Julia Ärzte Spezial Band 4

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WILLKOMMEN IM LEBEN, KLEINE TERESA von LILIAN DARCY
Tag und Nacht betreut die junge Kinderärztin Jennifer Powell wie eine Mutter die zu früh geborene Teresa, das Baby ihrer verstorbenen Schwester. Jennifer zur Seite steht der erfahrene Dr. Will Hartman. Sie ist fasziniert von seiner Ausstrahlung. Können sie Teresa retten, und geben sie ihrer erwachenden Liebe eine Chance?

VERLIEBT IN DEN ARZT AUS ITALIEN von KATE HARDY
Seite an Seite retten sie das Leben von Kindern, aber seit die hübsche Ärztin Lucy sich in ihren Chef Dr. Niccolo Alberici verliebt hat, kann sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Wird sie ihren Job verlieren? Nur Niccolo kann ihr jetzt noch helfen ...

ZUM TRÄUMEN SCHÖN von MEREDITH WEBBER
Ausgerechnet in dem Moment, als das Notfallteam von Crocodile Creek eine seiner dramatischen Rettungsaktionen vorbereitet, tritt die neue Schwester ihren Dienst an. Kinderarzt Dr. McGregor vergisst fast seine Pflicht – denn vor ihm steht eine Frau zum Träumen ...


  • Erscheinungstag 18.03.2022
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508629
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilian Darcy, Kate Hardy, Meredith Webber

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 4

1. KAPITEL

Zu deiner Geburt gab es ein richtiges Feuerwerk, Teresa.

Das würde sie später zu ihr sagen, dachte Jennifer Powell, als sie vom neunten Stockwerk des Riverbank Hospitals in die bunt erleuchtete Nacht sah. Es war der Sonntag des Wochenendes vor dem 4. Juli, und die Bewohner von Columbus im Staat Ohio feierten.

Nun sah Jennifer Dr. William Hartman, der sich beim Näherkommen in der Fensterscheibe spiegelte, und drehte sich um.

„Dr. Powell?“

„Hmm?“ Die Stimme blieb ihr im Hals stecken.

Sie sah die tiefe Sorgenfalte über den dunklen Augen des Arztes. Um seinen breiten Mund lag ein fester, sachlicher Ausdruck.

„Ich habe Richard Gilbert erreicht, und das OP-Team hat angefangen, Ihre Schwester vorzubereiten“, sagte er und strahlte ruhige Kompetenz aus. „Das Kind wird noch in dieser Stunde kommen.“

Während das Leben meiner Schwester zu Ende geht, dachte Jennifer.

Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ein Wochenende so lang sein konnte. Jetzt, vor dem vorläufigen Schlussakt, strömte die Erinnerung an die vergangenen drei Tage in ihr Bewusstsein zurück.

Freitagmorgen hatte sie noch nichts gewusst, als sie ihre Runde über die Pädiatrie-Station des Massachusetts State University Hospitals in Boston gemacht hatte. Es war der fünfte Tag in ihrem ersten Ausbildungsjahr als Assistenzärztin im Krankenhaus.

Freitagmorgen war sie ans Telefon des Dienstzimmers gerufen worden, ahnungslos, bis sie eine besorgte, aber auch unpersönliche Stimme hörte und ihr mitgeteilt wurde, dass ihre Schwester Heather bei einem schweren Autounfall in Columbus, Ohio, verletzt worden sei und wahrscheinlich nicht überleben würde.

Sie konnte sich sofort aus familiären Gründen freinehmen. Dr. Alan Brinkley, der für die Ärzte im ersten Jahr zuständig war, kannte ihre Familienverhältnisse gut genug: Eltern für ein Jahr in Hongkong, eine Adoptivschwester mit unbekanntem Aufenthaltsort …

Noch vom selben Telefon im Krankenhaus buchte sie einen Flug, fuhr nach Hause und packte mechanisch, bevor sie dem bei ihnen wohnenden Hausmeister ihrer Eltern ihr Auto übergab. Natürlich hatte dieser bestürzt auf die Neuigkeit reagiert.

„Mach dir keine Sorgen, Tom. Ich erzählte es meinen Eltern. Sie … Sie werden nicht extra zurückkommen, glaube ich.“

Sie hatte ein Taxi zum Flughafen genommen, den Flug knapp erreicht, war in Columbus wieder in ein Taxi gestiegen und zu dem Hotel gefahren, das der Fahrer empfohlen hatte.

„Ganz nah am Krankenhaus“, hatte er gesagt. „Und es hat einen Pool.“

Warum sprach er von einem Pool? Sie hatte nur schnell ihren Koffer aufs Bett geworfen und fünf Minuten später vorm Krankenhaus gestanden.

Entscheidend war, wie alt das Kind im Mutterleib war. Heathers Weg war zu Ende. Damit hatte sich Jennifer irgendwie abgefunden, vielleicht, weil es sich schon lange angedeutet hatte.

Heather war mit zwei Jahren adoptiert worden, kam aus schlimmen Verhältnissen und hatte nie die Erwartungen ihrer Adoptiveltern erfüllen können.

Diese wollten noch so ein Kind wie Jennifer – gesund, glücklich, intelligent und erfolgreich.

Stattdessen schien mit Heather in vieler Hinsicht etwas nicht zu stimmen, nicht nur emotional, sondern auch geistig und körperlich. Keiner der vielen Spezialisten, für die die Powells ihr Geld ausgaben, hatte mit einer Diagnose aufwarten können.

Anerkennung, nicht Therapie, wäre das Richtige gewesen.

So aber lief Heather mit zwölf zum ersten Mal davon. Mit dreizehn hatte sie schon Freunde, mit sechzehn hatte die Polizei Drogen bei ihr gefunden, und gleichzeitig lebte sie auf der Straße und kam monatelang nicht nach Hause.

„Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben“, hatte Julie Powell gesagt, und ihr Mann hatte ihr nicht widersprochen.

Da war Jennifer neunzehn und schon in Harvard. Sie liebte Heather immer noch, hatte sich aber keine allzu großen Hoffnungen gemacht und noch vor einem Jahr gedacht, wie überraschend weit Heather doch gekommen war.

Auch das Klinikpersonal hatte so seine Erfahrungen mit Patientinnen wie ihr. Das hatte Jennifer dem Gesichtsausdruck der Schwester entnehmen können, die auf ihr Klingeln hin an die Tür der Intensivstation gekommen war.

Vielleicht hatten sie Heather sogar darauf getestet, ob sie Drogen genommen hatte. Aber genau das würde Heather nicht getan haben, nachdem sie so oft behauptet hatte, dass sie so viele Probleme hatte, weil ihre Mutter drogenabhängig gewesen sei.

„Warten Sie bitte hier“, hatte die Krankenschwester gesagt. „Das Team, das sich um Ihre Schwester kümmert, hat gerade eine Besprechung, aber es wird bald jemand zu Ihnen kommen.“

Jennifer hatte genickt und aus demselben Fenster geblickt, vor dem sie jetzt stand. Der dichte Verkehr vor dem Feiertag, den sie auf dem Freeway beobachtet hatte, war ihr genauso sinnlos vorgekommen wie die bunten Sternschnuppen in dieser Nacht.

Und wie heute war auch am Freitag Will Hartman zu ihr gekommen, um mit ihr zu sprechen, ein Fremder, der die üblichen professionellen Worte von sich gab: „Alles, was wir tun konnten … sehr kritischer Zustand … hinreichend begründete Hoffnungen für das Überleben des Kindes …“ Er war nur ein unpersönlicher Weißkittel für sie gewesen, allein deshalb schon hassenswert, aber sie hatte nur die Kraft dazu, um Heather zu trauern und für das Kind zu beten.

Mit der Zeit war ihr klar geworden, dass sie diese Stimme noch oft hören würde, ob sie es wollte oder nicht. Will Hartman spielte in diesem Drama, das sie nie vergessen würde, eine Schlüsselrolle.

Bisher hatte er sie ganz anständig gespielt, erkannte sie nun, wie jemand, der wirklich verstand, was sie gerade durchmachte. Und als er ihr einmal die Hand auf die schmalen Schultern gelegt hatte, hatte sie ihn als echte Stütze empfunden.

„Hat Heather noch eine Chance?“ hatte sie ihn gefragt.

„Das kann ich nicht … Also, Sie sind ja Arzt wie ich …“

„Im ersten Jahr …“

„Sie sind Ärztin. Unsereins muss sich davor hüten, endgültige Aussagen zu machen. Als Neonatologe bin ich vor allem am Zustand des Fötus interessiert. Aber das Trauma-Team konzentriert sich jetzt auch auf die Frage, was es für die Mutter tun kann, um dem Kind zu helfen.“ Er zögerte. „Vielleicht würde sie es selbst nicht anders wollen.“

„Das stimmt.“ Jennifer war sich sicher. „Was immer sie auch in ihrem Leben, ja mit ihrem Leben gemacht hat, sie hätte nie etwas getan, was dem Kind schaden könnte. Als ich sie vor zwei Monaten zum letzten Mal gesehen habe, hatte sie sogar damit aufgehört, ihr Haar zu bleichen. Sie hat nicht geraucht, getrunken oder sonst etwas genommen, obwohl sie der Kokainentzug wahnsinnig nervös gemacht hat. Sie hatte schon vor der Schwangerschaft aufgehört. Sie muss das Kind gewollt haben … und hat durchgehalten.“

„Das erhöht jetzt die Überlebenschance für das Kind.“

Kurz darauf war er in die Intensivstation für Neugeborene zurückgekehrt, und dann hatte sie am Rande mitbekommen, wie er wie alle anderen, die dem Kind noch ein paar Tage im Mutterleib erkämpfen wollten, auf der Station ein und aus ging.

Natürlich hatten ihr einige aus dem Team gesagt, sie könne doch gern ins Hotel fahren und sich ausruhen, aber er war nicht darunter gewesen. Ab und zu hatte sie einen Blick auf ihn erhascht – Samstag um drei Uhr in der Nacht und um elf am Morgen sowie Sonntagnachmittag um vier – und sich denken können, dass er der Arzt war, der an diesem Wochenende Bereitschaft hatte. Und Heathers Zustand verschlechterte sich weiter.

Heute, Sonntag, hatten sie sie abends um acht dann doch weggeschickt.

„Frühstück war um zehn, und Sie sehen wirklich wie ein Strich in der Landschaft aus“, hatte es vorwurfsvoll geheißen. „Essen Sie etwas, bevor die Cafeteria zumacht, wenn Sie schon nicht aus dem Haus und in ein richtiges Restaurant gehen wollen.“

Und als Jennifer zurückkam, war das Team in einer Besprechung, und niemand wollte sie auf die Station lassen. Da war Heather schon nach unten gebracht worden, wurde Jennifer nun klar.

„Sind Sie nur gekommen, um mich zu holen?“ wollte sie von Dr. Hartman wissen.

Er zuckte mit den Achseln und lächelte schwach. „Sonst verlaufen Sie sich noch.“

Mit seinem freundlichen Humor hatte er so ins Schwarze getroffen, dass sie ganz schwach wurde und sich dann kurz an eine nüchterne Fahrstuhlwand lehnen musste, bevor sie wieder richtig stehen konnte.

Und er sah sie nur besorgt an, ohne etwas zu sagen. Dafür war sie ihm dankbar. Erschöpft, wie sie war, hätte sie natürlich versuchen sollen, irgendwie zu schlafen. Genauso offensichtlich war aber auch, dass sie zu willensstark und angespannt war, um diesem Bedürfnis nachzugeben. Also brauchte man ihr in keiner Weise gut zuzureden.

Der Lift hielt im achten Stock für eine Ärztin an, die im siebten Stock wieder ausstieg, Zeit genug für Jennifer, sich ein konkreteres Bild von dem Mann neben ihr zu machen.

Er war kräftig, ohne dick zu sein, und hielt die relativ breiten Schultern gerade. Seine Größe ließ ihn leicht herablassend wirken, aber er war nicht so groß, dass er bedrohlich wirkte – wenn er es denn gewollt hätte, was sie bezweifelte.

In den klaren, männlichen Gesichtszügen lagen Leben und Anteilnahme, etwa in den leicht nach oben zeigenden Mundwinkeln und der Art, wie er Kinn und Unterlippe gleichzeitig zu bewegen schien, oder auch darin, wie er die dunklen Brauen hob, die dann auf die schlanke Nase zeigten, die zarte Haut um die Lider dehnten und die langen, dichten Wimpern betonten.

„Wir sind da“, sagte er, als sie im sechsten Stock anhielten. „Ich, hm, ich bin davon ausgegangen, dass Sie bei der Geburt dabei sein wollen und … habe mich in diesem Punkt gegenüber dem Trauma-Team durchgesetzt.“

„Dann muss ich mich bedanken.“

Er zuckte leicht mit den Schultern. „Sie sind Ärztin.“

„Aber ich will nur deshalb dabei sein, weil das Mädchen mein Baby sein wird.“ Das Geschlecht des Kindes war auf dem Ultraschall vom Freitag klar erkennbar gewesen.

„Wollen Sie es adoptieren?“, sagte er und verbarg vor ihr, was er davon hielt.

„Ja.“ Sie wollte nichts weiter dazu sagen, obwohl sie es konnte. Meine Eltern wollen es nicht, und da ist sonst niemand. Vielleicht ruiniere ich mir damit meine Karriere, aber es gibt keine denkbare Alternative.

„Was Ihre Anwesenheit betrifft, so hat das letzte Wort natürlich Richard Gilbert.“

„Richard …?“

„Der Facharzt für Geburtshilfe, der extra für Sie gekommen ist. Zumindest haben Sie einen anerkannten Spezialisten verlangt.“

„Ja, sicher, tut mir leid“, sagte sie mit einem müden Kopfschütteln. Kleine Punkte erschienen vor ihren Augen. „Er hat am Freitag einen so guten Eindruck gemacht.“

„Er ist gut. Wenn Sie nichts unternommen hätten …“

„… wäre eben der Facharzt aus der Rufbereitschaft gekommen, der es bestimmt nicht schlechter machen würde.“ Sie lachte leise. „Aber das hier ist ein Anlass, an dem das Geld meiner Familie Heather tatsächlich einmal nützlich sein kann.“

Warum hatte sie diesen Gedanken nur laut ausgesprochen? An sich erfuhren nur enge Freunde von ihrem begüterten Hintergrund, und das nur, wenn sie ihn nicht mehr verstecken konnte. Dabei war am Geld der Powells an sich nichts Schlechtes …

Ausgerechnet jetzt kam ihr der Gedanke, dass die Powells schon mit der Überzeugung geboren zu sein schienen, sich mit Hilfe ihres Geldes von allen Problemen freikaufen zu können.

Als sie Heather adoptierten, obwohl sie wussten, aus welchen Verhältnissen sie kam, hatten sie einmal im Leben wirklich selbstlos gehandelt. Dieser Schuss war so sehr nach hinten losgegangen, dass sie nun ängstlich bedacht waren, nie wieder etwas zu tun, das auch nur entfernt nach sozialer Geste aussah.

„Wenn wir bloß von privat adoptiert hätten, wie bei Jennifer!“ hatte Julia Powell ausgerufen, als das Chaos um Heather seinen Höhepunkt erreicht hatte. „Davon haben beide Seiten profitiert. Wir bekamen ein Kind mit einem anständigen Hintergrund und die Mutter einen ordentlichen Bonus, mit dem sie das College in Ruhe beenden würde. Aber bei Heather haben wir uns aus Barmherzigkeit hinreißen lassen …“

Seitdem wusste Jennifer, dass sie gekauft war, wenn sie auch nie erfahren sollte, wie viel man dieser netten, ehrgeizigen College-Studentin, der beim Verhüten ein Fehler unterlaufen war, gegeben hatte. Mittlerweile war das nicht mehr wichtig … und stellte Jennifer doch vor die Frage, ob sie wirklich nur das Beste für Heather und das Kind wollte oder ob da noch anderes eine Rolle spielte.

Bestimmt freute sie sich schon darauf, eine Menge Geld von ihrem Treuhandkonto für das Enkelkind auszugeben, das Mum und Dad nie haben wollten. Aber sie konnte es sich verkneifen, auch noch diese Überlegung laut vor Dr. Hartman auszusprechen.

Er blieb neben ein paar massiven Regalen stehen. Der Operationsraum der Gynäkologie lag vor ihnen. „Sie brauchen natürlich keine chirurgische Handdesinfektion …, aber streifen Sie das bitte über.“ Er zeigte auf einen Haufen mit Kitteln, Hauben, Mundschutz und OP-Schuhen und bediente sich.

„Was ist mit der Erlaubnis von Dr. Gilbert?“

„Ich glaube nicht, dass er Nein sagen wird.“

Eine Minute später gingen sie hinein.

Hinterher hatte Jennifer nur noch undeutlich vor Augen, wie Teresa zur Welt gekommen war, so als ob alle unschönen Details wegretuschiert waren. Genauso würde sie es halten, wenn sie ihrer Nichte später einmal davon erzählen würde.

Zu deiner Geburt gab es ein richtiges Feuerwerk. Ich bin dabei gewesen … konnte es nicht erwarten. Ich habe dich schon so geliebt, und als du da warst, warst du vollkommen in meinen Augen. Sehr klein, ja, aber du hast geschrien und gestrampelt wie eine kleine Kämpferin.

Aber erst war es fürchterlich still gewesen. Will Hartman musste das Neugeborene beatmen.

Und dann kam Teresas erster Atemzug.

„Ja!“ hatte er triumphierend ausgerufen und die Hand zur Faust geballt. „Wusste ich es doch! Du willst leben!“ Dann wurde Teresa auf die Intensivstation gebracht.

Dr. Gilbert nähte den Schnitt sorgfältig zu, und doch wussten alle im Raum, dass Heather nicht überleben würde.

Jennifer hatte sich bei ihm und dem Team bedankt, bevor sie Abschied nahm. „Ich gehe jetzt. Ich liebe dich. Und für den Rest meines Lebens werde ich alles für Teresa tun.“ Das in etwa hatte sie zu Heather gesagt.

Deine Mutter hat dich schon so geliebt, Teresa. Und sie wollte, dass ich bei dir bleibe. Deshalb bin ich schnell in diese besondere Kinderabteilung gelaufen, und da warst du.

Da war sie, in einer hell erleuchteten, von Apparaten dominierten Welt, die mit ihren lauten Alarmtönen, flackernden Anzeigen und ratternden Instrumentenwagen der schlechteste Ort für so winzige Wesen wie dieses Mädchen zu sein schien.

Bislang war Jennifer sozusagen auf der Seite der Maschinen gewesen. Sie hatte auf die Überwachungsmonitore geachtet, Schlüsse aus den Anzeigen gezogen, Untersuchungen veranlasst und die Werte in minutiöse Anweisungen für die Pflege umgesetzt.

Nun war sie auf Seiten der Kinder, genauer eines bestimmten Säuglings namens Teresa.

Will Hartman stand neben der Isolette und ratterte Abkürzungen und Anweisungen herunter, während er mit dem Team alles Punkt für Punkt durchging. Da Jennifer Kinderärztin war, schlug jede Silbe, die er von sich gab, Wellen wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Die ersten Stunden nach der Geburt waren voller Risiken für Gehirn, Augen, Herz, Lungen …

Überwältigt, wie sie war, konnte sie nur noch zusehen. So viel war seit Freitag passiert, und doch standen sie noch am Anfang.

Teresa war zu einem Teil der Maschinerie geworden, so dicht war der winzige Körper von Sensoren, Elektroden, Drähten und Schläuchen bedeckt. An Brust und Unterleib wurden Temperatur und Sauerstoffgehalt gemessen, an den Beinen das EKG abgenommen; unter der Nase klebte ein Schnurbart aus Leukoplast, der den Beatmungsschlauch festhielt. Ein Nabelarterienkatheter erlaubte es, ohne wiederholten Einsatz von Spritzen Blut abzunehmen. Um die dünne Kopfhaut waren Bandagen gewickelt, die den Schlauch für die Infusionslösung fixierten.

Jennifer wollte die Arme durch die beiden runden Klappen der Isolette stecken, Teresa von diesen so lebenswichtigen Apparaten befreien und in den Arm nehmen.

Will Hartman schien etwas zu merken, denn er trat zurück, fasste Jennifer leicht unter den Arm und führte sie aus dem Raum an einen Ort, der wohl extra zu dem Zweck gedacht war, verzweifelte Familienangehörige von Säuglingen wie Teresa zu beruhigen.

„Sie wissen, wozu das alles gut ist. Sie wissen, was alles schief gehen kann“, sagte er. „Das macht es noch schlimmer, oder?“

„Warum haben Sie mich von ihr weggebracht? Ich will bei ihr sein.“

„Sicher. Aber ich möchte ein wenig mit Ihnen reden.“

„Reden? Worüber denn?“

Plötzlich hasste sie ihn. Er hatte es zu seinem Beruf gemacht, ganz kleine Kinder zu quälen!

„Über Sie, zum Beispiel“, gab er zurück. „Am Freitag sind Sie aus Boston hierher geflogen. Und sonst? Wo übernachten Sie? Wann müssen Sie zurück sein?“

„Ich muss nicht zurück“, sagte sie scharf. „Von jetzt ab bin ich hier.“

„Aber Sie wohnen doch irgendwo.“

„Im Motel. Das ist nicht weit, und da gehe ich hin, wenn ich mal schlafen muss.“

„Hm. Aber … Von jetzt ab bin ich hier? Sie haben doch gerade erst auf der Pädiatrie angefangen.“

Das ging ihn eigentlich nichts an. „Bestimmt finden sie da schnell jemand anderen, bei der langen Warteliste. Ich war ja erst vier Tage dort.“

„Sind Sie sich sicher, dass Sie alles aufgeben wollen, für das Sie die lange Ausbildung gemacht haben?“

„Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt …“ Ihr standen Tränen in den Augen.

Er sah sie aufmerksam an. „Tut mir leid“, sagte er ruhig. „Aber ich war selbst einmal dort.“

„Wo? Auf der Pädiatrie? Sie sind doch Neonatologe“, wehrte sie ab.

„Ich meine, ich stand auch schon mal an diesem Scheideweg, an dem der Tod eines geliebten Menschen dazu führt, dass man die Medizin ganz aufgeben will. Denn das ist es, was Sie tun wollen. Wenn Sie sich der Sache nicht ganz verschrieben haben, werden Sie nie wieder als Ärztin im Krankenhaus anfangen. Und ich weiß nicht …“

„Sie wissen nicht, ob ich der Medizin stark genug verschrieben bin, wollen Sie sagen. Das ist beides völlig unwichtig! Ich muss jetzt das hier machen.“

„Gibt es niemand anderen …?“

„Nein, da ist niemand. Und sagen Sie jetzt ja nicht, dass Teresa ja auch … morgen oder nächste Woche … sterben kann und ich dann umsonst hier geblieben bin. So kann man einfach nicht denken!“

„Das würde ich bestimmt nie sagen!“ Er wurde etwas lauter. „Für so unsensibel halten Sie mich also! Dann ist das hier falsch gelaufen. Ich hätte Sie gar nicht herbringen sollen.“

Er dirigierte sie zurück zu Teresas Isolette. Teresa lag wie ausgeliefert da, den Kopf zur Seite, die kleinen roten Beinchen angezogen. Ein dünnes weißes Tuch schütze ihre Augen vor dem grellen Licht der Station.

„Sehen Sie sie an!“, sagte er mit ganz selbstverständlicher Autorität. „Das hätte ich gleich sagen sollen, tut mir leid. Sehen Sie sie an! Sie atmet zufrieden stellend. Wenn sie es durchhält, können wir den Respirator bald weglassen. Die Sauerstoffsättigung des Blutes steigt auch immer mehr, wie Sie es selbst den Anzeigen entnehmen können.

Wie Sie wissen, benutzen wir künstliches Surfactant, um die Lunge zu schützen, bis das Kind körpereigenes erzeugt. Teresa wiegt 720 Gramm, nach fünf Minuten lag ihr Apgar-Wert bei 7. 10 wäre perfekt, aber für die 25. Schwangerschaftswoche ist 7 sehr gut. Dr. Gilbert hat bei der Geburt dafür gesorgt, dass kein Druck auf dem Kopf war. Wenn sie drei Tage alt ist, machen wir einen Ultraschall, und da werden wir wohl keine Hirnblutung sehen. Teresa hält sich sehr gut!“

„Sie müssen so denken, weil Sie Neonatologe sind“, sagte sie müde, immer noch wütend und nicht gewillt, ihn sehen zu lassen, wie wichtig ihr Teresas Überleben war.

„Das muss auch Ihre Haltung sein.“ Er konnte ihr die Gefühle offenbar wie Werte auf einem Monitor vom Gesicht ablesen. „Sie müssen an sie glauben und sie fühlen lassen, wie viel Vertrauen Sie auf ihre Stärke setzen. Und jetzt … Andrea?“

Er sah sich suchend nach Teresas Nachtschwester um. „Jennifer soll Teresa anfassen.“

„Dann soll sie sich auch mal gut die Hände waschen.“ Andrea Jones nahm das Vorhaben gelassen auf. Sie war so um die vierzig, hatte einen strammen Busen, war aber kein Dragoner, denn ihre sanfte Stimme klang vertraueneinflößend. Gut für Teresa, dachte Jennifer.

Das besonders gründliche Händewaschen war sie als Ärztin gewöhnt, ließ sie sich jetzt aber fremd fühlen, und als sie die Hände durch die Klappen der Isolette steckte und dieses bisschen Haut vor sich sah, dieses Kind, dem sie mit einer winzigen Bewegung eines Fingers den ganzen Oberarm streicheln konnte, vergaß sie alles um sich herum.

„Sie wissen, was Sie tun dürfen“, sagte Will Hartman ruhig von hinten. „Nicht drücken oder ziehen und nicht sprechen, wenn Sie sie anfassen. Beim ersten Anzeichen von Stress sofort aufhören, etwa wenn sie das Gesicht verzieht, die Arme und Beine wegzieht oder Flecken auf der Haut bekommt. Sie kennen die Signale ja. Stellen Sie sich ganz auf Teresa ein.“

„Ich möchte ihr gern etwas sagen.“ Jennifer trat etwas zurück und sprach ihm leise die Worte vor.

„Das ist in Ordnung.“ Er nickte. „Aber legen Sie so lange die Hände ruhig neben sie.“

„Gern. Ich meine … Wahrscheinlich hört sie gar nichts. Sie schläft ja, und nach dem, was sie schon alles mitmachen musste …“

„Wer kann das schon sagen?“, meinte Will Hartman. „Ich glaube, dass die Babys alles hören … oder spüren. Besonders, wenn es darum geht, dass sie geliebt werden.“

Genau darum ging es ihr, und so beugte sie sich ganz dicht über den Brutkasten und sagte: „Ich habe dich lieb, Teresa. Ich liebe dich, klar?“

Dann waren ihre Wangen tränenfeucht, weil sie die ganze Zeit schon kurz davor gewesen war zu weinen. Dieses winzige menschliche Wesen war ihr von Heather geblieben. Teresa würde nicht sterben, Teresa wurde geliebt.

Will Hartman und Andrea Jones blieben ruhig, und Jennifer dachte einerseits ganz objektiv, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten, und abwarteten, konnte andererseits jedoch einfach nicht mit dem Weinen aufhören.

Dr. Hartman begann, wieder ruhig mit ihr zu sprechen. „So, das ist erst mal genug, glaube ich. Heben Sie leicht die Hände, und ziehen Sie sie durch die Klappen zurück. Die Säuglingsabteilung hat in fünfzehn Minuten ihren Shut-down, und dann möchte ich, dass so wenig Leute wie möglich in der Abteilung sind. Also …“

„Shut-down?“ Obwohl die Tränen noch liefen, wurde ihr klar, dass die Routine und die besonderen Ausdrücke, die es in dieser Abteilung gab, in den nächsten Monaten ganz wichtig für sie sein würden.

„Es geht uns um die Kinder. Die Beleuchtung wird heruntergefahren, der Geräuschpegel wird extrem niedrig gehalten, und wir achten darauf, dass hier kaum jemand ist und sich bewegt. Das machen wir einmal pro Tagschicht und während der Nacht zweimal, das erste Mal für eine, das zweite Mal für zwei Stunden. Das reduziert den Stress für die Säuglinge und hilft ihnen, einen Wach-Schlaf-Rhythmus zu finden.“

„Ich verstehe. Dann ist das jetzt …?“

„Der Ein-Uhr-Shut-down.“

Ein Uhr? Überrascht ließ sie es zu, dass Dr. Hartman sie von Teresas Isolette wegführte, während Andrea Jones anfing, erneut alle Werte zu überprüfen.

Der Arzt reichte Jennifer ein paar Papiertücher, und sie tupfte sich damit das Gesicht ab.

„Tut mir leid“, murmelte sie. Die Haut um die Augen herum brannte, auch, weil sie so müde war.

„Wie kommen Sie zu Ihrem Motel?“

„Ich …“

„Ich bringe Sie hin.“ Er drehte sich zur Schwester um. „Ich fahre nach Hause, Andrea. Ich mache dann wieder meine Runde, bevor Ihre Schicht zu Ende ist – wenn nichts Ungewöhnliches mehr passiert.“

„Dieses Wochenende haben Sie das große Los gezogen“, kommentierte Andrea freundlich.

Er zuckte mit den Achseln. „So was kann immer passieren. Nächstes Wochenende ist Jerry dran.“

„Und wenn der nicht nur zum Schlafen, sondern auch zum Golfspielen kommt?“

„Oh nein, Andrea“, gab er übertrieben ernsthaft zurück. „Ich glaube an das kosmische Gleichgewicht. Und so werde ich irgendwann wieder schlafen können, während er ein Golfspiel ausfallen lassen muss. Deshalb wird das Boot nicht untergehen.“

„Ja, das glauben Sie. Oder sagen es zumindest oft genug zu mir.“

Jennifer hörte die kleinen Neckereien, konnte aber noch nicht lachen. Ihr Hals war zu trocken. Oder sonst was. Tränen … Salz … Salzwasser. Im Winter, wenn der Schnee schmilzt, fangen die Autos an zu rosten. Wie war sie denn jetzt darauf gekommen? Autos. Dr. Hartman wollte sie mitnehmen.

„Ich kann mir ein Taxi rufen“, stieß sie hervor, als sie die Abteilung verließen, und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

„Dafür gibt es keinen Grund“, beharrte er und drückte automatisch auf den Knopf für den Fahrstuhl wie jemand, der viel häufiger im Krankenhaus als zu Hause war.

Vage nahm sie den Weg zum Parkplatz wahr, Auslegeware in den Vorräumen, lange Gänge, hin und wieder ein Schild: Radiologie, Ambulanz, Aufzüge. Der kastanienbraune Wagen des Arztes sah neu und ganz nett aus, war vielleicht ein Buick oder ein Oldtimer …

Erst als sie auf die River Road kamen, sprach er sie an. „In welchem Motel sind Sie?“

„Oh, im … Sowieso-Inn. Unter der Highway-Brücke durch, dann links. Gegenüber ist ein großer Kundenparkplatz.“

„Sie waren niemals wieder dort! Sie haben da nie geschlafen!“

„Doch, natürlich!“

„Über Nacht?“

„Nein, das nicht, aber ich habe gestern Nachmittag ein Nickerchen gemacht, geduscht und mir etwas anderes angezogen.“

„Wie wollen Sie denn die nächste Zeit durchhalten? Das können Monate sein!“

Sie zuckte abweisend mit den Schultern. Was ging ihn das an?

„Ich lasse mir meinen Wagen aus Boston hierher bringen“, sagte sie. „Das Motel ist okay. Ich will mich da ja nur hin und wieder ablegen. In der Nähe sind genug Restaurants, in denen ich etwas essen kann, und …“ – dankbar griff sie auf das zurück, was der Taxifahrer gesagt hatte – „… es hat einen Pool.“

„Bestimmt haben Sie einen Badeanzug mitgebracht“, sagte er gedehnt.

Sie biss die Zähne zusammen. „Dann kaufe ich mir eben einen.“

„He, ich will doch nur helfen. Sie brauchen mehr als ein Zimmer, in dem Sie sich ablegen können.“

„Das Motel ist okay.“

Und er hatte es gefunden. „Zimmernummer?“

Die hatte sie natürlich auch längst vergessen. „Lassen Sie mich einfach hier raus.“

„Nein. Nicht nachts um eins.“

„Also gut.“ Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und las die Nummer ab. „Eins-vier-drei, auf dieser Seite irgendwo.“

Langsam fuhr er weiter, bis er die richtige Tür gefunden hatte. Er stellte den Motor ab und sah sie an. „Gönnen Sie sich etwas Ruhe. Vor morgen Nachmittag will ich Sie nicht wieder sehen.“

„Sie sind nicht in der Position, mir so etwas zu sagen, Dr. Hartman.“

„Oh doch“, sagte er bestimmt. „Teresa ist meine Patientin, und ich glaube an den familienzentrierten Ansatz. Wenn Sie es sein wollen, die sich auf Dauer um sie kümmert, können Sie es sich gar nicht leisten, geradewegs auf einen Zusammenbruch zuzusteuern.“

„Sie halten mich nicht für besonders stark.“

Er musterte sie mit einem dunklen Blick. „Da haben Sie recht. Sie sind klein, haben eine zarte Konstitution, kommen gerade aus dem schlimmen ersten Jahr als Krankenhausärztin, Sie trauern und sind stur. Ich glaube nicht, dass Sie gut durchhalten.“

Sie starrte ihn zornig an. „Da habe ich ja Glück, weil Sie und Ihre Meinung mich von nichts abhalten können.“

„Ja.“ Ihm schien ihre Feindseligkeit nichts auszumachen. „Und gehen Sie bitte gleich schlafen, wenn Sie drin sind.“

„Was soll ich sonst wohl tun?“

Er sagte nichts. Eine schwarze Haarsträhne war ihr schlaff ins Gesicht gefallen, und er nahm die Hand vom Lenkrad, um sie ihr wieder hinters Ohr zu schieben. Dieser Mann sollte sich nicht berufen fühlen, ihr wie einem Kind das Haar in Ordnung zu bringen! Doch sie schaffte es nicht, ihm auszuweichen. Als er ihr mit den Fingern ein wenig übers Gesicht strich, fühlte sie eine Wärme, als ob er sie mit heißem Sirup besprüht hätte.

Hingerissen zwischen Zorn und Dankbarkeit, kämpfte sie wieder mit den Tränen. Immerhin hatte er wirklich wunderbar dafür gekämpft, dass Teresa die kritische erste Stunde überlebte. „Sie … also … Ich bin Ihnen so dankbar, Dr. Hartman. Das war alles so … Und wenn ich mal … Danke. Mehr wollte ich nicht sagen. Danke für Teresa.“

„Dafür ist es noch zu früh“, wandte er ein.

Er wartete, bis sie den Schlüssel in der Tür hatte, und fuhr um das Motel herum auf die Straße. Sie lauschte dem sich entfernenden Wagen hinterher und hob das Kinn, um einen kleinen Luftzug zu erzeugen. Das Feuerwerk war natürlich schon lang vorbei.

Zu deiner Geburt gab es ein richtiges Feuerwerk, Teresa. Der Arzt war so gut und schnell, dass Probleme keine Chance hatten. Und doch habe ich ihn gehasst. Er wollte, dass ich auf mich aufpasse und dich bei der Schwester lasse. Deshalb habe ich beschlossen, ihn notfalls zu bekämpfen, um bei dir sein zu können. Ich wollte alles für dich tun, Teresa.

Auch wenn sie sich William Hartman dabei zum Feind machen musste. Als sie endlich ins Zimmer trat, spürte sie immer noch, wo er ihr mit warmen Fingern kurz übers Gesicht gefahren war.

2. KAPITEL

Dreieinhalb Tage nach Teresas Geburt, an einem Donnerstag, packte Jennifer ihren Koffer aus. Etwas hatte sich verändert.

Zum Beispiel hatte sie ihr Auto wieder. Tom Danes Neffe hatte es gebracht, und der Hausmeister hatte auch ein paar Sachen mitgeschickt, eine bunte Mixtur aus Badeanzug, medizinischer Fachliteratur, einem Teddybären …

Ein Teddybär?

Heathers Teddybär. Tom war ein guter Mann, dachte sie mit Tränen in den Augen. Wie sollte er auch darauf kommen, dass dieses mottenzerfressene, heiß geliebte Ding aus hygienischen Gründen niemals zu Teresa in den Inkubator gelangen konnte?

Heathers Beerdigung hatte sicher auch etwas verändert. Mr. und Mrs. Powell hätten zur Feuerbestattung anwesend sein können, aber Mrs. Powell hatte lediglich angerufen und ein wenig am Telefon geweint. „So eine Verschwendung, Jennifer, so ein bitterer Verlust.“

Und diesmal hatte sie nicht das Geld gemeint.

„Teresa ist noch da.“

„Nein, das kann ich nicht! Ich kann nicht wieder meine Liebe geben und nicht wissen, ob …“

„Okay, Mum, aber du verstehst doch, dass ich es mache? Ich werde sie adoptieren.“

Nach einer Weile hatte Julia zögerlich gesagt: „Wahrscheinlich hat es keinen Sinn, dir zu sagen …“

„Ja, es ist sinnlos.“

„Du weißt doch nicht, was ich sagen wollte.“

„Es ist sowieso sinnlos, mit mir zu reden. Ich weiß, was ich tun muss, und will es auch tun.“

In diesem kurzen, schmerzlichen Gespräch hatten sie ihrer Liebe Ausdruck gegeben und vieles andere ungesagt gelassen.

Dann hatte sie sich um die Papiere kümmern, Heathers kleine Hinterlassenschaft durchgehen, ausstehende Rechnungen bezahlen und den Antrag auf Adoption stellen müssen.

Schwamm drüber. Es ging um Teresa. Auf dem Ultraschall war keine Gehirnblutung zu erkennen gewesen, und sie hatte sich so darüber gefreut, dass sie Dr. Hartman ein Kompliment zu seiner Krawatte gemacht hatte.

Er wiederum hatte sich bedankt, sie schräg angesehen und gefragt, ob sie schon im Hotel-Pool gewesen sei.

Nein, das war sie nicht, und es ging ihn nichts an.

Also fiel er ungerührt in seine Lauerstellung zurück, wie ein Krokodil, dachte sie und wollte nach ihm schlagen. Dieses Bedürfnis hatte sie oft, und es war ebenso normal wie störend. Zum Beispiel …

Teresa konnte noch nicht mit einer Sonde ernährt werden. Infusionslösung durch den Schlauch am Kopf und parenterale Ernährung durch einen speziellen Venenkatheter, der durch den Arm direkt ins Herz führte, übernahmen diese Aufgabe.

Bald jedoch würde sie eine Magensonde bekommen, und dadurch sollte Muttermilch in ihren Magen fließen, und zwar nicht irgendwelche Muttermilch, sondern die einer Mutter, deren Kind zu früh geboren war. Nur dann war der Nährstoffgehalt optimal.

Am Riverbank Hospital gab es jedoch keinen Aufruf an die Mütter, Muttermilch zu spenden! Deshalb hätte sie schon gern jemanden geschlagen.

Auf ihre anklagende Frage hin hatte Will Hartman nur seufzend mit den Schultern gezuckt. „Schon wegen HIV nicht. Und um potenzielle Spenderinnen genauer auszuwählen, fehlt das Geld.“

Und dann rief ihn sein Pager in den Kreißsaal.

Also hatte Jennifer die Mütter, die regelmäßig in der Säuglingsintensivstation anzutreffen waren, darauf angesprochen, ob sie nicht Muttermilch spenden würden. Zwei von ihnen gaben ihren Kindern überhaupt nicht die Brust, und die beiden anderen hatten ablehnend auf sie gewirkt.

„Natürlich sind sie nicht egoistisch“, hatte sie sich gesagt, während sie in der Toilette nasse Papierhandtücher gegen die roten Augen drückte. „Sie sind gefühlsmäßig genauso stark beansprucht wie ich. Und doch … wie sehr ich sie jetzt hasse! Nur das Beste ist für Teresa gut genug.“

Als Richard Gilbert am Mittwoch vor einer Geburt vorbeischaute, sprach sie das Problem ihm gegenüber an. Sie blieb sachlich und dachte sogar daran, ihm von dem guten Ergebnis des Ultraschalls zu berichten.

Da er wirklich nachdenklich geworden war und versprochen hatte, die Mütter, die in seine Praxis kamen, persönlich darum zu bitten, Muttermilch zu spenden, war Jennifers Bedürfnis, um sich zu schlagen, kleiner geworden.

An diesem Mittwoch war sie spät ins Hotel zurückgekommen, hatte dann aber zum ersten Mal seit Freitag tief und fest geschlafen und war erst aufgewacht, als Toms Neffe mit dem Auto und den ganzen Sachen vorgefahren war.

Mit dem Auspacken bekannte sie sich einmal mehr zu Teresa: Hier bin ich, drei Monate lang, bis du so weit gewachsen bist, dass ich dich mit zu mir nach Hause nehmen kann.

Das Hotelzimmer hatte eine angenehme Klimaanlage, war nur für Nichtraucher und bot ausreichend Stauraum. In Boston hatte sie eine kleine Wohnung über der Garage für die drei Autos ihrer Eltern gehabt. So fiel ihr die Umstellung leicht. Mehr Komfort hätte sie sowieso nur vom Wesentlichen abgelenkt, dachte sie.

Beinahe wäre sie tatsächlich noch in den Pool gesprungen, aber nur beinahe. Dann wollte sie doch wieder zum Krankenhaus und genoss die kurze Autofahrt, weil es nicht ganz so schwül war wie sonst. Alles war ganz wunderbar in Ordnung.

Allerdings nur so lange, bis sie zur Intensivstation kam.

Dr. Hartman stand so schnell vor ihr, dass sie nicht an Teresas Isolette herankam, um die einige Ärzte herumstanden. Mehr Ärzte, als gut war.

„Hi“, sagte er, ein kleines singendes Wort, das aus dem Mund einer so maskulinen und professionellen Person fast schon drohend klang.

Bei Jennifer zog sich die Kopfhaut zusammen. „Was ist los? Was fehlt ihr?“

„Bitte machen Sie sich keine Sorgen …“

„Natürlich mache ich mir Sorgen! Und jetzt – antworten Sie mir!“

Er seufzte. „Also, der Bilirubinpegel ist zu hoch. Sicherlich ist Ihnen die Gelbsucht schon aufgefallen.“

„Nun, das habe ich fast schon erwartet“, sagte Jennifer betont ruhig. „Wie hoch ist er? Erwarten Sie eine Verschlechterung? Was tun Sie dagegen?“

Er lachte verhalten, und sie wurde wütend.

„Mal ganz langsam, eins nach dem andern“, sagte er.

Wie konnte er nur so herablassend vernünftig sein?

An sich war an einem erhöhten Bilirubinspiegel nichts Unerforschtes oder nicht Behandelbares.

Die Leber von Frühgeborenen ist noch nicht so weit entwickelt, dass sie das Bilirubin, ein gelb-rötliches Pigment, das bei der Zersetzung von Blutzellen abfällt, verarbeiten kann. Außerdem lagert sich das Bilirubin auf dem Weg zur Leber normalerweise an Proteine an, von denen diese Kinder noch zu wenig bilden.

Allerdings kann ein zu hoher Bilirubinspiegel zu Kernikterus führen, einer Krankheit, bei der innerhalb von fünf bis sieben Tagen das Gehirn dauerhaft geschädigt wird. Der Umschlagspunkt von einem harmlosen zu einem gefährlich hohen Bilirubinspiegel lässt sich zudem extrem schwer bestimmen. Was ein Kind noch gut verkraften kann, ist für das andere schon zu viel.

„Nun, der Pegel liegt bei neun, ist also eher nicht beunruhigend, wie Sie wissen. Aber er könnte noch steigen, und so behandeln wir schon, zunächst mit Phototherapie.“

„Mit Bili-Lampen.“ Sie wählte die weniger technische Bezeichnung.

„Ja.“

„Aber ein erhöhter Bili-Pegel erklärt nun wirklich nicht, warum dieser ganze Schwarm von Ärzten über ihr hängt.“ Ihre Stimme war schwankend, und der ins Schwarze gehende Humor konnte ihren Zorn kaum verdecken.

„Das sehen Sie richtig. In Teresas Lunge bleibt immer mehr Flüssigkeit zurück, und der Gasaustausch im Blut hat sich verschlechtert, gerade jetzt, als wir sie doch schon fast vom Respirator trennen wollten. Ihr Herz schlägt auch zu schnell. Wir sind kurz davor, im Ultraschall das Herz von außen zu betrachten, und wenn es so aussieht, wie wir erwarten, heißt es …“

„Ich weiß, was das heißt“, schaltete sie sich ein. „Offener Ductus arteriosus.“

Dieses Herzproblem war unter Frühgeborenen ebenfalls verbreitet.

Normalerweise schließt sich das Blutgefäß, das Lungenarterie und Aorta in utero miteinander verbindet, sofort nach der Geburt, damit das gesamte Blut richtig durch die Lunge fließt. Bei Frühgeborenen kommt es oft nicht dazu, sodass weiterhin Blut an der Lunge vorbeifließt. Wenn sich dann die Lungenflügel nach zwei oder drei Tagen ganz geöffnet haben, fließt das Blut von der Aorta in die Lungenarterie zurück.

„Sie wissen ja, was wir in diesem Fall tun können“, fuhr er fort. „Ich werde es zunächst mit einer medikamentösen Therapie versuchen.“

„Ja, aber dabei können sich doch Blutgerinnsel bilden, die dann …“, wandte Jennifer ein.

„Nun, ich ziehe diese Therapie einer OP bei weitem vor, und das perfekte Ergebnis des Gehirn-Scans lässt die Gefahr einer Gerinnselbildung gering erscheinen. Wir überwachen Teresa natürlich ständig und können zu jedem Zeitpunkt die richtige Entscheidung treffen.“

„So spricht der Arzt, der sich …“

„Der sich für Gott hält? Das tue ich wirklich nicht“, versetzte er.

„Aber Sie wären es doch gerne.“

„Auf keinen Fall. Diese Arbeitszeiten, diese Verantwortung – und immer diese Verwünschungen!“

„Wieso versuchen Sie eigentlich, mich zum Lachen zu bewegen?“ Sie erstickte fast an den Worten, und nicht, weil sie lachen musste.

„Weil ich glaube, dass Sie das lieber tun als weinen“, sagte er sanft. „Sie haben in letzter Zeit schon oft genug geweint.“

Wieder spürte sie federleicht aufgetragene Wärme, als er ihr mit den Fingerspitzen sanft unter den Augen entlangfuhr, die vor Müdigkeit tiefe rötliche Ränder hatten.

Sie schüttelte ihn ab. „Es hilft. Tue ich es nicht, ist es noch schlimmer.“

„Ja“, gab er zu. „Ich habe in meinem praktischen Jahr dauernd geweint.“

Sie lächelte ein wenig. „Wie alle. Ich glaube, sie bringen einen sogar zum Weinen, wenn man es nicht von selbst macht.“ Was ihn betraf, zweifelte sie doch ein wenig an dem, was er von sich erzählt hatte.

Er sah kurz nach hinten. Teresas Krankenschwester für diese Schicht, Helen Bradwell, half den Spezialisten, ihre Apparate aufzubauen. Jennifer mochte die mütterlich mollige Frau mit ihrem vollen blonden Haar, in dem schon ein paar graue Strähnen waren, und schätzte sie, weil sie erfahren und sorgfältig war.

„Also, erst der Ultraschall fürs Herz, dann die Bili-Lampen“, sagte Will. „Und Sie? Sie müssen wirklich nicht …“

„Doch, ich muss hier bleiben, Dr. Hartman, für Teresa und für mich. Und ich möchte mich nicht schon wieder mit Ihnen darüber streiten!“

Er zog sich achselzuckend auf die Ebene des Arztes zurück. „Mir kommt es ein wenig wie Zeitverschwendung vor“, murmelte er noch.

„Sie reden von Ihrer Zeit!“

„Ja, von meiner Zeit und damit der Zeit meiner Assistenzärzte, meiner Schwestern und Pfleger, der des gesamten Personals – und letztlich der Zeit der Patienten und ihrer Familien.“

„Da haben Sie mir aber gesagt, wo ich hingehöre!“

Sie wollte wieder um sich schlagen und ärgerte sich, dass ihre kleinen Ausbrüche spurlos an ihm vorübergingen.

„Nein, das nicht, sondern … Ach, vergessen Sie’s!“

Er drehte sich von ihr weg und schloss sich dem Pulk um Teresas Isolette an. Jennifer blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, wobei sie der eine oder andere fragende Blick traf. Die gesamte Abteilung war noch hell erleuchtet, und alle Schwestern hatten gut mit ihren Säuglingen zu tun. Einen Neuzugang gab es auch, und Jerry Gaines, ein selbstsicherer, adrett gekleideter jüngerer Neonatologe stand zusammen mit einer Schwester und einer Assistenzärztin über dem winzigen Jungen und versuchte sein Bestes.

Jennifers innere Anspannung ließ nach. Eigentlich war Will Hartman gar nicht arrogant, fiel ihr auf. Sie versuchte, sich zu daran zu erinnern, wie er zu ihr gewesen war. Am Sonntag hatte er sogar darüber gesprochen, einen geliebten Menschen verloren zu haben, als er im praktischen Jahr stand.

Da hatte er versucht, ihr zu zeigen, dass er wirklich verstand, wie schwer es für sie war, und sie hatte noch nicht einmal gefragt, wen er verloren hatte. Es musste jetzt zehn, elf Jahre her sein – vielleicht Vater oder Mutter?

Jetzt würde sie es bestimmt nie mehr erfahren.

Die Ultraschalluntersuchung bestätigte den Verdacht, dass sich das bewusste Gefäß im Herzen, der Ductus arteriosus, nicht geschlossen hatte. Schon Minuten später flossen die Medikamente durch den Venenkatheter in Teresas Herz. Jennifer setzte sich neben Teresa, ließ das Mittagessen ausfallen und hätte es mit dem Abendessen genauso gehalten, wenn Andrea Jones ihr nicht bewusst eine Tüte Chips unter die Nase gehalten hätte.

„Sie setzen Teresa viel zu viel Stress aus, Jennifer, wenn sie immer Ihr Magenknurren hören muss!“

Ein ungewolltes Lachen drang Jennifer schmerzhaft durch Brust und Hals, die fest zusammengezogen waren. Sie gab nach und aß zu Abend, bevor sie für die Nacht auf ihren Stuhl neben Teresa zurückkehrte, wo sie in einen unruhigen Schlaf fiel, bis der zweistündige Shut-down von vier bis sechs zu Ende war.

Die Aktivität in der Abteilung nahm deutlich zu, und Helen Bradwell las Teresas Werte von den Bildschirmen ab.

„Wie geht es ihr?“ Seit wann klang ihre Stimme so hoch?

„Nun, die Sauerstoffsättigung ist besser, und ich schalte den Respirator jetzt ein bisschen runter und beobachte, was passiert. Und glauben Sie nicht auch, dass sie rosiger aussieht?“

Am Ende des Tages stand fest, dass sich das Gefäß unter dem Einfluss des Medikaments geschlossen hatte. Nun strömte das Blut auf seinem Kreislauf durch die Lunge, nahm dort den lebensnotwendigen Sauerstoff auf und trug ihn durch den Körper.

Am späten Nachmittag ordnete Dr. Hartman an, nicht nur die Infusion zu beenden, sondern Teresa vom Respirator zu entwöhnen und diesen durch eine weniger invasive Methode – continuous positive airway pressure oder CPAP – zu ersetzen. Jennifers Herz schien vor Freude zu singen, und ihre Stimme verlor das störend Schrille.

„Als ob Teresa eine Ziellinie passiert hätte“, erklärte sie Will Hartman, „und zwar mit fliegenden Fahnen. Der Beatmungsschlauch ist aus der Lunge, ihre Bili-Werte fallen … Sehen Sie, ich zittere richtig!“

„Sie sind völlig fertig.“

„Ich weiß.“

„Sie waren hier …?“

„Ja, ich war die ganze Nacht hier. Und jetzt sagen Sie es schon.“

„Gleich. Waren Sie schon mal im Pool?“

„Noch nicht.“ Vor lauter Glück wurde sie vorwitzig. „Aber ich mache es, wenn Sie mitmachen.“

Er lachte. „Das haben Sie nicht ernst gemeint, aber damit habe ich Sie. Ich nehme Sie beim Wort.“

„Nein, ich …“

„Sie haben es gesagt, Dr. Powell. Verabschieden Sie sich von Teresa, und dann sind wir weg. Ich bin für heute fertig. Und ich habe keinen Pool zu Hause …“

„Ach, Sie haben ein Zuhause?“ gab sie zurück. „Den Gerüchten zufolge wohnen Sie hier.“

„Sicher, und wenn ich schlafen will, lege ich mich in der Wäschekammer auf die frische Bettwäsche. Nun, ich wohne doch irgendwo, habe aber keinen Pool. Kann ich meine Badehose holen und in einer Stunde bei Ihnen sein?“

„Warum?“

„Es ist so heiß …“

„Warum?“

„Ich will, dass Sie endlich in den Pool gehen.“

„An seiner Stelle würde ich Sie zwingen“, warf Andrea ein. „Eine Absage führt zu einem Eintrag in die Krankenakte: Familiärer Ansprechpartner weigert sich, schwimmen zu gehen, und droht die Riechreizschwelle des Kindes zu überschreiten.“

„Teresas … was?“

Andrea grinste. „Könnte es doch geben.“

„Also, ich dusche schon. Ich hatte nur noch nicht die Gelegenheit …“

„… schwimmen zu gehen“, sagte Will Hartman. „Heute aber schon. Sehen Sie, selbst Teresa nickt!“

Das war nun doch etwas überinterpretiert. Teresa hatte bislang ruhig geschlafen und ging nun zu einem aktiveren Schlaf über, ein Übergang, der immer etwas Bewegung mit sich brachte. In diesem Fall hatte sie nun zufällig ein wenig mit dem Kopf gezuckt. Ein Nicken? Vielleicht.

Aber für Jennifer war es genug. „Ich warte in meinem Zimmer, bis Sie da sind. Wissen Sie die Nummer noch?“

„Eins-vier-zwei.“

„Eins-vier-drei“, stellte sie richtig.

„Ich wollte nur testen, ob Sie sie mir sagen können. Also waren Sie wirklich mal kurz dort.“

„Allerdings. Ich habe sogar die Schränke eingeräumt.“

„Gut. So in einer halben Stunde?“

„In einer halben Stunde.“

Als Will Hartman wie angekündigt eintraf, hatte Jennifer ihren Badeanzug schon an. Sie war ein bisschen frustriert, weil die Praxis von Dr. Gilbert für sie im Motel angerufen hatte, sie dort aber niemanden mehr erreicht hatte. Nun musste sie bis Montag warten, um herauszufinden, ob sich eine Frau gefunden hatte, die Milch für Teresa spenden wollte.

Aber insgesamt war dieser Tag ein guter Tag, weil Teresas Herzfunktion jetzt normal war. Jennifer erwartete schließlich keine Wunder.

Und doch war das Schwimmen regelrecht wunderbar.

„Ich hätte nie geglaubt, dass sich das so gut anfühlen würde“, sagte sie nach zehn Minuten mit einem leichten Zögern zu Will Hartman. „Vielen Dank, dass Sie in dieser Frage Druck gemacht haben.“

Er lächelte breit. Vorher hätte sie auch nie geglaubt, dass er so lächeln könnte. „Ich habe dabei nur an mich gedacht.“

Sie sah ihn an, als er sich im Wasser streckte. Die kleinen Wellen brachen das Licht und ließen seinen Körper sinnlicher erscheinen. Ohne die Berufskleidung machte er einen weitaus stärkeren Eindruck als auf der Station.

Unter dem Neonlicht dort sah man nicht die olivenfarbene Bräune, und selbst modische Hemden und Krawatten unter dem Arztkittel verbargen den schwarzen, dichten Haarflaum auf seiner Brust und die wohlgeformten Muskeln nur zu gut.

Er trug Badeshorts wie von der Navy, die nicht sehr eng am Körper anlagen, eigentlich schöner als diese knapp geschnittenen Badehosen, die alles zeigten, entschied sie für sich. Sie wollte ihn gar nicht so sehr als Mann wahrnehmen. Er war Teresas Arzt und als solcher jetzt eine wichtige Person in ihrem eigenen Leben, mehr aber auch nicht.

Und doch war er mehr für sie. Aus irgendeinem Grund hatte er sich zu ihrem Mentor gemacht, einem Führer durch das Minenfeld der Gefühle, in dem sie sich befand. Hitze hin, Hitze her, er wäre sonst nicht mit ihr in diesem Pool und würde auch nicht wie selbstverständlich sagen, was sie gerade hörte. „Hinterher nehme ich Sie zum Abendessen mit nach Hause.“

Wollte er ihr etwas geben, was sie nirgends anders bekam, bot er ihr eine Art sicheren Hafen, Schutz vor einem Burn-out?

„Ein Abendessen, das wäre …“, sagte sie langsam.

„Sie brauchen das jetzt“, meinte er völlig sicher. „Sie brauchen einmal eine Pause. Sie brauchen … wenn ich so sagen darf … meine wunderbare Hausmannskost.“

„Ich weiß. Sie haben recht. Deshalb sage ich zu, aber …“

„Aber was?“

„Nein, kein Aber, glaube ich. Danke. Ich weiß, was Sie da tun.“

„Ja?“

„Sie kümmern sich um mich. Und ich brauche es. Ich mag es und bin Ihnen dankbar, weil Sie es machen wollen, für diese berufsinterne Geste von Arzt zu Arzt, die es doch wohl ist.“

„Dieses berufsinterne Risiko, wollten Sie bestimmt sagen. Uns wird ja schon mit Recht davon abgeraten, uns zu sehr auf die Patienten einzulassen. Wie viel riskanter ist es dann wohl, sich mit der Verwandten einer Patientin einzulassen?“

„Aber von einem Sich-miteinander-Einlassen kann doch keine Rede sein“, wandte sie nervös ein.

„So natürlich nicht, wie das oft verstanden wird“, stimmte er gelassen zu.

So bestimmt nicht. Einen schlechteren Zeitpunkt für so etwas hatte es in ihrem Leben noch nie gegeben, auch nicht in den vier Jahren Medical School und ihrem praktischen Jahr im Krankenhaus.

Aber warum nahm sie ausgerechnet jetzt, nachdem sie sich gerade in dieser Frage so einig gezeigt hatten, besonders stark wahr, dass hier ein Mann und eine Frau waren?

Vielleicht lag es am Pool. Das Wasser tat so gut. Sie war lange nicht mehr so entspannt gewesen, weder in der letzten Woche noch in den vier Tagen ihrer so abrupt beendeten Zeit als Klinikärztin.

Und sie hatten wenig an. Ihr Badeanzug war genauso konservativ wie seine Shorts – ein pinkfarbener Einteiler mit perfekten, klassischen Kurven. Die leichten Körbchen hoben ihre kleinen, aber sehr weiblichen Brüste nur ein wenig an. Am Rücken war er bis leicht unter die Taille ausgeschnitten, an den Beinen so, dass Jennifers feinknochige Schenkel betont wurden. Und doch war es eben nur ein Badeanzug.

Sie hatte angefangen, wie er Wasser zu treten, und sie lagen einander im Pool gegenüber. Nun sah auch er sie genau an.

„Mmm!“ sagte sie, nur um etwas zu sagen. „Wirklich perfekt, oder?“

„Also von meiner Warte aus kann ich über die Aussicht nicht klagen“, sagte er gedehnt, und es lag bestimmt an ihr, dass sie diese Worte nicht nur auf den Pool bezog.

Sie brauchte Bewegung und schwamm los, wenn auch nicht so elegant, wie sie es sich gewünscht hätte. Zum Bahnenschwimmen war dieses Becken sowieso nicht gedacht. Der Pool war zur Entspannung da, und er tat nichts anderes als das.

Nachdem er sich und seinen dunklen Schopf nach hinten ins Wasser getaucht hatte, wendete er unter Wasser und tauchte pfeilschnell und sicher am Beckenboden zu ihr herüber. So unwahrscheinlich es war, dass ein arrivierter Neonatologe versuchen würde, von unten nach ihr zu greifen oder sie voll zu spritzen, zog sie sich doch lieber schnell aus dem Becken, machte einen Kopfsprung ins Wasser und war schon halb auf der anderen Seite, als er auftauchte.

Durch die Bewegung verschwand die unterschwellig sexuelle Aufladung, die sie sich vielleicht auch nur eingebildet hatte.

Sie hörte ihn lachen. „Da sind Sie mir entwischt!“

„Aha! Sie hatten etwas vor!“

Er zuckte mit den Achseln. „Als ob ich das jetzt noch zugeben würde.“

„Und Ihnen soll ich trauen?“

Wo das wohl noch hingeführt hätte, wenn nicht eine Familie mit drei Kindern ans Becken gekommen wäre, die gerade eine lange Autofahrt hinter sich hatte? Zwar hielten die Eltern die Kinder einigermaßen zurück, aber mit der Ruhe war es vorbei.

„Wollen wir los?“ meinte Will so nach zehn Minuten.

„Ich will erst duschen, wegen des Chlors.“

„Gut, dann bleibe ich noch ein bisschen hier. Ich dusche dann zu Hause.“

Das klang ganz einfach, bis ihr auffiel, dass sie kaum noch etwas anzuziehen hatte. Zwar hatte Tom Dane sogar edle Teile wie das Modellkleid, das ihr ihre Mutter einmal geschenkt hatte, eingepackt, aber diese Sachen waren mittlerweile hoffnungslos zerknittert.

Von den alltäglicheren Sachen hatte sie nur das blaue T-Shirt aus Waschseide und die dazu passenden Seidenshorts noch nicht im Krankenhaus getragen.

Sie gab sich Mühe mit dem Drumherum: marineblaue Pumps mit eher flachem Absatz, silbernes Armband und Kette – auch von Tom Dane beigepackt –, leichtes Make-up, damit sie um die Augen nicht so auffallend müde wirkte, und eine Frisur für ihr etwas mehr als schulterlanges Haar, die zumindest 1995 noch in Mode war. Gut, das Neueste war es nicht, aber dafür hatte sie ihr praktisches Jahr mit Erfolg abgeschlossen.

Will hatte sich abgetrocknet und ein T-Shirt übergezogen. Sie kamen überein, dass es übertrieben wäre, mit zwei Autos zu fahren, zumal sie sich in Columbus nicht auskannte.

Erst als sie in den kastanienroten Buick – wenn es denn ein Buick war – gestiegen war, sagte er etwas über ihr Äußeres. „Nett sehen Sie aus, richtig frisch.“

„Danke“, meinte sie und wollte doch ehrlich sein. „Ich bin froh, dass es Ihnen gefällt. Alles andere muss nämlich demnächst mal gewaschen werden.“

„Das können Sie gern bei mir machen.“

„Nein …“

„Warum nicht?“

„Das kann ich doch auch …“

„Sicher können Sie das“, stimmte er zu, „aber bislang haben Sie noch nicht, und in meinem Keller warten Waschmaschine und Trockner auf Sie.“

Und schon war er auf dem Weg zur Tür des Motel-Apartments.

„Wenn Sie meinen“, lenkte sie ein.

Nur dieses eine Mal, dachte sie. Er hatte die schweren Tüten mit der Schmutzwäsche in den Kofferraum geräumt, und sie genoss es, auf dem Beifahrersitz sitzen und jemand anderem die Kontrolle überlassen zu können.

„Ich glaube, dass es schon Monate her ist, dass ich mal den Kopf heben und den Horizont betrachten konnte“, meinte sie, als sie den trägen Fluss überquerten und in einen grünen Vorort mit netten Häusern kamen. „Aber heute bin ich plötzlich wieder bereit, mich ein bisschen gehen zu lassen.“

„Das hatte ich gehofft.“ Er sah sie von der Seite her an, erst ernst, dann lächelnd. „Und da ist es doch gut, dass Sie mich haben“, fügte er leichthin hinzu.

„Ja, das stimmt“, meinte sie artig. Später sollte sie an seine Bemerkung zurückdenken, und dann würde sie ihr schon eher wie ein zweischneidiges Schwert vorkommen.

3. KAPITEL

Jeder weiß, dass Krankenhäuser eine wahre Gerüchteküche sind, und Jennifer hatte schon nach knapp einer Woche ein gutes Bild davon, was man am Riverbank von Dr. Hartman hielt.

Ein wirklich guter Arzt war er, hieß es, und ein aufrechter und beliebter Mann, wenn man so weit kam, dass er einem nicht mehr mit der üblichen Reserviertheit entgegentrat – und er sah auch nicht schlecht aus.

Aber er wusste nicht, was es heißt, ein Privatleben zu haben, und wenn er irgendwo außerhalb des Krankenhauses eine Bleibe hatte, dann bestimmt nur ein Junggesellen-Wohnklo mit Matratze und Fernseher als Möblierung und einer Dose Brause und einer leicht angemoderten Pizza im Kühlschrank.

Nun hatte er ja immerhin vom Kochen gesprochen, und so musste er ein bisschen besser wohnen. Nur auf ein wunderschönes Haus mit allen Anzeichen eines ausgefüllten Privatlebens war Jennifer nicht vorbereitet.

Auf der kaum einsehbaren Rückseite hatte Will Hartman Rosen und Gemüse gepflanzt, auch Tomaten, die nun dick und noch ein wenig grün an ihren Stauden hingen. Im Wohnzimmer lagen Instrumente wie Haustiere herum – und sie mochte gar nicht zugeben, dass sie nicht wusste, wie diese Instrumente hießen. War das ein Dulcimer? Oder eine Laute?

In der Küche dann …

„Als Sie von Ihrer Hausmannskost sprachen …“

„Da haben Sie sich nicht vorgestellt, dass Sie selbst kochen sollen?“

„Das mache ich gerne.“ Er hatte ihr schon erklärt, wie sie die Knoblauchmayonnaise anrühren sollte. „Nein, ich hatte mir vorgestellt, dass es darum gehen würde, Spaghetti ins Wasser zu werfen.“

„Ach, Sie dachten schon wie alle im Krankenhaus, dass ich in meinem Auto wohne …“

„Im Auto, im Bereitschaftsraum oder im Büro.“

„ … und ganz allein den hiesigen Pizzaservice in Betrieb halte.“

„Ja, das ist eine der gängigen Annahmen, und solche Ärzte gibt es ja auch.“

„Genau das verleiht meiner Tarnung die notwendige Glaubwürdigkeit.“

„Tarnung?“

„Ja, zum Selbstschutz, denn diejenigen, die glauben, dass man kein Privatleben hat, fragen auch nicht mehr danach, und schon kann man in Frieden seine persönlichen Sachen machen.“

„Nur wenige würden so weit gehen, um in Ruhe gelassen zu werden.“

„Neonatologen vielleicht schon. Schließlich gibt es kaum ein Gebiet, das emotional so stark besetzt ist. Und so kontrovers. Unser Ruf ist schlecht, wollen wir doch Leben retten, ohne auf dessen Qualität zu achten, sind den Angehörigen gegenüber viel zu unsensibel und warten nur darauf, Gottes Stelle anzunehmen, wenn sie mal frei wird. Und wenn wir nicht so sind, sondern uns kümmern, Mitleid haben und über Demut verfügen, stehen wir immer kurz vor dem Burn-out oder einem Zusammenbruch.

Ich wollte mich vor beiden Extremen hüten und meine Arbeit gut machen. Nach einer Weile habe ich gemerkt, dass das eben auch heißt, mein Leben außerhalb des Krankenhauses besonders zu schützen und mir bewusst die Schönheit, den Frieden und die Perspektive zu schaffen, die bei der Arbeit schnell verloren gehen. Und so …“

Mit einer weiten Handbewegung umfasste er die vielen Details, die ihr bereits aufgefallen waren.

Sie nippte an dem Weißwein, den er ihr eingeschenkt hatte, froh und fasziniert zugleich, weil sie hier dazu angestiftet wurde, sich für etwas ganz anderes zu interessieren. „Und diese … Zither … Spielen Sie wirklich regelmäßig darauf?“

Er lachte frei heraus. „Was soll ich spielen? Meinen Sie die Mandoline?“

„So genau weiß ich das nicht. Aber eine Zither ist wohl nicht dabei.“

„Da haben Sie recht“, sagte er ruhig. „Ich habe eine Mandoline, eine Laute, ein Dulcimer und eine Violine. So besonders spiele ich nicht, aber die Gruppe, in der ich spiele, besteht aus fröhlichen Amateuren, und zu Hause hört mich niemand, wenn ich übe.“

„Da hatten sie im Krankenhaus wenigstens einmal recht. Sie sind nicht verheiratet.“

„Ja, ich bin nicht verheiratet“, bekräftigte er mit einem Ton, der weitere Fragen zu diesem Thema unterband.

Seit dem Ende ihres praktischen Jahrs unterteilte Jennifer Mediziner in drei Kategorien, wenn es um Beziehungen ging. Einige hielten trotz der enormen Belastungen leidenschaftlich an einer frühen Ehe fest, andere gefährdeten ihre Ehe ganz schnell wegen ebendieser Belastungen, und eine dritte Gruppe hatte einfach nicht die Kraft dazu, überhaupt an eine Beziehung zu denken, und heiratete, wenn überhaupt, erst spät.

Sie selbst fiel in die dritte Gruppe, dachte Jennifer, besonders jetzt, mit Teresa. Das war in Ordnung, konzentrierte sie sich doch gern auf eine Sache und hatte keinen Sinn für Ablenkungen. Heiraten würde sie erst dann, wenn sie einmal die richtige Energie dafür in sich spürte.

Ablenkungen hingegen … Da hatte sie sich zum Beispiel mehr für Will Hartmans private Situation und das Gespräch interessiert als für die Knoblauchmayonnaise.

„Hier …“ Er hatte die Artischocken gefüllt, nahm ihr die halb fertige Mayonnaise ab und fing an, sie gekonnt mit Hilfe einer Gabel zu schlagen. „Warum gehen Sie nicht in den Garten und schneiden uns ein paar Blumen?“

„Hm … Gut … Welche denn?“

„Nun ja, die Rosen sind schon da, also davon welche und eben die, die Ihrer Ansicht nach dazu passen.“ Er griff auf den Kühlschrank. „Ich gebe Ihnen eine Rosenschere mit.“

Sie sah sich die Blumen an, traute sich aber nicht, etwas anderes als Rosen zu schneiden, und auch die Rosen machten sie mit ihren Dornen und ihren unterschiedlichen Stiellängen ganz nervös. Sie wusste nicht, wo sie sie abschneiden sollte, und hantierte eine Weile ungelenk mit der Schere herum, bis sie sich langsam für ihre Aufgabe erwärmen konnte.

In der Luft lag schon eine leichte abendliche Frische, die direkt aus dem Garten zu kommen schien, und eine Vielzahl freundlicher Insekten – auch hier wusste sie die Namen nicht – summte um sie herum, während der Blumenduft einfach überwältigend war.

Sie kam zu einer plötzlichen Einsicht.

Er hat recht. Es ist gefährlich, wenn ein Arzt Scheuklappen trägt, und ich war so. Aber jetzt ist Teresa da, und ich muss viele Sachen mit ihr machen können und auch darüber Bescheid wissen, zum Beispiel Blumen pflücken, Insekten beobachten und Kinderlieder singen. Mein Leben ist bislang auf viel zu engen Bahnen verlaufen …

Und das schon seit ihrer Kindheit, von der die Powells ganz genaue Vorstellungen hatten. Da gab es eine wichtige Sache, bei Jennifer eben die Ausbildung und dort wiederum schon in jungen Jahren die Medizin. Außerdem brauchte eine runde Persönlichkeit natürlich einen Ausgleich, den es mit derselben Sorgfalt und Disziplin zu betreiben galt.

Als Jennifer fünf war, beschlossen die Powells, dass Ballettunterricht der richtige Ausgleich für Jennifer war. Zwölf Jahre lang war sie vier Mal pro Woche dorthin gefahren worden und waren die Powells in jeder Bostoner Ballettsaison mit ihr ins Theater gegangen.

Mit ihrer grazilen Statur war sie gut fürs Ballet geeignet, und so hatte sie lange Jahre die dunklen Haare im Tänzerinnenknoten getragen, während die ständige Übung ihr eine Ausdauer verlieh, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutrauen würde.

Am Ende war sie ganz gut gewesen, kannte sich mit Ballet aus und mochte es auch, hatte aber nie wie andere Kinder in Haus und Garten gespielt.

Sie hatte die Art von Leben geführt, die ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Und bald würde sie in solch wichtigen Fragen für Teresa entscheiden … Was für eine überwältigende, wunderbare Verantwortung.

Mit Liebe und Angst im Herzen nahm sie vorsichtig die Blumen auf und ging ins Haus zurück. „Hm … Ich habe mich an die Rosen gehalten.“

„Das sehe ich. Aber … Sie haben die Stiele nicht in derselben Länge geschnitten.“

„Nun, die Stiele waren eben verschieden lang. Es gab hohe, einzeln stehende Rosen und dann die buschigeren, bei denen die Stiele kürzer waren. Hätte ich nur eine Sorte pflücken sollen? Wie machen Sie es denn?“

„Gar nicht“, gab er zu. „Ich lasse sie im Garten.“ Er lachte. „Ich habe gedacht, das Sie sich dabei wohl fühlen würden, weil es so etwas Feminines hat, eben wie Blumen im Haus. Was nehme ich bloß als Vase?“

„Ja, es ist etwas, was Frauen tun, aber ich …“

„Mein Fehler.“ Er lachte immer noch. „Ein sexistisches Vorurteil.“

Nun musste sie auch lachen.

Er holte einen bauchigen Glaskrug hervor, und sie versuchten sich beide fröhlich daran, die Blumen zu arrangieren, wobei sie sich an einem Dorn stach und sie zweimal kurz an den Fingern zusammenstießen, und diese Berührung war es, die sie noch lange danach spürte.

„So, das kommt doch hin?“, meinte er dann. „Meine häuslichen Talente sind mit dem Kochen fast erschöpft.“

„Meine Spezialität ist das … Oh nein! Die Wäsche.“

Er runzelte die Stirn. „Ganz vergessen. Ich schmeiße sie schnell rein.“

„Nein, zeigen Sie mir nur die Maschine, bitte.“

„Aber es ist doch viel einfacher, wenn …“

„Wir haben doch über häusliche Talente gesprochen, und meins ist wirklich das Wäschewaschen.“

Es war ein höfliches kleines Gefecht, aber eben doch ein Gefecht. Sie wusste, warum sie nicht nachgab, und fragte sich gerade, was es bei ihm zu bedeuten hatte, als er direkt auf den Punkt kam. „Ich weiß, was hier los ist. Also, ich möchte nicht so gern, dass Sie sehen, wie es bei mir im Keller aussieht, und Sie …?“

„Dass Sie sehen, wie meine Unterwäsche aussieht“, beendete sie den Satz für ihn. „Ich verspreche, dass ich Sie nicht danach beurteilen werde, wie der Keller aussieht.“

„Und ich werde mir Ihre Unterwäsche nicht einmal ansehen.“

Weder der Keller noch ihre Unterwäsche sahen schlimm aus, aber was man da sehen konnte, gewährte einem eben einen kleinen Einblick in ganz persönliche Eigenarten.

Ein sehr verstaubtes Trainingsfahrrad ließ auf gute Vorsätze schließen, außerdem schien es ihm schwer zu fallen, Kartons wegzuwerfen, etwa den Originalkarton für die Mikrowelle oder die Kartons, in denen laut Aufschrift einmal feines chinesisches Porzellan gewesen war.

Ein Blick auf ihre Unterwäsche hätte ihn wissen lassen, dass sie gute Baumwolle in Pastelltönen mochte, die mit feiner Spitze verziert war, aber er versuchte nur verstohlen, den Staub vom Fahrrad zu entfernen. Während sie die Maschine füllte, tat sie so, als ob sie nicht sehen würde, wie er da mit dem Staubtuch zu Gange war, und verkündete: „Ich fange mit der Feinwäsche an.“

Eine halbe Stunde später überwand er sich doch und ließ sie allein nach unten gehen, und sie ging im Gegenzug so weit, eine mit der Hand gewaschene Strumpfhose an die Wäscheleine zu hängen, kleine Fortschritte, was das gegenseitige Vertrauen betraf.

Dann war es Zeit zu essen.

Als sie sich an einen Rattantisch mit Glasplatte gesetzt hatten, von dem aus man in den Garten sah, schenkte er ihr Wein nach.

„Das hier sieht alles so … festlich aus. Das habe ich nicht erwartet.“ Sie fühlte sich sehr wohl.

Kalte Gurkensuppe aus dem Kühlschrank und gefüllte Weinblätter aus der Dose standen vor ihr, außerdem warme kleine Teigtaschen mit Spinat und Käse. Es gab Salat mit gelbem Paprika, Avocado, rosa Champignons, Rettich und frischen Alfalfa-Sprossen. Auf dem Grill lag Lammfleisch mit Zwiebeln. Es fing gerade an zu brutzeln.

„Langsam essen“, ermahnte er sie. „Die Artischocken sind auch noch nicht so weit.“

„Aber wie mache ich das?“, meinte sie hungrig.

„Überbrücken Sie die Zeit mit ein paar Schlückchen Wein und eleganter Konversation.“

Gerade der gute Wein sollte ihr am Ende zu viel werden. Ab und zu musste sie in den Keller zu ihrer Wäsche gehen, aber auch so hätten sie den ganzen Abend dort gesessen. Er tat seinen Teil, damit das Essen diesen ruhigen Rhythmus bekam, und dabei fiel ihm ein interessantes Thema nach dem anderen ein. Irgendwann legte er eine Platte auf. „So klingt die Mandoline, wenn sie wirklich gut gespielt wird.“

Bestimmt wusste er, wie gut ihr ein solcher Abend tun würde. Als die Musik lief, schenkte er ihr nach, und auch sie griff ein oder zwei Mal zur Flasche. Warum auch nicht? Schließlich war dies eine kleine Feier. Teresa ging es besser, und Jennifer hatte einen plötzlichen Einblick in die Zukunft bekommen, die sie und Teresa miteinander teilen würden.

„Danke“, sagte sie, als die Artischocken dampfend vor ihnen standen.

„Wofür?“

„Wollen Sie es wirklich so genau von mir hören? Für heute Abend. Für alles, was Sie für Teresa tun. Dafür, dass Sie mich ertragen haben, auch wenn ich laut geworden bin. Dabei hätte ich Sie am liebsten noch viel häufiger angeschrieen.“ Sie lachte. „Warum habe ich das jetzt zugegeben?“

Er zuckte mit den Achseln und lächelte nur, als ob er die Antwort kannte, sie ihr aber nicht erzählen wollte. Es lag etwas in seinem Blick, der Art, wie er die dunklen Wimpern vor die Augen gelegt hatte … Ach nein, sagte sie sich, das wäre ja absurd, und sah ihm dabei zu, wie er eine Artischocke in die Knoblauchmayonnaise dippte und dann gegen die Zähne drückte, um an das weiche, wohlschmeckende Innere zu kommen.

Sie fühlte sich … wirklich jünger als er, und ihr gefiel es, dass er schon zehn Jahre länger gereift war, zehn Jahre mehr Erfahrung und Wissen in sich barg und es ihr erlaubte, sich ein wenig darauf zu stützen. Sich anzulehnen. In diesem Moment gefiel ihr der Gedanke, sich an etwas anlehnen zu können … oder jemanden. Tiefe Wasser, dachte sie fasziniert, ein wenig im Wein versinkend … und in diesem glitzernd flüssigen Blick.

Etwa zehn Minuten nachdem sie die Artischocken aufgegessen hatten, hörten sie im Keller den Trockner summen.

„Gehen Sie ruhig“, sagte er. „Ich räume schon mal ab.“

Als sie wieder nach oben kam, hatte er Kaffee und Plätzchen mit Schokostücken auf den Couchtisch gestellt, vor das gemütliche, mit grauem Wollstoff bezogene Sofa.

Nun hörten sie eine Laute, erklärte er ihr. Als er den Kaffee eingeschenkt und sich neben sie gesetzt hatte, sagte sie spontan und ein bisschen undeutlich: „Ich wünsche mir, dass Sie mir auf der Laute vorspielen.“

„Jetzt bin ich mir sicher, dass Sie zu viel Wein getrunken haben.“

Sie runzelte die Stirn. „Nein, habe ich nicht.“ Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. „Oder doch?“

„Ja, und ich habe nicht aufgepasst.“ Er legte ihr den Arm um die schmale Schulter, weil sie ein bisschen geschwankt hatte.

„Aber vor allem bin ich jetzt müde, Dr. Hartman.“

„Will, bitte, Jennifer!“

Autor

Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
Aber all das genügte ihr nicht, und sie suchte nach einer neuen Herausforderung, die sie...
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