Ist es Liebe, Dr. Taylor?

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Eine feste Beziehung kommt für die freiheitsliebende Violet nicht infrage. Ihre diskrete Affäre mit Dr. Nate Taylor hingegen scheint perfekt, um sich von der Sorge um ihren kranken Vater abzulenken. Allerdings hat sie nicht mit den Folgen ihrer heißen Nächte gerechnet …


  • Erscheinungstag 23.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505338
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Violet Dempseys Erfahrung nach war der Familienraum in einem Krankenhaus der Ort, an dem Hoffnungen und gute Nachrichten oft ihr Ende fanden. In einem dieser so harmlos wirkenden Nebenräume hatte sie vom Schicksal ihrer Mutter erfahren und wartete nun auf Informationen darüber, wie es um ihren Vater stand. Er kämpfte ein Stockwerk tiefer auf der Kardiologie um sein Leben, während sie auf die Wände starrte und darauf wartete, dass an die Tür geklopft wurde.

Sie wusste, wie entscheidend die ersten Stunden nach einem Herzinfarkt waren, und hatte sie damit verbracht, einen Flug von London nach Nordirland zu organisieren. Selbst die verhältnismäßig kurze Fahrt von Belfast zum Silent Valley Hospital in County Down war ihr wie eine Ewigkeit erschienen.

Das Verhältnis zu ihrem Vater war angespannt – um es milde auszudrücken –, seit sie sich geweigert hatte, ihre Rolle als Tochter des Earls zu spielen. Das hieß aber nicht, dass sie kein Mitgefühl hatte. Nachdem sie allerdings erleben musste, welche Anstrengungen es ihre Mutter gekostet hatte, den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen, hatte Violet beschlossen, ihr eigenes Leben zu leben, und nicht das, was ihr Vater für sie vorsah. Seitdem sprachen sie kaum noch ein Wort miteinander.

Es klopfte, und Violet sprang auf. Gleich würde sie es erfahren – Leben oder Tod. Sie verspürte einen dumpfen Druck im Magen, als sich die Tür öffnete und der Überbringer der Botschaft hereinkam. Aber es war kein Fremder, der mit ausdrucksloser Miene eintrat.

„Nate?“

Er war größer, breitschultriger und besser gekleidet als damals, aber sie erkannte die charmanten Grübchen in dem lächelnden Gesicht sofort wieder. Vor zwölf Jahren hatte sie sich von diesem gut aussehenden Gesicht verabschiedet, und nichts war ihr jemals so schwergefallen. Sie hatte keine Ahnung, was er hier machte, aber Nate hatte schon immer gewusst, wann sie ihn brauchte.

„Hallo, Violet. Oder sollte ich sagen, Lady Violet? Schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben.“ Er schloss die Tür und setzte sich ihr gegenüber.

„Stimmt, aber ich erinnere mich gut daran, dass du für Förmlichkeiten nie viel übrighattest. Violet genügt.“ Sie hoffte, dass er sie nicht reizen, sondern nur auf den Arm nehmen wollte. Nate wusste am allerbesten, wie sehr sie ihren Titel hasste.

Es waren nicht die besten Umstände gewesen, unter denen sie sich getrennt hatten, besser gesagt, sie hatte ihn ohne ein Wort der Erklärung einfach verlassen. Obwohl er jedes Recht hätte, ihr Vorwürfe zu machen, hoffte sie doch, dass er es nicht tun würde. Für den Nate, den sie gekannt hatte, hatte sie immer an erster Stelle gestanden. Es war schon seltsam genug, die männliche Version des Teenagers von damals vor sich zu sehen, ohne zu wissen, ob er sich vielleicht völlig verändert hatte.

Das früher wilde dunkelblonde Haar trug er jetzt im Nacken und an den Seiten kurz geschnitten, und ein modischer, sexy Dreitagebart zierte das markante Kinn. Der Sohn eines Dienstboten auf Strachmore Castle hatte die rustikalen Holzfällerhemden gegen maßgeschneiderte Kleidung getauscht und würde jetzt gut in die Freundeskreise von Violets Familie passen – was weder er noch die Freunde ihres Vaters je gewollt hätten. Ein impulsiver Teenagerkuss hatte die Freundschaft zwischen Violet und Nate beendet und sie nach London vertrieben, bevor sie eine Beziehung eingehen konnten, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.

Nate räusperte sich, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn länger angestarrt hatte, als es eine alte Freundin tun sollte. Ihr stieg das Blut ins Gesicht, als sie an ihre letzte Begegnung dachte.

„Ich vermute, du bist auf Bitten deines Vaters hier? Er hat mir erzählt, dass er es war, der den Rettungswagen angerufen hat.“ Bewusst lenkte sie das Gespräch weg von gefährlichem Terrain, von flüchtigen heißen Momenten, die sie bis heute nicht vergessen hatte.

Nate beugte sich vor und zwang Violet damit, ihm in die haselnussbraunen Augen zu blicken, in denen sie sich früher so leicht verloren hatte. „Dad hat ihn gefunden, aber deswegen bin ich nicht hier. Wir führen diese Unterhaltung aus … professionellen Gründen. Ich bin der Kardiologe deines Vaters.“

Violet öffnete den Mund, wollte ihm sagen, er solle den Unsinn lassen, schwieg dann aber, als sie sah, dass Nate es ernst meinte. Jetzt fiel ihr auch ein, dass die diensthabende Schwester kurz einen Dr. Taylor erwähnt hatte. Doch nie im Leben hätte Violet dabei an ihn gedacht.

„Ich wusste gar nicht, dass du Medizin studiert hast“, stieß sie hervor, bevor ihr bewusst wurde, wie überheblich das klingen mochte. Als hätte sich das verwöhnte Grafentöchterlein davongemacht, ohne einen einzigen Gedanken an ihn zu verschwenden, weil ihr die gemeinsame Zeit absolut nichts bedeutete …

Es war ja nicht so, dass er ihr egal war oder sie nicht an ihn gedacht hätte – im Gegenteil. Sie hatte Angst gehabt, dass sie sich zu sehr dafür interessieren könnte, was Nate Taylor machte. Um sich von ihrer Familie abzugrenzen und wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, war es notwendig gewesen, jeglichen Kontakt zu dem Menschen zu kappen, der sie als Einziger hätte bewegen können, zu bleiben.

„Ich wollte damit sagen, dass ich den Kontakt zur Familie auf ein Minimum beschränke.“ Natürlich war sie nicht davon ausgegangen, dass er all die Jahre damit verbracht hatte, sich zusammen mit seinem Vater um das gräfliche Anwesen zu kümmern und darauf zu warten, dass sie zurückkehrte. Sie hatte ihn nur nicht für so … ehrgeizig gehalten.

„Ich dachte mir, als Mediziner verdiene ich besser und habe einen angeseheneren Beruf, als wenn ich meine Familientradition fortsetze und in die Dienste anderer trete.“

Genau dieses Thema hatte damals ihre Unterhaltungen im Bootshaus dominiert. Ein anderes Leben zu führen, als ihre Eltern es für sie vorgesehen hatten. Ein besseres.

„Du hast wirklich etwas aus dir gemacht.“ Was ihr eigentlich nicht wichtig war, denn Nate war schon immer ein anständiger, mitfühlender Mensch gewesen.

„Bestimmt hat es einige Leute hier überrascht, dass ich es geschafft habe, die Grenzen meiner Herkunft zu überwinden. Wie ich gehört habe, bist du Krankenschwester geworden und wirst dir also ein Bild davon machen können, wie ernst es um deinen Vater steht.“

Er scheute sich nicht, sie damit zu beschämen, dass er mehr über ihren beruflichen Werdegang wusste als sie über seinen.

Hatte er im Internet gezielt nach Informationen über sie gesucht oder seine Mutter befragt? Als Haushälterin auf Strachmore Castle war Mrs. Taylor immer gern auf dem Laufenden, und ab und zu bekam Violet einen gut gemeinten Anruf von ihr. Obwohl sie sehr zurückhaltend war, was ihr neues Leben betraf, so verriet Violet manchmal doch unabsichtlich einige Einzelheiten über Erfolge und Misserfolge. Die Misserfolge hatten meist mit Beziehungen zu tun, und es war klar, dass seine Mutter besonders gern erfahren hätte, ob sie inzwischen verheiratet war. Nicht im Leben! Für Violet bedeutete die Ehe, alles aufzugeben, um einen anderen glücklich zu machen. Sie selbst hatte bei ihrer Mutter erlebt, wohin das führte.

„Die seelische Gesundheit ist eher mein Fachgebiet.“ Nach dem Freitod ihrer Mutter hatte sie sich so hilflos gefühlt, dass sie unbedingt einen Beruf ergreifen wollte, in dem sie psychisch belasteten Menschen helfen konnte.

Das hatte er offenbar nicht gewusst. „Das ist durchaus verständlich … und bewundernswert.“

Das Lob tat gut. Aber sie hatte es nicht darauf angelegt. „Sag mir, wie es ihm geht“, kehrte sie zum ursprünglichen Thema zurück. „Wird er es schaffen?“

„Wie du weißt, hat dein Vater einen Herzinfarkt erlitten. Sein Herz stand still, als die Rettungssanitäter ankamen. Sie mussten ihn vor Ort reanimieren.“

Violet hätte nicht genau beschreiben können, was sie empfand. Zu widersprüchlich waren ihre Gefühle. Zwar hatte sie ihren Vater seit dem Tod ihrer Mutter verabscheut und sich insgeheim gefragt, warum sie und nicht er gestorben war. Doch jetzt, wo sie auch ihn zu verlieren drohte, wurde ihr bewusst, dass die schlechten Erinnerungen nichts daran änderten, dass er ihr Vater war. Jetzt verstand sie auch, warum ihre Mutter ihn trotz der leidvollen Situation nicht einfach hatte verlassen können. Manchmal bedeutete es eine Last, ein Gewissen zu haben.

„Einen Herzinfarkt“, wiederholte sie. Auch wenn sie es schon von anderen gehört hatte, so klang es doch aus Nates Mund real.

Er nickte. „Das zeigen auch die Bluttests. Sein Herzmuskel ist geschädigt. Alle sechs bis acht Stunden werden wir ihm Blut abnehmen und ein EKG machen, um die Herzaktivität zu kontrollieren und abzuklären, dass es keine weiteren Komplikationen gibt. Die nächsten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden sind entscheidend. Unsere erste Maßnahme wäre eine Not-Angioplastie gewesen, um die Arterien zu weiten, damit das Blut besser fließt, aber leider hat sich dein Vater dagegen ausgesprochen.“

Nate beschönigte nichts. Er wusste, dass sie eine klare Sprache bevorzugte. Nebulöse Formulierungen konnten alles noch schlimmer machen, weil die bedrückende Wahrheit nur scheibchenweise und viel später ans Licht kam. Violet hatte nicht vergessen, wie ihr Vater sie anfangs hatte glauben machen wollen, dass die tödliche Überdosis ihrer Mutter ein unglücklicher Zufall gewesen war.

Sie schloss die Augen und atmete einmal tief durch, drängte die alten Gefühle zurück und auch die Hilflosigkeit, weil sie ihren starrsinnigen Vater nicht dazu bringen würde, seinen Zustand zu akzeptieren.

„Weiß man den Grund?“ Violet wusste nicht, wie ihr Vater jetzt lebte, aber sie bezweifelte, dass er seinen Whiskey- und Zigarrenkonsum eingeschränkt hatte. Er war ein Mann, der tat, was ihm beliebte. Die Folgen interessierten ihn nicht.

„Soweit ich weiß, gibt es keine familiären Vorbelastungen und auch keine akuten Gesundheitsprobleme. Nach weiteren Untersuchungen werden wir mehr wissen. Im Moment ist es am wichtigsten, mehr Schäden am Herzen zu vermeiden.“

„Leider konnte ich den Schwestern keine ausführlichen Informationen geben.“ Sie schnitt eine Grimasse, als sie sich vorstellte, welch schlechte Meinung das Personal bereits über sie haben musste, weil sie nichts Konkretes über ihren Vater wusste.

„Ist schon okay. Ich weiß ja, dass es … Schwierigkeiten zwischen euch gab. Wir haben uns die Informationen anderweitig besorgt.“

Zweifelsohne meinte er damit seine Eltern, die eine enge Bindung an ihren Vater hatten, was ihr auch nichts ausmachte. Aber manchmal fühlte sie sich unzulänglich, sogar überflüssig. Es war tatsächlich so, dass niemand sie je wirklich gebraucht hatte. Und daran hatte sich nichts geändert.

„Kann ich ihn sehen?“ Egal, wie brüchig ihre Beziehung seit dem Tod ihrer Mutter war, und trotz der Tatsache, dass er ein schwieriger Mensch war, blieb er doch ihr einziger lebender Verwandter. Nur weil sie nicht die Tochter war, die er sich wünschte, so war er ihr immer noch nahe. Das machte es leider noch schwieriger.

„Ich werde sehen, was ich tun kann, damit du ein paar Minuten mit ihm hast“, versprach Nate.

Violet überraschte es, dass er es nicht dabei beließ, ihr nur die Fakten zu nennen. Vielleicht war seine Geste den alten Zeiten geschuldet – den Tagen, bevor alles kompliziert wurde und sie etwas getan hatte, wofür er sie verachtete.

So folgte sie ihm. Nate durchquerte die Intensivstation mit einer Sicherheit und Autorität, die sie vorher nie an ihm gekannt hatte.

Das Bett ihres Vaters stand in der linken Ecke des Raums am Fenster. Glücklicherweise hatte er nur einen direkten Bettnachbarn, über den er sich beschweren konnte, wenn er wieder bei Kräften und mehr er selbst war.

Lord Dempsey würde es gar nicht schmecken, in einem staatlichen Krankenhaus aufzuwachen anstatt in einer exklusiven Privatklinik.

„Im Moment ist er wegen der hohen Schmerzmitteldosis nicht ansprechbar.“

Nate ging mit ihr zum Bett hinüber, und zum ersten Mal in ihrem Leben tat der Vater ihr leid. Der Mann, der ihre Mutter mehr oder weniger in den Tod getrieben hatte, weil sie seine gesellschaftlichen Ambitionen nicht länger ertragen hatte, war nun ein alter, kranker Mann im Krankenhaushemd. Sein weißes Haar war aufs Kissen gebettet, er war an Schläuche und Kabel angeschlossen.

Monitore zeigten seine Vitalfunktionen an, die intravenösen Zugänge pumpten ihm die lebenserhaltenden Medikamente in den schwachen Körper, und Sauerstoff bekam er über eine Atemmaske. Aber Violet konnte nicht weinen. Nates Schulter war sicher vor ihren Tränen, anders als früher. Auf keinen Fall würde sie Schwäche zeigen. Sie war stärker als ihre Mutter, sie würde sich nicht beherrschen lassen!

„Wie stehen seine Chancen?“

Ihre Frage klang so emotionslos, dass Nate fürchtete, Violet könne unter Schock stehen. Dann würde er auch sie behandeln müssen – das hätte ihm heute Nacht gerade noch gefehlt.

Erst ein einziges Mal hatte er sie so unterkühlt erlebt. Er wusste, dass sie seit Beginn des Studiums nicht mehr nach Hause gekommen war. Aber trotz allem war es ihr Vater, der hier lag. Viele Jahre hatten sich in ihr Furcht und Groll gegen ihn angesammelt, ob sie ihn nun liebte oder nicht. Sie musste doch irgendeine Reaktion zeigen, jetzt, da sie wusste, dass er sterben konnte, ohne dass sie sich ausgesprochen hatten.

Seit Nate erfahren hatte, dass sie hier im Gebäude war, gingen ihm tausend Fragen durch den Kopf, von denen die meisten mit „Warum“ anfingen. Ihm war keine andere Wahl geblieben, als sein Leben weiterzuleben, nachdem sie verschwunden war. Dennoch hatte er nie aufgehört, sich zu fragen, was er getan hatte, um sie von sich fortzutreiben.

Sie wiederzusehen, holte verwirrende und widersprüchliche Gefühle wieder an die Oberfläche. Auch wenn er nicht mehr der Teenager mit gebrochenem Herzen war, so schmerzte es doch noch immer. Anstatt seine Liebe zu akzeptieren oder ihm ihre zu gestehen, war sie einfach gegangen und hatte sich geweigert, ihn zu treffen, bis sie nach London ging. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie ihn nicht um Rat gefragt oder ihn in ihre Pläne eingeweiht hatte. Das einzige Mal, dass sie ihm den Rücken zuwandte, anstatt um seine Hilfe zu bitten.

Nate hatte versucht, aus der ganzen schmerzlichen Angelegenheit das Beste zu machen, sonst wäre er auf Strachmore geblieben und in die Fußstapfen seiner Eltern getreten. Sie hatten die besten Jahre ihres Lebens gegeben, um das Schloss zu führen, hatten alles andere aus Loyalität den Dempseys gegenüber geopfert. Und sie hatten erwartet, dass auch Nate ihnen dienen würde.

Doch er schwor sich, ein anderes Leben zu führen. Er hatte Pläne, die weit über Strachmore Castle hinausgingen.

Sie enthielten allerdings einen Wermutstropfen – Violet. Wahrscheinlich hätte er all seine Hoffnungen und Pläne aufgegeben, um mit ihr zusammen zu sein. Aber das hatte nicht genügt. Er hatte ihr nicht genügt. Nate begriff, dass er wegmusste von Strachmore, und er war ihr dankbar, dass sie ihm den letzten Anstoß dazu gegeben hatte. Und das war auch ein Grund, warum er darauf bestanden hatte, heute Abend persönlich mit ihr zu sprechen.

Oft schon hatte er sich den Moment vorgestellt, wenn sie sich wiedersahen. Er hatte alle Examen mit Auszeichnung bestanden, ein Beweis, dass er ihrer doch würdig war. Und ihr dies eines Tages zu zeigen, hatte ihn während seiner Ausbildung immer wieder angetrieben.

Er war natürlich neugierig zu sehen, wie sie sich in den vergangenen Jahren entwickelt hatte. Wenn der Tod ihrer Mutter sie seelisch verändert hatte, so prägte das Leben in London sie auf jeden Fall äußerlich. Und obwohl sie es bestimmt hasste, sah man ihr die adlige Herkunft an der Haltung und bei jeder Bewegung an. Das früher schulterlange Haar trug sie zu einem kurzen modischen Bob geschnitten, und selbst lässig gekleidet in hautenger Jeans und einer seidenen Pünktchenbluse war sie der Inbegriff der modernen, weltgewandten Großstädterin. Aber all das konnte die wirkliche Violet nicht vor ihm verbergen. Ihre blauen Augen blickten bekümmert wie immer, und er brachte es nicht über sich, sie mit der Vergangenheit zu konfrontieren.

Es hatte Zeit, bis sie beide bereit waren, miteinander zu reden und nicht mehr so zu tun, als wäre dieses Wiedersehen nichts Besonderes. Auch wenn ihr Leben weitergegangen war, musste er wissen, warum sie ihn damals verlassen hatte. Erst dann konnte er dieses Kapitel abschließen. Dass Violet ihn zurückgewiesen hatte, war der einzige Fehlschlag in seinem Leben gewesen. Ein wunder Punkt, mit dem zu leben ihm nicht leichtgefallen war.

Aber im Moment musste er seine persönlichen Gefühle zurückstellen und sie behandeln wie alle Angehörigen eines schwer kranken Patienten. Früher hätte er nicht gezögert, sie in die Arme zu ziehen, um sie zu trösten, aber sie hatten sich nicht aus freien Stücken hier getroffen. Sie waren auch keine Teenager mehr, verbündet in der Rebellion gegen die Eltern, sondern Erwachsene, Fremde, die kaum etwas voneinander wussten. Nate hatte beschlossen, professionelle Distanz zu wahren.

Allerdings hatte die Begegnung mit dem Earl ihn wieder daran erinnert, was Violet und ihre Mutter durchgemacht haben mussten. Es war frustrierend gewesen, die Angioplastie nicht durchführen zu dürfen, weil Lord Dempsey zu stur war, um einen medizinisch begründeten Rat anzunehmen. Was das betraf, verstand er, dass Violet ihr Elternhaus lieber verlassen hatte, als mit ansehen zu müssen, wie ihr Vater sich zugrunde richtete. Selbst in den Fängen des Todes glaubte er, alles besser zu wissen. So, als könnte er das Schicksal aufhalten, indem er es starrsinnig ignorierte.

„Noch ist er nicht außer Gefahr, aber in besten Händen. Wir haben ihm frühzeitig blutverdünnende Mittel geben können, um weitere Schädigungen zu verhindern. Je schneller wir einen Herzinfarktpatienten behandeln, desto größer sind seine Überlebenschancen.“ Obwohl diese Behandlung tägliche Routine war, so reagierte doch jeder Patient anders, litt unter verschiedenen Herzmuskelschäden und musste entsprechend behandelt werden.

„Natürlich wünsche ich mir trotz allem, dass er wieder gesund wird. Ich bin nicht herzlos.“ Violet beugte sich übers Bett, und einen Augenblick lang dachte Nate, dass sie ihren Vater berühren würde. Aber dann richtete sie sich rasch wieder auf.

„Ich weiß. Und er weiß es sicher auch.“ Allein dass sie hier war, zeigte es. Ihr Vater war ihr immer noch wichtig und sie ihm bestimmt auch. Das Problem war nur, dass sie beide dickköpfig waren und niemand den ersten Schritt tun wollte. Nate hoffte aufrichtig, dass sie noch genügend Zeit hatten, sich zumindest wieder einander anzunähern.

Auch Nate hatte es nicht immer einfach mit seinen Eltern gehabt, doch er besuchte sie regelmäßig. Natürlich achtete er darauf, dass sie sich nicht in sein Leben einmischten oder er nicht in irgendein Drama auf Strachmore Castle verwickelt wurde. Und das war ihm auch gelungen … bis jetzt.

Plötzlich fielen die Zacken auf dem Monitor zu einer flachen Linie zusammen, und ein schriller Alarm ertönte. Ein zweiter Herzinfarkt gleich nach dem ersten war nicht ungewöhnlich, vor allem, wenn der Patient noch geschwächt war und eine lebensrettende Behandlung verweigert hatte.

„Violet, ich muss dich leider bitten, zu gehen.“ Einen Menschen wiederzubeleben, war nicht so schön, wie man es in Filmen sah. Auf keinen Fall sollten Angehörige dabei sein.

„Nate?“ Ihre Lippen bebten, und eine stumme Bitte stand in ihren großen blauen Augen.

„Ich werde alles tun, um ihn zu retten, das verspreche ich dir.“

Ein feiner Schweißfilm bildete sich auf Nates Stirn, als er den Defibrillator auflud, den eine Schwester ans Bett gerollt hatte.

„Abstand!“

Der erste Elektroschock, mit dem Nate das geschwächte Herz wieder zum Schlagen bringen wollte, war für den Earl und Violet, für eine zweite Chance, dass Vater und Tochter sich aussöhnen konnten. Nate setzte die Wiederbelebungsmaßnahmen fort, und bei jeder Kompression, die er mit flachen Händen und durchgestreckten Armen auf den Brustkorb ausübte, dachte er an seine Eltern und an deren Bindungen an diesen Mann.

So viel zu seinem Wunsch, dass niemand von ihm abhängig sein sollte. Jetzt lag es an ihm, zwei Familien den Tag zu retten. Und ein Leben.

2. KAPITEL

Nate, wie er über das Bett gebeugt rhythmisch auf die Brust ihres Vaters drückte, war das Letzte, was Violet sah, bevor sie den Raum verließ. Dann schloss sich die Tür hinter ihr, und sie bekam nichts mehr davon mit, wie ihr Vater um sein Leben kämpfte.

Eine Schwester begleitete sie zurück in das kleine Zimmer, das sie vor wenigen Minuten verlassen hatte, und wo sie nun wieder warten musste. Ihr Herz raste, sie spürte einen dumpfen Druck im Bauch. Es lag nicht in ihrer Macht, einen zweiten, vielleicht tödlichen Infarkt zu verhindern.

Von Nate hing alles ab. Sie vertraute darauf, dass er alles nur Menschenmögliche tun würde. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen – sie ihn allerdings schon. Als er sie geküsst hatte und ihr gestand, dass er sie liebte, hatte sie sich von ihm abgewandt, statt ihm zu sagen, dass sie seine Gefühle erwiderte. Aber Liebe war das Einzige, was sie ihm nicht geben konnte. Sie wagte es nicht, weil sie miterlebt hatte, wie die Liebe ihre Mutter umbrachte.

Bewundernswert fand sie Nates professionelle Haltung, als sie ihm ihren Vater anvertraute. Er strahlte aber eine Distanziertheit aus, die sie an ihm nicht kannte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ohne Erklärung und ohne Abschied nach London gegangen war. Er hatte wahrscheinlich längst mit der Vergangenheit abgeschlossen und sah keine Notwendigkeit, mit ihr darüber zu reden.

Im Grunde war sie ihm dafür dankbar. Zumindest heute hätte sie weitere seelische Belastungen nicht verkraftet.

Für jemanden, der seine Gefühle so gut wie möglich vor anderen verbarg, hatte sie genug ertragen müssen, da konnte sie keine weiteren Dämonen der Vergangenheit brauchen.

Und doch verließ sie sich wieder einmal auf ihn, so wie jedes Mal, wenn ihre Eltern sich gestritten hatten, empfand Mitleid mit sich selbst und fragte sich, wie ihr Leben wohl weitergehen würde.

Es klopfte leise an der Tür, und eine Schwester erschien mit einem Tablett in den Händen. „Ich dachte, Sie könnten eine Tasse Tee gebrauchen.“

„Danke.“ Violet lächelte gezwungen. Seit dem dramatischen Anruf hatte sie nichts mehr gegessen, aber sie würde auch jetzt nichts hinunterbringen. Nicht einmal das schlichte Gebäck, das auf einem Tellerchen neben der Tasse lag.

„Sie müssen etwas zu sich nehmen, stärken Sie sich“, sagte die Schwester freundlich. „Sie sind keine Hilfe für Ihren Vater, wenn Sie vor Hunger ohnmächtig werden.“

Violet wusste nicht, welche Hilfe sie für ihren Vater sein konnte, ohnmächtig oder nicht. Aber die Schwester blieb stehen, bis sie von einem Keks abbiss und einen Schluck Tee trank. Erst dann ging sie wieder hinaus.

Als sich die Tür das nächste Mal öffnete, kam Nate herein. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, bestimmt, weil sie noch nicht wusste, wie es um ihren Vater stand. Es hatte sicher nichts mit dem Anblick von Dr. Taylor zu tun, der die Ärmel aufgekrempelt hatte und damit seine muskulösen, sonnengebräunten Unterarme entblößte. Und dessen Haar zerzaust war, als käme er gerade aus dem Bett.

„Wir haben ihn zurückgeholt“, verkündete Nate als Erstes, und Violet stieß die angehaltene Luft wieder aus.

„Danke“, wisperte sie und ihre Kehle brannte von ungeweinten Tränen. Bis heute war ihr nicht klar gewesen, wie viel es ihr bedeutete, nicht allein auf der Welt zu sein.

„Wir halten ihn unter strenger Beobachtung. Ein zweiter Infarkt nach dem ersten ist nicht ungewöhnlich, aber jetzt ist dein Vater stabil.“

Dass Nate sich so um ihren Vater kümmerte, erleichterte sie ungemein. Besonders, da ihr Vater Nate früher so verächtlich behandelt hatte, weil er aus einer niedrigeren Klasse stammte. Ob er wohl geahnt hatte, wie gefährlich nahe sie einer intensiven Beziehung gewesen waren? Niemals hätte Nate den Ansprüchen ihres Vaters an einen Schwiegersohn genügt, der einmal seinen Titel erben sollte. Aber das hätte Nate auch nicht gewollt, Strachmore Castle bedeutete ihm genauso wenig wie ihr. Außerdem wollte sich Violet niemals an jemanden binden, weder aus Liebe noch aus einem anderen Grund.

Autor

Karin Baine
Mehr erfahren