jennissimo

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Jenna fällt fast der Kochlöffel aus der Hand: Ein älteres Hippie-Pärchen betritt ihren Kochshop - und erklärt, sie sei ihre leibliche Tochter. Dass Jenna adoptiert ist, wusste sie. Kein Problem. Aber andere Eltern wollte sie eigentlich nicht. Auch wenn die beiden betagten Blumenkinder jetzt kunstvoll die Macht der Liebe beschwören. Aber damit nicht genug: Ein toller Typ schreibt sich in Jennas Kurs ein, der anscheinend mehr im Sinn hat, als nur in der Küche seinen Mann zu stehen: Er will mit Jenna flirten.


  • Erscheinungstag 08.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750911
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Jennissimo

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Tess Martin

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Ralf Markmeier

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Already Home

Copyright © 2011 by Susan Macias Redmond

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: GettyImages /Drakonova, Iraida_Bearlala, NatalieBakunina

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783745750911

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Wie findest du’s?“ Jenna Stevens bemühte sich, selbstsicher zu klingen. Wenn man mit etwas Beängstigendem konfrontiert wurde, mit einem großen Hund etwa oder einer wirklich miesen Entscheidung, war es wichtig, keine Angst zu zeigen.

„Mir gefällt’s!“, strahlte ihre Mutter. „Ich finde es sogar atemberaubend.“ Beth drückte die Hand ihrer Tochter. „Ich bin so stolz auf dich, Liebling!“

Stolz? Stolz war gut. Stolz setzte eine Leistung voraus. Das Problem war nur, dass Jenna keine vorzuweisen hatte. Sie hatte einfach nur aus dem Bauch heraus gehandelt.

Normalerweise fand sie Impulskäufe ja ganz in Ordnung. Manchmal war das Leben einfach beschissen, und dann musste man sich eben ein Paar neue Schuhe oder einen Rock oder wenigstens einen Lippenstift kaufen, auch wenn man nichts davon brauchte. Einfach, um zu beweisen, dass man es konnte. Um der Welt zu zeigen, dass man sich nicht unterkriegen ließ.

Nur ging es hier nicht um solche Einkäufe – in erster Linie deshalb, weil Jenna nicht gerne shoppen ging. Sie hatte sich also nicht etwa eine viel zu teure Handtasche geleistet. Von wegen! Sie hatte einen dreijährigen Mietvertrag für einen kleinen Laden in einer Stadt unterschrieben, in die sie gerade erst nach fast zehn Jahren zurückgekehrt war. Als ob sie auch nur die geringste Ahnung vom Einzelhandel hätte! Oh, klar, gelegentlich ging sie einkaufen, aber das hatte nun wirklich nicht viel damit zu tun, selbst ein Geschäft zu führen. Und nur, weil sie Köchin war, hieß das noch lange nicht, dass sie wusste, wie ein Küchenladen funktionierte.

„Atme!“, sagte ihre Mutter. „Du musst atmen.“

So gerne Jenna die Illusion von Mut und Stärke aufrechterhalten hätte – das funktionierte leider nicht, wenn man gerade hyperventilierte.

„Vielleicht auch nicht“, murmelte sie. „Wenn ich zu atmen aufhöre und in die Notaufnahme gebracht werde, dann wird mich der Vermieter vielleicht aus dem Mietvertrag rauslassen. Bestimmt gibt es einen Paragrafen bezüglich Nahtoderfahrungen, oder?“

„Meinst du?“

Jenna riss sich vom Anblick ihrer neuen Schaufenster los, drehte sich um und vergrub den Kopf an der Schulter ihrer Mutter. Was ein regelrechtes Kunststück darstellte, war Beth doch gut fünfzehn Zentimeter kleiner als Jenna, die zudem noch hohe Schuhe trug.

„Ich habe mir den Mietvertrag gar nicht durchgelesen“, gestand sie. Ihre Stimme klang leicht gedämpft.

Sie machte sich auf eine Standpauke gefasst; schließlich hatten ihre Eltern ihr beigebracht, immer alles zu lesen, bevor man unterschrieb. Selbst eine Grußkarte. Sie hatte es wirklich verdient, ausgeschimpft zu werden.

Seufzend tätschelte Beth ihren Rücken. „Das werden wir deinem Vater besser nicht erzählen.“

„Danke.“

Jenna richtete sich auf. Sie standen auf dem Parkplatz vor dem Laden, den sie gemietet hatte. Noch handelte es sich nur um leere Räume, doch in wenigen Wochen wollte sie hier ihr eigenes Geschäft eröffnen.

„Fünfzig Prozent aller Geschäftsgründungen gehen pleite“, murmelte sie.

Ihre Mutter lachte. „Das ist mein kleiner Sonnenschein! Na komm, ich lade dich auf einen Milchkaffee ein. Wir setzen uns hin, reden und überlegen, auf welche Weise dein künftiger Exehemann gefoltert werden sollte. Ganz sicher kennt dein Vater jemanden.“

Trotz der Angst, die ihr den Hals zuschnürte, dem Gefühl eines drohenden Unheils und ihres insgesamt vollkommen mickrigen Lebens, musste Jenna lächeln. „Mom, Dad ist Banker! Männer, die eine Bank leiten, kennen solche Typen nicht.“

„Dein Vater ist ziemlich einfallsreich.“

Er war auch ein körperlich fitter, sportlich sehr aktiver Mann. Sollte Marshall Stevens wollen, dass Jennas Exmann irgendetwas zustieß, würde er sich schon selbst darum kümmern.

„Ich bin einfach nur so wütend auf Aaron“, sagte Beth, während sie zu ihrem SUV gingen. „Dieser hinterhältige, verlogene Du-weißt-schon-was.“

„Du-weißt-schon-was“ war natürlich die Umschreibung für „Scheißkerl“ oder womöglich „Hurensohn“. Wie auch immer – Beth hielt nichts von Schimpfwörtern.

Sie war eine konservative Frau. Sie schminkte sich, bevor sie das Haus verließ, brachte Nachbarn, die einen Todesfall zu beklagen hatten, Suppe vorbei und trank niemals vor siebzehn Uhr Alkohol. Und für all das liebte Jenna sie.

Sie kannte genug Leute, die Traditionen als alberne Zeitverschwendung betrachteten, doch für Jenna bedeuteten sie Wärme und Sicherheit. Sie konnte darauf zählen, dass ihre Eltern sich niemals änderten. Und das fand sie heute wichtiger denn je zuvor.

Sie stiegen in den SUV, eine dieser modernen Benzinschleudern, und steuerten auf den nächstgelegenen Starbucks zu.

„Ich werde ihm das nie verzeihen!“, behauptete Beth. „Es wäre ja nicht so schlimm, wenn er irgendwann festgestellt hätte, dass eure Beziehung eben nicht funktioniert. Nicht jede Ehe hält. Aber dass er dich betrogen hat … Ich schwöre dir, wenn mein Daddy noch leben würde, würde er Aaron mit einem Gewehr hinterherjagen! Und ich wäre die Letzte, die ihn aufhalten würde.“

Es hatte Tage geben, an denen Jenna ihn auch nicht aufgehalten hätte. Doch im Grunde war sie auf ihren Ex nicht wegen der anderen Frauen wütend, auch wenn der Gedanke daran sie nicht gerade glücklich machte. In Wahrheit war es etwas anders, das sie nachts nicht schlafen und jede Entscheidung, die sie jemals getroffen hatte, hinterfragen ließ.

Sie bogen auf den Parkplatz von Starbucks. Ihre Mutter wandte sich zu ihr um. „Du bekommst alles, was du willst. Den größten Becher, Sirup, Schlagsahne, alles.“ Beth krauste die Nase. „Ich werde nicht mal erwähnen, wie übel ich es dir nehme, dass du dünn wie eine Bohnenstange bist, während meine Schenkel mich offenbar hassen. So lieb hab ich dich.“

Jenna lachte, dann beugte sie sich vor und umarmte ihre Mutter. „Ich hab dich auch lieb, Mom! Danke schön.“

„Noch habe ich den Kaffee nicht bezahlt.“

Das Dankeschön galt nicht dem Kaffee, aber das wusste ihre Mutter natürlich.

„Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist“, sagte Beth, während sie aus dem Wagen kletterten. „Du gehörst hierher. Echte Menschen leben in Texas und nicht in Los Angeles. Diese ganzen Hollywood-Typen da …“ Sie rümpfte die Nase. „Gibt es überhaupt echte Menschen in dieser Stadt?“

„Ein paar, aber die gehen nachts nicht raus.“ Jenna hakte sich bei ihrer Mutter unter. „Ich bin auch froh, wieder zu Hause zu sein.“

Sich ihren künftigen Laden anzusehen fühlte sich so an, als würde sie zum Ort des Verbrechens zurückkehren. Aber es war nötig, denn irgendjemand – vermutlich sie – musste dieses Geschäft zum Laufen bringen.

Auch wenn sie die letzten Wochen damit zugebracht hatte, alles für die große Eröffnung vorzubereiten, konnte sie es jedes Mal, wenn sie auf den Parkplatz fuhr, einfach nicht glauben.

Vor drei Monaten noch hatte sie in Los Angeles gelebt, wo ihr Mann in das winzige Badezimmer gekommen war, als sie sich gerade die Zähne putzte, und ihr erklärt hatte, dass er sie für eine andere Frau verlassen würde. Dass er diese Frau lieben und deswegen gehen würde.

Jenna erinnerte sich vor allem daran, wie sie in dem beengten Raum gestanden und sich gefragt hatte, wann sie wohl ihren Mund ausspülen sollte. Zu welchem Zeitpunkt seines Geständnisses war es wohl höflich oder angebracht, sich vorzubeugen und auszuspucken?

Sie war nicht in der Lage gewesen, mit der ganzen Zahnpasta im Mund zu sprechen, deswegen stand sie nur da wie eine Idiotin. Schließlich hatte Aaron das Badezimmer wieder verlassen und sie war allein geblieben, fassungslos und geschockt und mit vom Kinn tröpfelndem Schaum mit Minzgeschmack.

Später hatten sie geredet. Oder besser gesagt: Er hatte geredet und dabei all die Gründe aufgezählt, warum sie an der Trennung schuld war. Inzwischen hatte sie kapiert, dass genau das Aarons Masche war: Alles, was positiv an einem Menschen war, systematisch zu zerstören. Nach außen hin war er äußerst charmant, er sah gut aus und hatte ein gewinnendes Lächeln. Aber tief drinnen war er der Teufel. Oder zumindest ein Gehilfe des Teufels.

Wahrscheinlich hätte sie um ihre Ehe kämpfen können, aber ein Teil von ihr war froh, dass er ihr einen Grund für die Trennung gab. Und so hatte sie kurzerhand alles, was ihr gehörte, zusammengepackt, um zurück nach Hause, nach Georgetown, Texas, zu gehen.

Zum Glück hatten ihre Eltern sie nicht gefragt, warum sie sich hier keine Arbeit in einem Restaurant suchte; immerhin hatte sie beinahe ein Jahrzehnt lang als Chefköchin gearbeitet. Das war es, was sie gelernt hatte. Was sie konnte. Oder einmal gekonnt hatte. Im Moment schien es ihr jedoch unmöglich, irgendetwas zu kochen.

Ja, sicher, sie brachte jederzeit irgendwas Unkompliziertes zustande. Ein Cremesüppchen und ein Dutzend Nudelgerichte, eine herzhafte Tarte, ein zartes Entrecôte. Die Grundlagen eben. Aber kreativ kochen? Neue Geschmacksrichtungen zu etwas geradezu Magischem verbinden? Diese Fähigkeit hatte sie verloren.

Als ob jemand ihre kulinarische Seele gestohlen hätte. So gerne sie Aaron auch dafür die Schuld in die Schuhe geschoben hätte – und es sprach viel dafür, dass er ihr alles Mögliche gestohlen hatte –, so war doch sie es gewesen, die nicht aufgepasst hatte, die nicht das beschützt hatte, was ihr das Wichtigste im Leben war. Sie hatte es zugelassen, dass er sich erst über sie lustig gemacht und dann ihre besten Ideen als seine eigenen ausgegeben hatte. Danach hatte es nicht mehr lange gedauert, bis sie tatsächlich an sich zu zweifeln begann, an ihrer eigenen Kreativität – bis sie nur noch eine Frau war, die früher mal genial kochen konnte.

Allerdings sorgte sie dafür, dass niemand es bemerkte. Sie wollte nicht darüber reden, und vor allem wollte sie nicht, dass die Leute Mitleid mit ihr hatten. Nach außen hin gab sie sich wie immer; die üblichen Gerichte brachte sie schließlich nach wie vor zustande. Aber das, was sie am meisten geliebt hatte – den kreativen Funken –, war verschwunden. Und sie wusste nicht, wie sie ihn zurückgewinnen konnte, und noch weniger, wie sie das Problem irgendjemandem begreiflich machen sollte.

Sie versuchte sich einzureden, dass die Eröffnung eines Küchenshops ein großes Abenteuer war. Ihr neues Ziel. Sie konnte ihr Wissen an andere weitergeben. Und wenn das als Anreiz nicht genügte, dann vielleicht dies: Die nächsten drei Jahre musste sie irgendwie die Miete für den Laden zusammenbekommen. Wenn sie sich schon nicht mit positiven Gedanken motivieren konnte, dann vielleicht mit Angst. Hauptsache, es funktionierte.

Zumindest die Lage ist fantastisch, dachte sie, während sie durch das große Schaufenster starrte. Old Town war ein florierender Stadtteil von Georgetown, und ihr Laden befand sich mittendrin. Rechts von ihr war ein Handarbeitsladen namens Only Ewe, links eine Versicherungsagentur und daneben ein Schönheitssalon.

Old Town selbst umfasste mehrere Straßenblöcke mit kleinen Firmen, Geschäften und Wohnvierteln. Es gab Restaurants, Boutiquen, mehrere Banken und viel Laufkundschaft. Jenna konnte nur hoffen, dass Spontankäufe hier zum Alltag gehören.

Während sie aus ihrem Wagen ausstieg und ihren Laden musterte, sagte sie sich immer wieder, dass sie es schaffen würde. Vielleicht konnte der Glaube ja doch Berge versetzen. Denn ob es ihr nun passte oder nicht: Bald musste sie ihren Laden eröffnen. Das Schild sollte Anfang nächster Woche geliefert werden und die letzten Waren zwei Tage später. Dann brauchte sie alles nur an den richtigen Platz zu räumen und die Tür aufzuschließen.

Bevor sie Geld für Werbung ausgab, wollte sie erst einmal sehen, wie es überhaupt lief. Das Angebot von Grate Expectations umfasste hochkarätige Küchenutensilien. Außerdem wollte sie Kochkurse anbieten und den Leuten der Stadt die Möglichkeit geben, die Geheimnisse einer Chefköchin zu erfahren. Wie es schien, gab es in der näheren Umgebung keine Konkurrenz für ihre Geschäftsidee.

Als sie den Ladenschlüssel aus der Tasche zog, hörte sie hinter sich eine Autotür zufallen. Sie drehte sich um und sah, wie eine dunkelhaarige Frau auf sie zusteuerte.

„Hi“, rief die Frau. „Jenna?“

„Ja. Du musst Violet sein.“

Sie hatten miteinander telefoniert. Violet war eine von zwölf Anruferinnen gewesen, die sich auf ihre Stellenanzeige gemeldet hatten, konnte von allen die meiste Erfahrung bieten und schien zudem am normalsten zu sein.

Jenna musterte ihr kurzes, stachelig abstehendes Haar, den dunklen Eyeliner und die dick getuschten Wimpern. Sie trug ein beigefarbenes Spitzenhemd über einem dunkelvioletten Tanktop. Ihr stufiger Rock war ebenfalls violett. Jede Menge Ketten in verschiedenen Längen hingen um ihren Hals, während ungefähr genauso viele Armreifen an ihrem linken Handgelenk klimperten. Hochhackige Stiefeletten vervollständigten den Look.

Sie schien Mitte, Ende zwanzig zu sein. Witz und Neugier glitzerten in ihren braunen Augen, ihr Lächeln war freundlich.

„Toller Standort“, sagte Violet, als Jenna mit der Tür kämpfte. „Sehr edel. Da wirst du eine Menge Laufkundschaft haben.“ Sie hatten sich von Anfang an geeinigt, sich zu duzen. „Vor allem, wenn du kochst! Dann werden die Leute einfach dem Duft nachlaufen.“

Sie gingen hinein. Jenna knipste das Licht an und sah sich in dem Chaos um.

Regale an den Wänden und in der Mitte des Raumes. Eine neu installierte Küche auf der einen Seite, die Kasse auf der anderen. Unmengen von Kartons waren eineinhalb Meter in die Höhe gestapelt. Es würde Tage dauern, sie auszupacken.

Beängstigend, doch das war Jenna egal. Schwere Arbeit war genau das, wonach sie sich sehnte. Denn wenn sie erschöpft war, hatte sie keine Kraft mehr, zu grübeln. Davon abgesehen: Das hier war Amerika. Und wie es immer hieß, konnte man mit etwas harter Arbeit einfach alles erreichen.

„Hübsch.“ Violet lief herum. „Die hohen Decken sind toll. Einige Läden hier haben einen zweiten Stock, deswegen sind dort die Decken viel niedriger.“ Sie steuerte den Küchenbereich an, legte ihre Tasche ab und krempelte die Ärmel hoch. Jenna erhaschte einen Blick auf die tätowierten Blumen an ihren Handgelenken.

Violet war ganz anders, als Jenna sie sich vorgestellt hatte. Sie hatte eine etwas ältere Frau erwartet. Eine etwas … konservativere. Aber Violet war energisch und hatte ein bezauberndes Lächeln. Das kurze mit Gel aufgestellte Haar stand ihr gut, genauso wie ihr rauchiges Augen-Make-up. Violet sah sowohl witzig wie auch offen und freundlich aus.

Zehn Jahre in Restaurantküchen hatten Jenna gelehrt, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen, wenn es darum ging, jemanden anzustellen. Und obwohl ihr Aaron ständig eingeredet hatte, wie ahnungslos sie war, hatte selbst er in diesen Fällen auf sie gehört.

„Arbeitest du gerne mit Kunden?“, fragte Jenna.

Sie wusste, dass der Kundenkontakt die größte Herausforderung für sie darstellen würde. Sie war es gewohnt, hinter den Kulissen zu arbeiten und nicht direkt mit den Gästen zu tun zu haben. Bestellungen durchführen, organisieren, unter Druck arbeiten – das alles fiel ihr leicht. Aber einem genervten Kunden mitten ins Gesicht zu lächeln? Eher nicht.

„Meistens“, sagte Violet lachend. „Ich denke, so ein kleiner Laden hat gute Chancen. Die Leute gehen in große Kaufhäuser, weil es bequem ist und billig. Aber wer extra hierher fährt, der erwartet schon etwas Besonderes.“ Sie ließ ihre Hand über die Edelstahlarbeitsplatte gleiten. „Der Schlüssel zum Erfolg ist also, dem Kunden etwas zu bieten, was er nirgendwo sonst bekommt. Nicht nur andere Produkte, sondern vor allem persönliche Beratung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kunden wiederkommen wollen.“ Violet lächelte wieder, ihre Augen glänzten vor Begeisterung. „Ich mag solche Herausforderungen.“

„Das ist gut – denn davon wird es jede Menge geben.“

Violet sah sie an. „Vielleicht auch nicht. Wer sollte mit uns konkurrieren? Ich glaube nicht, dass es in dieser Gegend etwas Ähnliches gibt, allerdings habe ich das noch nicht recherchiert.“

Jenna starrte sie an. Recherchiert? Sie bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. Klar, die meisten Leute hatten einen umfangreichen Businessplan, wenn sie einen Laden eröffneten. Sie sahen sich die Gegend genau an, stellten Berechnungen an, arbeiteten eine Gewinn- und Verlustrechnung aus. Alles Dinge, die Jenna bei einer Restauranteröffnung beispielsweise auch getan hätte.

„Wir bieten hier etwas ganz Einzigartiges an“, sagte sie laut. „Das mögen die Leute.“

„Hast du schon einmal einen Laden gehabt?“, erkundigte sich Violet.

„Nicht direkt. Ich bin Chefköchin.“

„Oh, wow! Das ist fantastisch.“ Violet ging in die Mitte des Raumes und breitete die Arme aus. „Hier würde die Kochstelle gut hinpassen. Die Leute lieben es, mit anzufassen. Mit diesem großen Ofen und den sechs Herdplatten können alle zusammen kochen und backen. Bestimmt werden die Kunden alles dafür geben, von einem Profi wie dir Tipps zu bekommen.“

Jenna schüttelte den Kopf. „Ich möchte eigentlich nicht, dass die Kunden mitmachen. Ich werde ihnen einfach ein paar Dinge demonstrieren, Techniken für bestimmte Gerichte zeigen beispielsweise.“

Violet ließ die Arme fallen. „Das ist auch gut“, sagte sie mit deutlich weniger Begeisterung. „Du wirst aber kochen und die Kunden probieren lassen?“

„Natürlich.“

„Das ist schön.“ Sie ging hinüber zu den Kartons und las die Beschriftungen. „Also hast du noch nie einen eigenen Laden gehabt?“

„Nein.“

Violet kaute auf der Unterlippe. „Wirst du einen Geschäftsführer anstellen?“

„Ich bin die Geschäftsführerin. Zumindest am Anfang.“ Jenna straffte die Schultern. Es war an der Zeit, mit dem Bewerbungsgespräch zu beginnen. „Ich suche nach jemandem, der hier Vollzeit arbeitet. Wir haben sechs Tage die Woche geöffnet. Es wäre mir lieb, wenn du deinen zweiten freien Tag irgendwann zwischen Montag und Donnerstag nehmen würdest. Vermutlich wird freitags und samstags am meisten los sein. Ich werde verschiedene Kochkurse anbieten. Klassische Rezepte, leichte Rezepte und Gerichte, die man einfrieren und dann Tage oder Wochen später servieren kann.“

Alles Dinge, die sie im Schlaf konnte.

Eine kleine Stimme in ihr flüsterte, dass es doch auch nett wäre, ein wenig herumzuexperimentieren. Dass die Kunden sie zum Beispiel mit Zutaten überraschen könnten und sie dann irgendetwas aus dem Ärmel schütteln würde. Sie könnte …

Gegen ihren Willen musste sie daran denken, wie sie einmal aus Brotpudding kein Dessert, sondern eine Vorspeise gemacht hatte, indem sie den Zucker durch Chili und andere Gewürze ersetzt hatte. Aaron hatte einen Löffel probiert, bevor sie selbst dazu kam, und ihn Sekunden später in seine offene Hand gespuckt.

Dann hatte er ihr auf den Rücken geklopft und gesagt: „Aber gut, dass du es versucht hast.“

Als wäre sie ein kleines Kind, das einen Sandkuchen gebacken hatte. Ein bockiges Kind mit Lernschwierigkeiten, das man viel loben musste.

Sie wusste nicht, was schlimmer war – dass der Rest der Küchenmannschaft das mitbekommen hatte oder die Tatsache, dass ihre Kreation in Wahrheit absolut köstlich war, wie sie später feststellte. Aber sie hatte sich selbst nicht mehr genug vertraut, um jemand anderen probieren zu lassen.

In naher Zukunft würde es keine Experimente mehr geben. Diese Vorstellung machte sie traurig. Nein – traurig war nicht das richtige Wort. Es brach ihr das Herz.

„Ich brauche jemanden, der sich schnell in die Aufgaben einer Geschäftsführerin einarbeiten kann“, platze sie heraus.

„Das würde mich sehr interessieren.“ Violet schien der Gedanke zu gefallen.

Jenna presste die Lippen zusammen. Wenn sie den Laden nicht selbst schmeißen würde, hätte sie jede Menge Zeit. Zeit, um sich darüber klar zu werden, wie sie den Teil von sich wiederfinden sollte, der verloren gegangen war.

Violet sah sich um. „Wirst du die Gerichte verkaufen? Oder die verschiedenen Zutaten?“

„Nein, wieso?“

„Du brauchst etwas, das die Leute kaufen können. Irgendwelche Geräte oder eine Pfanne. Küchenutensilien gehen selten kaputt und werden nie unmodern. Wenn du den Kunden keinen Anreiz bietest, was zu kaufen, dann werden sie es auch nicht tun. Sie kommen rein, holen sich Rezepte und Ratschläge ab und gehen wieder. Und das bedeutet: keine Einnahmen.“

„Verstehe.“ Darüber hatte Jenna noch nicht nachgedacht. „Ich werde mir etwas einfallen lassen. Vielleicht werde ich Geld für die Kochkurse verlangen. Warum erzählst du mir nicht etwas über deine momentane Arbeit?“

Eine Viertelstunde später war sie über Violets bisheriges Berufsleben im Bilde. Sie hatte zwei Empfehlungsschreiben vorzuweisen und schien zugänglich und locker zu sein. Da Jenna sich selbst eher für einen Kontrollfreak hielt, wäre Violet ein guter Ausgleich.

„Warum willst du dich verändern?“, fragte Jenna.

„Mir gefällt meine Arbeit“, erklärte Violet. „Aber eigentlich sind Konzerne nicht so mein Ding. Ich möchte lieber eng mit Leuten zusammenarbeiten. Ich bin jetzt schon ein paar Jahre in Austin, aber immer noch dabei, mich hier einzugewöhnen.“ Sie deutete auf die Regale. „Das hier könnte spannend werden, und genau so etwas suche ich. Wenn es tatsächlich für mich die Möglichkeit gibt, die Geschäftsführung zu übernehmen, dann bin ich an der Stelle interessiert.“

Jenna war erleichtert. Sie hatte bereits mit den Leuten telefoniert, die Violet als Referenzen angegeben hatte, und war beeindruckt. Jemanden zu haben, der sich im Einzelhandel auskannte, wäre eine große Hilfe. „Wann könntest du anfangen?“

„Nächste Woche. Dienstag.“

„Perfekt.“

Die Tür ging auf, und ein blonde Frau Ende zwanzig trat ein.

„Hi, ich bin Robyn. Mir gehört der Handarbeitsladen nebenan. Ich dachte, ich komme mal vorbei, um Hallo zu sagen und euch hier willkommen zu heißen.“

Violet ging auf sie zu und streckte ihr lächelnd die Hand hin. „Hallo, ich bin Violet Green“, sagte sie. „Ich weiß – verrückter Name. Ich schätze, meine Mutter stand ganz schön unter Medikamenteneinfluss, als sie mich zur Welt brachte. Und das ist Jenna Stevens. Ihr gehört der Laden.“

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Jenna, der Robyn irgendwie bekannt vorkam. Georgetown war nicht besonders groß, somit konnte es gut sein, dass sie in dieselbe Schule gegangen waren. Allerdings in unterschiedliche Klassen. Robyn schien ein paar Jahre jünger zu sein.

Robyn sah sich um. „Großartiger Laden! So hell! Es wird euch hier gefallen. Und ich hoffe, dass wir ein paar gemeinsame Kunden haben werden.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich hatte schon befürchtet, dass hier jemand einzieht, der Autoteile verkauft. Keine Frage, ich mag mein Auto, aber die wenigsten Männer interessieren sich fürs Stricken.“

Violet lachte. „Ich war schon mal in deinem Laden. Er ist wirklich schön. All diese Wolle – herrlich.“

„Du strickst?“, fragte Robyn.

„Nein, aber ich würde es gern lernen.“

„In ein paar Wochen fängt eine Anfängerklasse an. Vielleicht möchtest du ja teilnehmen.“

„Danke.“

Jenna fühlte sich unbehaglich, obwohl es sich nur um eine einfache Plauderei handelte. Das würde sie doch wohl hinbekommen. Doch in Wahrheit hatte sie sich schon jahrelang nicht mehr in der „Mädchenwelt“ bewegt. In der Küche hatte sie fast nur mit Männern zu tun gehabt. Und während Aaron immer ein paar Freunde im Schlepptau hatte, war es ihr schwergefallen, Freundschaften zu schließen. Früher in Georgetown hatte sie immer jede Menge Freundinnen gehabt. Sie nahm sich fest vor, sie alle bald anzurufen.

„Ich werde hier oft kochen“, zwang sie sich zu sagen. „Ich könnte dir ab und zu was zum Probieren vorbeibringen.“

Robyn lächelte. „Genau aus diesem Grund wirst du meine Lieblingsnachbarin werden, das weiß ich jetzt schon! Wann ist die Eröffnung?“

Janna nannte ihr das Datum.

„Lasst mich wissen, wenn ich euch irgendwie helfen kann“, bot Robyn an. „Auch wenn ihr nur vorbeikommen wollt, um mal in Ruhe eine Tasse Kaffee zu trinken.“

„Danke“, sagte Violet. „Das werden wir bestimmt.“

Robyn verdrückte sich. Violet schloss die Tür hinter ihr und begann zu lachen.

„Was für ein Abenteuer! Ich kann es kaum erwarten!“

Jenna musste daran denken, dass sie sich die letzten Monate wie eine totale Versagerin gefühlt hatte. Doch jetzt konnte sie noch einmal ganz von vorn anfangen.

„Ich auch nicht“, murmelte sie.

Diesmal würde alles anders werden.

Kurz nach achtzehn Uhr fuhr sie in die Garage des kleinen Stadthauses, das sie gemietet hatte. Als sie in die Küche kam, war ihr Vater gerade dabei, Löcher in die Wand zu bohren. Sie wartete, bis er die Bohrmaschine abstellte.

„Hi Dad!“

Er drehte sich um und grinste. „Hallo Kindchen! Deine Regale sind fast fertig. Gib mir noch eine Minute, dann kannst du mir helfen, die Halterungen anzubringen.“

An die Metallregale konnte sie Haken für all ihre Töpfe und Deckel anbringen. Außerdem brauchte sie jede Menge Platz für ihre Kochbücher und Notizen.

Ihr Dad zwinkerte ihr zu. „Ich habe deinen Vermieter davon überzeugt, dass du die Regale brauchst.“

„Ich wette, das war nicht leicht.“

„Er hat schließlich doch Verständnis aufbringen können.“

Was sie nicht wunderte, war ihr Vermieter doch ein Freund ihres Vaters.

Marshall legte die Bohrmaschine weg und breitete die Arme aus. „Geht es dir gut, Jenna?“

Sie warf sich in seine Arme und genoss das vertraute Gefühl von Sicherheit. „Bald geht es mir wieder gut.“

„Tut mir leid, dass Aaron sich als ein derartiger Mistkerl herausgestellt hat!“

„Mir auch. Ich wollte das haben, was du mit Mom hast.“ Früher hätte sie nie geglaubt, dass das zu viel verlangt wäre. Doch nach all den vergeudeten Jahren mit ihrem Exmann war ihr klar geworden, wie schwer es war, den Richtigen zu finden.

„Das wirst du“, sagte ihr Dad. „Aber tu mir einen Gefallen, Kindchen. Verlieb dich das nächste Mal in einen Texaner!“

Sie grinste. „Meinst du, die sind viel besser?“

„Ich weiß es.“

„Und wenn er ein Aggie ist?“, zog sie ihn auf. Ihr Vater war auf der University of Texas gewesen. Aggies – also alle, die an der Texas A&M University ihren Abschluss machten – waren der Feind.

„Lieber ein Aggie als jemand aus Kalifornien.“

Sie lachte. „Ich tu mein Bestes.“

„Gutes Mädchen!“ Er küsste sie auf den Kopf und ließ sie los.

Sie hatte mit fast zweiunddreißig vielleicht nicht das erreicht, was sie sich erhofft hatte, aber es war noch nicht zu spät. Ihre Ehe war gescheitert, doch so was hatten andere auch schon überlebt. Und viele blühten danach erst richtig auf. Bestimmt würde sich bald herausstellen, dass ihr gar nichts Besseres hatte passieren können.

2. KAPITEL

Violet parkte vor Jennas Laden und stellte den Motor ab. Noch war etwas Kaffee in dem Pappbecher übrig, und angesichts der Kartons, die sie beim Vorstellungsgespräch gesehen hatte, wusste sie, dass sie eine Menge Koffein benötigte. Eine Ladeneröffnung machte viel Arbeit.

Sie sah, dass sich jemand im Laden bewegte. Wahrscheinlich war Jenna schon da. Enthusiasmus ist wichtig, dachte sie und überlegte wieder, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, ihre Stelle zu kündigen, um mit jemandem zu arbeiten, der überhaupt keine Erfahrung im Einzelhandel hatte. Jenna war nicht nur unerfahren, sie hatte auch einige seltsame Vorstellungen.

Andererseits hatte sie hier die Chance, Geschäftsführerin zu werden. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, und eigentlich konnte sie sich immer darauf verlassen – außer wenn es um Männer ging. An der Männerfront war ihr Bauchgefühl ein völliger Reinfall, aber das störte sie nicht sonderlich. Sie war nicht auf der Suche nach einer Beziehung. Jetzt ging es erst mal um ihre Karriere und nicht um Männer.

Sie trank den letzten Schluck Kaffee, stieg aus und lief zur Eingangstür. Jenna richtete sich auf, als sie klopfte, und ließ sie herein.

„Da bist du ja! Gott sei Dank! Ich ersticke in den ganzen Kisten! Ich habe eine Skizze gemacht, damit wir wissen, wo alles hin soll. Aber dieses ganze Verpackungsmaterial … Wie kann es eigentlich sein, dass ich, wenn ich einen Karton ausgepackt habe, mehr wieder reinstopfen muss, als eigentlich reinpasst?“ Jenna lachte. „Tut mir leid.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin ein bisschen überdreht. Ich habe schon um vier heute Morgen angefangen und Unmengen Kaffee getrunken. Noch mal von vorn: Hallo! Willkommen. Wie geht’s?“

„Gut. Und was die Verpackungen betrifft – da hast du recht. Die vervielfachen sich auf magische Weise.“

„Das würde dieses Chaos erklären.“

Die einstmals freie Fläche in dem Raum hatte sich in ein Labyrinth aus Kisten und Regalen verwandelt; aus geöffneten Kartons quollen Folien und Papier.

Im Gegensatz dazu sah Jenna frisch und ordentlich aus. Sie trug eine weiße Kochjacke, eine schwarze Hose und schwarze Clogs an den Füßen. Ihr dunkelrotes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre grünen Augen glänzten, ihre vollen Lippen lächelten und ihre Haut war einfach perfekt – und das ohne Make-up und trotz Schlafmangel. Sie sah aus wie ein als Köchin verkleidetes Fotomodel – allerdings eher für das Cover von Town and Country als für Cosmo.

Violet, die für die körperliche Arbeit bequeme Kleidung gewählt hatte, trug ein langärmliges T-Shirt, Jeans und abgewetzte Stiefel. Sie fühlte sich, als ob sie bei einer eleganten Abendveranstaltung in kurzen Shorts aufgetaucht wäre.

„Hier sind meine Skizzen.“ Jenna deutete auf mehrere an die Wand geheftete Papierbogen. „Die Küche ist natürlich ganz hinten. Dafür habe ich einige neue Sachen bestellt, die in die Schränke unter der Arbeitsplatte gehören. Ich ordne alles nach Funktion. Töpfe und Pfannen zusammen, Backformen und so weiter. Das findest du schnell heraus.“

Violet betrachtete die Skizzen. „Eine Frau mit einem Plan“, sagte sie. „Wie wäre es, wenn ich zunächst mal den Abfall in den Container werfe?“

„Sehr gut. Bisher habe ich einen großen Bogen um die Kisten mit den Porzellanschüsseln gemacht. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie umständlich die verpackt sein werden. Aber jetzt, wo du da bist, werde ich es wagen!“

Die nächsten Stunden arbeiteten sie schweigend. Sie schleppten gemeinsam die beeindruckenden Geräte in die Küche. Jenna half kräftig mit, die Kartons zu zerreißen und die Regale einzuräumen, was Violet überraschte. Die meisten Chefs gaben lieber Anweisungen, als sich selbst die Hände schmutzig zu machen.

Trotz der harten Arbeit vergoss Jenna nicht einen einzigen Schweißtropfen. Violet hingegen spürte bald, wie die Klamotten an ihr klebten. Aber so war es eben. Sie musste wohl akzeptieren, dass ihre neue Chefin zu diesen perfekten Menschen gehörte. Hochgradig organisiert, diszipliniert, elegant in allen Situationen. Violet hatte früher auch versucht, perfekt zu sein. Doch irgendwann in ihrem Leben hatte sie eine nicht perfekte Abzweigung genommen und sich nie davon erholt.

Gegen halb elf machten sie eine Pause. Jenna hatte bereits den kleinen Kühlschrank mit Diet Snapple gefüllt und nahm jetzt zwei Flaschen heraus. Nebeneinander rutschten sie zu Boden.

Jenna sah sich um. „Wird schon langsam besser, oder? Du kannst mich gerne anlügen und mir recht geben.“

Violett öffnete ihre Flasche und trank einen Schluck. „Der Laden wird toll, wart’s nur ab! Künftig kommen die Lieferungen nacheinander. Das macht es leichter.“

„Das hoffe ich. Das Schlimmste, was ich bisher erlebt habe, war, dass das bestellte Rind nicht geschlachtet war.“

Violet starrte sie an. „Du meinst, es kam das ganze Rind am Stück?“

„So gut wie. Ich musste die Steaks selbst herausschneiden. Sagen wir mal so: Den ganzen Nachmittag den Tomahawk zu schwingen ist anstrengend fürs Handgelenk.“ Violet musste sie verständnislos angesehen haben, denn sie fügte hinzu: „Es ging um Rinderfilet aus der Hochrippe. Deswegen das Beil.“

„Sicher.“ Sie verstand noch immer nichts. „Gefällt es den Männern, dass du ein Rind schlachten kannst, oder machte es ihnen eher Angst?“

Jenna grinste. „In der Küche muss man sich selbst beweisen. Schlachten zu können, hilft da enorm.“ Ihr Lächeln verblasste. „Das konnte ich immer besser als Aaron, was wahrscheinlich ein weiterer Grund dafür ist, dass es mit uns nicht geklappt hat.“ Sie starrte auf ihre Snapple-Flasche, hob dann wieder den Kopf. „Ich stecke gerade mitten in einer Scheidung. Die Papiere sind schon unterschrieben. Jetzt heißt es nur noch abwarten.“

Eine Scheidung. Damit hatte Violet nicht gerechnet. „Das tut mir leid“, sagte sie automatisch. „Fehlt er dir?“

Jenna zuckte die Achseln. „Das sollte man eigentlich annehmen.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich vermisse das, was früher einmal gut war. Wie wir zusammengearbeitet haben. Aber im vergangenen Jahr habe ich einfach nichts mehr richtig gemacht. Zumindest sagte er das.“

Jenna brach jäh ab, als ob sie schon zu viel preisgegeben hätte.

„Ich weiß, was du meinst“, sagt Violet schnell. „Was Männer betrifft, bin ich eine totale Katastrophe. Ich verliebe mich immer in die Falschen. Wenn mir ein Typ gefällt, sollte ich eigentlich sofort die Beine in die Hand nehmen und wegrennen. Er ist garantiert ein Versager – höchstwahrscheinlich ein arbeitsloser Versager, der einem auch noch den letzten Penny aus der Tasche zieht.“ Oder Schlimmeres. Doch es gab keinen Grund, davon anzufangen. Zumindest nicht an ihrem ersten Arbeitstag. „Mein neuer Plan ist, mich gar nicht erst mit Männern zu treffen“, sagte sie.

„Nie mehr?“

„Auf jeden Fall bin ich wild entschlossen, es das nächste Mal richtig zu machen. Ich werde so lange Nein sagen, bis ich mir ganz sicher bin. Nur leider stellen sich alle Männer, zu denen ich Nein sage, hinterher als großartig heraus. Mein Liebesradar ist wirklich beschissen. Ich schätze, das nächste Mal muss ich Ja sagen, wenn ich eigentlich Nein sagen wollte. Umgekehrte Psychologie und so weiter.“

Jenna hob ihre perfekt gezupften Augenbrauen. „Wirst du oft eingeladen?“

„Na klar, stündlich! Du nicht?“

„Nicht direkt.“

Violet konnte das kaum glauben. Jenna schien ihr eine unwiderstehliche Mischung aus Feuer und Klasse zu sein. „Vielleicht, weil du verheiratet warst.“

„Das glaube ich nicht. Männer interessieren sich kaum für mich.“

Violet verschluckte sich fast an ihrem Eistee. „Dann fällt es dir wohl einfach nur nicht auf. Glaub mir, die Männer interessieren sich sehr wohl für dich!“

„Momentan gehe ich ihnen sowieso aus dem Weg“, räumte Jenna ein. „Aaron hat mich betrogen, also bin ich da lieber vorsichtig.“

Ihr Exmann hatte sie betrogen? Beinahe wäre ihr die Kinnlade heruntergeklappt. Wenn sogar so jemand wie Jenna betrogen wurde, welche Chancen hatte dann der Rest der Frauenwelt?

Jemand klopfte an die Tür und drückte sie dann auf. „Hallo. Ich hoffe, ich störe nicht.“

Jenna erhob sich anmutig. „Du kommst genau richtig. Wir machen gerade eine Pause.“

Violet sah, wie die beiden Frauen sich umarmten. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jenna war groß und dünn und hatte rotbraunes Haar. Die andere, ältere Frau war eine winzige kurvige Blondine mit großen blauen Augen und einem strahlenden Lächeln. Zweifellos verband die beiden echte und tiefe Zuneigung.

Jenna drehte sich zu ihr um. „Violet, das ist meine Mom, Beth Stevens. Mom, das ist Violet.“

Violet rappelte sich auf und streckte die Hand aus. „Schön, Sie kennenzulernen, Mrs Stevens.“

„Nennen Sie mich Beth.“ Jennas Mutter nahm ihre Hand, dann berührte sie die vielen Armreifen an Violets Handgelenk. „Die sind aber schön!“ Dann strich sie über das schwarze Leder, das durch eine dicke Kette gewebt war. „Tauschen Sie das Lederband manchmal aus?“

„Das könnte ich, hab’s aber noch nicht gemacht.“

„So was sollte ich auch tragen.“

Violet bemühte sich, nicht zu überrascht auszusehen. Beth trug maßgeschneiderte elegante Hosen und eine taillierte Seidenbluse. Ihr Schmuck war dezent und bescheiden, von dem riesigen Diamanten an ihrem Ehering einmal abgesehen. Die Uhr allein, schätzte Violet, kostete so viel wie eine ganze Jahresmiete ihrer Wohnung.

So lebt also die andere Hälfte, dachte sie, eher neugierig als neidisch.

Beth musterte Violet aufmerksam. „Sie haben die Smokey Eyes wirklich hingekriegt“, seufzte sie dann. „Ich versuche das ja auch immer wieder. Aber am Ende sehe ich entweder total erschöpft aus oder habe mir die Schminke übers halbe Gesicht geschmiert.“ Sie kräuselte ihre schmale Nase. „Wahrscheinlich sollte ich es einfach lassen. Der Smokey-Eyes-Look ist wie ein Minirock: ab einem bestimmten Alter lächerlich.“

Bevor Violet noch wusste, was sie entgegnen sollte, hatte Beth sie bereits untergehakt. „Also, was macht ihr Mädels gerade? Auspacken zweifellos. Klappt alles?“

Jenna erläuterte ihr die Skizzen an der Wand und wie der Laden eingerichtet werden würde. Beth ließ Violets Arm nicht los. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn Fremde sie berührten. Eine Reaktion auf ihren früheren Beruf. Aber Beth hatte etwas Warmes und Freundliches an sich, sie wirkte wie eine Frau, die ständig alle möglichen Streuner in ihrem Haus aufnahm.

„Mir gefällt die Küche“, sagte Beth und zog Violet nach hinten. „Die Leute werden ganz aus dem Häuschen sein, in die Küchengeheimnisse eines Profis eingeweiht zu werden! Und hier können sie dann auch noch so lange üben, bis sie es selbst richtig hinbekommen.“

„Jenna wird kochen, sonst niemand“, sagte Violet. Beth fand also auch, dass die Kunden die Möglichkeit bekommen sollten, selbst zu kochen, statt einfach nur zuzusehen. Das wäre den meisten bestimmt zu langweilig.

„Oh.“ Beth sah ihre Tochter an. „Das funktioniert sicher auch.“

Jenna verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Einen Moment lang tat sie Violet fast leid. Der Einzelhandel hatte seine eigenen Regeln, und es war nicht leicht für jemand völlig Unerfahrenen, sich zurechtzufinden. Hätte Jenna vielleicht besser ein Restaurant eröffnen sollen? Damit kannte sie sich schließlich aus.

„Sehen Sie sich die wunderschönen Porzellanschüsseln an, die Jenna ausgesucht hat“, sagte Violet. „Sind diese Knallfarben nicht fantastisch?“

„Wunderbar. Sehr fröhlich.“ Beth lächelte ihre Tochter an. „Der Laden wird gut laufen. Das kann ich spüren.“

„Das hoffe ich.“ So wie Jenna die Augenbrauen zusammenzog, wirkte sie eher verbissen als optimistisch.

Beth drückte Violets Arm und ließ ihn dann los. „Ich habe noch ein paar Besorgungen zu machen, aber dann könnte ich euch beiden doch Sandwiches vorbeibringen.“ Sie zog einen Notizblock aus der Tasche. „Bereit für die Bestellung.“

Nachdem sie aufgeschrieben hatte, was die beiden wünschten, umarmte sie erst Jenna und dann auch Violet – zu deren Überraschung.

„Ich bin weg.“ Sie grinste Violet zu. „Sie haben mich dazu inspiriert, schwarzes Leder zu kaufen.“

Jenna lachte. „Mom, das ist vielleicht keine so gute Idee.“

„Ich denke, das lasse ich lieber deinen Vater entscheiden. Bin bald zurück.“

Beth eilte durch die Tür und hinterließ eine Parfümwolke.

„Wir brauchen eine Klingel“, sagte Violet geistesabwesend. Sie dachte darüber nach, dass Beth ganz anders war als alle Mütter, die sie kannte oder von denen sie je gehört hatte. „Dann wissen wir, wenn Kunden hereinkommen.“

„Gute Idee.“

Jenna machte sich eine Notiz auf dem Block, den sie auf der Küchentheke platziert hatte. Dann sah sie Violet an. „Das mit dem schwarzen Lederband hat nichts zu bedeuten.“

„Ich weiß. Ist schon gut.“ Violet wusste, dass sie anders als Jenna war. Anders als alle anderen Frauen. Das war weder gut noch schlecht – sondern einfach eine Tatsache. „Du scheinst eher nach deinem Dad zu kommen. Jedenfalls siehst du deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich.“

Jenna lächelte. „Das überrascht mich nicht. Ich bin adoptiert. Mom sagt, ich stamme von einer Sippe rothaariger Amazonen und dass sie mich darum beneidet.“

Adoptiert. Violet dachte einen Moment darüber nach. Hat auch Vorteile, nicht zu wissen, woher man stammt, überlegte sie. „Ihr beide steht euch sehr nahe.“

„Ja, das war schon immer so. Meine Mom ist meine beste Freundin.“ Jenna lächelte. „Das klingt so gekünstelt, aber es stimmt. Sie war immer für mich da.“

„Das ist schön. Und was ist mit deinen richtigen Eltern?“

„Keine Ahnung. Ich habe sie nie kennengelernt.“

„Hast du je überlegt, sie ausfindig zu machen?“

Jenna zuckte mit den Schultern. „Ich wüsste nicht, wozu. Ich habe eine Familie. Ich brauche keine andere.“

Weil diese so gut ist, dachte Violet eher etwas verblüfft als neidisch. Es war, als würde man ein exotisches Tier im Zoo betrachten. Die waren süß und so weiter, hatten aber nichts mit einem selbst zu tun.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, so eine Verbindung mit ihrer Mutter zu haben. Violet war als Kind geschlagen worden und mit fünfzehn von zu Hause abgehauen.

Fünf lange Jahre hatte sie auf der Straße gelebt, bis ihr klar wurde, dass sie nicht mal fünfundzwanzig werden würde, wenn sie so weitermachte. Es war nicht leicht gewesen, von der Straße wegzukommen, aber sie hatte es hingekriegt.

Und jetzt bin ich hier, dachte sie, und als sie sich in dem Laden umsah, konnte sie sich bereits genau vorstellen, wie alles einmal aussehen würde. Vielleicht wusste Jenna nicht genau, was sie da tat, aber dafür war ja Violet da. Zusammen würden sie dafür sorgen, dass Grate Expectations ein Erfolg wurde. Jenna besaß Klasse und Geld und musste sich etwas beweisen, während Violet wusste, wie man das Leben meisterte, egal, welche Hindernisse sich einem in den Weg stellten. Ein ungleiches Paar, dachte sie, aber ein gutes. Jenna fügte ein Gewürz nach dem anderen hinzu. Dann rührte sie schnell die Filetspitzen um und briet sie scharf auf starker Hitze an. Im Hintergrund liefen die Nachrichten, und sie trank bereits ihr zweites Glas Wein.

Nachdem sie sich selbst davon überzeugt hatte, dass es keine Rolle spielen würde, weil nie jemand etwas davon erfahren würde, nahm sie die Schüssel mit der Soße, die sie gerade aus einer Laune heraus kreiert hatte, und goss sie in die Pfanne. Die Flüssigkeit begann zu kochen und sich dann sofort auf fast nichts zu reduzieren. Sie bewegte die Pfanne und drehte mit einem Wender das Fleisch ein letztes Mal um, bevor sie es auf eine warme Tortilla kippte. Nachdem sie die Pfanne auf einer anderen Herdplatte abgestellt hatte, drehte sie die Hitze ab und trank einen kräftigen Schluck Wein.

Das war es also. Eine Art Taco. Sie hatte schon öfter mit dem Gedanken gespielt, die mexikanische und indische Küche miteinander zu kombinieren. Sie lächelte, doch als sie ihre Kreation betrachtete, wurde sie wieder ernst.

Sie war nervös. Früher einmal war ihr das Herumexperimentieren so leichtgefallen, es hatte ihr so viel Freude bereitet. Jetzt hatte sie Angst davor. Noch schlimmer – ihr wurde geradezu schlecht. Ein wichtiger Teil von ihr war verloren gegangen. Sie sehnte sich so sehr danach, wieder die Frau zu sein, die sie einmal gewesen war, und wollte sich nicht eingestehen, dass es sie wahrscheinlich einfach nicht mehr gab.

Jenna hob das Kinn, nahm den Taco in die Hand und biss ab. Die ungewöhnliche Gewürzmischung fühlte sich nicht gut auf der Zunge an. Es war ihr unmöglich, zu kauen, geschweige denn, zu schlucken, deswegen spuckte sie das Fleisch ins Spülbecken und spülte es mit Wasser hinunter. Dann warf sie den Rest des Tacos in den Müll.

Sie ignorierte die Tränen, die in ihr aufstiegen.

„Ich mache mir Sorgen“, sagte Beth, während sie das abgespülte Geschirr auf dem Küchentresen stapelte. „Jenna weiß überhaupt nicht, wie man so ein Geschäft führt. Sie geht ja nicht einmal gerne einkaufen – außer, wenn sie Messer braucht, damit könnte sie Stunden verbringen. Aber das hier ist etwas anderes. Jetzt muss sie sich um Kunden kümmern.“

„Sie ist ein kluges Mädchen.“ Marshall räumte den Geschirrspüler ein. „Gib ihr doch eine Chance. Sie wird schon dahinterkommen, wie es geht.“

„Aber dafür wird sie nicht viel Zeit haben. Ihr ganzes Geld steckt in dem Laden. Ihr Erspartes und die Hälfte von dem, was sie und Aaron für ihr armseliges kleines Haus bekommen haben. Wenn die Stadt es ihnen nicht abgekauft hätte, um es abzureißen und diese Straße zu bauen, dann hätten sie noch weniger dafür bekommen. Du solltest mal die Ware in ihrem Laden sehen! Tausende Dollar stecken in diesem Küchenzubehör.“

Ihr Mann sah sie an. „Hast du erwartet, dass sie einen Laden ohne Waren eröffnet?“

„Sei nicht so logisch, du weißt, dass ich das nicht leiden kann.“ Beth seufzte. Sie wünschte, sie würde endlich lernen, wie man losließ. Aber wenn es um Menschen ging, die ihr wichtig waren, dann konnte sie einfach nicht aufhören, sich zu sorgen. Oder sich verrückt zu machen, wie Marshall es ausdrückte.

„Sie weiß schon, was sie tut“, sagte Marshall.

„Da bin ich mir nicht so sicher. Sie ist Köchin. Sie sollte kochen. Damit kennt sie sich aus. Ich wünschte nur, ich wüsste, was wirklich zwischen ihr und Aaron vorgefallen ist.“

„Du denkst, dass sie uns nicht alles gesagt hat? Reicht es nicht, dass Aaron sie betrogen hat?“

„Das schon.“ Doch ihr Mutterinstinkt sagte ihr, dass hinter der ganzen Sache mehr steckte, als Jenna zugeben wollte. Irgendetwas an ihrer Tochter war anders. Natürlich war sie traurig und verletzt, aber da war noch etwas.

„Jenna wird das mit ihrem Laden schon hinbekommen. Hat sie nicht jemanden angestellt?“

„Violet. Sie ist toll. Hübsch. Schwarzes Haar und dunkler Eyeliner. Ganz bestimmt ist sie tätowiert.“ Beth dachte an die Frau mit den vielen Armreifen und den drei Silberringen in jedem Ohr und wünschte sich, sie hätte den Mut, so unkonventionell zu sein.

„Und hat Violet Erfahrung im Einzelhandel?“

„Ja. Sie hat mehrere Jahre in der Branche gearbeitet.“

„Dann wird sie Jenna helfen können.“

Beth spürte, wie ihre Brust sich zusammenschnürte. „Aber wenn das nicht reicht? Ich verstehe ja, das Jenna sich jetzt erst mal sortieren muss. Sie muss nachdenken und sich überlegen, was sie künftig mit ihrem Leben anstellen will. Aber muss sie deswegen gleich einen Laden eröffnen? Das halte ich nicht für klug.“

Sie spülte die letzten beiden Töpfe ab, Marshall stellte sie in den Geschirrspüler, füllte den Reiniger ein und schaltete die Maschine an.

Dies war ihr abendliches Ritual seit vielen Jahren. Als Jenna noch bei ihnen lebte, hatten sie zu dritt die Küche aufgeräumt und dabei geredet und gelacht.

„Wenn das nun auch nicht klappt, wird sie am Boden zerstört sein“, flüsterte Beth voller Mitgefühl für ihr einziges Kind.

„Du musst wirklich damit aufhören, Beth. Du kannst sie nicht vor allem beschützen. Jenna ist ein kluges Mädchen.“

„Ich bin nun mal jemand, der sich Sorgen macht.“

Er schlang die Arme um ihre Taille. „Das hast du sogar zu einer neuen Kunstform erhoben. Aber jetzt musst du üben, sie loszulassen.“

Sie legte die Hände auf seine Schulter und sah in seine dunklen Augen. Selbst nach all den Jahren war es noch immer aufregend, ihm so nahe zu sein.

„Ich kann einfach nicht anders. Ich liebe sie doch.“

„Wenn du etwas liebst, zeig es“, begann er.

Sie lachte. „Fang nicht so an!“

„Warum nicht? Ich habe vor, es auch zu beenden.“

Er senkte den Kopf und küsste sie.

Jenna stand mitten in ihrem Laden und lauschte dem Schweigen. Zwar erklang Hintergrundmusik aus den Lautsprechern – irgendetwas aufmunternd Italienisches – aber niemand unterhielt sich. Aus dem einfachen Grund, weil man für eine Unterhaltung Leute brauchte. Kunden in diesem Fall. Und da waren keine.

Es war Viertel nach elf an ihrem ersten Tag. Sie hatte bereits seit fünfundsiebzig Minuten geöffnet, und kein einziger Mensch hatte ihre glänzend polierte Glastür geöffnet.

Vor nicht einmal zwei Wochen hatte sie vom Parkplatz aus beobachtet, wie ihr Schild angebracht worden war. Sie hatte jedes einzelne Regal eingeräumt, ergründet, wie die Kasse funktionierte, und sich von einem Steuerberater erklären lassen, wie man den Überblick über die Umsätze behielt. Ein Problem, das sie momentan nun wirklich nicht hatte.

Alles Gute zum Geburtstag! dachte sie traurig und zog ihre weiße Küchenjacke glatt. Jetzt war sie zweiunddreißig, und ganz ehrlich: Sie hatte sich ihren Geburtstag anders vorgestellt. So viel zum Thema Desaster.

Sie war davon überzeugt gewesen, dass die Kunden schon kommen würden. Ihr Schaufenster war so hübsch mit den großartigsten Küchenutensilien dekoriert, das musste die Leute doch einfach anlocken. Violet hatte in der vergangenen Woche immer mal wieder davon angefangen, dass sie eine Anzeige in einer lokalen Zeitung schalten oder einen Flyer drucken lassen sollten. Aber Jenna hatte abgelehnt. Weil sie sich so verdammt sicher gewesen war.

Auf einmal überkam sie das dringende Bedürfnis, etwas zu backen. Die Finger in warmen Teig gleiten zu lassen und, den Duft von Hefe in der Nase, knuspriges, buttriges Gebäck auszurollen. Oder vielleicht eine Tarte zu machen. Eine zarte, krustige, mit Eiern, Käse, Knoblauch und Nüssen gefüllte Quiche.

Oder Rinderbrust. Sie war wieder in Texas, also müsste das Fleisch zart sein, fast schon auseinanderfallen, und zugleich würzig und scharf. Gegrillte, himmlisch schmeckende Kartoffeln. Ihr kam da eine Idee, wie sie die würzen könnte …

Sie schüttelte den Kopf und verdrängte solche Wunschvorstellungen. So was machte sie nicht mehr. Sie kochte, aber sie kreierte nichts. Hatte sie sich das denn nicht oft genug selbst bewiesen?

Hinter sich hörte sie, wie Violet die Waren auf den Regalen hin- und herschob, um sich irgendwie zu beschäftigen. Eines musste man ihr lassen: Sie sah nicht so aus, als würde sie am liebsten „Ich hab’s dir doch gesagt!“ brüllen. Und das, obwohl sie wirklich vehement darauf beharrt hatte, auf irgendeine Weise Werbung zu machen.

Sie hatte den metallischen Geschmack von Angst auf der Zunge. Jeder einzelne Penny, den sie besaß, steckte in diesem Laden. Sie hatte einen Dreijahresmietvertrag unterzeichnet, und ihr Vermieter erwartete, dass sie jeden Monat pünktlich zahlte, egal wie sehr sie als Geschäftsfrau versagte.

Jenna wirbelte zu Violet herum. „Ich weiß nicht, was ich tun soll!“, platzte sie heraus.

Violet, die gerade ein Regal abstaubte, richtete sich auf. „Koch was!“, sagte sie schnell. „Irgendwas Kleines, Köstliches, das ich auf einem Tablett den Leuten anbieten kann.“

„Wozu das denn? Hier ist doch niemand.“

Ihre Assistentin lächelte. „Wenn die Leute nicht reinkommen, dann gehe ich eben zu ihnen hinaus. Während du kochst, werde ich Gutscheine ausdrucken und jedem geben, den ich sehe. Zehn Prozent Nachlass auf alles anlässlich unserer Eröffnung. Das wird die Kunden in den Laden bringen.“

Jenna nickte und zwang sich, nicht nachzurechnen, wie sich diese zehn Prozent auf ihren Profit auswirkten. Es ist immer noch besser, weniger zu verdienen als gar nichts, dachte sie, ging zum Herd und suchte die Zutaten für einfache, aber sehr leckere Appetithappen zusammen.

Eine halbe Stunde später waren die Cracker mit Ziegenkäsecreme fertig. Die kleinen mit Pilzen gefüllten Törtchen mussten noch eine Viertelstunde im Ofen backen.

„Der Trick sind die Kräuter“, verkündete sie. „Frische Kräuter sind am besten, und sie müssen wirklich fein gehackt sein.“

„Spar dir die Erklärungen für die Kunden auf“, entgegnete Violet und schnappte sich ein Tablett. „Ich werde die Gutscheine an jedes Auto im Umkreis von hundert Metern stecken. Wenn die Leute kommen, dann verführen wir sie mit deinem Essen.“ Sie hielt einen Moment inne. „Kommst du hier drinnen allein zurecht?“

„Natürlich“, log Jenna. Die Vorstellung, allein mit einem Kunden zu sein, ängstigte sie. Aber daran hätte sie wohl denken sollen, bevor sie einen Laden eröffnete.

„Biete ihnen einfach was zu essen an und rede über Rezepte“, sagte Violet lächelnd. „Ich komme zurück, sobald ich mit den Gutscheinen fertig bin.“

Jenna nickte und setzte ein souveränes Lächeln auf, während sie Violet hinterhersah.

Sie selbst trug eine schwarze Hose und wie üblich die weiße Kochjacke, Violet hingegen einen geraden dunkellila Rock und eine bunte, langärmlige Bluse. Sie hatte drei oder vier Ketten um den Hals geschlungen, wie üblich klirrte ein halbes Dutzend Armreifen an ihren Handgelenken. Ihr schwarzes Haar stand stachlig in die Höhe, und sie hatte sich wieder die perfekten Smokey Eyes geschminkt, die Beth so bewunderte.

Wenn schon, dann hätte doch eher Violet fehl am Platze wirken müssen und nicht sie. Doch leider würde jeder sofort mitkriegen, dass Jenna nur eine Mogelpackung war.

Bevor sie sich selbst noch kleiner machen konnte, als sie sich sowieso schon fühlte, öffnete sich die Tür mit einem Klimpern der Glocke, die Violet dort aufgehängt hatte. Zwei Frauen traten ein. Jede von ihnen hatte einen Gutschein in der Hand.

„Oh, schau mal“, sagte die kleinere zu ihrer Freundin. „Die tollen Farben der Untersetzer. Die würden wunderbar in deine Küche passen.“

„Die sind wirklich hübsch“, sagte die Frau. Als sie Jenna entdeckte, fügte sie hinzu: „Hi. Wir haben gerade Ihre Cracker probiert. Fantastisch! Könnten wir das Rezept haben?“

„Ja, sicher. Das ist ein ganz leichter Aufstrich, den man aber auch als Füllung nehmen kann, für eine Tarte zum Beispiel. Und Sie können alles Mögliche dazutun, was Sie gerade zu Hause haben.“

Die kleinere Frau lachte. „Was ich zu Hause habe, ist eine Flasche Weißwein und ein paar Fertiggerichte.“

Die Uhr am Backofen piepte. Jenna zog die Pilztörtchen heraus, und die beiden Frauen eilten herbei, nahmen sich eine Serviette und jonglierten darauf das heiße Gebäck, bis sie hineinbeißen konnten.

„Köstlich!“, sagte die Größere seufzend. „Das Rezept haben Sie nicht auch zufällig für uns?“

„Ich könnte es Ihnen aufschreiben, wenn Sie mögen.“

Die beiden Frauen wechselten einen Blick und wandten sich zum Gehen um. In diesem Moment platzte Violet mit dem leeren Tablett und sechs Leuten im Schlepptau herein.

„Ich weiß“, sagte sie gerade. „Aber wenn Sie glauben, die Cracker waren fantastisch, dann warten Sie mal, bis Sie die Pilztörtchen probiert haben! Im Ernst, die sind unglaublich. Noch haben wir die Rezepte nicht ausgedruckt, das haben wir vor lauter Aufregung ganz vergessen. Aber Ende der Woche werden die Rezeptkarten fertig sein. Und Jenna, die brillante Köchin und Ladenbesitzerin, wird einen ganzen Kurs über Vorspeisen anbieten. Also, kommen Sie auf jeden Fall wieder, holen Sie sich die Rezeptkarten und melden Sie sich für den Kochkurs an!“

Jenna fühlte sich alles andere als brillant. Früher – da hatte sie sich in der Küche immer gut gefühlt, ganz egal, was sonst in ihrem Leben los gewesen war. Doch jetzt wusste sie nicht mehr, was sie dort überhaupt zu suchen hatte.

Sie sah, wie die Kunden sich um die Törtchen scharten. Innerhalb kürzester Zeit war das Tablett leer geräumt. Sie hatte bereits ein weiteres Blech in den Ofen geschoben. Zumindest schmeckte ihnen das Essen. Das war immerhin etwas.

Während sie erklärte, wie man die Kruste richtig hinbekam, kassierte Violet einige Kunden ab. Die Idee mit den Rezeptkarten war sehr gut. Sie könnten ja vielleicht jede Woche andere Rezepte anbieten. Außerdem hatte Violet recht: Es war wichtig, dass die Kunden regelmäßig zurückkamen. Vielleicht konnte sie sich ein paar Rezepte ausdenken, für die man unterschiedliche Küchengeräte brauchte.

„Jenna? Bist du das?“

Sie drehte sich um und entdeckte zwei Frauen in ihrem Alter, die gerade in den Laden gekommen waren. Große, elegant gekleidete Frauen, perfekt geschminkt und frisiert. Kimberly war so dunkel, wie Caitlin hell war.

Jenna lächelte. „Was macht ihr beide denn hier?“

„Beth hat unsere Mütter angerufen.“ Kimberly eilte lächelnd auf Jenna zu, um sie zu umarmen. „Warum hast du uns nicht gesagt, dass du zurück bist? Dein eigener Laden! Das ist toll!“ Sie machte einen Schritt zurück. „Sieh dich an! Ganz die Chefköchin.“

Caitlin umarmte sie ebenfalls und hauchte zwei Küsse in die Luft. Ihr weißblondes Haar schwang kurz, um dann wieder perfekt um ihr Gesicht zu fallen.

„Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht.“ Caitlin legte ihre Hände mit den langen pink lackierten Fingernägeln auf Jennas Arm. „Wir haben das von Aaron gehört“, fügte sie mitfühlend hinzu. „Wie traurig! Aber wie es aussieht, geht es dir ganz prima. Der Laden ist umwerfend. Wirklich. Fantastisch.“

„Wir sollten uns bald treffen“, sagte Kimberly. „Wir rufen Jolene an und gehen alle zusammen aus. Wir vier. So wie früher in der Highschool.“

Jenna spürte Wärme in sich aufsteigen. „Das wäre schön.“ Es wäre toll, mit ihren alten Freundinnen abzuhängen, gerade so, als ob sie ein ganz normales Leben führte.

„Finde ich auch“, sagte Caitlin. „Das machen wir bald.“

„Wie wäre es, wenn wir abends zusammen essen gehen?“, fragte Jenna. „Diese Woche irgendwann?“

Die beiden Frauen wechselten einen Blick.

„Um Himmels willen!“, lachte Caitlin. „Wenn du meinen Terminkalender sehen könntest!“

„Und meinen erst!“, fügte Kimberly hinzu. „Ich dachte ja, wenn die Zwillinge erst mal in die Schule kommen, dann hätte ich endlich wieder mehr Zeit für mich. Von wegen! Eine ordentliche Haushälterin bei Laune zu halten, ist mehr oder weniger ein Vollzeitjob. Aber vielleicht könnten wir zusammen Kaffee trinken gehen. Du weißt schon, vormittags.“

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