Julia Ärzte Spezial Band 24

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ZU REICH ZUM VERLIEBEN? von MARION LENNOX

"Willkommen unter den Lebenden", hört Philippa, als sie erwacht und ihrem Lebensretter in die Augen sieht: Flying Doctor Riley Chase – der sie total verwirrt. Gibt er ihr doch das Gefühl, einfach nur eine begehrenswerte Frau zu sein und nicht die reiche Promi-Erbin …

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  • Erscheinungstag 28.09.2024
  • Bandnummer 24
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526340
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marion Lennox, Lilian Darcy, Joanna Neil

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 24

1. KAPITEL

Die Nacht schien sich endlos lang dahinzuziehen. Dr. Riley Chase hatte das Kreuzworträtsel fast komplett gelöst und trank nun schon die dritte Tasse Kaffee, während er an seinem Schreibtisch saß. Er hatte Bereitschaftsdienst bei Flight-Aid, der Flugrettung von New South Wales North Coast, was ziemlich langweilig sein konnte, wenn sich nichts ereignete.

Riley checkte nochmals seine E-Mails, die auch sein Kollege Harry, der Pilot, bekam. Ah, zwei neue Nachrichten. Die erste kündigte die Ankunft seiner Tochter an, die andere war ein Notruf: Eine junge Frau war zu weit ins Meer hinausgeschwommen und nicht mehr zurückgekehrt. Das hieß, sie mussten sich beeilen.

Riley sprang von seinem Stuhl auf und stieß dabei die Kaffeetasse um.

Millionärstochter begeht Selbstmord!

Pippa konnte die Schlagzeilen der englischen Klatschpresse schon vor sich sehen, während sie im Meer trieb und um ihr Leben kämpfte. Seit Stunden war sie bereits im Wasser, keine Hilfe in Sicht. Vor Kälte konnte Pippa kaum noch ihre Füße spüren, und die Angst, dass sie irgendetwas von unten packen könnte, schnürte ihr die Kehle zu.

Phillippa Penelope Fotheringham, Alleinerbin der Fotheringham-Fast-Food-Kette, begeht Selbstmord, nachdem ihr Verlobter sie verlassen hat!

Wieder taten sich die hässlichen Zeilen vor ihrem inneren Auge auf, und Pippa trat weiter Wasser. Nein, sie durfte nicht aufgeben, diese Genugtuung gönnte sie Roger nicht!

„Bist du sicher, dass sie sich das Leben nehmen wollte?“, fragte Riley zweifelnd, während er vom Helikopter auf die aufgewühlte See hinunterblickte. „Vielleicht ist sie nur zu weit hinausgeschwommen und hat es dann nicht mehr zurückgeschafft.“

„Ihr Verlobter hat sie kurz vor der geplanten Hochzeit mit einer anderen betrogen. Ist das nicht Grund genug für eine Kurzschlussreaktion?“

Harry Toomey flog in parallelen Linien am Riff entlang. Mit in der Maschine saß die Rettungssanitäterin Cordelia, die Dritte im Team. Die See war jedoch so aufgewühlt, dass selbst im hellen Scheinwerferlicht des Helikopters ein Mensch kaum auszumachen wäre.

„Weißt du, wie sie heißt?“, fragte Riley weiter.

„Phillippa Penelope Fotheringham.“

„Wow, was für ein Name. Und wie lange wird sie schon vermisst?“

„Seit mindestens fünf Stunden.“

„Fünf Stunden!“

„Sie war gestern Abend auf ’ner Beachparty“, erklärte Harry. „Und als die Party dann vorüber war, haben die Jungs von der Aufsicht ein Bündel Kleidungsstücke am Strand gefunden, sogar mit Geldbörse drin und Zugangskarte fürs Hotel. Wir wissen nicht genau, wann sie ins Wasser gegangen ist. Ob schon in der Dämmerung oder erst ’ne Weile später.“

Riley runzelte die Stirn. „Wenn sie wirklich schon seit fünf Stunden im Wasser ist, dann sieht es schlecht aus.“

Darauf sagte Harry nichts mehr, denn die Crew kannte solche Fälle nur zu gut. Immer wieder kam es vor, dass Menschen von den steilen Klippen stürzten oder viel zu weit aufs offene Meer hinausschwammen und es dann nicht mehr zurück zum Strand schafften. Am Schlimmsten war es für Riley und sein Team, wenn sie nur noch den toten Körper des Vermissten bergen konnten.

„Woher willst du wissen, ob sie überhaupt noch draußen ist?“, wandte Riley ein. „Vielleicht ist sie ja mit irgendeinem Typen ins Hotel gegangen und amüsiert sich jetzt gerade.“

Harry schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist einunddreißig, auf der Party waren sonst nur Teenager. Und sie hat die Hochzeitssuite im Sun-Spa-Resort gebucht, wo sie mit ihrem Liebsten Flitterwochen machen wollte. Der Cop, der sich dort nach ihr erkundigt hat, hat ihren Reisepass im Safe gefunden. Sogar die Telefonnummer ihrer Eltern war dabei, die er dann gleich angerufen hat. Sie ist Engländerin, und es sieht ganz danach aus, als hätte ihr Herzblatt sie kurz vor der Hochzeit sitzen lassen. Darum ist sie wohl allein hierhergekommen.“

Harry zuckte die Schultern. „Du weißt schon, Liebeskummer, Jetlag, vielleicht noch jede Menge Alkohol, und schon ist es passiert.“

„Der Kerl ist es nicht wert, dass sie sich für ihn umbringt“, brummte Riley und blickte weiter angestrengt nach unten. „Komm schon, Sweetheart, wo bist du?“ Selbst wenn die junge Frau tot sein sollte, wollte Riley sie unbedingt finden, denn für Angehörige war es schrecklich, über das Schicksal eines Vermissten im Ungewissen zu bleiben.

„Was war das eigentlich für eine seltsame Mail, die vor dem Notruf reinkam?“, fragte Harry unvermittelt.

Eine unbequeme Frage, die Riley gerne umgangen hätte. Natürlich hatte Harry diese E-Mail auch gesehen, da sie an das ganze Flight-Aid-Team gegangen war.

„Nun sag schon, wer um alles in der Welt ist Lucy?“, hakte Harry nach, als Riley nicht reagierte. „Sie schreibt, sie kommt am Freitag.“

Na, du weißt es aber ganz genau! dachte Riley grimmig. Gleichzeitig war ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, Harry etwas vorzumachen. „Sie ist meine Tochter“, sagte er, und die Worte klangen selbst in seinen Ohren fremd. Er kannte Lucy nicht, hatte sie noch nie gesehen.

„Im Ernst?“ Harry flog eine Wende und leitete die nächste Schleife ein. Dann grinste er breit. „Unser Dr. Lonely hat ’ne Tochter – ist ja nicht zu fassen. Wie alt ist sie denn?“

„Achtzehn.“

„Achtzehn!“ Harry und Cordelia sahen Riley völlig entgeistert an. „Und du bist wie alt – achtunddreißig? Mann, da hast du aber lange dichtgehalten.“

Dichthalten kann man es wohl nicht gerade nennen, dachte Riley düster. Bis vor Kurzem hatte er ja selbst nichts von Lucys Existenz gewusst. Vor drei Monaten hatte sie ihn zum ersten Mal per E-Mail über seine Job-Adresse kontaktiert, die sie wohl über die Flight-Aid-Webseite herausgefunden hatte.

Sind Sie der Riley Chase, der vor neunzehn Jahren mit meiner Mutter Marguerite zusammen gewesen ist?

Als er das gelesen hatte, war es Riley abwechselnd heiß und kalt geworden. Deshalb also hatte Marguerite damals mit ihm Schluss gemacht. Weil sie schwanger von ihm gewesen war und es ihm nicht hatte sagen wollen. Riley hatte Lucy sofort geantwortet und danach noch mehrmals versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen, doch sie hatte sich nicht mehr gemeldet. Bis vor einer Stunde.

Komme am Freitagnachmittag in Sydney an. Kann ich ein paar Tage bei dir bleiben?

Riley verdrängte die Gedanken, denn er musste sich jetzt voll auf seinen Einsatz konzentrieren. Der Helikopter kreiste über dem Wasser, und Riley und die sechzigjährige Cordelia, die gerade unter einer starken Erkältung litt, hielten angestrengt nach der Vermissten Ausschau.

Aber da unten war nichts außer dunkle Wellenberge.

Da war ein Licht, dort drüben bei den Klippen!

Pippa trat keuchend Wasser und reckte sich, so hoch sie konnte, um über den nächsten Wellenkamm zu spähen. Ein Helikopter zog dort oben seine Kreise. Ob man nach ihr suchte? Und kam die Maschine näher oder entfernte sie sich eher?

„Halte durch!“, befahl Pippa sich selbst und trat mit den letzten Kräften Wasser, um nicht in der Tiefe zu versinken. Ihre Füße spürte sie schon gar nicht mehr, sie waren in der Kälte taub geworden. „Du musst es schaffen, du musst es einfach schaffen …“

„Wenn sie sich wirklich umbringen wollte, ist sie bestimmt längst tot und wahrscheinlich auch schon untergegangen“, meinte Harry frustriert, da weit und breit nichts von einer Frau zu sehen war.

„So schnell geben wir nicht auf, wir suchen weiter“, erwiderte Riley entschlossen. „Lass uns noch mal nachdenken, vielleicht kommen wir dann drauf, wo sie sein könnte. Wann genau hat sie im Hotel eingecheckt?“

„Etwa um halb acht.“

„Dann ist sie vielleicht um acht ans Meer, was bedeutet, dass …“

„Die Party hat erst um zehn Uhr angefangen“, fiel Harry ihm ins Wort. „Also kann sie erst nach zehn ins Wasser gegangen sein.“

„Und wenn sie gar nicht auf der Party war? Es war Sonntagabend, und der Strand war voller Leute. Da können leicht ein paar Kleidungsstücke rumliegen, ohne dass es jemand merkt. Nehmen wir mal an, sie ist schon um acht ins Wasser gegangen, dann muss sie jetzt viel weiter nördlich sein und kämpft vielleicht verzweifelt um ihr Leben.“

„Ihre Mutter glaubt, sie wollte sich das Leben nehmen. Aus Liebeskummer, sagt sie.“

Riley verzog das Gesicht. „Was weiß denn deine Mutter über dich?“

„Riley hat recht, wir sollten es versuchen“, warf Cordelia ein, die sich wegen ihrer starken Erkältung elend fühlte und bisher kaum ein Wort gesprochen hatte. „Wenn sie schon um acht ins Meer gegangen ist, kann sie sich unmöglich in diesem Areal befinden.“

„Also gut, ich funke Bernie an.“ Harry nahm Kontakt zu dem Kollegen auf und bat ihn, die erwartete Position zu errechnen. Gleich darauf kam das Ergebnis. „Einen halben Kilometer weiter nördlich und viel näher am Strand. Also, los!“

Pippa war unendlich müde und hatte keine Kraft mehr. Aber da war immer noch der Helikopter – jetzt kam er sogar näher, oder bildete sie sich das nur ein?

Wenn man tatsächlich nach ihr suchte, musste sie sich auf der Stelle irgendwie bemerkbar machen. Pippa mobilisierte ihre letzten Kräfte und reckte ihre Hand nach oben. Sie musste winken, damit man sie sehen konnte.

Du schaffst es! spornte sie sich selbst im Stillen an. Halt durch, nur noch ein paar Minuten …

„Da, ich hab etwas gesehen!“

Rileys Puls ging schneller, und er betete, dass er sich nicht geirrt hatte. Es war kaum möglich, in der Dunkelheit und bei dem starken Wellengang überhaupt etwas zu erkennen, trotzdem glaubte er, dass er die Vermisste entdeckt hatte.

„Bist du sicher?“, fragte Harry.

„Flieg zehn Meter zurück, dann fünf nach links und dann geh tiefer.“

Harry folgte Rileys Anweisungen und ließ den Scheinwerfer über die Wasseroberfläche gleiten. Endlich sahen sie sie – die Hand, die winkend aus dem Wasser ragte!

„Sie lebt!“, rief Riley aufgeregt. „Na, was sagt ihr jetzt? Scheint so, als hätte unsere Braut sich’s anders überlegt. Halt durch, Phillippa Penelope Fotheringham, wir kommen!“

Das Licht … der Lärm … der Helikopter kam tatsächlich näher …

Aber Pippa hatte keine Kraft mehr, sie konnte nicht mehr winken und auch nicht Wasser treten. Sie hörte jemanden ihren Namen rufen, brachte jedoch keinen Ton hervor. Sie war müde, so unendlich müde …

Da glitt jemand neben ihr ins Wasser, und sie spürte, wie zwei starke Arme sie umfassten. „Keine Angst, Phillippa“, sagte eine ruhige, tiefe Stimme. „Du hast es gleich geschafft.“

„Ich heiße … Pippa“, wisperte sie mit letzter Kraft, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.

2. KAPITEL

Als Pippa ihre Augen wieder öffnete, sah sie einen äußerst attraktiven Mann vor sich. Er stand am Fußende ihres Betts, hatte einen weißen Kittel an, ein Stethoskop baumelte um seinen Hals.

Eindeutig ein Arzt, und sie lag im Krankenhaus – was war passiert? In der nächsten Sekunde kehrte die Erinnerung zurück: das furchtbar kalte Wasser, die Dunkelheit, die Todesangst. Die starken Arme, die sie fest umschlossen, und die tiefe angenehme Stimme, die ihr versicherte, dass sie keine Angst zu haben brauchte …

„Guten Morgen“, sagte der Arzt und lächelte. „Ich bin Dr. Riley Chase. Willkommen unter den Lebenden.“

Pippa betrachtete ihn neugierig. Er war groß und sportlich schlank, hatte ein sonnengebräuntes Gesicht, ausdrucksvolle blaue Augen und dunkles Haar, das leicht zerzaust war und sich im Nacken etwas kringelte.

„Bei denen muss ich ja wohl sein, denn im Himmel gibt es keine Ärzte“, versuchte sie zu scherzen und war selbst überrascht, wie sicher ihre Stimme dabei klang.

„Oh, hier ist es beinahe wie im Himmel.“ Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. „Ihr Bett ist warm und weich wie eine Wolke, und in Ihrer Nähe gibt es Engel, die ein Auge auf Sie haben.“

Pippa sah sich um. Sie lag allein in einem Zweibettzimmer. Die Tür stand offen, sodass sie ins Schwesternzimmer direkt gegenüber blicken konnte.

„Dr. Chase, können Sie mal bitte kommen?“, rief von dort prompt eine Schwester.

„Wenn’s kein Notfall ist, dann später!“, rief er zurück, bevor er sich erneut an Pippa wandte. „So, jetzt aber mal im Ernst, Miss Fotheringham. Sie stehen wegen Suizidgefahr unter Aufsicht, deshalb müssen wir die Tür auflassen. Die Schwestern müssen jederzeit ein Auge auf Sie haben können. Aber Sie wollen sich doch nicht ernsthaft etwas antun, nicht wahr?“

Pippa wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Wie kam der Arzt darauf, dass sie sich das Leben nehmen wollte?

„Momentan herrscht hier leider Personalnotstand“, sprach Riley weiter. „Mrs Matchens, eine unserer älteren Patientinnen, hat heute Nacht einen Herzinfarkt erlitten und muss ins Krankenhaus nach Sydney. Bis zu ihrer Verlegung muss ständig eine Schwester bei ihr sein, gleichzeitig müssen wir auch noch auf Sie aufpassen.“

„So ein Unsinn, auf mich muss niemand aufpassen!“, widersprach nun Pippa vehement. Was dachte dieser Arzt sich eigentlich?

„Okay, dann versprechen Sie mir, dass ich mir keine Sorgen um Sie machen muss, einverstanden?“ Wieder lächelte er.

Pippa spürte, wie sie erschauerte. Der gute Doktor sah wirklich zum Anbeißen aus!

„Ich wollte mich nicht umbringen, wie kommen Sie auf diese absurde Idee?“, beharrte sie.

„Ich habe mit Ihrer Mutter telefoniert, sie ist außer sich vor Sorge. Sie hat gesagt, sie würde so schnell wie möglich kommen, und zwar in Begleitung eines gewissen Rogers. Es sei denn, ich rufe sie noch einmal an und versichere ihr, dass das nicht nötig sei. Was meinen Sie?“

Pippa hob die Brauen. „Meine Mutter kommt hierher, noch dazu mit Roger?“

„Ja, zumindest hat sie das gesagt. Sie macht sich sicher große Sorgen.“

„Pah, das kann ich mir kaum vorstellen!“ Pippa verschränkte ärgerlich die Arme. „Überhaupt – wie kann sie glauben, dass ich Roger sehen will, nach allem, was passiert ist?“

Riley zuckte die Achseln. „Klingt ganz schön kompliziert. Ich an Ihrer Stelle würde …“ Wieder rief die Krankenschwester, und er blickte auf die Uhr. „Okay, lassen wir Roger und Mum mal kurz beiseite und kümmern uns stattdessen lieber um Sie. Haben Sie Schmerzen?“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“

Pippa biss sich auf die Lippe. Er hatte recht, es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen. „Ja, meine Brust tut ein bisschen weh beim Atmen.“

„Das kommt daher, dass Sie noch etwas Wasser in der Lunge haben, aber das sollte kein Problem sein. Wir haben Ihnen ein Antibiotikum verabreicht. Wenn Sie sich noch eine Weile schonen, wird bald alles wieder ganz in Ordnung sein.“

„Und ich hab … ein paar blaue Flecken.“

„Die stammen von den Gurten, die ich Ihnen anlegen musste, um Sie aus dem Wasser zu ziehen.“

Pippa machte große Augen. „Dann sind Sie derjenige, der mich gerettet hat?“

„Ja, der bin ich.“ Riley nahm ihre Hand und fühlte Pippas Puls. „Und wie steht es mit den Füßen?“

„Gut, obwohl ich sie im Wasser kaum noch spüren konnte.“

„Kein Wunder, Sie waren ziemlich unterkühlt.“

Er zog die Bettdecke ein Stück weit hoch, um ihre Zehen zu begutachten. Sie waren pinkfarben lackiert, mit silbrigem Glimmer. Eine ihrer Brautjungfern hatte ihr diesen Nagellack geschenkt. Allerdings nicht diejenige, die Pippa mit Roger im Bett erwischt hatte …

„Wackeln Sie mal mit den Zehen“, forderte Riley sie auf.

Pippa tat wie geheißen und war erleichtert, dass sie ihre Zehen wieder ganz normal bewegen konnte. Gestern Nacht hatte sie schon Angst gehabt, sie wären vor Kälte abgestorben.

„Wunderbar.“ Riley lächelte. „Jetzt würde ich Sie gerne abhören.“

Beim Versuch, sich aufzurichten, hatte Pippa plötzlich das Gefühl, als wäre sie schwer wie Blei. Dr. Chase schien es zu merken, denn er stand sofort auf und schob ihr das Kissen zurecht, damit sie besser sitzen konnte.

Pippas Puls beschleunigte sich, als er ihr so nahe kam. Dr. Chase war unglaublich attraktiv, und er roch noch dazu so angenehm, dass sie wünschte, dieser Moment der Nähe würde sich noch ein bisschen ausdehnen.

Wie alt mochte er sein – vielleicht Mitte dreißig? Außerdem fragte sie sich, was man zu einem Mann sagte, der einem das Leben gerettet hatte.

„Dr. Chase, ich … möchte mich bei Ihnen bedanken“, begann sie schließlich zögerlich, doch er reagierte nicht darauf.

„Husten, bitte.“

Sie hustete.

„Noch einmal.“

Sie hustete erneut.

„Danke, ich bin sehr zufrieden.“

„Ich meine, ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie mir das Leben gerettet haben“, beharrte Pippa, weil ihr das sehr wichtig war.

Er setzte sich wieder und lächelte so charmant, dass die Schmetterlinge in ihrem Bauch ins Trudeln gerieten. „Gern geschehen.“

„Müssen Sie nicht langsam gehen?“, fragte Pippa schließlich. Vorhin hatte er doch etwas von Personalnotstand erwähnt. „Bestimmt werden Sie noch woanders gebraucht.“

„Ich werde immer irgendwo gebraucht, ich bin Dr. Unabkömmlich“, schmunzelte er.

Jetzt lachte auch Pippa. „Müssen Sie denn ständig Menschen retten, Tag und Nacht?“

„Nein, ganz so schlimm ist es zum Glück nicht. Außerdem bin ich mit Ihnen noch nicht fertig.“ Wieder ernst, sah er sie prüfend an. „Möchten Sie mir nicht verraten, warum Mum und Roger glauben, Sie wollten sich das Leben nehmen?“

Sofort verpuffte Pippas gute Laune. „Ach, das ist doch absoluter Blödsinn! Ich wollte einfach schwimmen gehen und bin in eine Strömung geraten, die mich immer weiter rausgetrieben hat, das ist alles.“

Riley hob die dunklen Brauen. „Sie wollten schwimmen gehen, im Dunkeln und an einem unbewachten Strand?“

„Es war noch nicht ganz dunkel, als ich dort ankam. Ich bin einfach losgeschwommen. Plötzlich war ich so weit weg, dass ich es nicht mehr zurückgeschafft habe.“

„Sie müssen eine ziemlich gute Schwimmerin sein, wenn Sie sich acht Stunden über Wasser halten konnten.“

„War es denn so lange?“

„Ja. Wir hatten die Hoffnung, Sie zu finden, fast schon aufgegeben. Dass Sie trotzdem durchgehalten haben, zeugt von einem unglaublich starken Überlebenswillen.“

„Na bitte, das sag ich doch die ganze Zeit. Wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich bestimmt nicht so gekämpft. Außerdem wollte ich Roger zeigen, dass ich mich nicht so leicht unterkriegen lasse!“

Eine Viertelstunde später ging Riley zur Intensivstation zurück, um nach der Patientin mit dem Herzinfarkt zu sehen. Er war sehr zufrieden, denn Phillippa Penelope Fotheringham – oder Pippa, wie sie sich selbst nannte – hatte ihm ihre ganze Geschichte erzählt.

Ihr Verlobter Roger war ihre Sandkastenliebe gewesen. Als Sohn von Daddys engstem Geschäftspartner gehörte er so gut wie zur Familie, und so war es für Pippas Eltern ein Selbstgänger, dass sie Roger einmal heiraten würde. Schon mit siebzehn hatte Pippa sich mit ihm verlobt, doch dann waren ihr Bedenken gekommen, und sie hatten die Verlobung wieder gelöst.

Einige Jahre lang waren beide eigene Wege gegangen, hatten jeweils andere Partner gehabt, aber Roger hatte Pippa während dieser Zeit immer zu verstehen gegeben, dass er sie immer noch heiraten wollte. Und auch Pippas Eltern hatten sie unablässig bedrängt. Da Pippa sich eine eigene Familie wünschte und glaubte, dass es mit dreißig Jahren langsam dafür Zeit wurde, hatte sie der Hochzeit schließlich zugestimmt.

Und dann der große Schock. Zwei Tage vor dem Trauungstermin hatte Pippa ihren Verlobten in flagranti mit einer ihrer Brautjungfern erwischt. Zutiefst enttäuscht und wutentbrannt war Pippa dann allein nach Australien geflogen und hatte die Luxussuite bezogen, in der sie mit Roger ihre Flitterwochen hatte verbringen wollen.

Nun sei sie aber froh, dass es so gekommen ist, hatte sie gemeint, denn dadurch habe sie begriffen, dass Roger einfach nicht der Richtige für sie war. Sie würde ihm nicht nachweinen, sondern sich darauf freuen, ein völlig neues Leben zu beginnen.

Riley war beeindruckt. Pippa hatte ihn davon überzeugt, dass sie sich nicht das Leben nehmen wollte. Stattdessen würde sie ihr Single-Dasein genießen, genau wie er.

Pass nur auf, damit ist es bald vorbei, meldete sich plötzlich eine innere Stimme, und seine gute Laute verflog schlagartig. Am Freitag würde Lucy kommen, seine Tochter. Wie zum Teufel sollte man mit einer Tochter umgehen, die man überhaupt nicht kannte? Und die in einer Welt zu Hause war, in der Geld und Macht regierten?

Auch Phillippa Penelope Fotheringham stammte zweifellos aus reichem Hause. Die Art und Weise, wie sie sprach und sich verhielt, sprach Bände. Und sie war Engländerin, was in Riley Erinnerungen wachrief, an die er lieber gar nicht denken wollte.

Doch nun zurück zu Lucy. Riley wusste nicht, wie lange sie in Australien bleiben würde, denn in ihrer E-Mail hatte sie ihm nur mitgeteilt, wann sie in Sydney eintraf. Am Ende stand da noch geschrieben: Wenn es dir aber zu viel Mühe macht, komme ich auch allein zurecht.

Wenn es dir zu viel Mühe macht … Riley hatte keine Ahnung, ob Lucy ihm zu viel war oder nicht, denn er hatte noch nie eine Familie besessen und wollte auch keine haben. Aber wenigstens einen Platz zum Schlafen würde er ihr anbieten, schließlich war er ja kein Unmensch.

Er wohnte in einem großen, alten Haus ganz in der Nähe der Klinik, das früher einmal als Wohnheim für Krankenpflegeschüler gedient hatte und nun außer von ihm nur hin und wieder von Zeitarbeitskräften genutzt wurde. Es war groß und sehr geräumig, und das Beste daran war, dass es direkt am Strand lag – perfekt für einen leidenschaftlichen Surfer wie Riley.

Letztes Jahr hatte die Klinikverwaltung ihm das Haus zum Kauf angeboten, doch er hatte abgelehnt. Ein Haus zu besitzen bedeutete Wurzeln zu schlagen. Dazu war Riley nicht bereit, zumindest jetzt noch nicht. Er wollte die Möglichkeit haben, jederzeit an einen anderen Ort zu ziehen, wenn ihm danach war. Nur so fühlte er sich frei.

Und was wollte Lucy? Seit wann wusste sie, dass er ihr Vater war, und was erwartete sie von ihm? Warum hatte sie ihn nicht schon viel früher kontaktiert? Weil sie es jetzt erst erfahren hatte? Oder weil ihre Mutter es verhindert hatte?

Jedes Mal, wenn Riley an Marguerite dachte, packte ihn die Wut. Weshalb hatte sie ihm damals nicht gesagt, dass sie ein Kind von ihm erwartete? Er hätte sie niemals im Stich gelassen.

Riley atmete tief durch. Er musste sich beruhigen, seine Wut brachte ihn nur aus dem Gleichgewicht. Es lohnte nicht, sich über Sachen aufzuregen, die man nicht mehr ändern konnte. Lucy würde ihm schon sagen, was sie von ihm erwartete, und dann würde man sehen, wie es weiterging.

Falls es weitergeht, dachte er missgestimmt. Besser war es, wenn er sich von seiner Tochter nichts erhoffte. Im Lauf seines Lebens hatte Riley schmerzlich lernen müssen, dass auf Familienbande kein Verlass war.

Riley zwang sich, an etwas anderes zu denken. Olive Matchens wartete auf ihn, und um Pippa würde er sich später wieder kümmern. Er hatte einen Job, der ihn erfüllte, und das war das Wichtigste.

Kurz nachdem Riley gegangen war, betrat eine quirlige kleine Krankenschwester namens Jancey Pippas Zimmer und erinnerte sie daran, dass sie unbedingt ihre Mutter anrufen musste.

„Anweisung von Dr. Chase“, meinte sie mit einem pfiffigen Lächeln. „Wenn Sie nicht sofort zu Hause anrufen, steigt Ihre Mutter in den Flieger und ist schneller da, als Sie denken können.“

„Bloß das nicht!“, rief Pippa und griff zum Telefon. „Es geht mir gut, Mum, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen“, sagte sie, als sie gleich darauf ihre Mutter am Apparat hatte. „Ich hab bloß ein bisschen Wasser geschluckt, davon merke ich schon fast nichts mehr. Ich werde hier bestens versorgt, und wenn alles gut geht, werde ich vielleicht schon morgen entlassen.“

Geduldig ließ Pippa die Litanei ihrer Mutter über sich ergehen und verdrehte dabei die Augen. „Nein, Mum, ich wollte mich nicht umbringen, wie kommst du bloß auf diese absurde Idee? Ich bin nur zu weit ins Meer hinausgeschwommen und hab’s dann nicht mehr zurück zum Strand geschafft. Und nein, ich möchte nicht mit Roger sprechen. Sag ihm, dass es aus ist zwischen uns und ich ihn weder sehen noch hören will. Jetzt entschuldige mich bitte, ich bin schrecklich müde und muss schlafen. Ich ruf dich morgen wieder an.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, nickte Jancey anerkennend. „Wow, das war mal ein Wort!“

Pippa lächelte nur matt und schloss erschöpft die Augen. Sie war furchtbar müde, wollte nur noch ihre Ruhe haben. Als sie Minuten später einschlief, träumte sie von Dr. Chase und seinem schönen Lächeln.

Riley sehnte sich nach seinem Bett, doch das musste wohl noch eine Weile auf ihn warten. Schulferien, Grippewelle, jede Menge Unfälle. Es kam ihm vor, als sei die halbe Krankenhausbelegschaft entweder im Urlaub oder krank. Nun war auch noch ein junges Mädchen eingeliefert worden, das in den Wehen lag: Amy – sechzehn Jahre alt und mutterseelenallein.

„Die Wehen kommen alle zehn Minuten, deshalb sollte ständig jemand bei ihr sein“, erklärte Riley der Pflegedienstleiterin Coral, die gerade auf den Dienstplan schaute. „Amy ist ohne Begleitung hier und hat große Angst vor der Entbindung.“

Coral seufzte auf. „Ich weiß, aber momentan steht keine Hebamme zur Verfügung. Rachel ist in Urlaub, und erst vor zehn Minuten hab ich Marianna mit neununddreißig Fieber heimgeschickt. Amy hätte eigentlich in Sydney bleiben sollen, doch jetzt ist sie hier, was soll’s? Ich hab sie zu deiner Selbstmordkandidatin ins Zimmer gesteckt.“

„Also, erstens ist sie keine Selbstmordkandidatin, und zweitens braucht Amy jetzt vor allem Ruhe und …“

„Ich weiß, ich weiß, aber mir bleibt nichts anders übrig, Riley.“ Coral hörte sich so müde an, wie sich Riley fühlte. „Wenn ich Amy jetzt schon in den Kreißsaal hätte bringen lassen, wäre sie womöglich stundenlang allein, und das würde sie nicht aushalten. Bei den Müttern, die schon ihre Babys haben, wäre sie auch am falschen Platz. Also bleibt nur Pippas Zimmer. Das hat zudem den Vorteil, dass wir beide gleichzeitig beaufsichtigen können und dafür nur eine Schwester brauchen. Jede Viertelstunde schaut jemand zu den beiden ins Zimmer.“

Coral nahm ihre Brille ab und sah Riley an. „Dann haben wir noch den kleinen Troy in der Notaufnahme. Er hat sich beim Spielen ein Styroporbällchen in die Nase geschoben und kriegt es nicht mehr raus. Kannst du dich gleich mal um ihn kümmern?“

„Natürlich, dafür bin ich da“, meinte Riley seufzend. Sein Bett musste also noch ein bisschen länger warten.

Pippa wurde von einem heftigen Schluchzen aus dem Nachbarbett geweckt. Neben ihr lag ein schwarzes junges Mädchen, das hochschwanger war. Von Mitgefühl überwältigt, stand Pippa auf und berührte das Mädchen sanft am Arm.

„Hey, dir geht es gar nicht gut, was? Soll ich die Schwester rufen?“

Das Mädchen hielt kurz mit dem Schluchzen inne und sah Pippa aus rot geweinten Augen an. „Es tut so furchtbar weh, ich will nach Hause!“ Wieder fing sie an zu weinen und krümmte sich vor Schmerzen.

Pippa erkannte sofort, dass das Mädchen starke Wehen hatte. Sie nahm ihre Hand, und das Mädchen umklammerte Pippas nun so fest, als wollte sie sie nie mehr loslassen. Kurz entschlossen betätigte Pippa die Schwesternklingel, denn das Mädchen brauchte Hilfe. Als niemand kam, klingelte Pippa erneut, dann nach zwei Minuten noch ein drittes Mal. Endlich, nach beinahe fünf Minuten, tauchte Dr. Chase auf. Er wirkte angespannt und müde.

„Das Mädchen braucht Hilfe“, erklärte Pippa, ehe Riley etwas sagen konnte. „Sie hat starke Wehen und sollte nicht allein sein.“

„Ich weiß.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte sich auf Amys Bett. Die Wehe war gerade abgeklungen, das Mädchen wimmerte nun leise vor sich hin.

„Hallo, Amy.“ Er drückte ihr ein Papiertaschentuch in die Hand, damit sie sich die Tränen trocken konnte. „Ich weiß, wie schwer es für dich ist, das alles ganz allein durchzustehen. Deshalb hatte ich dir auch geraten, in Sydney zu bleiben. Aber du wolltest ja unbedingt hierher. Jetzt musst du da durch.“

Pippa legte sich wieder hin, und Amy hörte auf zu weinen. Sie sah Dr. Chase flehend an. „Kann ich nicht nach Hause?“

„Das geht nicht, Amy, dein Baby ist schon unterwegs.“

„Es tut aber so weh. Ach, wäre ich doch bloß nicht hergekommen! Ich hätte in Dry Gum bleiben sollen und …“

„Es war sehr gut, dass du ins Krankenhaus gegangen bist“, unterbrach Dr. Chase sie sanft. „Zu Hause hätte dir doch niemand helfen können. Na komm, ich schau mal nach, wie weit du bist.“

Um Diskretion zu wahren, stand Pippa auf und zog den Trennvorhang zwischen den zwei Betten zu.

„Wie ich sehe, hast du deine Bettnachbarin schon kennengelernt“, sprach Riley weiter, während er Amy behutsam untersuchte. „Habt ihr euch einander denn schon vorgestellt?“

„Nein“, erwiderte Amy matt.

„Sie heißt Pippa … und Pippa …“, rief er durch den Vorhang, „das hier ist Amy. Weißt du, Amy, Pippa hat letzte Nacht im Meer gebadet, wobei sie beinahe zu Haifischfutter geworden wäre.“

„Oh …“ Amy runzelte die Stirn und fragte an Pippa gewandt: „Warum wolltest du denn unbedingt nachts baden gehen?“

„Um mich abzureagieren“, gab Pippa offen zu. Sie hatte nichts dagegen, ein bisschen von sich preiszugeben, wenn es Amy half, die Wehen besser zu ertragen. „Ich hatte Wut auf einen Kerl.“

Diese Information fesselte Amy so sehr, dass sie ihre Wehen fast vergaß. „Wieso, was hat er denn verbrochen?“

„Er ist mit einer anderen ins Bett gestiegen, und das kurz vor unserer geplanten Hochzeit.“

„Oh, Mist! Hast du ihm wenigstens ordentlich eine verpasst?“

Da musste Pippa herzhaft lachen. Was hatten Teenager doch für eine blühende Fantasie! „Das hätte ich wohl besser tun sollen, anstatt blindlings wegzurennen und mich bei Dunkelheit ins Meer zu stürzen. Wenn Dr. Chase mich nicht gerettet hätte, wäre ich jetzt nicht hier.“

„Das sieht alles sehr gut aus, Amy“, meinte Riley zufrieden, froh, dass Pippa ihr schreckliches Erlebnis mit Humor zu nehmen schien. „Der Muttermund ist schon gut vier Zentimeter offen, was bedeutet, dass es nicht mehr lange dauert. Wenn du möchtest, kann ich …“

Ehe er den Satz beenden konnte, stürmte Jancey herein. „Riley, du musst sofort kommen! Mr Trotter hat sich mit der Axt in seinen großen Zeh gehauen, das sieht nicht gut aus!“

„Du meine Güte, das hat uns gerade noch gefehlt! Kannst du solange bei Amy bleiben?“

„Ich? Völlig unmöglich, ich muss zurück zu Mrs Simons, sie hatte gerade einen Asthmaanfall.“

„Ich muss jetzt gehen, Amy, aber ich bin so schnell wie möglich wieder da, versprochen“, wandte Riley sich an das junge Mädchen.

Verzweifelt umklammerte Amy seinen Arm und hielt ihn fest. „Bitte gehen Sie nicht weg, ich hab solche Angst!“

„Du bist nicht mehr allein“, versuchte er sie zu beruhigen. „Pippa ist doch da, und wenn du …“

Kurz entschlossen sprang Pippa aus dem Bett und zog den Vorhang wieder auf. „Natürlich bin ich da, aber was Amy braucht, ist eine Hebamme.“

„Das weiß ich auch“, erwiderte Riley, dem man seinen Stress deutlich anmerkte. „Aber eine ist in Urlaub, die andere krank und die Dritte anderswo im Einsatz. Es ist im Moment einfach keine für Amy da.“

Pippa biss sich auf die Lippe. Dr. Chase hatte ihr das Leben gerettet. Das war nun die Gelegenheit, sich zu revanchieren. „Okay, ich passe auf sie auf“, erklärte sie beherzt. „Ich setze mich an Amys Bett und helfe ihr, die Wehen durchzustehen.“

„So habe ich das nicht gemeint, Sie sind doch …“

„Ich kenne mich im Umgang mit Schwangeren ganz gut aus. Wenn es so weit ist, rufe ich Sie sofort. Nur etwas anderes zum Anziehen hätte ich gerne, denn dieses Flügelhemd ist wirklich furchtbar.“

Riley schüttelte den Kopf. „Aber das ist … Sie können doch nicht …“

„Nun komm endlich, Riley“, drängte Jancey aufgebracht. „Der Mann verliert noch seinen Zeh!“

„Meinetwegen brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen“, versicherte Pippa. „Mir geht es gut, und ich weiß, was ich tue. Ich bin nämliche examinierte Krankenschwester mit Erfahrung im OP und in Intensivmedizin. Und ich habe sogar noch eine Zusatzausbildung als Hebamme. Das alles können Sie sich gerne von meinem Chef bestätigen lassen, Sie brauchen ihn nur anzurufen.“

Sie schrieb ihren vollen Namen sowie den Namen der Klinik, in der sie arbeitete, und den ihres Chefs auf einen Zettel und gab ihn Jancey. „Am besten rufen Sie gleich an, damit wir keine Zeit verlieren. Oder Sie vertrauen mir und lassen die anderen Patienten nicht länger warten.“

„Jetzt bin ich aber platt“, meinte Jancey, als sie mit Riley draußen auf dem Gang war. „Soll ich in England anrufen und ihre Angaben überprüfen?“

„Hast du denn Zeit dafür?“

„Ich habe keine Minute Zeit, das ist ja das Problem. Eigentlich müsste ich längst bei Mrs Simons sein. Meinst du, wir können ihr vertrauen?“

„Haben wir denn eine Wahl?“

„Dr. Chase?“

Er drehte sich um, und sein Herz klopfte ein paar Takte schneller, als er Pippa an der Tür stehen sah. Ihr langes rotes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern, und ihre helle Haut stand in reizvollem Kontrast zu den grünen Augen, die Riley schon bei ihrer ersten Begegnung fasziniert hatten. Und dann diese atemberaubende Figur, die sich unter dem dünnen Hemd abzeichnete …

„Vergessen Sie auch bitte nicht, dass ich was zum Anziehen brauche?“, riss Pippa ihn aus seinen Gedanken, während sie das Flügelhemd hinten zusammenhielt. „Mir ist zwar klar, dass ein kaputter Zeh und Asthma Vorrang haben, aber die Würde einer Frau sollte man auch nicht außer Acht lassen.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ich wäre schon zufrieden, wenn ich etwas hätte, das vorn und hinten zu ist.“

Da musste Riley lachen. Es war das erste Mal seit mindestens zwölf Stunden, das jemand ihn zum Lachen brachte. „Klar doch, machen wir. Kannst du dich bitte darum kümmern, Jancey?“

„Hm, ich hätte einen lila Morgenmantel anzubieten, den eine Patientin heute Morgen hier vergessen hat. Sie hätte sicher nichts dagegen, wenn wir ihn kurz ausleihen.“

„Hat er Knöpfe?“, fragte Pippa hoffnungsvoll.

Jancey grinste. „Ja, sogar mit Glitzersternchen.“

„Das ist genau das Richtige für uns!“, erwiderte Pippa fröhlich mit einem Blick in Amys Richtung. „Magst du Glitzersternchen, Amy?“

Amy tat Pippa aufrichtig leid. Sie schien wirklich ganz allein zu sein, dabei hätte sie gerade jetzt die Hilfe eines Partners, ihrer Mutter oder wenigstens einer guten Freundin gebraucht.

„Weshalb ist denn niemand bei dir?“, fragte Pippa sanft. „Wo ist deine Familie?“

„Daheim in Dry Gum Creek. Mum wollte nicht, dass ich in die Klinik gehe, aber Doc Riley hat darauf bestanden.“

„Doc Riley?“

„Ja. In Dry Gum gibt es keine Ärzte oder Krankenhäuser, darum haben sie mich nach Sydney gebracht. Dort war es schrecklich. Ich hab es nicht mehr ausgehalten und bin mit dem Bus hierhergefahren, weil … na, weil Doc Riley hier ist. Und kaum war ich hier, fingen schon die Wehen an, aber ich geh nicht zurück ins Sydney Central, nie und nimmer!“

„Warum hat deine Mum dich nicht begleitet?“

„Ach, weil sie nichts von Krankenhäusern hält. Jetzt muss ich … aaahhh …“ Die nächste Wehe kam, und Amy drückte vor Schmerzen fest Pippas Hand.

„Keine Angst, ich bleibe bei dir. Alles wird gut“, sprach Pippa dem jungen Mädchen Mut zu. „Drück ruhig ganz fest meine Hand, wenn’s wehtut, mir macht das gar nichts aus.“ Pippa lächelte. „Gestern wäre ich fast im Meer ertrunken, und jetzt darf ich dir beistehen, wenn du dein Baby zur Welt bringst. Ist das nicht toll?“

Riley setzte gerade die letzten Stiche an Hubert Trotters großem Zeh, als Jancey den Kopf zur Tür hereinstreckte.

„Sie ist ein echter Knaller.“

„Wer?“

„Na, deine Phillippa Penelope Fotheringham. Stell dir nur mal vor, sie ist in diesem schrillen Bademantel auf die Neugeborenenstation gegangen und hat den Müttern dort von der armen Amy erzählt. Das hat deren Herz erweicht, und sie haben Pippa einen MP3-Player und ein Plüschtier für sie mitgegeben. Die Schwestern haben ihr erlaubt, Songs aus dem Internet für Amy runterzuladen, und dann hat sie auch noch im Postershop angerufen und Poster von Amys Lieblingsfilmstars bestellt. Und unsere Amy ist darüber so begeistert, dass sie ihre Wehen kaum noch spürt.“

Riley zog skeptisch die Stirn kraus. „Das ist ja alles schön und gut, aber Pippa muss sich selbst noch schonen. Sie ist schließlich Patientin und sollte im Bett oder zumindest in ihrem Zimmer bleiben.“

„Sag ihr das mal. Oh, und noch etwas, und zwar das Wichtigste: Ich hab bei ihrem Boss angerufen. Der hat mir bestätigt, dass sie mit Abstand die beste Krankenschwester ist, die er je hatte, und dass wir sie so schnell wie möglich nach Hause schicken sollen. Können wir sie nicht behalten?“

Riley lachte. „Guter Plan.“

„Jetzt mal im Ernst, Riley. Wir könnten wirklich dringend Verstärkung brauchen. Uns fehlen zwei Kräfte für die Nachtschicht, und ich bin schon seit zwölf Stunden hier. Wie viele Überstunden hast du denn auf dem Buckel?“

„Frag lieber nicht“, winkte Riley ab. „So, Hubert, wir sind fertig. In der Apotheke holen Sie sich nachher noch ein Schmerzmittel ab, und morgen früh kommen Sie wieder zum Verbinden her, okay?“

„Dr. Chase?“ Die Nachtschwester steckte den Kopf zur Tür herein. „Sie werden dringend im Kreißsaal gebraucht.“

Als Riley den Kreißsaal betrat, waren Amy und Pippa schon dort. Riley wollte Pippa wieder auf ihr Zimmer schicken, doch Amy klammerte sich so fest an sie, dass er es nicht fertigbrachte, die beiden zu trennen.

„Ich glaube, dein Baby hat es ziemlich eilig.“ Lächelnd nahm er Amys Hand. Dann sah er Pippa an. „Ist es okay für Sie, wenn Sie noch ein bisschen bleiben?“

„Natürlich, ich müsste mich nur irgendwo hinsetzen.“

Riley holte einen Stuhl, und Pippa setzte sich an Amys Seite.

„Okay, Amy, jetzt geht’s los.“ Riley drückte ihre Hand, als die nächste Presswehe kam. „Du brauchst keine Angst zu haben, es kann dir nichts passieren. Alles, was du tun musst, ist kräftig pressen. Und wir helfen dir dabei.“

Amy stöhnte, schrie und weinte, als eine Wehe nach der anderen kam.

„Du machst das sehr gut, Amy, weiter so“, ermutigte Riley sie, während Pippa sie von hinten stützte. „Nur noch ein paar Mal pressen, dann ist dein Baby da.“

Und dann war es endlich so weit. Amy schrie laut auf, als das Baby schließlich kam, und Pippa traten vor Freude Tränen in die Augen. Obwohl Amy noch so jung war und ihr Becken schmal, war alles gut gegangen. Riley untersuchte das Neugeborene. Nachdem er festgestellt hatte, dass alles in Ordnung war, legte er es Amy in den Arm.

„Wow!“, meinte sie ergriffen und blickte mit leuchtenden Augen zu Pippa auf. „Sieh mal, Pippa, ich hab eine Tochter!“

„Ja, und sie ist wunderschön.“ Pippa hatte schon viele Geburten miterlebt, und doch erschien es ihr immer wieder wie ein kleines Wunder, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickte. „Hast du dir schon einen Namen für sie überlegt?“

„Sie soll Riley heißen. Das hab ich schon lange vorher so beschlossen, egal, ob Junge oder Mädchen. Und ich gebe sie für nichts auf der Welt her!“

„Ich fühle mich geehrt.“ Ein herzliches Lächeln lag um Rileys Lippen.

„Hattest du denn an eine Adoption gedacht?“, fragte Pippa.

„Mum hat gesagt, ich soll das machen, aber Doc Riley meinte, dass ich das selbst entscheiden muss.“ Wenn ich das Baby behalte, würde er mich überstützen, stimmt’s Doc Riley?

„Ja, das hab ich dir versprochen. Doch du musst wissen, dass es keine leichte Sache ist, ein Kind großzuziehen, vor allem, wenn man noch so jung ist wie du und von der Familie keine Hilfe zu erwarten hat.“

„Schon klar, aber ich will mein Kind nicht hergeben. Ich will es selbst großziehen, und meine Tochter soll all das bekommen, was ich selbst nie hatte. Sie soll auf die Highschool gehen und vielleicht später sogar auf die Uni, oder, Doc?“

Riley lachte. „Warum nicht, möglich ist alles.“ Dann wurde er wieder ernst und sah Amy eindringlich an. „Deine kleine Riley hat nur eine Chance, diese Ziele zu erreichen: wenn du in den nächsten fünf Jahren nicht noch weitere fünf Babys kriegst.“

„Ach, das weiß ich selbst.“ Amy küsste ihr Baby auf die Stirn. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Doc. Ich bin bloß schwanger geworden, weil ich dumm war. So eine Dummheit macht man nur einmal.“

Wenig später wurden Amy und ihr Baby zu zwei anderen jungen Müttern ins Zimmer gelegt. Pippa versprach, sie dort so bald wie möglich zu besuchen. Erst jetzt merkte sie, wie erschöpft sie war, und ließ sich kraftlos auf den Stuhl sinken. Da wurde ihr plötzlich schwindlig, und es rauschte in ihren Ohren.

Riley war sofort bei ihr und drückte auf den Notrufknopf. „Schnell, wir brauchen eine Trage!“, sagte er zu Mary, die gleich darauf erschien.

„Warren ist gerade damit unterwegs. Er kommt erst in ein paar Minuten zurück. Soll ich einen Rollstuhl holen?“

„Nein, das ist … nicht nötig, ich … bin schon okay“, brachte Pippa stockend hervor. Sie wollte nicht, dass man Umstände um sie machte. „Ich steh … gleich wieder auf.“

„Kommt nicht infrage“, widersprach Riley vehement. „Wenn keine Liege da ist, werde ich Sie eben tragen.“ Ehe Pippa protestieren konnte, hob er sie hoch und trug sie aus dem Kreißsaal. „Ich hätte erst gar nicht zulassen dürfen, dass Sie das Bett verlassen“, schimpfte er verärgert auf dem Weg zu ihrem Zimmer. „Sie sind noch längst nicht wieder fit und brauchen sehr viel Ruhe. Wie konnte ich so was nur erlauben?“

Pippa sagte dazu gar nichts, denn sie fühlte sich in Rileys Armen so wohl, dass sie wünschte, der Weg zu ihrem Zimmer würde niemals enden.

„Sie sind fix und fertig“, fuhr Riley verdrossen fort. „Ich hätte darauf bestehen müssen, dass Sie im Bett bleiben.“

„Aber es war doch gut, dass ich bei der Geburt dabei war. Ich hab Amy ihre Angst genommen“, wandte Pippa ein. „Und es ist doch alles gut gegangen.“

„Ja, für Amy schon, aber nicht für Sie. Sie gehören ins Bett, und dort bringe ich Sie auf dem schnellsten Weg hin.“

Mary, die die ganze Zeit schon hinter ihnen herlief, kicherte belustigt. „Tja, so ist er, unser Doc Riley. Immer will er alles selbst in die Hand nehmen – im wahrsten Sinn des Wortes!“

Auch Pippa und Riley mussten lachen, und sein Ärger verflog in der selben Sekunde. Inzwischen hatten sie Pippas Zimmer erreicht, und Riley legte sie vorsichtig aufs Bett. „Es war toll, wie Sie Amy beigestanden haben“, sagte er mit einem Lächeln, das jede Frau zum Dahinschmelzen hätte bringen können. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Pippa.“

Seufzend ließ sie sich in das weiche Kissen sinken und schloss erschöpft die Augen. „Gerne geschehen“, flüsterte sie matt. Sie wollte nur noch schlafen – und von Rileys Lächeln träumen …

Die Geburt von Amys Baby rief Riley seine eigene Geschichte in Erinnerung. Lucy – sie war achtzehn Jahre alt, und er hatte sie noch nie gesehen, weil Marguerite das so entschieden hatte. Sie und ihre „ehrenwerten“ Eltern hatten beschlossen, ihn aus Lucys Leben auszuschließen.

Dabei hatte Riley Marguerite geliebt und anfangs auch geglaubt, sie würde seine Gefühle erwidern. Doch dann hatte sie ihm grausam klargemacht, dass alles nur ein Spiel für sie gewesen war. Riley glaubte nicht mehr an die große Liebe, hatte das Vertrauen in die Menschen verloren. Es gab niemanden, dem er sich emotional verbunden fühlte, keine engen Verwandten oder Freunde.

Am Freitag würde Lucy kommen, und Riley fragte sich zum wiederholten Mal, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte er von ihrer Existenz gewusst. Hätte er ihr ein guter Vater sein können, ein richtiger Familienvater?

Verdammt, es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, und er war hundemüde. Er würde endlich schlafen gehen und danach surfen. Surfen half ihm am besten über Ärger und Sorgen hinweg.

Auf dem Nachhauseweg musste er die ganze Zeit an Pippa denken. Es war einfach toll gewesen, wie sie Amy beigestanden hatte, obwohl sie selbst erst einen Tag zuvor fast in den Fluten des Meers umgekommen wäre.

Phillippa Penelope Fotheringham – was für eine Frau!

3. KAPITEL

Pippa hatte geschlafen wie ein Murmeltier, und als sie morgens erwachte, stand bereits das Frühstück auf dem Tisch. Sie hatte einen Bärenhunger, denn nachdem Doc Riley sie ins Bett gebracht hatte, war sie sofort eingeschlafen und hatte so das Abendessen verpasst.

Doc Riley – Pippa schmunzelte, als sie daran dachte, wie Amy ihn immer nannte. Gefällt mir! Mit großem Appetit begann sie zu essen und freute sich, dass sie noch lebte. Heute war Tag zwei nach ihrer Rettung, und es ging ihr blendend!

Gegen neun Uhr kam Jancey zusammen mit einem jungen Arzt ins Zimmer, den Pippa nicht kannte. Sie verspürte einen Anflug von Enttäuschung, denn sie hatte gehofft, Dr. Chase zu sehen.

„Dr. Chase ist nicht regelmäßig hier“, erklärte Jancey, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Er arbeitet hauptsächlich für Flight-Aid, unsere Flugrettung. Zusätzlich fliegt er Einsätze in weit entlegene Regionen im Outback, um dort Patienten zu behandeln, die sonst keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben.“

„Ist denn hier die Basis von Flight-Aid?“

Jancey nickte. „Wir haben zwei Teams, zwei Rettungsflugzeuge und einen Hubschrauber. Manchmal fliegen Riley und sein Team auch Küsteneinsätze, so wie in Ihrem Fall, aber die meisten seiner Flüge gehen ins Outback.“

„Dann werde ich ihn wohl gar nicht wiedersehen?“

„Wahrscheinlich nicht“, bestätigte Jancey. Dann lächelte sie schelmisch. „Ist echt ein heißer Typ, unser Doc Riley, stimmt’s?“

Pippas Wangen brannten. „So … habe ich das nicht gemeint, ich …“

„Klar haben Sie das so gemeint“, erwiderte Jancey keck. „Braucht Ihnen nicht peinlich zu sein, ich kann das gut verstehen. Wenn ich nicht glücklich verheiratet wäre, würde ich auch für ihn schwärmen. Und da bin ich nicht die Einzige, das können Sie mir glauben. Leider ist unser Dr. Chase ein eingefleischter Junggeselle, der …“

„Jancey, hast du nichts zu tun?“ Der junge Arzt, der gerade die Entlassungspapiere für Pippa fertig machte, sah Jancey missbilligend an.

„Ist ja schon gut, ein bisschen Klatsch und Tratsch können doch nicht schaden.“ Sie zwinkerte Pippa fröhlich zu. „Okay, ich muss wirklich weiter. Kommen Sie zurecht?“

„Klar.“

„Wo gehen Sie denn jetzt hin? Zurück ins Hotel?“

„Ja, mein Zimmer ist bis Sonntag bezahlt.“

„Na, dann wünsche ich Ihnen noch viel Spaß. Aber bitte kein nächtliches Bad im Meer, hören Sie? Unser Doc würde sicher sauer werden, wenn er Sie noch mal aus dem Wasser fischen müsste.“

„Keine Sorge, das muss er ganz bestimmt nicht“, versicherte Pippa schmunzelnd und gab Jancey zum Abschied die Hand. „Ich bin froh, dass ich am Leben bin, und genieße es in vollen Zügen.“

Ein Hotelpage hatte Pippas Sachen in die Klinik gebracht, sodass sie nun ihre eigene Kleidung anziehen konnte. Nachdem sie sich von den Krankenschwestern auf ihrer Station verabschiedet hatte, ging sie zu Amy.

„Danke, dass du mir geholfen hast.“ Das junge Mädchen umarmte Pippa fest. „Du und Doc Riley, ihr zwei seid wirklich super. Und weißt du was? Ich hab mir überlegt, ob ich mein Baby nicht mit zweitem Namen Pippa nennen soll. Riley Pippa Stetson – klingt cool, oder?“

Pippa lachte. „Übertreib es bloß nicht, Amy. Sicher wirst du hier noch mehr Freunde finden, und bis du rauskommst, hätte dein Töchterchen zehn Namen.“

„So lange bleib ich ganz bestimmt nicht. Ich hasse Krankenhäuser“, meinte das junge Mädchen bedrückt.

„Aber du läufst nicht wieder weg, verstanden? Du gehst erst, wenn du ordnungsgemäß entlassen wirst.“

Amy schüttelte den Kopf. „Nein, weglaufen tu ich nicht. Ich hab’s Doc Riley fest versprochen.“

Ein zufriedenes Lächeln um die Lippen, verließ Pippa kurz darauf das Krankenhaus. Sie war glücklich, dass sie Amy hatte helfen können, und das wiederum half ihr selbst, das Trauma ihrer schlimmen Nacht zu überwinden.

Pippa wunderte sich über sich selbst, denn sie hatte festgestellt, dass sie eigentlich gar nicht mehr unter Rogers Verrat litt. Sie war froh, dass sie noch lebte, und im Vergleich zu Amys Schicksal erschienen ihr ihre eigenen Probleme beinahe lächerlich.

Eine halbe Stunde später hatte Pippa das Hotel erreicht und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Es war schon ein paar Jahre her, seit sie zum letzten Mal in einem so luxuriösen Hotel übernachtet hatte.

Das Bett war riesengroß und hatte mindestens zehn Kissen, ein weicher, weißer Teppich umschmeichelte Pippas Füße, das Sofa war aus edlem Leder und der Fernsehbildschirm fast so groß wie eine Kinoleinwand. Zur Suite gehörte ein schöner Balkon mit atemberaubendem Blick aufs Meer, und im hoteleigenen Garten gab es einen großen Swimmingpool mit bequemen Sonnenliegen.

Für die meisten Menschen bestimmt ein Traum, aber nicht für Pippa. Pomp und Luxus waren ihr verhasst und lösten schon seit Kindertagen größtes Unbehagen in ihr aus. Und vor allem die Erinnerung an tiefe Einsamkeit.

Pippa war ein Einzelkind. Mit sechs Jahren war sie auf ein Internat gekommen und hatte ihre Eltern von da an nur noch in den Ferien gesehen. Und selbst da hatten sie kaum Zeit für sie gehabt. Den Urlaub hatten sie stets in Luxusresorts an exotischen Orten verbracht, und während ihre Eltern sich amüsierten, war für Pippa ein Babysitter engagiert worden, der sich die meiste Zeit um sie gekümmert hatte.

Als Teenager hatte sie sich schließlich geweigert, mitzufahren, denn zu Hause war sie nicht so einsam, dort kannte sie wenigstens das Personal. Und natürlich Roger, ihren besten Freund. Zumindest war er das gewesen, bis vor ein paar Tagen.

Pippa gähnte, sie fühlte sich auf einmal schrecklich müde. Der junge Arzt, der sie entlassen hatte, hatte ihr geraten, sich noch viel zu schonen und gründlich auszuschlafen. Immerhin hätte sie einen Schock erlitten und es dauere eine Weile, den zu überwinden.

Sie trat auf den Balkon und blickte aufs türkisfarbene Meer hinaus, das in der Sonne glitzerte. In der Ferne konnte sie einen einsamen Surfer erkennen, der die Wellen mühelos zu nehmen schien. Es musste toll sein, wenn man so gut surfen konnte. Vielleicht würde sie es auch irgendwann mal lernen …

Ganz in der Nähe lag das Personalwohnheim, das zum Krankenhaus gehörte, davon hatte Jancey ihr erzählt. Jancey, die völlig überlastet war und doch immer guter Laune. Sicher würde sie sich freuen, wenn sie mehr Unterstützung hätte …

Genau das ist es! schoss es Pippa plötzlich durch den Kopf, und ihr Herz schlug wild vor lauter Aufregung. Ich könnte diese Unterstützung sein! Auch Doc Riley hatte sich beklagt, wie unterbesetzt sie momentan seien, eine qualifizierte Fachkraft würde man also ganz bestimmt nicht ablehnen.

Pippa stellte es sich toll vor, in einem kleinen Krankenhaus wie dem Whale Cove zu arbeiten, wo jeder jeden kannte und wo man dringend Unterstützung brauchte. Dort könnte sie ein wichtiger Teil eines kleinen Teams sein, anstatt ein austauschbares Glied einer langen Kette.

Aber warum wollte sie sich überhaupt verändern? Weil sie vor irgendetwas davonlief so wie damals, als sie den Wünschen und Erwartungen ihrer Eltern hatte entkommen wollen und gegen deren Willen Krankenschwester geworden war? Nein, damit hat das nichts zu tun, sagte Pippa sich. Sie wollte einfach ihren Platz im Leben finden – einen Ort, an dem sie sich geborgen und zu Hause fühlte.

Zurück in ihrem Zimmer, legte sie sich sofort hin. Sie musste unbedingt ein bisschen schlafen, denn sie war zu müde, um noch länger über ihre Zukunft nachzudenken. Morgen, wenn sie wieder fit war, würde sie entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Pippa ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Phillippa Penelope Fotheringham – die bemerkenswerte Frau mit dem langen roten Haar, den ausdrucksvollen grünen Augen und dem unbändigen Lebenswillen, die Amy geholfen hatte, ihr Baby zu entbinden.

Und dann gab es auch noch Lucy. Seine Tochter, die am Freitag kommen würde. Wenn Riley nicht gerade an Pippa dachte, grübelte er über Lucy nach. Allein das reichte aus, um ihm den Schlaf zu rauben.

Es war Dienstag, und er hatte mit Harry nur einen kurzen Einsatz am Nachmittag zu fliegen. Sie mussten im Outback zwei Patienten abholen, die morgen operiert werden sollten.

Und für Donnerstag stand Dry Gum Creek auf dem Plan, Amys Heimatort. Wenn sie bis dahin fit genug war und es dem Baby gut ging, würden Harry und er sie bei der Gelegenheit gleich nach Hause bringen. Am Freitag und am Wochenende standen bisher keine Flüge an, das konnte sich jedoch schnell ändern.

Die ganze Zeit schon zerbrach Riley sich den Kopf darüber, was er mit Lucy am Wochenende unternehmen sollte. Er hatte keine Ahnung, was man mit einer Tochter anfing, die man gar nicht kannte.

Wieder dachte er an Pippa. Was musste sie bloß von ihm halten, nachdem er sie zurück zu ihrem Bett getragen hatte? Ein derart unprofessionelles Verhalten legte er sonst nie an den Tag, warum dann ausgerechnet bei ihr?

Weil es ein Notfall war, versuchte er sich einzureden, doch so richtig überzeugt war er davon nicht. Riley wusste nicht, warum er so auf diese Frau abfuhr. Vielleicht war es ihr britischer Akzent, der ihn anzog, oder ihre roten Haare.

Wie gut es sich angefühlt hatte, sie in den Armen zu halten … So gut, dass er sie am liebsten gar nicht mehr losgelassen hätte. Doch es war nicht nur ihr Äußeres, das ihn faszinierte, sondern vor allem ihre Art, mit Menschen umzugehen. Es war einfach rührend, wie sie sich um Amy gekümmert hatte, obwohl sie selbst in der Nacht zuvor fast ihr Leben verloren hätte.

Phillippa Penelope Fotheringham – der Name ließ auf Wohlstand schließen. Wie er darauf kam, wusste Riley selbst nicht, aber er war sicher, dass er sich nicht täuschte.

Vergiss sie! sagte er sich grimmig. Vor vielen Jahren hatte er sich schon einmal in eine reiche Engländerin verliebt, und die hatte ihm das Herz gebrochen. Nein, er liebte sein bequemes Single-Leben über alles und suchte nicht nach neuen Abenteuern. Ein großes stand ihm allerdings bevor, und zwar in Gestalt von Lucy.

Riley blickte aus dem Fenster und bewunderte den Sonnenaufgang, der das Meer rotgolden schimmern ließ. Er würde surfen gehen, damit bekam er den Kopf am besten frei. Sein Surfbrett und sein Job – was brauchte er mehr zum Leben?

Am frühen Abend ging Riley noch einmal zu Amy. Sie stand mit ihrem Baby im Arm auf dem Balkon und genoss die letzten Sonnenstrahlen.

„Hallo, Amy, wie geht es dir?“

„Super.“ Sie strahlte, und ihre weißen Zähne blitzten. „Sie sind heute schon mein zweiter Besucher.“

„Wer war denn sonst noch hier?“

„Pippa. Schauen Sie mal, was sie mir mitgebracht hat.“ Sie wies auf einen drolligen Stoffhasen auf ihrem Bett, der so lustig grinste, dass Riley lachen musste.

Wann mochte Pippa da gewesen sein? Hatte er sie vielleicht gerade verpasst?

„Sie ist erst vor ein paar Minuten gegangen“, erklärte Amy prompt, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Und Sie hat nach Ihnen gefragt.“

„Tatsächlich?“ Rileys Herz schlug etwas schneller. „Wohnt sie immer noch im Hotel?“

Amy nickte. „Sie hat gesagt, ihr Ex hätte das Zimmer bis Sonntag gebucht und schon im Voraus bezahlt, also würde sie es auch nutzen.“ Hoffnungsvoll sah sie Riley an. „Wann darf ich denn nach Hause?“

„Ich möchte, dass du eine ganze Woche hierbleibst.“

„Aber Sie fliegen doch nur jede zweite Woche nach Dry Gum. Wenn ich diesen Donnerstag nicht mitkann, heißt das, dass ich bis nächste Woche warten muss. Das ist mir viel zu lange.“

Riley zögerte. Amy schon drei Tage nach der Entbindung zu entlassen, erschien ihm eigentlich zu früh …

„Bitte, Doc, so lange halte ich es hier nicht aus.“

„Also gut, wenn bis Donnerstag mir dir und dem Baby alles in Ordnung ist, nehmen wir euch mit“, beschloss Riley. „Aber nur unter der Bedingung, dass du dich eine ganze Woche lang von Schwester Joyce betreuen lässt. Sie wird dir alles zeigen, was du wissen musst, um dein Baby richtig zu versorgen.“

„Ach, über kleine Kinder weiß ich doch schon längst Bescheid“, erklärte Amy stolz. „Schließlich zieh ich meine Geschwister groß.“

Das wusste Riley nur zu gut, denn er kannte Amy schon seit sechs Jahren. Sie hatte neun jüngere Geschwister, um die sie sich aufopferungsvoll kümmerte, weil die Mutter offensichtlich nicht dazu in der Lage war. Keine leichte Aufgabe, denn häufig gab es zu Hause weder Geld noch Essen, dann musste Amy stehlen, um die Familie zu ernähren.

Als Riley erfahren hatte, dass Amy schwanger war, hatte er darauf bestanden, dass sie in die Klinik ging. Auf keinen Fall hätte er es zugelassen, dass sie das Kind ohne jede Hilfe in diesem gottverlassenen Ort entband.

„Trotzdem gibt es da noch eine ganze Menge Dinge, die du lernen musst“, beharrte er. „Einen Säugling zu versorgen, heißt, viel Mühe und Verantwortung auf sich zu nehmen und Tag und Nacht für ihn da zu sein.“

Amy nickte ernst. „Das weiß ich auch, und Schwester Joyce wird mir dabei helfen.“

„Also, kann ich mich darauf verlassen, dass du eine Woche bei ihr bleibst?“

„Klar doch. Ich will sowieso nicht gleich zurück zu Mum.“

Das war ein großer Schritt für Amy, und Riley bewunderte sie dafür. „Was ist mit deinem Freund?“, erkundigte er sich. Soviel er wusste, hatte Amys Beziehung zum Vater ihres Kindes kaum zwei Monate gehalten. „Jason heißt er, glaub ich, oder?“

Wieder nickte Amy. „Als ich ihm gesagt hab, dass ich schwanger bin, kriegte er gleich Panik und ist einfach abgehauen. Aber Schwester Joyce hat mir am Telefon erzählt, er hätte es sich anders überlegt und will sogar mit mir zusammenziehen. Sie will versuchen, ob sie eine dieser Hütten von der Gemeinde für mich kriegen kann, ist das nicht cool? Ich hab ihr dann gesagt, sie soll Jason ausrichten, dass er nur bei mir und meinem Baby wohnen darf, wenn er einen Job gefunden hat und sein Leben auf die Reihe kriegt.“

Sie lächelte verlegen. „Wissen Sie, Jason ist eigentlich ganz okay, aber er braucht immer einen, der ihn in den Hintern tritt, damit er sich bewegt.“

Riley lachte. „Und dafür bist du genau die Richtige.“

„Wissen Sie, was ich mir noch gedacht habe?“, fuhr Amy fort, plötzlich wieder ernst. „Ich finde Pippa einfach super, so wie sie mir geholfen hat und alles … Ich dachte, vielleicht … vielleicht könnte ich auch Krankenschwester werden so wie sie. Das wär doch cool, oder?“ Amy biss sich auf die Lippe. „Ist bloß blöd, dass sie zurück nach England geht.“

Riley wurde ganz beklommen zumute. Warum eigentlich? Es war doch ganz normal, dass Pippa zurück nach England wollte, schließlich war das ihre Heimat. Weshalb hatte er dann plötzlich das Gefühl, etwas Kostbares zu verlieren?

Sie wollte nicht zurück nach England.

Es war Mittwochvormittag, und die Sonne schien strahlend vom azurblauen Himmel. Pippa badete im Meer und ließ sich entspannt auf dem Rücken treiben. Warum sollte sie auch nach England gehen? Wer oder was erwartete sie dort? Ihre Eltern? Oder etwa Roger?

Wie sehr hatte ihr Vater sie all die Jahre gedrängt, Roger zu heiraten. Kein Wunder, denn durch diese Verbindung hätten sich zwei Großunternehmen vereint, die dadurch noch größer und mächtiger geworden wären.

„Wie viel Zeit willst du noch in diesen Krankenhäusern verplempern?“, hatten ihre Eltern ihr immer wieder vorgehalten. „Stattdessen solltest du lieber für Familiennachwuchs sorgen.“

Pippa war empört und zutiefst verletzt gewesen. Für ihren Beruf als Krankenschwester und Hebamme hatten ihre Eltern nie Verständnis aufgebracht. Nur Roger hatte sich stets geduldig gezeigt und war sogar damit einverstanden gewesen, dass sie einige Jahre getrennte Wege gingen.

Als nach mehreren bedeutungslosen Beziehungen bei beiden das Thema Hochzeit schließlich wieder aufgekommen war, hatte Pippa keinen Grund mehr gesehen, Roger noch länger hinzuhalten.

Wahrscheinlich war er sogar froh, dass er sich noch austoben konnte, bevor er bereit war, sich der Karriere wegen an mich zu binden, dachte ...

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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