieder zum Himmel, der vom Feuer erhellt wurde.

„Sie fahren besser gleich zu Ihrer Frau nach Hause“, sagte sie. „Sie wollen sich sicher davon überzeugen, dass es ihr gut geht.“

„Sind Sie sich sicher, Miss?“ Jeremy war sichtlich unwohl zumute. „Es ist meine Pflicht, hierzubleiben und …“

„Unsinn.“ Das war die eine Entscheidung, die sie heute Nacht zweifelsfrei allein treffen konnte. „Ihre erste Pflicht gilt Ihrer Familie. Gehen Sie schon. Ich würde mir die ganze Nacht Sorgen machen, wenn Sie nicht hinfahren.“

Er nickte ihr dankbar zu, und als er die schwere Eingangstür aufdrückte, schimmerte die Litze auf der zu seiner Livree gehörenden Schirmmütze in dem bedrohlichen Lichtschein am Himmel. Deborah betrat das Vestibül des Hauses, nahm die Pracht um sich herum wahr. Dienstboten eilten herbei, um sie in Empfang zu nehmen – drei Hausmädchen in Schwarz und Weiß, zwei Diener in marineblauer Livree, die stattliche große Haushälterin, der Butler wie stets würdevoll und gesetzt. Während sie durch das Spalier der Dienerschaft schritt, war die Begrüßung überaus respektvoll – niemand schaute ihr einfach ins Gesicht, niemand lächelte.

Arthur Sinclairs Bedienstete waren immer gut verpflegt, sauber und ordentlich gekleidet, und die meisten von ihnen waren sich auch des Umstandes durchaus bewusst, dass nicht alle Hausangestellten in Chicago in den Genuss einer solchen Grundversorgung kamen. Zu seiner ewigen Qual und Schande hatte Arthur Sinclair einmal selbst zu dieser Unterschicht gehört. Obwohl er nicht darüber sprach, verstand er die teilweise prekäre Lage der Unglücklicheren sehr gut.

Sie hoffte nur, er werde ebenso viel Verständnis für seine eigene Tochter aufbringen. Das brauchte sie jetzt nämlich.

„Ist mein Vater zu Hause?“, erkundigte sie sich.

„Gewiss, Miss. Oben in seinem Arbeitszimmer“, antwortete der Butler. „Möchten Sie, dass Edgar Sie ankündigt?“

„Das wird nicht nötig sein, Mr. Marlowe. Ich werde mich direkt nach oben begeben.“ Sie ging an den schweigenden Dienern vorbei und überließ im Vorübergehen Hut und Handschuhe einem Hausmädchen. Sie spürte die unausgesprochenen Fragen, die ihr schlichtes Kleid, der einfache Schal und der wenig kunstvolle Zopf, zu dem sie ihr Haar geflochten hatte, aufwarfen. Die steife Atmosphäre war Deborah gewöhnt, aber sie hatte es nie besonders gemocht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Dienerschaft zu stehen. „Danke“, sagte sie. „Das ist dann alles.“

„Wie Sie wünschen.“ Marlowe verneigte sich und machte einen Schritt nach hinten.

Winkend und unter dem Klimpern des Schlüsselbundes an ihrer Taille entfernte sich die Haushälterin mit den restlichen Dienstboten. Durch die Türen, die sich kurz öffneten und rasch wieder schlossen, konnte Deborah sehen, dass Wertgegenstände in Kisten und Truhen verpackt wurden. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen des Feuers, vermutete sie.

Sie stand allein in dem hallenartigen Vestibül mit der Glaskuppel drei Stockwerke über ihr, und Deborah war sogleich unerklärlich kalt. Das Haus bestand aus einem endlosen Labyrinth aus Fluren und Zimmern – Salons und Gesellschaftsräumen, Musikzimmern, einer Gemäldegalerie, Speisezimmern, dem Ballsaal, Wintergarten und Gästezimmern. Sie hatte nie gezählt, wie viele Räume es waren. Das Haus war, in jeder Bedeutung des Wortes, das Denkmal eines Handelsfürsten; sein einziger Zweck bestand darin, der Welt zu verkünden, dass Arthur Sinclair da war.

Lieber Himmel, dachte Deborah, wann bin ich so zynisch geworden?

Dabei konnte sie sehr wohl den Augenblick benennen, in dem es geschehen war. Aber das war etwas, das sie nur sich selbst gegenüber eingestehen würde.

Wie durch einen feinen Schleier fiel das Licht der Gaslampen auf das Schachbrettmuster des Marmorbodens. Eine Alabasterstatue von Narcissus, der auf ewig Wasser in ein riesiges weißes Marmorbecken goss, stand in der Kurve der prächtigen Treppe; für einen Moment betrachtete Deborah seine leeren Augen.

Neben der Treppe befand sich etwas recht Neumodisches – ein mechanischer Lift. Im Prinzip funktionierte er wie die großen Getreideaufzüge an den Beladestationen der Eisenbahn oder am Seeufer. Ein System aus Flaschenzügen bewirkte, dass die kleine Kabine hoch oder runter fuhr. Ihr Vater hatte ein lahmes Bein, eine Verletzung aus dem Krieg vor einem Jahrzehnt, und es fiel ihm sehr schwer, Treppen hochzusteigen oder hinabzugehen.

Deborah erinnerte der Aufzug stets an einen riesigen Vogelkäfig. Obwohl die Gitterstäbe mit kostbarem Blattgold überzogen waren, waren es dennoch Gitterstäbe. Als sie das erste Mal in dem vergoldeten Käfig gestanden hatte, hatte sie unvermittelt schreckliche Angst verspürt, als wäre sie gefangen. Bei dem Gefühl, von den dicken Kabeln nach oben gezogen zu werden, hatte sich ihr der Magen verdreht. Nach dieser einen unbehaglichen Fahrt hatte sie es stets vorgezogen, die Treppe zu nehmen.

Das handgeschnitzte Geländer der großzügig geschwungenen Treppe war gewachst und poliert, dass es nur so glänzte. Sie ließ ihre Hand über die glatte Oberfläche gleiten und erinnerte sich daran, wie perfekt sie auf dem Geländer hatte rutschen können. Das war der einzige Akt der Auflehnung in ihrer Kindheit gewesen. Gleich, wie viele Male ihre Kinderfrau oder ihre Lehrerin oder gar ihr Vater sie deswegen gescholten hatten, sie hatte auf die Turnübungen auf dem Geländer nicht verzichtet. Die Versuchung war einfach zu groß gewesen, sich mit einer Pobacke auf das Geländer zu setzen, das Gleichgewicht auszubalancieren und dann mit Schwung hinabzusausen, dabei immer schneller zu werden. Ihre Landungen waren nicht immer sanft gewesen, was zahlreiche blaue Flecken bewiesen hatten, aber die kleineren Blessuren waren ihr nie als sonderlich hoher Preis für die wilde Freude der Rutschpartie erschienen.

Anders als bei so vielen anderen Dingen war es ihrem Vater nicht gelungen, es ihr abzugewöhnen. Er hatte ihr in allem strenge Vorschriften gesetzt, aber in ihr glomm nach wie vor ein rebellischer Funke des Übermuts, den er nie hatte ersticken können.

Deborah begann die Stufen hochzusteigen. Das Arbeitszimmer diente Arthur Sinclair zur Erledigung seiner Geschäfte, und er arbeitete dort bis spät in die Nacht, widmete sich mit demselben Eifer seiner Arbeit wie ein Mönch seinen Meditationsgebeten. Er betrachtete das Anhäufen von Reichtum und Ansehen als seinen Weg zur Erlösung. Aber es gab eine Sache, die ihm all sein Geld und sein Einfluss nicht kaufen konnten – das Gefühl, zu der oberen Gesellschaftsschicht zu gehören, die auf Menschen wie ihn herabblickte. Um diesen Respekt zu erlangen, war mehr nötig als Geld. Dafür brauchte er Deborah.

Sie fröstelte wieder, obwohl es im Haus unangenehm warm war, und ging langsam die Treppe hinauf. Sie kam an wunderschön gemalten Porträts in verschnörkelten und vergoldeten Bilderrahmen vorbei. Die Gemälde zeigten ehrwürdige Vorfahren, manche stammten sogar aus der Zeit der Mayflower oder waren noch älter. Leider nur zeigten die Bilder Fremde, Ahnen anderer Familien. Sie hatte sich früher immer Geschichten ausgedacht rund um die streng schauenden Aristokraten, die erstarrt in den Gold schimmernden Rahmen hingen. Einer war ein Abenteurer, ein anderer ein Seemann, wieder ein anderer ein bedeutender Diplomat. Es waren alles Männer, die etwas mit ihrem Leben angefangen hatten, statt von dem Vermögen ihrer Vorfahren zu zehren.

Sie würde nie begreifen, warum ihr Vater es als weniger ehrenwert ansah, dass er sich seinen Reichtum erarbeitet hatte, statt ihn geerbt zu haben. Sie hatte ihn einmal gefragt, aber seine Antwort nicht verstanden. „Ich möchte ein Gefühl von Dauerhaftigkeit in der Welt haben“, hatte er gesagt. „Ein Gefühl, dass ich nur das Beste von allem zusammengetragen habe. Ich möchte etwas erreichen, das viel länger Bestand hat als meine eigene kurze Lebensspanne.“

Es war ein wahnsinniges Unterfangen, Geld aufzuwenden, um die Dinge zu erstehen, die zu sammeln und anzuhäufen andere Familien Generationen benötigt hatten, aber er betrachtete es als eine Art heilige Pflicht.

Sie kam am oberen Ende der Treppe an und hielt inne, die Hand auf dem gedrechselten Treppenpfosten. Kurz blickte sie zurück, folgte mit den Augen dem Verlauf des Geländers. Durch das Glas im Oberlicht über der Eingangstür flackerte ein unheimliches Leuchten über den Himmel. Das Feuer. Sie hoffte, die Feuerwehr würde es bald eindämmen können.

Aber sie vergaß das Feuer auf der anderen Seite des Flusses und alles, was damit zusammenhing, während sie über den Korridor zum Arbeitszimmer ihres Vaters ging. Ein kalter Schauer durchlief sie, der eine Warnung in sich trug: Man widersetzte sich nicht den Wünschen von Arthur Sinclair.

2. KAPITEL

Tom Silver traf in Chicago mit Mord im Sinn ein. Von windgepeitschten Wellen gehoben, schwankte das Deck des kleinen Kutters unter seinen Füßen. Er wusste, es würde nicht leicht werden, das Ufer in dem winzigen Beiboot zu erreichen, aber das war ihm gleichgültig. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Doch als er die Stadt in Flammen stehen sah, verharrte er und hörte auf, sich die Ersatzpatronen in die Schlaufen an seinem Gürtel zu stecken. Fasziniert starrte er auf die orangefarbene Feuerkuppel über der Stadt. Der unnatürliche Bogen aus Licht und Flammen wirkte so unheimlich, dass er einen Augenblick lang alles vergaß, auch die eiskalte Wut, die ihn hierher getrieben hatte.

„Hey, Lightning“, rief er und stampfte mit dem Fuß auf das Deck, um seinen Gefährten zu sich zu rufen, der im Maschinenraum war. „Komm und schau dir das hier an.“

Der Kutter Suzette hielt weiter tuckernd Kurs auf sein Ziel am Government Pier. Dessen Spitze markierte ein Leuchtturm, aber es fiel Tom schwer, sich auf das Kurshalten zu konzentrieren. Beim Anblick der brennenden Stadt krampfte sich sein Magen zusammen, und sein Herz klopfte wild in seiner Brust. Er konnte nicht über die Tragödien nachdenken, die sich heute Nacht zutragen würden, herbeigeführt durch den raschen und gleichgültig brutalen Schlag des Schicksals. So war Feuer – zufällig und gnadenlos.

Und verdammt unpassend, wenn er an den Grund seiner Fahrt heute dachte. Er war Hunderte Meilen weit hergekommen, aus den menschenleeren Weiten der Gegend des Lake Superior, um Arthur Sinclair zu stellen. Er würde sich nicht von einem Feuer aufhalten lassen.

Der Geruch nach Dampf und heißem Öl drang durch die Klappe im Deck, und das Dröhnen der Maschinen wurde lauter, als sie geöffnet wurde. „Was, zur Hölle, geht hier vor?“, fragte Lightning Jack und stieg durch die schmale Öffnung. Er beschattete seine Augen mit einer Hand und spähte zur Stadt. „Parbleu, das ist aber ein gewaltiges Feuer.“

„Ich nehme an, ich werde es mir heute Abend genauer ansehen können“, sagte Tom und machte sich an den Abstieg in den Maschinenraum.

Er zog an einem Hebel und drosselte den Kessel, dann kehrte er wieder an Deck zurück, um Lightning Jack dabei zu helfen, in dem tiefen Wasser Anker zu werfen. Obwohl es spät war, musste er seine Augen gegen den gleißenden Schein der Feuerbrunst schützen. Menschen hatten sich auf dem schmalen fingerförmigen Pier versammelt. Boote fuhren zwischen der Flussmündung und dem langen Dock hin und her. An manchen Stellen brannte das Feuer so nah am Ufer, dass die Menschen mit ihren Karren ins Wasser auswichen, um den lodernden Flammen zu entkommen. Aber alle hatten ihre Rücken dem See zugewandt; wie Tom auch hielt das Schauspiel der Stadt in Flammen sie alle in Atem.

Der skelettartige Turm des Great Central-Getreidehebers, umgeben von Rauchsäulen, warf einen langen schwarzen Schatten auf das aufgewühlte Wasser. Das Feuer fraß sich, getrieben vom Präriewind, tosend durch die Stadt, heiß und kraftvoll verschlang es die dicht stehenden Gebäude.

Tom hatte in seinem Leben schon viele Brände erlebt, aber nie einen wie diesen. Niemals einen, bei dem der Wind die Flammen auf seinen Armen zu tragen schien. Niemals einen Brand, der sich mit derart wütender Geschwindigkeit ausbreitete. Flammen bedeckten die Häuser und Geschäfte wie eine Decke, ein Gebäude nach dem anderen, einen Block nach dem nächsten. Er konnte den tödlichen dunkelroten Schimmer über der West Division sehen, der das Wasser des Flusses stellenweise in rotes Licht tauchte.

Tom Silver kannte Chicago nicht sonderlich gut, denn er hatte hier nicht viel Zeit verbracht, aber es war die größte Stadt, in der er je gewesen war. Sie wurde geformt durch das Seeufer und die Flussarme, auf denen stets reger Schiffsverkehr herrschte. Zehn Bahnlinien trafen in Chicago aufeinander, sechzehn Brücken überspannten den Fluss und den Kanal, und Hunderttausende Menschen lebten hier.

Jetzt jedoch stand das Herz der Stadt in Flammen. Das hier war das Inferno, wie das in den Geschichten aus dem Alten Testament, die er Asa immer vorgelesen hatte.

Der Gedanke an Asa erinnerte Tom wieder an den grimmigen Zweck seiner Reise. Heute würde er seine Rache bekommen. Nichts – noch nicht einmal die Flammenhölle – würde ihn daran hindern.

„Wartest du ab, bis es vorüber ist?“, fragte Lightning Jack in diesem Moment.

„Es ist sinnlos zu warten“, erklärte Tom. „Wenn das Feuer sich bis zur North Division ausbreitet, bevor ich dorthin gelange, verliere ich Sinclairs Spur garantiert.“

„Dann solltest du dich besser beeilen. Es könnte sich ja auch als günstig erweisen, was? Wenn das Haus brennt, wirst du dir keine Sorgen machen müssen, dass man Beweise findet.“

Tom schaute seinen alten Freund an, seinen Mentor, den Mann, der ihn aufgezogen hatte. Lightning Jack duBois hatte Tom als Fünfjährigen verlassen in einer Hütte in den nördlichen Wäldern gefunden, mit stumpfen Augen neben dem steifen Leichnam seiner Mutter hockend. Sie war verhungert, und Tom war auf bestem Wege gewesen, dasselbe Schicksal zu erleiden, doch der alte Mann hatte eingegriffen und sich fortan um ihn gekümmert.

Seit jenem lange zurückliegenden Tag hatte Tom Jack stets all seine Loyalität und sein Vertrauen geschenkt, so wie Asa es Tom entgegengebracht hatte.

„Was soll der Blick heißen?“ Lightning Jack schnitt eine Grimasse. „Willst du den Plan fallen lassen?“

„Das weißt du doch sicher besser.“ Tom fühlte sich hart und unerbittlich. Das Töten würde wie ein Reinigungsritual sein, ein Weg, seine Seele reinzuwaschen von der schwarzen Wut, die ihn innerlich auffraß. Wenigstens war es das, was er sich selbst immer wieder sagte.

Lightning Jack zog seine Brauen finster zusammen. „Es ist kein Verbrechen, sondern Wiedergutmachung.“

Arthur Sinclair war ein Mörder, auch wenn er sich seine eigenen weichen weißen Hände nicht schmutzig gemacht hatte, wenigstens in seinen Augen nicht. Er hatte Untergebene beauftragt, die Arbeit für ihn zu erledigen, aber er war so schuldig, als hätte er sieben Seelen höchstpersönlich ausgelöscht.

„Ich denke immer noch, du solltest mich mit dir kommen lassen“, verkündete Lightning Jack und legte eine Hand um den Griff seines Jagdmessers.

„Nein.“ Tom schnallte sich den Patronengürtel fester. Es war leider so, dass es Lightning Jack oft nicht gelang, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er neigte dazu, von seiner Heißblütigkeit übermannt und dadurch unvorsichtig zu werden. Er verabscheute Arthur Sinclair mit einer Heftigkeit, die ihm das Herz vergiftete, denn sein Herz war das, was Sinclair ihm genommen hatte.

Toms Hass auf Sinclair war anders. Kälter, präziser. Die Klarheit seines Hasses ließ ihn besser dafür geeignet sein zu töten. Lightning Jack war zu aufbrausend. Er trug seine Trauer um Asa wie ein härenes Büßerhemd, und das machte ihn verletzlich.

„Der Schiffsverkehr ist heute dicht“, sagte Tom. „Du solltest besser hierbleiben und ein Auge auf die Suzette haben.“

„Schaulustige, schätze ich“, meinte Lightning Jack. „Flüchtlinge. Wie Ameisen, die vor der Flut ausschwärmen. Sie können nirgendwohin.“

Tom betrachtete das Ufer, entdeckte ein Bahndepot in der Nähe eines Wellenbrechers, Türme und Schornsteine, die im Feuerschein pulsierten. Menschen, die am Seeufer standen und nicht weiterkonnten, winkten mit den Armen, gaben den vorbeifahrenden Booten Zeichen.

Lightning Jack schaute zu, wie Tom den Polizeirevolver, den sie in der Siedlung an den Schleusen bei Soo erstanden hatten, in das Holster steckte. „Hast du genug Munition?“, fragte er.

„Himmel, wie oft soll ich denn auf ihn schießen?“ Tom deutete auf die Patronen in seinem Gürtel.

„Sieben Mal“, erwiderte Lightning, als Tom das dünne Lederband des Holsters um seinen Oberschenkel festband. „Jetzt geh. Die Zeit ist knapp. Ich werde die Suzette bereithalten, jederzeit Anker zu lichten.“

Tom ließ das Beiboot zu Wasser und begann zum Ufer zu rudern. Der See schien zu kochen, so sehr wühlte der Wind die Oberfläche auf; Schaumkronen tanzten auf den Wellen, die immer wieder über die Seiten in das kleine Boot schwappten. Manche der Boote, an denen er vorbeikam, schickten sich an, Flüchtlinge vor dem Feuer zu retten. Wenn er ein besserer Mensch gewesen wäre, würde er sich an der Rettungsaktion beteiligen. Aber er war nicht hergekommen, um irgendwen zu retten. Er war, was die Umstände aus ihm gemacht hatten, und in seinem Herzen gab es keinen Raum für irgendetwas anderes als Hass.

Von Zeit zu Zeit blickte er hinter sich zum Wasserwerk nördlich des Flusses. Das Gebäude selbst schien noch intakt zu sein, und die gotische Turmspitze hob sich wie ein schwarzer Pfeil vor dem unangenehm orangen Himmel ab. Vielleicht stand der Turm nah genug am Wasser, um das Feuer zu überleben. Solange die Pumpen und Blasebälge des Wasserwerks in Sicherheit waren, konnten die Flammen unter Kontrolle gebracht werden.

Dennoch war er sich sicher, dass es ein verlorener Kampf war. Der Wind heulte und stürmte mit höllischem Zorn. Brennende Holzstückchen regneten heftiger und dichter vom Himmel, entzündeten Feuer an jeder Stelle, an der sie landeten. Wenn er das Anwesen Sinclairs erst einmal erreicht hatte, würde das Feuer nicht weit hinter ihm sein.

Tom legte an einem aus Schutt aufgeworfenen Damm an und befestigte das Boot unter einem Felsvorsprung. Unter den gegebenen Umständen musste er besondere Vorsicht walten lassen. Ein vom Feuer Getriebener würde nicht lange zögern, ein Ruderboot zu stehlen, und es war ein gutes Stück, bis zum Kutter zu schwimmen.

Er stieg aus und kletterte auf den Uferdamm. Er befand sich nun auf einer mit Ziegelsteinen übersäten Straße und spürte sofort den heißen Atem des Feuers. Sein Hemd und seine Hosen aus Karibu-Wildleder boten Schutz vor den fliegenden Funken – eine Weile wenigstens.

Einige Explosionen in der Ferne erschreckten ihn, während er sich seinen Weg am Nordufer des Flusses suchte. Er kam an Banken und Hotels vorbei, Mr. McCormicks Mähmaschinenfabrik, Läden und Theatern, Parks und Boulevards. Aus beinahe jedem hohen Gebäude schauten Menschen aus den Fenstern zum Feuer. Unheimlicherweise wurde die Nacht mit jedem Moment, der verstrich, heller. Er konnte Straßenschilder lesen und überall Menschen sehen, die in Gruppen beieinanderstanden und sich aufgeregt unterhielten. In einiger Entfernung hörte er das Signalhorn von Schleppern, die verlangten, dass die Brücken hochgezogen wurden, um sie passieren zu lassen, aber die gewaltigen Menschenmassen am Ufer behinderten die Brückenwärter bei der Ausübung ihrer Arbeit. Der Brand im Westen bewegte sich auf den Mastenwald im Hafen zu. Gut, dass Lightning Jack einverstanden gewesen war, nicht bis zum Ufer zu fahren, sondern weiter draußen auf dem Wasser zu ankern. Heute Nacht gab es in der Stadt keinen sicheren Ort.

Das hier war fremdes Gebiet für Tom, aber er wusste, wo Sinclair wohnte. Er hatte sich die Stelle auf einer Karte eingeprägt und der Weg dorthin hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, sich durch ein Menschenmeer kämpfen zu müssen. Männer, Frauen, Kinder und Vieh schoben sich durch die breiten Hauptverkehrsstraßen, drängten zum See. Überladene Karren, Bierkutschen, von Eseln gezogene Lastfuhrwerke und Eilwagen verstopften die Fahrwege. In seinem ganzen Leben hatte Tom nicht so viele Menschen gesehen. Manche trugen nur ihre Nachthemden, andere elegante Abendkleidung. Karren und Kutschen ratterten vorbei ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Fußgänger. Männer zogen Kisten und Koffer hinter sich her; Frauen umklammerten Quilts und Kessel, Schubladen, in die sie ihre Habseligkeiten gestopft hatten. Die Leute flohen, die Arme voller Bücher und Erinnerungsstücke, Kleiderbündel, seltsam geformter Säcke und Taschen und sogar ein oder zwei Mal mit einem Metalltresor.

Was sollte man retten, wenn man drohte, alles zu verlieren? fragte sich Tom. Unbezahlbare Antiquitäten, unersetzliche Fotografien, Quilts und lieb gewonnenen Krimskrams, den lang verstorbene Angehörige einmal mit ihren Händen hergestellt hatten. Und natürlich Geld. Das war immer wichtig.

Das Poltern und Dröhnen von in sich zusammenbrechenden Gebäuden übertönte das Schreien und versetzte Kinder und Pferde in Angst und Schrecken. Wo immer er hinschaute, sah Tom Gefährte, deren Fahrer sie nicht länger unter Kontrolle hatten, die gegen Bäume oder Gebäude krachten oder verlassen dastanden. Eine Kutsche mit einem Wappen auf der Tür, auf der „Emma Wade Boylans Mädchenpensionat“ zu lesen war, lag auf der Seite, und die Pferde, die noch davor gespannt waren, kämpften verzweifelt darum, sich zu befreien.

Drei junge Damen, in Seide und Spitze gekleidet, zankten sich auf dem Bürgersteig unweit der umgekippten Kutsche.

„Ich sage, wir lassen sie einfach hier“, schlug die Braunhaarige vor.

„Wir werden die Pferde nicht im Stich lassen“, entgegnete die Schwarzhaarige. „Wir müssen …“

„Zur Seite.“ Tom zog das Bowiemesser aus seinem Stiefel. Die Frauen schnappten erschreckt nach Luft, als sie die gefährlich schimmernde Klinge erblickten. Sie wichen zurück, sichtlich entsetzt. Er durchtrennte die Zügel, die die Pferde an die Kutsche fesselten, dann schlug er die Tiere leicht auf die Hinterteile, worauf sie davongaloppierten.

Eine der drei gut gekleideten Frauen starrte ihn mit offenem Mund an. „Er … Sie haben … die Pferde!“

Ihre Gefährtin fragte: „Und was sollen wir jetzt tun?“

Die Rothaarige richtete ihren Blick zu dem in Flammen stehenden Himmel. „Beten“, erwiderte sie.

Tom verweilte nicht länger, um zu sehen, wie der Streit ausging. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.

Als die Menschenmenge und der Rauch immer dichter wurden, verspürte er Sehnsucht nach der rauen einsamen Wildnis der nördlichen Wälder. Bald sagte er sich. Binnen kürzester Zeit schon würde er wieder da sein, wo er hingehörte. Aber zunächst musste er sein Ziel heute Abend finden – das Haus in der Huron Avenue. Danach konnte er auf die Isle Royale zurückkehren. Dort würde er sich dann bemühen, sein Leben so gut wie möglich weiterzuführen, das Leben, das durch Arthur Sinclair unwiderruflich verändert worden war.

Er überlegte, was es für ein Gefühl sein würde, den Mann zu töten, der Asa umgebracht hatte. Würde er frohlocken, sich befreit und gereinigt fühlen? Würde er Schadenfreude empfinden? Würde er Befriedigung durch seine Rache erfahren? Würde diese Befriedigung die drückende Last von Verlust und Verrat vertreiben, die ihn seit der Katastrophe verzehrte? Vielleicht bliebe auch alles beim Alten. Aber wenn er es sich hätte aussuchen können, dann würde er Taubheit begrüßen. Nichts zu verspüren, wäre ein Segen nach den Monaten der quälenden Trauer.

Tom hatte im Krieg getötet. Als Kurier war er von General Whitcomb von der 21. Michigan in der Art und Weise eingesetzt worden, wie ein Jäger Bluthunde benutzte. Aber die Zeit im Krieg hatte in ihm keine Lust auf Mord geweckt.

Er beschleunigte sein Tempo, von der sengenden Hitze getrieben. Er kam an einem schlaksigen Jungen mit einem zotteligen Hund vorbei, der sich aus den Armen seines jungen Herrn zu winden versuchte. Der Bursche war vielleicht vierzehn, so alt wie Asa, als er starb. Tom versuchte nicht zu dem Jungen zu schauen, seine Ohren davor zu verschließen, wie er zu dem Hund sagte: „Ruhig, Shep. Ganz ruhig. Ich passe auf, dass dir nichts passiert.“ Er versuchte, nicht daran zu denken, wie ernst und entschlossen der Gesichtsausdruck des Jungen dabei sein musste. Tom war erleichtert, als er beobachtete, dass der Hund und sein Herrchen die Richtung zum See einschlugen.

Wenn er am Leben geblieben wäre, wäre Asa im kommenden Frühjahr fünfzehn geworden. Er hätte im März seinen Geburtstag gefeiert, und vielleicht hätte ihm Tom ein Bowiemesser geschenkt oder eine Flinte zur Jagd, als Zeichen dafür, dass er auf der Schwelle stand, ein Mann zu werden. Sie hätten nebeneinander am Herd gesessen, Köder fürs Fliegenfischen gebunden oder Schach gespielt. Selbst jetzt noch, Monate nach dem Unfall, konnte Tom Asas Gesicht deutlich vor sich sehen, ganz konzentriert, wenn er an einer Fliege arbeitete. Und in seinem Herzen konnte er Asas Lachen hören.

Ich vermisse dich, Asa.

Er bog in eine fast verlassen daliegende Seitenstraße ein und ging noch schneller, atmete schwerer, während er sich seinem Ziel näherte, schmeckte den Rauch und die Asche in seiner Kehle. Der Geruch von brennendem Holz und der Anblick von Feuerfunken erinnerte ihn daran, wie es gewesen war, sich in einer Schlacht zu befinden. Er hätte niemals in den Krieg ziehen sollen. Lightning Jack hatte ihn gewarnt, dass es ihm die Seele rauben würde.

So wie er selbst Asa davor gewarnt hatte, in der Mine zu arbeiten.

Asa hatte ebenso wenig auf ihn gehört, wie er selbst in dem Alter auf Lightning Jack gehört hatte. Gelangweilt von der immer gleichen Routine des Lebens auf der Insel und den Wintern, in denen er einen gestrengen Lehrer gehabt hatte, war Tom fortgelaufen, um sich den Kämpfen anzuschließen. Was er in jenen dunklen Jahren gesehen und getan hatte, hatte seine Seele in Eis verwandelt. Allein das Geschenk, das Asa für ihn wurde, hatte Tom zurück ins Licht ziehen können. Jetzt aber war Asa fort, und es gab nichts, das ihn davon abhielt, wieder in die Dunkelheit zurückzufallen.

Brennende Holzstücke und glimmende Funken regneten immer dichter auf die Straßen, und an jeder Stelle, wo sie landeten, entstand ein neues Feuer. Männer standen auf Dächern und mühten sich ab, einige der größeren Gebäude zu retten, aber die hellen Feuerderwische schienen sich über sie und ihre Anstrengungen lustig zu machen. Explosionen in der Ferne erschütterten die Nacht, stets gefolgt von Schreckensrufen.

In einer breiteren Straße wogte die Menschenmenge nach Norden, folgte einem langen Grünstreifen, der an den See grenzte. Familien trieben einander zur Eile an. Tom löste sich von den Flüchtenden und lief in die entgegengesetzte Richtung.

„Hey, Mister“, rief ihm jemand mit heiserer Stimme hinterher. „Gehen Sie nicht dorthin. Das Feuer hat den nördlichen Flussarm übersprungen.“

Tom beachtete die Warnung nicht, obwohl es ihn erstaunte, das zu hören. Nur ein Feuer von dämonischen Ausmaßen konnte einen Fluss überspringen, der so breit war, wie die Arme des Chicago River. Die Feuerwehr hatte keine Hoffnung mehr, es noch einzudämmen. Er fragte sich, ob er es schaffen würde, das Anwesen Sinclairs vor den Flammen zu erreichen.

Er verspürte eine leise Verwunderung, als er sich allein auf einer leeren Straße wiederfand. Die Flammen fraßen sich wütend durch die Gebäude auf beiden Seiten – das eine schien ein Sägewerk zu sein, das andere eine Brauerei. Seltsam überlegte er fast unbeteiligt. Die Stadt brannte, aber kaum jemand blieb, um sie zu verteidigen.

Sein Weg nach Norden führte ihn in die Dunkelheit, da er sich vom Feuer entfernte, und er nahm eine Veränderung in der Atmosphäre wahr, als er Dearborn erreichte. Der breite Boulevard, flankiert von steinernen Pfeilern und hohen schmiedeeisernen Zäunen, lag in ungeminderter Pracht da, obwohl die Luft rauchgeschwängert war. Weitläufige Rasenflächen, manche mit Kutschenhäusern und Nebengebäuden, umgaben prächtige Herrenhäuser und Villen. Die Häuser ähnelten majestätischen Festungen mit hübschen Giebeln und halbrunden Sprossenfenstern bis zum dritten Stockwerk. Oberlichte und Kuppeln zierten die Dächer. Durch ein breites Fenster im Hochparterre sah er eine Familie in einem Salon sitzen und Karten spielen, während eine Frau am Piano saß. In einigen anderen Häusern hatten die Bewohner sich an den Fenstern versammelt, um das Feuer anzuschauen.

Doch der Himmel hinter den Dächern glühte in dem unheimlichen und unnatürlichen Orangeton, gesprenkelt von umherfliegenden Funken. Diese eleganten Stadthäuser würden nicht mehr lange unbehelligt bleiben. Er hoffte nur, es würde nicht zu schwer werden, Sinclairs Haus zu finden, und dass der Mann auch zu Hause weilte. Er musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Arthur Sinclair das Haus geräumt hatte, aber die Chancen standen auch gut, dass der reiche Industrielle an Ort und Stelle geblieben war. Nach den Schaulustigen an den Fenstern der Villen zu urteilen fühlten die Reichen sich sicher vor den Flammen. Männer wie Sinclair hielten sich oft genug für unverwundbar, meinten, dass ihr Geld ihnen alles kaufen könne, sogar Schutz vor dem Tod.

Was für Narren.

3. KAPITEL

Deborah, was zum Teufel, tust du denn hier?“, fragte Arthur Sinclair seine Tochter und wandte sich von dem großen Metallsafe ab, der in die Wand seines Arbeitszimmers eingelassen war. Er fasste die offene Tür und richtete sich daran auf, wankte wegen seines lahmen Beines, als er sich zu ihr umdrehte. Sein Gehstock lehnte an der großen Wandkarte hinter seinem Schreibtisch. Die Karte zeigte die Großen Seen und deren Umgebung, mit kleinen Fähnchen an den Stellen, wo sich seine Minen und seine Sägewerke befanden. Wenn er wie jetzt so vor der Karte stand, erinnerte er an einen König, der sein Reich überschaute. „Es ist schon spät“, fügte er hinzu. „Du hattest heute doch eine Veranstaltung, die du besuchen wolltest.“

„Hallo Vater“, sagte sie und ging über den dicken Teppich aus persischer Seide. Wie alles andere im Haus war sein Arbeitszimmer übertrieben prachtvoll eingerichtet und mit Antiquitäten gefüllt, die den Anschein erwecken sollten, sie wären bereits seit Generationen im Besitz der Familie. Die langen Regale aus der Zeit des Regency enthielten ledergebundene Wälzer, die Arthur Sinclair nie aufgeschlagen hatte. Die Kunstwerke an den dunkelgrünen Wänden zeigten Jagdszenen von Orten, zu denen er nie eingeladen werden würde. Und der Louis-XIV-Schreibtisch war übersät mit Dokumenten der Arbeit eines Mannes, der hoffte, sich durch Reichtum Zutritt zu der Welt der besseren Gesellschaft zu verschaffen und in ihr Anerkennung zu finden, denn nichts schien ihm erstrebenswerter zu sein.

Er verließ sich auf Deborah, von der er erwartete, dass sie ihm zu mehr Akzeptanz bei den Reichen und Mächtigen verhalf. Und das war genau der Grund, weshalb sie gekommen war und mit ihm reden musste.

Sie umarmte ihren Vater leicht, küsste ihn auf die Wange und machte einen Schritt zurück. Wie stets roch er nach Rasierwasser und Zigarren. Der Geruch weckte in ihr Erinnerungen und ein Gefühl von Sicherheit, das sie trotz allem immer mit ihrem Vater in Verbindung brachte. Ihr Herz zog sich schmerzlich vor Liebe zu ihm zusammen. Lieber Gott, ich will ihn wirklich nicht enttäuschen, dachte sie. Das wollte sie auf gar keinen Fall.

„Es tut mir leid, wenn ich dich störe“, sagte sie.

Er deutete auf den offenen Sack auf dem Boden, der mit Geldscheinen, Bankpapieren und Wertsachen vollgestopft war. „Ich suche gerade meine Sachen zusammen, vor allem die Versicherungszertifikate und andere wichtige Papiere, falls das Schlimmste eintritt.“

„Das Feuer meinst du.“

„Ja. Wenn sie den Brand nicht bald unter Kontrolle bringen, fahre ich zum Sommerhaus am See.“ Er verzog sein gut geschnittenes markantes Gesicht missbilligend, als er Deborah genauer betrachtete. „Was hast du denn da an? Wurde Dr. Moodys Lesung wegen des Feuers abgesagt?“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte sie, verschränkte unruhig ihre Finger. Obwohl sie es gewohnt war, mit Dienern, Hausmädchen und Kutschern fertig zu werden, zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, sich gegen ihren Vater zu behaupten, der dafür bekannt war, rücksichtslos gegen Eisenbahnmogule oder Bergbaubarone vorzugehen, um seinen Willen zu bekommen. „Ich habe beschlossen, heute Abend nicht daran teilzunehmen. Ich muss stattdessen unbedingt mit dir sprechen. Um dir zu sagen …“

„Dein Verlobter war schon hier, um mit mir zu reden“, unterbrach er sie.

Ihr Mund wurde trocken. Alles Blut schien aus ihren Händen zu weichen, sodass ihre Finger eiskalt und ganz taub wurden. „Philip war hier?“

Die Augen ihres Vaters wirkten so scharf und blau wie zerbrochenes Eis. „Früher am Abend. Daher denke ich, weiß ich schon, was du mir sagen willst.“

Gütiger Himmel, was hat Philip nur erzählt?

Galle stieg ihr in die Kehle, und sie konnte erst wieder sprechen, nachdem es ihr gelungen war, sie wieder herunterzuschlucken. „Was hat er dir gesagt?“

Arthur spreizte seine Hände. „Er hat mir berichtet, wie du dich gestern Abend in der Oper aufgeführt hast, Deborah. Ich schäme mich für dich. Wirklich, ich schäme mich zutiefst.“

Das hier war das Letzte, was sie erwartet hätte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Philip sich bei ihrem Vater beschweren würde, ausgerechnet bei ihm. Sie starrte ihn an, dann fand sie ihre Stimme wieder. „Dich schämen? Meinetwegen? Was habe ich denn get…“

„Philip sagt, er sei bereit, über dein unerhörtes Verhalten hinwegzusehen, dem Himmel sei Dank“, erklärte Arthur. Er drehte ihr den Rücken zu und begann wieder, Schachteln mit Belegen und Zertifikaten aus dem Safe zu nehmen.

Mein Verhalten?“, fragte sie. Sie versuchte sich an ein Gefühl von Empörung zu klammern, aber trotz ihres Entschlusses, gesellte sich Scham dazu. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer nur die besten Gouvernanten des Landes gehabt, die besten Lehrer und Tutoren, die besten Gesellschafterinnen. Aber niemand hatte sie darauf vorbereitet, sich gegen ihren Vater zur Wehr zu setzen.

„Deine Unreife und Dummheit werden mich allerdings teuer zu stehen kommen“, schimpfte er. „Er will, dass ich deine Mitgift erhöhe. Und mir bleibt keine andere Wahl, als seine Forderung zu erfüllen.“

Sie rang sich ein bitteres ungläubiges Lachen ab. Philip Ascot IV. hatte letzte Nacht all ihre Träume vernichtet, und als Belohnung forderte er, dass der Brautpreis erhöht wurde, auf den er und ihr Vater sich geeinigt hatten. „Dann wird es dich freuen zu hören, dass du ihm keinen einzigen Cent wirst zahlen müssen“, meinte sie und bemühte sich darum, ihrer Stimme Entschlossenheit zu verleihen, obwohl sie am liebsten gestorben wäre. Sie liebte ihren Vater, achtete und respektierte ihn, brachte ihm gelegentlich sogar so etwas wie Ehrfurcht entgegen. Es hatte nur ab und zu und nur wenige Zeitpunkte gegeben, an denen sie sich ihm widersetzt hatte. Aber jetzt war ein solcher Zeitpunkt gekommen.

„Was, zum Henker, meinst du damit?“

„Ich habe mich entschieden, Philip nicht zu heiraten“, sagte sie.

Damit gewann sie seine Aufmerksamkeit. Er erstarrte, hörte auf, Sachen in den ledernen Sack zu stecken und drehte sich zu ihr um. „Das ist nicht komisch, Deborah.“

„Ich versuche nicht zu scherzen, Vater. Ich versuche …“ Was eigentlich tat sie hier? Ihre Zukunft, ja, ihr ganzes Dasein wurde durch die Tatsache definiert, dass sie die Ehefrau eines der gesellschaftlich bedeutendsten Männer des Landes werden würde. Wenn das nicht länger galt, wer war sie dann? Bis jetzt hatte sie sich nie diese Frage gestellt, aber plötzlich schien es lebenswichtig zu sein, die Antwort darauf zu wissen. Sie schloss die Augen und sprang ins Ungewisse. „Ich werde Philip Ascot nicht heiraten.“

„Ach, du bekommst vor der Hochzeit einfach kalte Füße“, erklärte ihr Vater gelassen, und ein nachsichtiges Lächeln ließ seine Züge weicher erscheinen. „Das passiert Bräuten oft genug, hat man mir erzählt.“

Sie wagte einen neuen Anlauf. „Es hat nichts mit kalten Füßen zu tun. Meine Meinung und meine Gefühle haben sich gewandelt. Unwiderruflich. Bis gestern … ich dachte, Philip zu heiraten sei die Zukunft, die ich mir wünsche. Ich wusste es nicht besser. Ich … Es tut mir leid.“

„Die Vorbereitungen werden weiterlaufen und die Hochzeit wird wie geplant stattfinden“, beschied ihr Vater, und sein Temperament regte sich hinter der Maske des liebevollen Vaters. „Du wirst lernen, deine kindischen Launen und Wutanfälle abzulegen und dich wie eine echte Frau zu benehmen. Alles ist geregelt. Die Gästeliste umfasst alle bis hoch zu Mrs. Grant höchstpersönlich. Man teilt der First Lady nicht einfach mit …“

„Ich werde es ihr selbst sagen“, versprach Deborah, obwohl die Aussicht ihr vor Schreck das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Wir reden hier über den Rest meines Lebens, Vater. Ich werde ihn nicht zusammen mit Philip Ascot verbringen.“

Zorn blitzte in seinen Augen auf. „Du wirst dein Leben so verbringen, wie ich es sage“, verkündete er. „Ich habe immer nur dein Bestes im Auge gehabt.“

„Ich weiß, dass du das glaubst“, räumte sie ein. „Aber dieses Mal muss ich auf mein Urteil vertrauen.“

„Du wirst mir vertrauen. Habe ich dir nicht immer nur das Beste von allem zuteilwerden lassen? Habe ich nicht ein Vermögen dafür ausgegeben, um aus dir eine junge Dame zu machen, die ein Mann von Ansehen und Reichtum zu heiraten wünscht?“

„Was ist mit meinen Träumen?“, gab sie zu bedenken, aber sie sprach so leise, dass er sie nicht hörte.

„Du hast keine Ahnung davon, wie dein Leben aussähe, wenn ich dir deinen Willen ließe“, fuhr er fort, und sein Gesicht verfärbte sich zu einem ungesunden Rot. „Du wärest hoffnungslos verloren, nicht besser dran als eine Bauersfrau oder ein Saloon-Mädchen. Dank meiner wirst du nie ums Überleben kämpfen müssen, keine Härten erleiden. Deinen Kindern wird die Welt zu Füßen liegen. Aber nur wenn du ihnen einen anständigen familiären Hintergrund bietest – wie ihn die Ascots gewährleisten.“

Deborah begann in dem lang gestreckten Raum auf dem Teppich auf und ab zu laufen. „Du hast diese Ehe arrangiert, ohne auf meine Wünsche Rücksicht zu nehmen. Ist dir bewusst, dass ich gar nicht gefragt worden bin? Du und Philip, ihr habt euch bei Brandy und Zigarren zusammengesetzt, und am nächsten Tag wurde ich vor vollendete Tatsachen gestellt.“ Sie hielt eine Hand in die Höhe, sodass sich das Gaslicht in dem übergroßen Diamanten an ihrem Ringfinger fing und er fast schon obszön funkelte.

„Du schienst mir ganz entzückt gewesen zu sein“, bemerkte er.

„Weil du das warst, Vater. Ich hätte schon längst etwas sagen sollen, Einspruch erheben.“ Aber das hatte sie nicht getan. Sie war ebenso geblendet gewesen von Philips gutem Aussehen und seinen betörenden Schmeicheleien, wie ihr Vater es von seinem gesellschaftlichen Stand gewesen war. „Erkennst du nicht, dass, wenn das menschliche Herz mit betroffen ist, man nicht einfach etwas erzwingen kann?“

„Unsinn! Was bringen sie dir in der Schule eigentlich bei?“

„Eindeutig nicht genug, dass ich dir begreiflich machen kann, was ich meine“, erwiderte sie.

„Arrangierte Ehen sind die Eckpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft. Liebe kommt nicht über Nacht. Du musst Geduld und Verständnis aufbringen, und vor allem musst du Gehorsam beweisen, denen gegenüber, die wissen, was das Beste für dich ist.“

„Ich werde Philip niemals lieben, Vater. Niemals.“

„Die Gelegenheit, in die Familie Ascot einzuheiraten, ergibt sich nicht so oft. Philip ist ein Einzelkind, und er hat keine Cousins. Du brauchst diese Ehe, Deborah.“

„Nein, du brauchst sie. Und Philip braucht sie. Trotz seiner blaublütigen Abstammung ist er praktisch mittellos. Er hat seinen Namen. Du hast das Vermögen. Gemeinsam habt ihr beide alles, was ihr euch wünscht. Ich kann mir nicht vorstellen, womit ich dir dienen kann. Mach ihn einfach zu deinem Sohn, dann hast du, was du willst.“ Die Worte waren aus ihr herausgesprudelt, ehe sie hätte darüber nachdenken können. Jetzt, da sie ausgesprochen waren, wünschte Deborah, sie könnte sie in der Luft fassen und machen, dass sie verschwanden. Aber es war zu spät.

Ihr Vater stand da, starrte sie an, und sein Gesicht zeigte den entsetzten Ausdruck eines Mannes, dem man ein Messer in den Rücken gestoßen hatte.

Obwohl er es nie zugeben würde, hatte Arthur Sinclair sich immer unterlegen gefühlt, weil sein Geld von der Oberschicht als „neu“ angesehen wurde. Und für ihn war die Meinung der gesellschaftlich Tonangebenden überaus wichtig. Er sehnte sich nach der einen Sache, die ihm sein Geld nicht kaufen konnte – die Patina von Generationen alten Adels. In seinem Kopf – und in den Köpfen, die zu beeindrucken er sich bemühte – besaß geerbtes Vermögen eine besondere Qualität, die dem Reichtum von Männern, die sich emporgearbeitet hatten, abging. Er würde nie in der Lage sein, seiner Herkunft zu entfliehen, aber er konnte sich einen weiteren Schritt von ihr entfernen, indem er seine einzige Tochter und Erbin mit dem makellos aristokratischen Philip Widener Ascot IV. verheiratete.

Natürlich hatten sie nie offen darüber gesprochen, und dass Deborah jetzt die Dinge beim Namen genannt hatte, lag allein an ihrer Verzweiflung. Aus Bedauern darüber, ihn verletzt zu haben, sagte sie: „Du bist ein guter Mann, Vater. Der Beste, den es gibt. Ob ich Philip nun heirate oder nicht, daran wird sich nichts ändern.“

Langsam nahm sein Gesicht wieder eine normalere Farbe an. Er sah nicht länger wütend oder streng aus, sondern unendlich enttäuscht.

„Vater, ich bin nicht hierher gekommen, um mit dir zu streiten“, erklärte sie ruhig.

Mühsam, als bereitete jede Bewegung ihm Schmerzen, ließ er sich auf seinen Stuhl sinken. Immer wenn Deborah ihn anschaute, sah sie einen Titanen der Industrie, einen Mann, der überlebensgroß zu sein schien, der beeindruckender war als jeder andere Mann, dem sie je begegnet war. Doch heute Abend war etwas anders. Er sah einfach wie ein Mann aus, der unendlich müde war. Sie konnte allerdings nicht sagen, ob ihre Wahrnehmung sie nicht trog.

„Habe ich dir je erzählt, was deine Mutter an dem Tag zu mir gesagt hat, als sie gestorben ist?“, fragte er nach einer langen Pause.

Deborah konnte den plötzlichen Themenwechsel nicht ganz nachvollziehen, aber ihr Vater wirkte nun gefasster. Sie war es ihm schuldig, zuzuhören, was er ihr zu sagen hatte. „Über den Tag hast du ganz wenig gesprochen“, antwortete sie. „Ich weiß, es muss schmerzhaft für dich gewesen sein.“

Sie war erst drei gewesen, als ihre Mutter starb bei einer Totgeburt, dem Versuch, einem Sohn das Leben zu schenken. Deborah hatte an ihre Mutter nur eine Erinnerung. Es war nur ein Aufblitzen von Bewusstsein, nicht wirklich eine vollständige Erinnerung. Dafür war sie zu jung gewesen. Aber dadurch war ihr dieser flüchtige Eindruck umso teurer.

Manchmal, wenn Deborah ihre Augen schloss und alles andere an den Rand drängte, konnte sie diese Erinnerung wachrufen, schmerzlich lebendig und nach Veilchen duftend. Sie konnte wieder die Berührung der kühlen Hand ihrer Mutter auf ihrer Stirn spüren und sich an das Gefühl erinnern, von ihrer Liebe umfangen zu werden. Selbst so viele Jahre später noch konnte sie im Geiste ihre leise Stimme sagen hören: „Schlaf schön ein, mein kleines Mädchen. Schlaf ein.“

Und das war alles. Vielleicht war das nie so geschehen, vielleicht hatte Deborah es sich eingebildet, weil sie sich so nach einer liebevollen Erinnerung an eine Mutter sehnte, die sie nie gekannt hatte. Aber egal. Sie glaubte, dass es so geschehen war, und sie würde auf die Erinnerung niemals verzichten wollen. Sie barg sie in ihrem Herzen, trotzig und verkrampft, wie eine Perle in einer geschlossenen Faust, die man um keinen Preis der Welt bereit war herzugeben.

Ihr Vater hatte nicht wieder geheiratet, weil ihn da bereits Ehrgeiz und Stolz in ihrem Griff hielten. Er würde sich nur mit einer Ehefrau aus den höchsten gesellschaftlichen Rängen zufriedengeben … Doch so eine Frau würde niemals einen vulgären Emporkömmling wie ihn nehmen. Erbittert hatte er seine ganze Energie in Deborahs Erziehung gesteckt, damit sie das erlangte, was ihm verwehrt blieb – Klasse. Er fragte sie nie, ob sie das wollte; er ging einfach davon aus, dass sie gesellschaftliches Ansehen ebenso schätzte wie er.

Er und Deborah hatten nur einander. Er betrachtete sie als seinen kostbarsten Schmuck, und würde nichts weniger als einen Ascot der vierten Generation als Ehemann für sie akzeptieren.

„Was hat sie gesagt, Vater?“, erkundigte sie sich leise.

„Sie wusste, sie würde … uns verlassen“, antwortete er fast barsch, wandte sich wieder zum Safe um. „Sie hatte … Blutungen. Das Letzte, was sie zu mir sagte, war: ‚Mach ihr Leben perfekt. Mach alles für sie perfekt.‘“

Deborahs Sicht verschwamm, Tränen verschleierten ihren Blick. Sie stellte sich vor, wie diese letzten Augenblicke für ihre Mutter gewesen sein mussten, ihren tot geborenen Sohn im Arm haltend und wissend, dass sie ihre kleine Tochter nicht würde aufwachsen sehen. Und die ganze Zeit über hatte ihr Vater Wache gehalten, den Verlust seiner Ehefrau und seines einzigen Sohnes betrauert.

„Das ist alles, was ich zu tun versuche“, erklärte Arthur. „Ich versuche, für dich alles perfekt zu machen, dir das Leben zu geben, das sich deine Mutter für dich gewünscht hat. Und, bei Gott, ich werde dafür sorgen, dass es geschieht.“

Im stillen Haus zischte das Gaslicht leise. Deborah wusste, ihr Vater meinte es gut, aber sie wusste auch, sie konnte Philip Ascot nicht heiraten. Und auch sonst niemanden, wie es aussah. Das musste sie ihrem Vater begreiflich machen und dafür sorgen, dass er es ihr irgendwann, wenn genug Zeit verstrichen war, auch verzieh. Nachdem sie ihr Leben lang mit dem Ziel gelebt hatte, es ihrem Vater recht zu machen, würde die Aussicht, sich ihm in dieser unvergleichlich wichtigen Angelegenheit zu widersetzen, sogar die willensstarke Lucy oder die praktisch veranlagte, robuste Kathleen einschüchtern. Phoebe würde vermutlich ebenso abgestoßen sein wie Deborahs Vater, denn sie fand nichts erstrebenswerter, als den gut aussehenden schneidigen Erben einer der ältesten Familien des Landes zu ehelichen. Ein Teil des Heiratsabkommens bestimmte, dass das berühmte Anwesen der Ascots, Tarleton House in der Innenstadt von New York, renoviert und als ihr Hauptwohnsitz hergerichtet werden würde. Alle in Miss Boylans Schule waren der Meinung, dass es klang wie ein Traum, der wahr wurde, so sehr, dass Deborah völlig vergessen hatte, sich selbst zu fragen, ob es das war, was sie wollte.

Autor

Susan Wiggs
<p>Susan Wiggs hat an der Harvard Universität studiert und ist mit gleicher Leidenschaft Autorin, Mutter und Ehefrau. Ihre Hobbys sind Lesen, Reisen und Stricken. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und dem Hund auf einer Insel im nordwestlichen Pazifik.</p>
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