Julia Ärzte zum Verlieben Band 105

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DIESE GEFÄHRLICHE SEHNSUCHT … von BECKETT, TINA
Ausgerechnet Dr. James Rothsberg! Mila wollte ihren Exverlobten nie wiedersehen. Aber zum Wohl eines ihrer kleinen Patienten muss sie jetzt mit ihm zusammenarbeiten. Auch wenn er trotz allem immer noch eine gefährliche, unwiderstehlich sinnliche Sehnsucht in ihr weckt …

DU BIST MEINE RETTUNG! von CLAYDON, ANNIE
Rotes Haar, volle Lippen und unglaublich hellblaue Augen: Die attraktive Cass betört Rettungssanitäter Jack auf den ersten Blick. Doch egal, wie sehr er sich insgeheim nach ihren Küssen verzehrt - auf Dauer ist neben seiner Tochter kein Platz in seinem Herzen! Was nun?

IST ES LIEBE, DR. TAYLOR? von BAINE, KARIN
Eine feste Beziehung kommt für die freiheitsliebende Violet nicht infrage. Ihre diskrete Affäre mit Dr. Nate Taylor hingegen scheint perfekt, um sich von der Sorge um ihren kranken Vater abzulenken. Allerdings hat sie nicht mit den Folgen ihrer heißen Nächte gerechnet …


  • Erscheinungstag 20.10.2017
  • Bandnummer 0105
  • ISBN / Artikelnummer 9783733709556
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Annie Claydon, Karin Baine

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 105

TINA BECKETT

Diese gefährliche Sehnsucht …

Mila Brightman – die Frau, die er fast geheiratet hätte! Als Dr. James Rothsberg die schöne Ärztin nach Jahren wiedersieht, klopft sein Herz sofort schneller. Mit jedem Tag, den er mit ihr zusammenarbeitet, fühlt er sich mehr zu ihr hingezogen. Doch um ihrer Liebe eine zweite Chance zu geben, müsste er sich den Dämonen der Vergangenheit stellen!

ANNIE CLAYDON

Du bist meine Rettung!

Seit Cass akzeptiert hat, dass sie keine eigene Familie gründen kann, konzentriert sie sich ganz auf ihren Job als Feuerwehrfrau. Da begegnet sie bei einem Einsatz dem sexy Singledad Jack. In seinen Armen fühlt sie sich, als wäre sie endlich nach Hause gekommen. Bis sie fürchten muss, dass Jack längst nicht frei ist für eine neue Frau in seinem Leben …

KARIN BAINE

Ist es Liebe, Dr. Taylor?

Schwester Violet war Nates große Jugendliebe, bevor sie ihn ohne Erklärung verließ und nach London ging. Als sie jetzt wegen ihres kranken Vaters vorübergehend nach Hause zurückkehrt, knistert es gegen seinen Willen gleich wieder heftig. Aber ist eine Affäre wirklich geeignet, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und dann endgültig einen Schlussstrich zu ziehen?

HOLLYWOOD HILLS KLINIK

DAS TEAM:

Dr. James Rothsberg

Klinikleiter, Facharzt für Plastische Chirurgie

Freya Rothsberg

PR-Managerin der Klinik

Dr. Adam Walker

Chirurg

Dr. Ron Palmer

Chefanästhesist

Dr. Zackary (Zack) Carlton

Herzchirurg

Dr. Damien Moore

Chefarzt der Abteilung für plastische Chirurgie

Dr. Abi Thompson

Ärztin

PATIENTEN:

Mrs. Peters

Leonardo, genannt Leo

Waisenjunge

Patricia Stillwell

Filmschauspielerin

UND:

Dr. Mila Brightman

Leiterin der Bright Hope Klinik

Tyler Richardson

Feuerwehrmann

Morgan

Fotografin

Avery Phelbs

Milas Assistentin

Evelyn Scott

Sozialarbeiterin

Allen Claremont

Schauspieler und Patricias Freund

Tobey und Willow

Freyas und Zacks Zwillinge

PROLOG

Sechs Jahre früher

Die Rückkehr in die Zivilisation hatte gewisse Vorteile, und das Simsen gehörte definitiv dazu.

Sie bezweifelte, dass sie ohne diese Errungenschaft die Party überleben würde.

Nein. Nicht Party. „Wohltätigkeitsveranstaltung“, wie die Promis ihre protzigen Events gerne nannten.

Wie auch immer.

Mila Brightmans Daumen glitten mühelos über die Tastatur.

Ich sag dir noch Bescheid.

Komm schon, Mila. Er sieht unglaublich gut aus und ist seit Kurzem wieder Single.

Perfekt. Genau, was sie brauchte. Ein Wohltätigkeitsdate, passend zur Veranstaltung. Sie lächelte über ihren eigenen Witz. Also gut, so lustig war diese geistreiche Wortwahl nun auch wieder nicht. Genauso wenig wie die Party.

Er ist dein Bruder. Weiß er überhaupt, dass du ihn verkuppeln willst?

Nein, noch nicht. Aber das wird bestimmt super. Und er ist echt süß. Ich versprech’s dir.

Sie hatte es ihm noch nicht einmal gesagt! Mila rollte die Augen, und ihre Daumen setzten sich wieder in Bewegung.

Das hast du von dem letzten Typen auch behauptet.

Vor einer Woche hatte sie sich von ihrer Freundin Freya Rothsberg dazu überreden lassen, zu einem Blind Date zu gehen. Der Mann sah zwar ziemlich gut aus, aber ihr Rendezvous war zu einem abrupten Ende gekommen, als er wie ein Verrückter in seinem Auto den Hollywood Boulevard runtergerast war. Mila war an einer Ampel aus dem Wagen gesprungen und hatte sich ein Taxi nach Hause genommen.

Das hier ist anders. VERSPROCHEN!

Oh, oh. Ihre Freundin hatte zweimal hintereinander das Wort versprochen benutzt. Dieses Mal sogar in Großbuchstaben. Kein gutes Zeichen. Mila stand auf der anderen Seite des Raumes und wartete darauf, dass Freyas angeblich so gut aussehender Bruder auftauchte. Es wurde wirklich Zeit, sie auf andere Gedanken zu bringen. Vielleicht würde ein bisschen Humor den Schock etwas abmildern.

Bei meinem Pech ist er bestimmt klein und untersetzt. Ein richtiger Frosch.

Auf dem Display erschien eine Minute lang nichts, und Mila hatte schon Angst, dass sie ihre Freundin verletzt haben könnte. Doch dann kam die neue Nachricht.

Ein Frosch? Im Ernst?

Auf die Worte folgte ein Smiley. Uff! Also doch nicht verletzt.

Jawohl. F.R.O.S.C.H. Mit Warzen und allem, was dazugehört.

Erneut eine lange Pause. Vielleicht funktionierte das Internet im Ballsaal des Hotels ja nicht richtig.

Warum überzeugst du dich nicht selbst?

Diese Worte lösten einen Schauer in ihr aus. Sie schluckte und sah auf.

Freya stand direkt vor ihr. Sie hatte die Augen weit aufgerissenen und formte mit den Lippen den Satz „Tut mir leid.“

In diesem Moment erkannte Mila, dass ihre Freundin ihr Telefon nicht mehr in der Hand hielt. Sie war auch nicht mehr allein. Und der Mann neben ihr war weder klein noch untersetzt.

Oh. Mein. Gott. Unwillkürlich zuckten ihre Daumen, als ihr diese Worte durch den Kopf gingen.

Der Mann in dem Dinnerjackett war groß. Sehr groß. Und unglaublich attraktiv.

Ja. Oh, ja. Er hielt auch etwas in der Hand und drehte sich jetzt damit zu ihr um.

Es war ein Handy – mit all ihren Textnachrichten, umgeben von einer blauen Blase. Die Luft entwich aus ihren Lungen, und sie hatte Mühe zu atmen.

Er hatte gelesen, was sie geschrieben hatte. Und plötzlich schien ihr der scherzhafte Dialog nicht mehr so unschuldig zu sein. Oder so lustig.

Noch bevor Mila sich bei ihm entschuldigen konnte, begannen seine Mundwinkel amüsiert zu zucken. Ihr wurde ganz schlecht.

„Sie wissen doch, was passiert, wenn man einen Frosch küsst. Vielleicht entpuppt er sich ja als Prinz.“

Ihr Gehirn weigerte sich, den Satz zu verstehen, registrierte aber sehr genau seinen tiefen sexy Tonfall. Allerdings hätte sie schwören können, dass das Wort küssen darin vorgekommen war. Oder sie hoffte es wenigstens.

Sie schluckte und sah ihn fasziniert an. Ein breites Grinsen zog sich inzwischen über sein ganzes Gesicht. Mila hatte das Gefühl, dass sie zu einem Häufchen Asche werden würde, wenn sie sich jetzt rührte.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, gab er Freya ihr Handy zurück. Doch sein Blick war immer noch auf Milas Gesicht gerichtet. „Sollen wir diese Theorie einmal ausprobieren?“

„Th-theorie?“

Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie schon aufs Parkett gezogen. Und als er sie dann gegen Ende der Party endlich küsste, war es ein magischer Moment. Allerdings war keine Verwandlung notwendig, denn James Evan Rothsberg sah schon wie ein Prinz aus. Ein Prinz, dessen Kuss genauso tödlich war wie sein Lächeln.

Und in diesem Augenblick wusste Mila, dass ihr Leben nie wieder wie vorher sein würde.

1. KAPITEL

Heute

Bzzzzz …

Egal, wie viele Klingeltöne James ausprobierte – und er hatte den Eindruck, alle schon getestet zu haben – hasste er es immer noch, Textnachrichten zu bekommen. Der flache Klang seines momentanen Tons machte dabei keine Ausnahme. James’ Puls beschleunigte sich, und seine Kehle wurde trocken, obwohl er wusste, dass die Nachricht nicht von Mila kam.

Nachdem er die Hochzeit abgeblasen hatte, war es schwer für ihn gewesen, keine der sexy Nachrichten mehr zu erhalten, die sie sich immer geschickt hatten. Daher hatte er für sich die Regel aufgestellt, mit dem Simsen aufzuhören.

Er zwang sich, aus seiner Benommenheit zu erwachen. Nach sechs Jahren hatte sich nichts verändert. Egal, wie richtig es von ihm gewesen war, die Hochzeit abzusagen – nie würde er das Entsetzen in den haselnussbraunen Augen seiner Ex-Verlobten vergessen, als sie erkannte, dass es vorbei war.

Genau wie die intimen Textnachrichten. Und alle anderen auch, denn die Leute, die ihn umgaben, wussten, dass er lieber telefonierte.

Außerdem war Mila danach gleich ins Ausland gereist, nach Brasilien, wo sie Entwicklungsarbeit mit Einheimischen geleistet hatte.

Bis jetzt.

Er hatte einen verdammt guten Grund gehabt, sie vor dem Altar stehen zu lassen: Der panische Anruf einer Exfreundin von ihm, die ihm gestanden hatte, dass sie schwanger war. Und dazu war auch noch der unerwartete Verrat seines Vaters gekommen.

Im Nachhinein war es egal, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel gewesen war. Denn dieses Täuschungsmanöver hatte sich schließlich als Segen erwiesen. Mila war dem Schicksal entkommen, in seine Familie mit hineingezogen zu werden, mit all ihren Streitigkeiten und nicht enden wollenden Skandalen. Genau deshalb waren seine berühmten Eltern auch die Lieblinge der Paparazzi gewesen, selbst noch nach ihrer Scheidung.

Vielleicht hatte Mila es damals nicht so gesehen. Aber inzwischen hatte sie bestimmt erkannt, wie knapp sie davongekommen war.

Er hatte nie versucht, sie zu kontaktieren, nicht einmal, nachdem herausgekommen war, was Cindy getan hatte.

Sein Handy piepste erneut zur Erinnerung.

Er zwang sich, auf das Display zu schauen, als er aus dem Auto stieg, begleitet von der verdammten Fotografin, die ihm die Klinik für dieses Treffen aufgezwungen hatte. Die Nachricht kam von Freya. Das SMS-Verbot war für sie zu einem Running Gag geworden. Sie würde ihm eine Textnachricht schicken, weil sie genau wusste, dass er es hasste. Nur um ihn zu provozieren, ihr zu antworten. Aber das funktionierte nie. Er rief sie immer an oder meldete sich gar nicht.

Doch anscheinend gab sie nicht auf, was unter diesen Umständen von wirklich schlechtem Geschmack zeugte.

Wir haben dich kommen sehen. Warten drinnen auf dich.

Wir. Das konnte nur eins bedeuten. Freya war nicht allein in dem kleinen Gebäude. Aber das hatte er ja schon gewusst.

Verdammt! Er hatte gehofft, ein paar Minuten zu haben, um sich sammeln zu können. Dabei war reichlich Zeit gewesen, sich auf das Fotoshooting vorzubereiten. Zwei Monate, in denen er sich jedes Wort und jeden Punkt hatte notieren können.

Aber hatte er das getan? Nein, hatte er nicht. Selbst auf der zwanzigminütigen Fahrt von den Hollywood Hills in die City von Los Angeles hatte er nichts vorausgeplant.

Morgan, die Fotografin, die von der PR-Abteilung engagiert worden war, hatte die ganze Zeit über geredet. Vielleicht hatte sie sogar versucht ihn anzumachen, aber James hatte darauf nicht reagiert. Er kam gerade aus einer weiteren oberflächlichen Beziehung, auf die sich die Paparazzi mit Freude gestürzt hatten. Auf eine Wiederholung hatte er keine Lust. Besonders jetzt nicht, wo das bevorstehende Treffen mit Mila wie ein Damoklesschwert über ihm hing.

Dabei hatte er sich solche Mühe gegeben, nicht mehr an sie zu denken. Er hatte gehofft, wenn er seinen Kopf nur lang genug in den Sand steckte, würde sich alles in Luft auflösen.

Aber das war nicht passiert.

Und er wusste genau, wer auf der anderen Seite der Tür auf ihn wartete.

Mila Brightman.

Die Frau, die er fast geheiratet hätte.

Die Frau, die diesem Schicksal nur knapp entkommen war.

Gottlob war sie das.

Er antwortete nicht auf die Nachricht seiner Schwester. Schließlich wussten sie beide, dass er jetzt hier war, es machte also keinen Sinn. Wie es ihr gelungen war, ihn zu diesem Arrangement zu überreden, hätte James nicht sagen können. Denn schließlich lief die Hollywood Hills Klinik gut, auch ohne dass sie ihre tüchtige kleine Familie vergrößern mussten.

Aber schließlich ging es hier um Freya. Und um Mila. Zwei Frauen, zu denen er schlecht Nein sagen konnte.

James atmete resigniert aus, strich sich nervös durchs Haar und wartete, bis Morgan ihn eingeholt hatte. Irritiert registrierte er das viereckige Stück Pappe, das vor eines der Fenster der Klinik geklebt worden war. Er war so an die makellose Opulenz seiner eigenen Klinik gewöhnt, dass ihm das gedrungene Gebäude an der Ecke einer belebten Straße so fremd vorkam, wie die Entwicklungsarbeit, die Mila einst geleistet hatte. Aber das handgemalte Schild war hell und freundlich und zeigte ein einladendes Gebäude, ohne ein einziges mit Pappe zugeklebtes Fenster.

Die Fotografin wollte ein Bild davon machen, aber James griff sie beim Handgelenk. „Nein. Das nicht!“

Morgan sah ihn verblüfft an, senkte aber die Kamera. „Dann wollen Sie also nur die positiven Sachen?“

„Dafür sind wir doch hier, oder?“, gab er zurück, bevor sie ins Innere des Gebäudes traten.

Bright Hope Klinik. So stand es auf der blitzblank geputzten Glastür. James beschlich plötzlich ein unbehagliches Gefühl. Er fragte sich, ob es richtig gewesen war, eine Zweigstelle dieser Klinik in seiner eigenen zu eröffnen. Aber er hatte diesem Unternehmen schließlich zugestimmt, und der Vorstand hatte ihm die Aufgabe übertragen, sich um die Erweiterung zu kümmern. Deshalb war er auch hier, mit einer hochbezahlten Fotografin im Schlepptau.

Sie machte noch ein paar Fotos von der Tür, vermied jedoch das zerbrochene Fenster. „Wir können jetzt gern hineingehen, wenn Sie möchten.“

Doch noch bevor er eintreten konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und Freya stand vor ihnen. „Nun komm schon, James, warum dauert das denn so lange?“

„Was ist mit dem Fenster passiert?“ Er nickte in Richtung der Pappe.

Mila konnte er nicht sehen, wusste aber, dass sie nur ein paar Meter entfernt von ihm war. Das spürte er am zunehmenden Druck in seiner Brust. Er setzte eine neutrale Miene auf und machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

„Äh … hm …“ Kurz sah Freya dorthin und zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht von einem Baseball?“

„Ich hoffe, du warst nicht dabei.“ Seine Schwester war im siebten Monat schwanger und musste jede Art von Stress vermeiden.

„Nein, das ist irgendwann letzte Woche passiert. Nun mach dir mal keine Sorgen, James. Die Klinik ist total sicher.“

Sicher? Obwohl Mila drinnen war? Wohl kaum.

Aber jetzt war er nun schon einmal hier, und je schneller er das Ganze hinter sich brachte, desto besser. Die Räume, die sie innerhalb der Hollywood Hills Klinik für die neue Zweigstelle reserviert hatten, lagen auf der anderen Seite seines Büros. Deshalb war es nicht sehr wahrscheinlich, dass er Mila täglich sehen würde.

Mit diesem ermutigenden Gedanken betrat er endlich das Gebäude.

Das Innere der Klinik war so bunt wie das gemalte Zeichen außen. Helle Farben dominierten, als ob ein Maler seine Palette über die Wände und Arbeitsplatten gestreut hätte.

„Wow!“ Begeistert schoss Morgan ein Foto nach dem anderen.

Wow war das richtige Wort. Der Ort war so typisch für Mila, dass er unwillkürlich lächeln musste.

Endlich erblickte er sie und schluckte.

Ihr Haar war viel länger als damals, als sie noch zusammen gewesen waren. Damals hatte sie kurze Locken gehabt, jetzt jedoch fielen ihr die Haare bis auf die Schultern. Sie wirkte cool und elegant.

James schluckte erneut und streckte die Hand aus. „Mila, schön, dich wiederzusehen. Danke, dass du der Klinik erlaubt hast, hier ein paar PR-Fotos zu machen.“

Wie aufs Stichwort knipste Morgan erneut, was ihn daran erinnerte, wie oft ihn schon die Paparazzi verfolgt hatten. Besonders während der hässlichen Scheidung seiner Eltern hatte er nirgendwohin gehen können, ohne dass die Presse ihn auf Schritt und Tritt verfolgte.

Er fragte Mila nicht, wie es ihr ging, und fürchtete für den Bruchteil einer Sekunde, dass sie seine Begrüßung nicht erwidern würde. Doch im nächsten Moment streckte sie die Hand aus und drückte seine.

Das war ein großer Fehler. Sofort schossen ihm tausend Bilder durch den Kopf, genauso bunt wie die Wände. Erinnerungen an sie, wie sie neben ihm im Bett gelegen und geschlafen hatte. Wie sie sich frühmorgens geliebt hatten. Wie sie gelacht und sich Nachrichten geschickt hatten. Und schließlich die Tränen.

Verdammt!

Als ob sie dasselbe denken würde, zog Mila ihre Hand rasch zurück und drehte sich weg. „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Das mit den Fotos geht klar. Schließlich will deine Klinik ja zeigen, worin sie investiert hat. Hättest du vielleicht Lust auf eine kleine Tour? Ich muss zwar gleich nach meinen Patienten sehen, aber …“

Er unterbrach ihren Redeschwall mit der Frage, die ihm auf der Zunge lag. „Was ist mit dem Fenster passiert?“

Freya, die direkt neben ihm stand, mischte sich ein. „James, das ist schon okay. Du brauchst dich nicht als großer Bruder aufzuspielen.“

Das Letzte, was James für Mila empfand, waren brüderliche Gefühle. Aber natürlich sagte er das nicht.

Stattdessen sah er seine Schwester streng an. „Ich denke schon, dass wir das Recht haben zu erfahren, welche Risiken mit diesem kleinen Unternehmen verbunden sind.“

„Kleines Unternehmen?“ Milas Stimme wurde eisig. „Hast du vielleicht Angst, deine reichen Kunden zu verlieren, wenn sie ein Paar ärmliche Flip-Flops in den noblen Fluren deiner Klinik herumwandern sehen?“

„Natürlich nicht“, erwiderte er ärgerlich. Dabei verschwieg er, wie lange sie sich im Vorstand darüber beraten hatten, ob sie wirklich eine Klinik für Kinder in L.A. eröffnen sollten, die aus finanziell schwachen Familien kamen.

„Nein. Aber wir haben auch keine Lust auf Bandenkriege in unseren Korridoren.“

Mila sah ihn entsetzt an, und er beeilte sich hinzuzufügen: „Das war natürlich nur ein Scherz. Doch wie sieht es mit der Sicherheit im Gebäude aus?“

„Wir haben überall Kameras, und während der Öffnungszeiten gibt es einen Sicherheitsbeamten, der ständig präsent ist.“

Aber nur während des Tagesbetriebs. Kam Mila auch her, wenn sonst niemand da war? Die Frage lag James auf der Zunge, doch er stellte sie nicht.

„Hat die Polizei denjenigen erwischt, der das Fenster eingeworfen hat?“

„Nein, aber ich habe ihnen die Überwachungsvideos mitgegeben. Bestimmt werden sie die Schuldigen bald erwischen.“

Die Schuldigen, im Plural. „Bewahrt ihr hier irgendwo Drogen auf?“

Mila funkelte ihn wütend an. „Natürlich nicht. Nur die ganz normalen Schmerzmittel, die frei zugänglich sind. Wenn wir etwas Stärkeres brauchen, holen wir es uns aus der Apotheke an der Ecke.“

Das war klug. „Wurde irgendetwas gestohlen?“

„Nein, niemand hat versucht sich Zugang zu verschaffen.“

Komisch. Vielleicht hatte Freya ja recht, und es hatte sich wirklich nur um einen fehlgeleiteten Baseball gehandelt.

James nickte. „Okay, dann lass uns jetzt die Tour machen. Morgan wird alles dokumentieren.“

„Oh, sie hat also einen Namen“, erwiderte Mila und zwinkerte ihm amüsiert zu.

Was sollte das denn heißen?

Ach, zur Hölle! Er hatte gesehen, dass die beiden Frauen sich die Hand gegeben hatten, hatte aber vergessen, sie einander vorzustellen. Andererseits – was interessierte es ihn, wenn seine Ex-Verlobte glaubte, dass er mit der Fotografin ein Verhältnis hatte? Schließlich hatte sie ja auch einen Freund, nämlich Tyler, den bulligen Feuerwehrmann.

Mila ging vor und führte sie einen kleinen Flur entlang zu einem Untersuchungsraum.

Das Zimmer war in tropischen Inselfarben gestrichen. Ozeanblaue Wände und ein sandfarbener Linoleumboden, der an einen Strand erinnerte. Auf einer Wand hatte der Künstler eine große Palme gemalt, deren Wurzeln sich im Boden verloren. Ein paar Muscheln rechts und links rundeten das Strandbild ab.

Jedes Kind würde dieses Zimmer lieben, es war das Gegenteil eines sterilen Untersuchungsraumes.

„Das ist ja fantastisch, Mila“, erklärte James aufrichtig begeistert.

Vielleicht sollten sie das Design auch in seiner Klinik übernehmen. Das würde sich vorteilhaft von der kühlen Eleganz des vielen Marmors und Chroms abheben, die das Bild der Hollywood Hills Klinik prägte. Eventuell würde der Vorstand dann ja seinen Entschluss, Bright Hope einen separaten Eingang zu geben, wieder zurücknehmen.

Mila mochte den extravaganten Look seiner Klinik nicht, das wusste James genau.

In dieser Hinsicht unterschieden sie sich auch am meisten voneinander. Obwohl sie von ihren Eltern, die während eines Einbruchs erschossen worden waren, ein riesiges Vermögen geerbt hatte, lebte sie sehr bescheiden und gab ihr Geld weg, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatte. James hingegen genoss die Sicherheit, die ihm sein Reichtum bot, denn genau das hatte er von seinen Eltern nicht bekommen, die sogar noch wohlhabender gewesen waren als Milas.

Verdammt, musste er gerade jetzt daran denken? Sie hatte inzwischen doch wohl hoffentlich erkannt, dass er ihr einen Gefallen getan hatte, als er die Hochzeit platzen ließ. Ihre Ehe war dem Untergang geweiht gewesen, selbst ohne Cindys Betrug.

„Können wir ein Foto von Ihnen dreien vor dem Wandgemälde machen?“, fragte Morgan.

Freya schnaubte entsetzt. „Oh, nein, nicht mit mir. Mein Baby kann jede Minute kommen, aber bitte nicht vor der Kamera.“ Sie warf ihrem Bruder einen herausfordernden Blick zu. „Du und Mila, ihr solltet drauf sein, denn ihr repräsentiert schließlich die Partnerschaft der beiden Kliniken.“

James musste sich wohl oder übel in sein Schicksal fügen. „Wer hat das eigentlich gemalt?“, fragte er seine Schwester, bevor er sich vor der Wand aufstellte.

„Das war Mila“, erwiderte Freya stolz. „Fantastisch, nicht?“

Damit hatte er nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass ein Profi hinter dem Design steckte. Aber Mila hatte schließlich in Brasilien gelebt, und vielleicht hatte sie dort ja auch malen gelernt. Außerdem hatte sie Kinder schon immer geliebt.

Im Gegensatz zum Rest seiner Familie.

Auch in dieser Hinsicht passten sie nicht zusammen. Wenn er vor sechs Jahren ihre Beziehung etwas nüchterner betrachtet hätte, hätte er das erkennen können. Aber es hatte den Schock seiner Exfreundin und das finanzielle Angebot seines Vaters gebraucht, damit ihm die Realität klar wurde, der Mila ausgesetzt sein würde, wenn sie ihn heiratete.

Erneut blitzte Morgans Kamera auf, doch James war zu sehr in seine Gedanken vertieft, um es zu bemerken.

Mila hatte überlebt. Sie hatte gelernt zu improvisieren.

Ob sie auch mit einem Brasilianer improvisiert hatte, nachdem sie von James verlassen worden war?

Aber er hatte kein Recht, darüber nachzudenken.

„Wärst du bereit, ein paar Räume in meiner Klinik auch in diesem Stil zu gestalten?“, fragte er sie.

„Warum sollte ich das tun?“, gab sie zurück. „Ich glaube kaum, dass sich deine Klienten darüber freuen würden. Viel zu wenig exklusiv, oder?“

Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. „Ich wollte Bright Hope nur ein Kompliment machen. Vergiss es!“

Sie sah ihn betroffen an. Dann griff sie nach seiner Hand und drückte sie. „Bitte entschuldige, James, das war nicht nett von mir. Können wir noch mal von vorn anfangen?“

Dafür war es jetzt zu spät. Aber wenn sie ihm gegenüber die Eiskönigin spielen wollte, nur zu. Das konnte er besser als sie. Allerdings war Mila damals alles andere als kühl gewesen, im Gegenteil, sie hatte sein inneres Feuer geschürt. Jetzt musste er sich schnell etwas einfallen lassen, um diesen besonderen Flammenwerfer zu löschen. Aber als Erstes musste er die verdammte Kamera loswerden, die jeden ihrer Gesichtsausdrücke festzuhalten schien.

Fast hätte sie das Ganze vermasselt. Während Mila James und die Fotografin durch die Klinik führte, was nicht sehr lange dauerte, weil das Gebäude recht klein war und sie in letzter Zeit unter akuter Geldnot litten, versuchte Mila ihr Bestes, ihre Abneigung vor ihm zu verbergen. Nach sechs Jahren hätte sie eigentlich über die Trennung hinweg sein müssen. Aber sein Kommentar über ihre Malkünste hatte ihre ganze Frustration wieder hochkommen lassen, obwohl er es gar nicht böse gemeint hatte.

Sie atmete tief durch. Jetzt musste sie sich erst einmal beruhigen.

Aber wie sollte sie das machen, wenn sie innerlich so aufgewühlt war? Dazu noch in Gegenwart der Fotografin, die James unverhohlen anschmachtete!

Sie stieß die Tür am Ende des Ganges auf. „Hier ist unser Büro.“

Bei ihrem Eintreten sah Avery Phelps, Milas Assistentin, die hinter ihrem Schreibtisch saß, überrascht auf und erhob sich schnell. „Hi, Mila. Ich versuche gerade zum zehnten Mal, das dumme Kabel zu befestigen.“

„Schon wieder der Computer?“

„Ja. Und es ist deswegen schon eine ganze Arbeitsstunde draufgegangen.“

Mila stöhnte und betrachtete den leeren Monitor. „Das tut mir leid. Ich wollte längst jemanden bestellen, der sich das anschaut.“ Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass man für jeden Arbeitsvorgang den Computer brauchte. Sie selbst machte ihre Notizen lieber handschriftlich, das fand sie persönlicher.

Aber das konnte sie von Avery nicht verlangen, denn schließlich funktionierte das ganze Land über Computer. Die junge Frau war damals als alleinerziehende Mutter eines dreijährigen Mädchens zur Bright Hope gekommen und seitdem an ihrer Seite. Mila hatte festgestellt, dass Sarah an Diabetes Typ Eins erkrankt war. Nachdem sie ihren Blutzuckerspiegel unter Kontrolle gebracht hatten, hatte Avery Mila etwas zurückgeben wollen und begonnen, ein paar Stunden in der Klinik zu arbeiten. Das lief so gut, dass Mila sie schließlich einstellte. Inzwischen konnte sie sich ein Leben ohne Avery nicht mehr vorstellen.

„Soll ich mir den Computer mal anschauen?“, fragte James.

Mila zögerte. „Ich glaube, es ist nur ein loses Kabel. Aber jedes Mal, wenn der Schreibtisch sich bewegt, geht der Rechner an und aus, und Avery verliert wichtige Daten.“

Skeptisch betrachtete er das alte Gerät. „Das ist nicht gut für euer System. Hast du irgendein Tape?“

„Hab ich schon ein paarmal versucht.“ Mila war stolz darauf, James einen Schritt voraus zu sein. Obwohl es in Wirklichkeit Avery war, die daran gedacht hatte.

„Was ist denn mit chirurgischem Klebeband? Oder sogar einem Phlebotomie-Schlauch?“

Aber warum sollte das besser funktionieren?

Noch bevor Mila das fragen konnte, sagte Avery schnell: „Ich hole es Ihnen. Mir ist alles recht, wenn das verdammte Ding nur endlich läuft.“

Mila rief sich ins Gedächtnis, bald einen Techniker zu bestellen, der den Rechner in Ordnung brachte. Denn das Letzte, was sie wollte, war, dass James anfing, hier Dinge zu reparieren.

Wie zum Beispiel ihre Praxis? Wenn Freya ihn nicht gedrängt hätte, ihnen Fondsgelder zur Verfügung zu stellen und für die Bright Hope Räume in der Hollywood Hills Klinik freizumachen, gäbe es für Leute wie Avery nur wenig Möglichkeiten, ärztliche Hilfe zu finden. Mila selbst hatte inzwischen den Großteil ihres Erbes ausgegeben. Dabei war es nicht das Geld, das sie vermisste, sondern das, was sie damit bewirken konnte.

Nach wenigen Minuten kehrte ihre Assistentin mit einem Stauschlauch aus Latex und breitem chirurgischem Klebeband zurück. „Suchen Sie sich Ihr Gift aus“, sagte sie lächelnd zu James, aber Mila überlief bei diesen Worten ein Schauder. Vielleicht, weil er damals ihr persönliches Gift gewesen war, nach dem sie süchtig war. Und genau wie ein tödliches Gift hatte er den Teil ihres Herzens getötet, den sie in seine Obhut gegeben hatte.

„Ich würde es gern zuerst mit dem Schlauch probieren.“

Freya, die stumm ihrem Austausch gefolgt war, lächelte. „Mein Bruder, der Handwerker. Versucht immer alles zu reparieren, was kaputt ist.“

Wollte ihre Freundin damit vielleicht auf die Essstörung anspielen, die sie vor vielen Jahren überwunden hatte? Mila wusste, dass das Verhältnis zwischen den Geschwistern nicht immer ohne Spannungen gewesen war. Aber Freya hatte ihr berichtet, dass sie ihre Schwierigkeiten inzwischen überwunden hatten. Das hing sicher auch damit zusammen, dass Zack und sie sich ineinander verliebt und schließlich geheiratet hatten. In wenigen Wochen würden ihre Zwillinge auf die Welt kommen, worauf beide sich schon unglaublich freuten.

Mila freute sich natürlich ebenfalls für ihre Freundin, trotzdem hatte die Nachricht ihr einen Stich versetzt. Denn das hätten auch James und sie sein können, wenn er nicht zu der Ansicht gekommen wäre, dass eine Frau, die Entwicklungsarbeit leistete, nicht zu seinem Hollywoodstil passte.

Okay, vielleicht war das ja nicht wirklich der Grund, warum er sich von ihr getrennt hatte. Aber er hatte eindeutig kalte Füße bekommen. Bis jetzt wusste sie immer noch nicht, warum er sie nicht hatte heiraten wollen. Er hatte jedenfalls behauptet, dass sie es ohne ihn besser haben würde.

Und so war es auch.

Ganz bestimmt.

Was Mila betraf, konnte er seine Gründe, wieso er die Hochzeit hatte platzen lassen, für sich behalten. Denn schließlich war sie daran gewöhnt, dass man ihr Dinge verheimlichte. Ihre Tante hatte sie zwar geliebt, doch sie hatte sie nie auf die schockierende Erkenntnis bezüglich des Todes ihrer Eltern vorbereitet. Sie waren keineswegs bei einem Autounfall ums Leben gekommen, wie ihre Tante anfangs behauptet hatte. Stattdessen hatte ihre Mutter tagelang zwischen Leben und Tod geschwebt, nachdem man sie angeschossen hatte. Die damals zehnjährige Mila hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich von ihr zu verabschieden. Sie hatte lange gebraucht, um ihrer Tante zu verzeihen, nachdem sie die Wahrheit herausgefunden hatte.

Die Mila von heute hielt nichts davon, Informationen zurückzuhalten, egal, wie unverdaulich oder schwierig sie auch sein mochten. Denn das wäre für sie ein Vertrauensbruch gewesen. Deshalb hatte es ihr James’ Weigerung, ihr die Gründe für sein Verhalten zu erläutern, auch leicht gemacht, ihn zu verlassen und nie zurückzuschauen.

Seine Stimme kam aus dem Nirgendwo und riss sie in die Gegenwart zurück.

„Ich brauche eine Schere.“ Er probierte, wie flexibel der Schlauch war, und verbog ihn ein bisschen.

Was hatte er vor?

Avery nahm eine Schere vom Schreibtisch und reichte sie ihm.

James ging auf die Knie, hockte sich unter den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit.

Mila sah ihm fasziniert zu, es war wirklich ein berückender Anblick. Irgendwann reichte er ihr dann ein Stück des Schlauchs. „Kannst du das bitte mal nehmen?“

Mila, die für das Fotoshooting extra einen engen Pencilrock angezogen hatte, kniete sich neben ihn auf den Boden und betrachtete den Schlauch, den er ihr reichte. Darauf befand sich ein dunkler Fleck. Tiefrot. Feucht.

„Blutest du etwa?“

Sie sah zu Avery hinüber, die ihre stumme Aufforderung sofort verstand. Innerhalb von zwei Sekunden reichte sie ihr eine kleine Flasche Desinfektionsmittel und etwas Gaze. Mila wischte damit den Schlauch ab und fragte James: „Was soll ich jetzt damit machen?“

„Befestige ihn vorn am Computer.“

Sie runzelte die Stirn. Wie sollte das funktionieren? „Wie fest willst du es denn?“

„So fest wie möglich, und dann fahr den Rechner hoch.“

Mila band die beiden Enden zusammen und machte einen festen Knoten. „Okay, lass mal sehen, ob das was bringt.“

Sie setzte sich hinter den Schreibtisch und stellte den Rechner an. Sofort erhellte sich der Monitor, und es erschien eine Warnung, dass das Gerät nicht ordnungsgemäß heruntergefahren worden war.

„Nicht zu fassen“, staunte Avery.

„Er funktioniert wieder, James. Vielen Dank!“

Wenige Minuten später kroch James unter dem Schreibtisch hervor und stand auf. Er presste seine rechte Hand auf sein Hemd, wo sich ebenfalls ein dunkler Fleckt gebildet hatte.

„Oh Gott, was hast du gemacht?“

„Ach, das ist nichts. Ich habe mich nur an einem Nagel gerissen.“

Oh nein. Bevor sie hier einzogen, hatte es in allen Räumen Teppichboden gegeben. Mila hatte ihn eigenhändig entfernt, musste dabei aber ein paar Nägel übersehen haben. Glücklicherweise hatte Avery sich bis jetzt noch nicht daran verletzt. Sie warf ihr einen reuevollen Blick zu. „Bitte entschuldige. Die hab ich offenbar vergessen.“

Ihre Assistentin drückte sie leicht am Arm. „Kein Problem. Es ist ja nichts passiert.“

Mila wandte sich James zu. „Lass mal sehen!“ Auffordernd streckte sie ihm die Hand entgegen.

Doch er schüttelte nur den Kopf. „Es ist nicht von Belang. Nur ein kleiner Kratzer.“

„Dann hast du ja wohl nichts dagegen, wenn ich mal einen Blick drauf werfe.“

Stirnrunzelnd sah er sie an, erhob aber keine Einwände, sondern ließ zu, dass sie seine Hand ergriff. In dem Moment, als sie sich berührten, war es, als würde der Blitz einschlagen. Ein prickelndes Gefühl der Erregung schoss durch ihren Arm und sammelte sich in Milas Brust. Sie tat ihr Bestes, um es zu ignorieren, und drehte seine Hand um, damit sie sie besser untersuchen konnte.

In diesem Moment blitzte die Kamera im Hintergrund auf, und sie merkte, dass sie die Fotografin ganz vergessen hatte. Das Letzte, was sie wollte, war ein Foto, auf dem James und sie sich an den Händen hielten. Aber natürlich wollte sie sich nicht verraten, deshalb konzentrierte sie sich auf die Stelle, wo er sich geschnitten hatte. Es war ein langer, tiefer Kratzer, der sich über die ganze Hand hinzog. Nicht sehr schön, aber auch nicht so schlimm, dass es genäht werden musste. „Hast du dich in letzter Zeit mal gegen Tetanus impfen lassen?“, fragte sie ihn.

James sah sie fragend an. „Na klar.“

Natürlich hatte er das getan. Er war schließlich Arzt. Milas Gesicht brannte vor Scham, doch sie zwang sich, ruhig zu klingen. „Avery, würdest du mir bitte noch etwas Gaze holen? Und auch ein bisschen Alkohol aus dem Schrank im Untersuchungsraum.“

Die Fotografin schoss derweil Foto um Foto von der Szene.

Schließlich hatte selbst James genug davon. „Das reicht jetzt, Morgan.“

Entweder wollte er nicht, dass ihr Bild in den Klatschspalten landete, oder er hatte andere Gründe, jedenfalls hatten seine Worte die gewünschte Wirkung. Morgan murmelte etwas, was entweder ein Dank oder eine Entschuldigung hätte sein können, und steckte ihre Kamera in die Tasche. Dann sah sie auf die Uhr. „Ups, ich bin schon etwas zu spät für meinen nächsten Termin. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mir jetzt ein Taxi rufen. Danke noch mal, dass Sie mich in die Klinik mitgenommen haben.“

James nickte, erwiderte sonst jedoch nichts darauf. Freya erbot sich, sie hinauszubegleiten.

Die beiden verließen das Zimmer, und plötzlich war Mila mit ihrem Ex-Verlobten allein.

„Nette Geste“, sagte er und wies auf seine Hand, die sie noch immer festhielt.

„Wie bitte?“

„Die Klinik hat versucht, mein Image zu verbessern. Anscheinend bin ich nicht so pflegeleicht, wie sie es gern hätten. Das hier sollte sie eines Besseren belehren.“

Plötzlich kam Mila ein Gedanke. „Du hast dich doch wohl nicht absichtlich verletzt, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er wies auf ihre Hände, die noch immer ineinander verschränkt waren. „Hast du das absichtlich gemacht?“

Sie ließ ihn los. „Natürlich nicht. Ich wollte dir nur helfen.“

Sein Blick kreuzte sich mit ihrem. „Und ich dir.“

Die Art, wie er das sagte, ließ sie … Nein, es hatte nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun.

Mila richtete sich auf. „Das hast du auch getan, vielen Dank. Und noch einmal danke dafür, dass die Hollywood Hills Klinik Bright Hope unterstützt.“

„Das wird gut für unser Bild in der Öffentlichkeit sein.“

Alle warmen Gefühle, die sie noch vor ein paar Minuten für ihn gehabt hatte, verpufften. „Davon gehe ich aus.“

„Hey, so habe ich das nicht gemeint“, sagte er mit weicher Stimme. „Ich wollte damit sagen, dass es für dich und für uns von Vorteil sein wird. Deine Patienten werden wissen, dass sie die allerbeste Pflege erhalten werden. Allerdings möchte ich dich warnen – du wirst von jetzt an wahrscheinlich sehr viel mehr Publicity bekommen. Darauf solltest du gefasst sein.“

„Mach dir meinetwegen keine Sorgen“, erwiderte Mila kühl. „Ich werde schon damit fertig.“

In diesem Moment kehrte Avery mit den gewünschten Sachen zurück. Mila reinigte James’ Wunde mit Alkohol, doch von einem Verband wollte er nichts hören. „Nein, nicht nötig, es würde mich nur behindern.“

„Bist du sicher?“

Er nickte. „Ganz sicher. Ach ja, und wegen der Fotos … Sobald ich sie von Morgan bekommen habe, leite ich sie weiter. Dann kannst du deine Auswahl treffen.“

Prima. Mila würde als Erstes die Bilder ausschließen, in denen sie ein bisschen zu vertraut wirkten.

Denn die Dinge waren alles andere als vertraulich zwischen ihnen.

Und wenn sie klug war, würde sie es dabei belassen. Auch wenn Mila wusste, dass sie sich in nächster Zeit öfters über den Weg laufen würden, musste sie ihr Herz beschützen. James hatte sie schon einmal verletzt, und das durfte nie wieder geschehen.

2. KAPITEL

Das Restaurant war vielleicht nicht der beste Platz für sein Vorhaben.

Aber James wollte nicht, dass die Fotos die Runde in der Hollywood Hills Klinik machten. Jedenfalls nicht alle. Was die Frage aufwarf, warum er die fragwürdigsten von ihnen nicht einfach weggeworfen hatte.

Warum nicht? Weil er seinem eigenen Urteil anscheinend nicht mehr trauen konnte. Er sah Dinge, die nicht da waren. Dinge, die eindeutig der Vergangenheit angehörten. Vielleicht würde Mila sie sich ja anschauen und nicht einmal mit den Augen blinzeln, denn es gab nichts Zweideutiges in ihnen.

Sie wirkten nur so … vertraut. Kein Wort, mit dem er ihre momentane Beziehung beschreiben würde.

Denn die war angespannt, unbehaglich und peinlich. Bestimmt hätte Mila nie eingewilligt, wieder mit ihm zu arbeiten, wenn sie das Geld seiner Klinik nicht dringend gebraucht hätte.

An dem Ganzen war einzig und allein Freya schuld.

Zum fünften Mal sah James ungeduldig zur Eingangstür des Restaurants Très Magnifique herüber. Noch immer kein Zeichen von seinem Dinner Date. Er war schon immer überpünktlich gewesen, während Mila in Brasilien anscheinend ein eher lässiges Verhältnis zur Zeit bekommen hatte.

Das gab ihm die Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Ob sie sich immer noch mit diesem Feuerwehrmann traf? Dieser Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht, obwohl er das Recht verwirkt hatte, über ihr Privatleben zu bestimmen. Eine dumme Lüge hatte alles verändert. Und es war nicht einmal seine Lüge gewesen.

Eine einzige dunkle Andeutung seines Vaters hatte genügt, um ihn den Kurs seines Lebens ändern zu lassen. Familie – es ließ sich nicht leugnen, dass seine Familie eine Katastrophe war. Öffentliche Skandale, lautstarke Streitereien und die zahlreichen Affären seines Vaters hatten James jede Lust auf echte Beziehungen genommen. Deshalb war er auch so froh über Milas Auftauchen in seinem Leben gewesen. Zum ersten Mal hatte er sich vorstellen können zu heiraten.

Jedenfalls bis Cindy und sein Vater dieses Märchen zerstört hatten. Und das war’s dann auch gewesen. Nach der abrupten Trennung hatte Mila nie wieder versucht, ihn zu erreichen. Sie hatte ihn nie gefragt, warum er in letzter Sekunde vor der Hochzeit zurückgeschreckt war.

„Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen.“ Ihre atemlose Stimme traf James wie ein Schlag in den Magen.

Er sah auf und verzog spöttisch die Mundwinkel. „Manche Dinge ändern sich eben nie.“

„Ich musste mich um einen Patienten kümmern“, verteidigte sie sich.

Verdammt! Sie war Ärztin. Warum war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sie aus beruflichen Gründen aufgehalten worden sein könnte?

Vielleicht hing es ja mit den Fotos zusammen?

Außerdem hatte Mila sich nur um sechs Minuten verspätet. Aber ihm war es wie eine Ewigkeit erschienen.

Plötzlich kamen ihm Zweifel, dass er eine glückliche Hand bei der Wahl des Restaurants gehabt hatte. Nun gut, er kam oft hierher und hatte einen Tisch in einer Nische reservieren lassen. Außerdem wusste er sich hier vor den Augen der Presse sicher, denn das Très Magnifique verfügte über geschultes Personal, das mögliche Paparazzi sofort erkennen würde. Er war sich nur nicht ganz sicher, ob es Mila hier gefallen würde.

Sie nahm gegenüber von ihm am Tisch Platz. „Hast du alle Fotos mitgebracht?“

Er nickte und beugte sich vor. „Natürlich. Das hatte ich dir doch versprochen. Warum fragst du? Ist es für deinen Freund vielleicht ein Problem, dass wir uns treffen? Hier geht es doch rein ums Geschäft. Wenn du möchtest, kann ich ihm das gern erklären.“ Obwohl es das Letzte war, was er gern tun würde.

Wie gebannt sah er sie an, notierte jedes Detail. Ihr perfekt geschnittenes Kostüm, das ihre Kurven wunderbar zur Geltung brachte. Die Kurven, die er vor langer Zeit einmal nach Lust und Laune hatte erforschen dürfen. Er zwang sich, ihr wieder ins Gesicht zu sehen, und merkte, dass sie sich auf die Lippen biss.

Was war los? Hatte sie sich inzwischen wieder verlobt? Das war ein grässlicher Gedanke.

„Du bist mir keine Auskunft schuldig.“

Sie schüttelte den Kopf. „Tyler und ich haben uns getrennt.“

James sah sie sprachlos an.

„Diesmal war ich diejenige, die Schluss gemacht hat“, fügte sie hinzu.

„Tut mir leid.“

Was tat ihm leid? Wie er sie behandelt hatte?

„Kein Problem. Es bringt nichts, eine Affäre unnötig zu verlängern, wenn man sowieso weiß, dass sie irgendwann zu Ende gehen wird.“

Dieser Stachel saß tief. Denn genau das hatte er bei Mila getan. Er hatte mit ihr weitergemacht, obwohl ihm klar gewesen war, dass ihre Verbindung nicht von Dauer sein würde. Zum einen wegen Cindy und der Bombe, die sie hatte platzen lassen, und zum anderen wegen der Reaktion seines Vaters.

James war fest entschlossen, nicht in die egoistischen Fußstapfen seines Erzeugers zu treten. Er würde kein Kind in die Welt setzen, um das er sich nicht kümmern wollte. Oder der Mutter Geld zustecken, damit sie es wegmachen ließ. Deshalb hatte er keins von beidem getan und sich für das entschieden, was er für moralisch richtig hielt. Er hatte sich entschlossen, mit Mila Schluss zu machen und für Cindy das Richtige zu tun. Nur leider war alles eine einzige große Lüge gewesen.

Nie hatte er Milas verträumte Worte vergessen, die sie geäußert hatte, nachdem sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Sie hatte von ihrem Wunsch gesprochen, Kinder zu bekommen und mit ihm eine Familie zu gründen. Es hatte ihn tief erschreckt, denn er litt noch immer unter den Folgen einer Kindheit, die alles andere als glücklich gewesen war.

Der Gedanke, selbst Vater zu werden, machte ihm eine Heidenangst. Das hatte zur Folge, dass er in seiner Klinik keine Kinder mehr behandelte, sondern sie an Kollegen verwies. Daher blieben ihm nur noch die Reichen und Schönen Hollywoods mit ihren kleinen Wehwehchen und Problemen, die sich zumeist auf ihr Äußeres bezogen.

James hatte gedacht, damit leben zu können, doch stattdessen war er müde geworden. Müde auf eine Art und Weise, die er nicht verstand.

„Drinks, Sir?“

Er blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück, als der Kellner ihm die Speisekarte reichte.

Mila schien auch in Gedanken zu sein, denn sie wirkte genauso abwesend wie er. James wartete, bis sie ein Glas Wein bestellt hatte. Er tat es ihr nach und entschied sich schließlich als Vorspeise für die gefüllten Champignons, weil er sich daran erinnerte, dass dies eins ihrer Lieblingsgerichte war. Im Grunde war es unglaublich, dass sie sich hier am Tisch gegenübersaßen. Plötzlich hob sich seine Laune, als er sich daran erinnerte, was sie vorhin gesagt hatte. Es gab niemanden, der zu Hause auf sie wartete – genau wie bei ihm.

Nachdem der Kellner sie verlassen hatte, stützte Mila sich auf die Ellenbogen und sah ihn an. „Und? Wie geht es jetzt weiter?“

James runzelte die Stirn. Konnte sie etwa Gedanken lesen? Einen kurzen Moment lang war ihm die Möglichkeit durch den Kopf geschossen, dass sie dort weitermachen könnten, wo sie aufgehört hatten. Aber das war vermutlich nur ein frommer Wunsch.

„Wie geht was weiter?“, erwiderte er scharf.

„Mit den Fotos natürlich“, sagte sie ungeduldig. „Sollen wir sie uns noch vor dem Essen anschauen? Oder danach? Sie müssen ja schrecklich sein, denn sonst hättest du bestimmt nicht darauf bestanden, dass wir uns extra deshalb treffen.“

„Nein, so schlimm sind sie nicht. Es ist nur … Ich dachte, wir sollten allein sein, wenn wir sie auswählen. Das ist in der Klinik wahrscheinlich eher selten der Fall.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Hat Morgan dich dabei erwischt, wie du unter den Schreibtisch gekrochen bist? Ich kann mir denken, dass du kein sonderliches Interesse hast, dass die Öffentlichkeit das sieht.“

Er lachte. „Ich gehe mal davon aus, dass es von deinem Standpunkt aus kein sehr schmeichelhafter Anblick gewesen ist.“

„Nun, ich würde sagen, er war interessant.“

Interessant.

James war sich nicht sicher, weil das Licht im Restaurant ziemlich gedämpft war, aber er hatte den Eindruck, dass ihre Wangen sich ein wenig gerötet hatten. Deshalb hakte er nach. „Wie interessant? Gut oder schlecht?“

„Also, die Fotografin fand es bestimmt gut, das steht fest.“

War Mila aufgefallen, dass Morgan versucht hatte ihn anzumachen? Er hatte doch mehr als deutlich gemacht, dass sie aus rein professionellen Gründen anwesend gewesen war. An ihr als Frau hatte er keinerlei Interesse.

„Und du? Was denkst du?“

„Ich denke, wir sollten besser das Thema wechseln.“

Das war keine Absage, sondern mehr ein Ausweichen. Vielleicht war er ja nicht der Einzige, der ihre alte Beziehung dort lassen wollte, wo sie hingehörte, nämlich in der Vergangenheit. Trotzdem wusste er, dass er sich anstrengen musste, wenn er nicht in Schwierigkeiten geraten wollte.

„Okay, ich hab nichts dagegen. Dann lass uns doch jetzt die Fotos aussortieren, ja?“

Mila schluckte, als sie Hochglanzfotos durchsah, die James aus seiner Aktentasche gezogen hatte. Jetzt wusste sie auch, warum er sie an einen Ort gebracht hatte, wo es schummrig war und sie unter sich sein konnten.

Denn trotz des gedämpften Lichts im Restaurant lösten die Bilder etwas in ihr aus. Sie waren nicht gerade dazu geeignet, die Eröffnung einer Klinik zu illustrieren. Jedenfalls manche von ihnen nicht.

Es gab besonders eins, das ein Feuer in ihrem Inneren entzündete. Denn auf diesem sahen sie sich an, und obwohl sie sich seines Gesichtsausdrucks nicht ganz sicher war, erkannte sie doch, dass ihrer ängstlich und voller Verlangen war. Einem Verlangen, das sie die Hand nach James ausstrecken ließ.

Vielleicht hatte sie ihm ja auch nur etwas auf dem Wandgemälde zeigen wollen. Aber das glaubte sie eher nicht.

Sie sah sich noch ein paar andere an und blieb erneut an einem hängen. Auf diesem blickte James sie an, als sie gerade etwas zu Avery sagte. Er hatte die Hände in die Hosentasche gesteckt und sah so entspannt aus, dass sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Es kam ihr so vor, als wäre sie in einer Zeitschleife gefangen und würde jetzt durch ein Fenster in die Vergangenheit schauen.

In ihre Vergangenheit.

Sie konnte sich noch sehr gut daran erinnern, dass er früher immer so ausgesehen hatte. Als ob er es geliebt hätte, sie einfach zu betrachten.

Sie schluckte und sah zu ihm hoch. „Gibt es denn überhaupt irgendwelche Fotos, die man verwenden kann?“

„Manche sind gar nicht so schlecht. Aber ich wollte, dass wir das zusammen entscheiden.“

„Ja, jetzt verstehe ich, warum.“

In diesem Moment erschien der Kellner mit der Vorspeise und dem Wein. Mila gab James die Fotos zur sicheren Aufbewahrung zurück. Oder nur, damit sie sie heute Abend nicht mehr anschauen musste? Plötzlich hatte sie eine Idee. „Weißt du, was? Lass uns doch nach dem Essen zur Bright Hope Klinik fahren. Dann können wir die Fotos auf dem Empfangstresen ausbreiten und dort anschauen.“

„Das klingt nach einem guten Plan. Apropos Bright Hope – habt ihr inzwischen das Fenster repariert?“

„Ja, einen Tag nach deinem Besuch wurde es durch ein neues ersetzt.“

„Und es gab keine weiteren Versuche mehr einzubrechen?“

Mila, die gerade einen Champignon auf ihre Gabel spießen wollte, hielt inne. „Es war nur ein Unfall. Das hat die Polizei auch gemeint.“

Bildete sie sich das nur ein, oder entspannte er sich gerade? Vielleicht. Sie selbst war jedenfalls sehr erleichtert gewesen, als die Polizisten gesagt hatten, es sähe so aus, als hätte irgendein Kind einen Stein ins Fenster geworfen. Es war noch nicht lange her, da hatte es auf der Straße eine Baustelle gegeben.

Prüfend betrachtete sie James’ Züge, um herauszufinden, wie er sich in den letzten sechs Jahren verändert hatte. Sein Haar schien noch goldener zu sein als zuvor. Vielleicht weil er viel Zeit in der kalifornischen Sonne verbracht hatte?

Früher hatte er gern gesegelt und war auf seiner Yacht bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Catalina Island gefahren. Stunden auf dem Boot würden den Bronzeton seiner Haut erklären. Und Mila liebte die kleinen Fältchen um seine Augen, die heller waren, wenn er lächelte.

Sie schluckte und verbot sich, weiter darüber nachzudenken. Es ging sie nichts an, was er tat oder nicht tat. Jedenfalls jetzt nicht mehr.

„Woran denkst du gerade?“

Sie wagte nicht, sich zu weit von der Wahrheit zu entfernen, weil er es ihr angesehen hätte, wenn sie gelogen hätte. „Bist du immer noch so oft auf dem Wasser?“

Einer seiner Mundwinkel verzog sich zu einem halben Lächeln. „So oft ich kann.“

„Auf der Mystic Waters?“

Sein Lächeln verblasste. „Ja, ich habe sie immer noch. Ich könnte mir nicht vorstellen, sie aufzugeben.“

Im Gegensatz zu ihr, die aufzugeben ihn keinerlei Mühe gekostet hatte. Es tat Mila weh zu hören, dass die Yacht länger bei ihm geblieben war als sie selbst. Da sie während ihrer Romanze oft gesegelt waren, war die Erinnerung daran mit sehr intimen Bildern verbunden. Obwohl sie Luxus eigentlich verabscheute, war sie auf dem Boot immer glücklich gewesen. James hatte allerdings auch alles getan, damit sie sich dort wohl fühlte.

Normalerweise brauchte man von Los Angeles bis zum Hafen von Avalon auf Catalina Island circa vier Stunden. Aber bei ihnen hatte es meist länger gedauert, weil er immer angehalten hatte, wenn sie entzückt etwas Neues gesehen hatte oder wenn Delfine aufgetaucht waren, um im Kielwasser der Yacht zu schwimmen. Manchmal war er dann auch mit ihr nach unten gegangen …

Ihre Augen schlossen sich für ein paar Sekunden bei dem Gedanken daran. Dann öffnete sie sie wieder und erkannte, dass er sie beobachtete.

Er wusste Bescheid. Wusste ganz genau, woran sie dachte. Verdammt!

„Die Boote, auf denen ich war, waren etwas anders als deine Yacht.“

„Willst du mir etwa unter die Nase reiben, dass du der Menschheit mehr gegeben hast als ich?“

Nein, natürlich nicht. Mila wusste selbst nicht, warum sie das gesagt hatte. Vielleicht weil es sie immer noch schmerzte zu wissen, wie einfach er sie beiseiteschieben konnte.

Immer wenn ich jemandem vertraue, wird mir das Herz gebrochen, dachte Mila. Das galt für ihre Tante und für die Männer, mit denen sie sich in der Vergangenheit getroffen hatte. Aber besonders galt es natürlich für James.

Sein Verrat war der schlimmste von allen.

Andererseits hatte er sich beim Vorstand seiner Klinik für die Bright Hope eingesetzt, und das bedeutete eine Menge. Auch wenn seine Schwester dahintersteckte, wäre ohne seine Unterstützung bestimmt nichts daraus geworden. Aber er hatte sich dafür stark gemacht, dass finanziell benachteiligte Kinder die medizinische Hilfe bekamen, die sie brauchten.

Mila atmete tief durch, beugte sich vor und griff nach seiner Hand. „Du hast der Menschheit ebenfalls viel gegeben, James. Ich werde nie vergessen, wie du den kleinen Jungen operiert hast, dessen Gesicht bei dem Unfall … “

„So etwas mache ich heute nicht mehr.“ Seine Züge verschlossen sich. „Posttraumatische Gesichtsrekonstruktionen überlasse ich den Spezialisten. Ich arbeite jetzt wieder im traditionellen Bereich.“

Mila lehnte sich zurück und sah ihn schockiert an. Er war ein hochbegabter plastischer Chirurg. Wenn er also sagte, er würde nur noch traditionell arbeiten, bedeutete das …

Oh, was für ein Idiot sie gewesen war! Ein Idiot, der gehofft hatte, er würde sie auf ihren Reisen ins Ausland begleiten und denen helfen, deren Gesichter entstellt waren, entweder von Geburt an oder durch Gewalteinwirkung. Dann hatte er also nur so getan, als würde er sich für solche Fälle interessieren?

Offensichtlich. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, als er das Interesse an ihr verloren hatte. All diese langen intimen Gespräche über ihre Zukunft und das Gute, was sie gemeinsam bewirken konnten, hatten nichts bedeutet.

Gar nichts.

Aber warum hatte er sich dann überhaupt für die Bright Hope Klinik eingesetzt? Bestimmt nur, weil Freya ihn dazu gedrängt hatte.

Mila hingegen hatte insgeheim gehofft, dass James sich genau wie sie gern an ihre gemeinsame Zeit erinnerte und dass das der Grund gewesen war, warum er ihr Geld besorgt hatte.

Vielleicht konnte er ihre Gedanken lesen, denn er wartete, bis der Kellner sich mit den Tellern verzogen hatte, und beugte sich dann vor.

„Ich finde es toll, was du machst, Mila. Und ich bin froh, dass es Menschen wie dich gibt.“ Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. „Aber ich gehöre nicht dazu. Diese Art von Fällen, sie …“

Er schüttelte den Kopf und brachte den Satz nicht zu Ende.

„Sie machen dir zu schaffen?“

Er nickte. „Ja, sie machen mir zu schaffen.“ Etwas blitzte in seinen Augen auf, das sie nicht recht deuten konnte. Vielleicht war es Mitgefühl, vielleicht aber auch Zorn. Sie hätte es nicht sagen können. Aber beides wäre ihr lieber gewesen als die neutrale Maske, die er für gewöhnlich aufsetzte.

Nur die Fotos hatten etwas anderes demonstriert. Die Kamera hatte ihn dabei erwischt, wie er Gefühle gezeigt hatte.

Leider hatte Mila keine Ahnung, was sie bedeuteten.

„Mir machen sie auch zu schaffen, James“, erwiderte sie mit weicher Stimme. „Aber irgendjemand muss ihnen doch helfen.“

„Ja, ich weiß.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich kann das nicht tun. Nicht mehr.“

„Warum nicht?“

„Weil ich dafür nicht geschaffen bin“, entgegnete er mit Nachdruck. „Ich kann am besten Promis und Leuten aus der gehobenen Gesellschaft helfen. Weil wir denselben Hintergrund haben. Wir verstehen einander.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht glauben.“

„Das solltest du aber. Es ist nämlich wahr.“

In diesem Moment brachte der Kellner das Essen. James machte sich sofort über sein Steak her.

„Lass es nicht kalt werden“, riet er ihr. „Trés Magnifique hat eine Spitzenküche.“

Mila hatte Rinderfiletspitzen auf Tagliatelle gewählt. Nachdenklich wickelte sie sich die Nudeln um die Gabel und fragte sich, was mit James los war. Sie wusste es nicht mehr, konnte ihn nicht durchschauen. Aber vielleicht war es ja immer so gewesen, selbst in der Zeit, als sie noch zusammen waren, und sie hatte sich nur etwas vorgemacht.

Am Ende hatte er mit aller Macht versucht, von ihr loszukommen. Und sie hatte sich zu einer Person entwickelt, die sie selbst nicht mochte. Eine verängstigte, klammernde Frau, die alles versucht hatte, um ihre Romanze am Leben zu halten.

So etwas durfte ihr nicht noch einmal passieren.

Sie durfte ihr Herz nie wieder in den Ring werfen. Besonders nicht für einen Mann, der sich weigerte, denjenigen zu helfen, die seine Hilfe so bitter nötig hatten.

Ob es mit seiner Familie zusammenhing? Ihr fiel erneut etwas ein, was er damals zu ihr gesagt hatte, als er ihr verkündet hatte, dass er sie nicht heiraten könnte. Etwas über seinen Vater … und die Abneigung in seiner Stimme war unüberhörbar gewesen.

Hatte sein Vater ihm gedroht, ihn zu enterben, wenn er jemand heiraten würde, der mit der Welt der Schönen und Reichen nichts zu tun haben wollte?

Aber James hatte doch immer getan, was er wollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich von seinem Vater hätte beeinflussen lassen. Allerdings war sie sich nicht mehr sicher, denn sie hatte auch nie verstehen können, warum er damals mit ihr gebrochen hatte.

Mila zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Du hattest recht, das Essen hier ist wirklich fantastisch.“

„Möchtest du später vielleicht noch einen Kaffee?“

Sie zögerte. „Ich habe ein kleines Apartment über der Klinik. Wenn du magst, kann ich dir dort noch einen Espresso machen, und dann können wir auch die Fotos aussortieren.“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Du wohnst in der Klinik?“

„Nein, nicht in der Klinik. Wie ich schon sagte, direkt darüber. Das erlaubt mir kurze Wege, weil ich nicht erst zur Arbeit fahren muss.“

„Warst du zu Hause, als das Fenster eingeworfen wurde?“

Nein, das war der Abend gewesen, an dem sie mit Tyler Schluss gemacht hatte. Doch das würde sie James nicht sagen.

„An diesem Abend war ich unterwegs. Aber es war wirklich kein Drama. Niemand hielt sich in der Klinik versteckt oder so etwas.“

„Bist du etwa ganz allein hineingegangen?“, fragte er ungläubig.

Nein, Tyler hatte das für sie getan, obwohl er nach ihrer Ankündigung am Boden zerstört gewesen war. Mila hatte eigentlich ein Taxi nach Hause nehmen wollen, aber er hatte darauf bestanden, sie zu fahren.

Er war wirklich ein guter Mann. Ein einfacher Mann mit einem einfachen Geschmack, und sie hatte sich aus vollem Herzen gewünscht, sich in ihn verlieben zu können. Aber das Herz geht oft eigene Wege und lässt sich nicht kontrollieren.

„Nein, jemand war bei mir“, erwiderte sie gepresst.

James schluckte bei dieser Nachricht. Dann rief er den Kellner herbei und verlangte die Rechnung.

„Ich nehme dein Angebot mit dem Espresso gern an“, sagte er. „Danach suchen wir die Fotos für die Marketing-Abteilung aus.“

Mila nickte und erhob sich. Beklommen fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, den Kaffee im Restaurant zu trinken. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie James in ihrem Privatbereich haben wollte. Aber jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Auf der Fahrt in die Klinik fragte sie sich, ob ihre Befürchtungen nicht grundlos waren. Sie sollte das Ganze nicht so dramatisieren. Doch je näher sie ihrem Ziel kamen, desto unbehaglicher wurde ihr zumute.

Als sie gerade um die Ecke bogen, piepte plötzlich ihr Handy. Es war ein besonderer Klang, den sie für den Fall programmiert hatte, dass die Alarmanlage in der Bright Hope Klinik ausgelöst wurde.

„Oh nein!“, rief sie entsetzt.

James warf ihr einen fragenden Blick zu, und im nächsten Moment kam die Klinik in Sicht. Mila sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Glastüren waren zerschmettert worden.

Er sah es jetzt auch und trat sofort auf die Bremse. Der Wagen kam mit lautem Quietschen vor dem Gebäude zum Stehen. In diesem Moment sprang eine dunkel gekleidete Person durch die Öffnung und rannte die Straße hinunter.

3. KAPITEL

„Halt! Stehen bleiben!“

James sprang aus dem Auto und lief hinter dem Eindringling her. Doch als er um die Ecke bog, war der Mann verschwunden. Mehrere Straßen bogen von hier ab, es war nichts mehr zu sehen. Kein Zeuge weit und breit.

Wenn Mila nicht im Auto gewesen wäre, hätte er sich vergewissert, dass sich der Täter nicht hinter einer Mülltonne oder einem wartenden Auto versteckt. Aber was sollte er machen, wenn der Mann einen Komplizen hatte? Oder wenn Mila sich entschlossen hatte, auf eigene Faust in der Klinik nachzuschauen?

„Verdammt!“ James wusste, er hätte die Polizei rufen und sie nicht allein lassen sollen. Entschlossen drehte er sich um. Als er wenige Minuten später zum Auto zurückgekehrt war, sah er seine Befürchtung bestätigt. Die Beifahrertür stand offen, der Sitz war leer.

„Zur Hölle, Mila!“ Sie war tatsächlich ganz allein in die dunkle Klinik gegangen.

Die Tür war verschlossen, daher stieg er vorsichtig durch die Öffnung ins Foyer. Glas knirschte unter seinen Sohlen. Am liebsten hätte er sie gerufen, aber wenn sich tatsächlich noch jemand anderes hier versteckt hielt, durfte er ihn nicht warnen. Daher blieb James stehen und lauschte.

Plötzlich vernahm er Stimmen. Ob das Mila war, die der Polizei von dem Einbruch berichtete? Oder war hier noch jemand anderes?

Vorsichtig schlich James auf Zehenspitzen durch das Foyer. Mila hatte kein Licht gemacht. Warum?

Er betrat den Flur und versuchte, sich an den Plan der Klinik zu erinnern. Die Stimmen kamen von der rechten Seite, aus der Richtung des Untersuchungszimmers. Vor der Tür blieb er stehen und hörte erneut Milas Stimme. Sie klang gefasst, beruhigend … als würde sie zu einem verängstigten Tier reden.

Und dann merkte er plötzlich, dass sie nicht Englisch sondern Spanisch sprach. Natürlich, sie hatte im Ausland gearbeitet und beherrschte die Sprache.

Er holte tief Luft und ging um die Ecke. Das Licht einer Straßenlaterne von draußen beleuchtete die Szene schwach.

Mila, die in der dunklen Ecke hockte, hatte jemanden gepackt. Bei seinem Anblick schrie sie leise auf, und James machte sich zum Angriff bereit.

Doch ihre Angst galt ihm und nicht demjenigen, den sie in den Armen hielt.

„Oh Gott, James, du hast uns zu Tode erschreckt!“

Uns?

„Was zum Teufel ist hier los?“

Er streckte die Hand aus und schaltete das Licht an. Erst jetzt erkannte er die schmale Gestalt, die sich zitternd an Mila geschmiegt hatte.

Es war ein kleiner Junge, etwa drei Jahre alt und kein weiterer Eindringling, wie er gefürchtet hatte. Das bedeutete, der Mann, der von der Klinik weggelaufen war, war was … ein Vater? Ein Freund? Aber wer würde schon in eine Klinik einbrechen und ein Kind zurücklassen?

Der Junge wimmerte und hatte Tränen in den Augen. Plötzlich realisierte James, dass er wahrscheinlich einen furchterregenden Eindruck auf das Kind machte, wie er drohend so dastand, die Hände zu Fäusten geballt.

„Está bien. No tengas miedo“, sagte Mila beruhigend zu dem Kleinen und funkelte James wütend an.

Wie bitte? Sie sagte dem Jungen, er sollte sich nicht fürchten?

Was war mit ihm? Er hatte sich schreckliche Sorgen um sie gemacht.

Jetzt betrachtete er den Jungen etwas genauer. Er war dünn, fast mager. Und … Sein Blick blieb an den Füßen hängen, und ihm stockte der Atem.

Die Füße des Jungen waren in einem unnatürlichen Winkel nach innen gedreht, als würden sie sich zum Duell aufstellen.

Klumpfüße. Alle beide.

Der Anblick schnitt ihm ins Herz. Man hätte diese Deformation im ersten Jahr korrigieren sollen.

Er kniete sich zu den beiden hin und sah Mila fragend an. „Ist das einer deiner Patienten?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du im Wagen bleiben sollst“, meinte er verärgert.

„Das wollte ich ja auch, aber dann habe ich jemanden weinen hören.“ Sie sah zur Tür, und in diesem Moment erklangen Polizeisirenen. „Außerdem wusste ich, dass jeden Moment Hilfe kommen würde.“

„Du hättest trotzdem warten sollen“, erwiderte James aufgebracht. „Zu deinem eigenen Schutz.“

Er wagte gar nicht daran zu denken, was hätte passieren können, wenn Mila auf einen bewaffneten Mann gestoßen wäre und nicht auf ein verängstigtes Kind.

„Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun oder zu lassen habe“, sagte sie wütend. „Du bist nicht mein Beschützer, und ich treffe meine eigenen Entscheidungen.“

Natürlich hatte sie recht. Sie war eine erwachsene Frau. Sein Gesicht wurde wieder zu der neutralen Maske, hinter der er seine wahren Gefühle verbarg.

„Ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht. Leider konnte ich den Mann nicht erwischen. Und als ich zurückkam und sah, dass der Wagen leer war …“

„Mir geht’s gut“, unterbrach sie ihn und zeigte auf den Jungen. „Er hat gesagt, sein Onkel hätte ihn hiergelassen. Vielleicht wollte er ja nur Hilfe für ihn holen.“

„Medizinische Hilfe, nehme ich an“, erwiderte James und zeigte auf die Füße des Jungen.

„Genau.“

„Und dann ist er einfach weggerannt? Was für ein …“ Er brach ab, denn er wusste nicht, ob der Junge Englisch verstand. „Was für eine Art Mensch würde so etwas tun?“

„Wenn man Angst hat, ist man zu vielem fähig.“

„Wie? Jemanden zurücklassen, den man angeblich liebt?“

Mit einem Mal wurde ihm die Ironie seiner Worte bewusst. Denn natürlich hatte er genau dasselbe getan. Er hatte Mila kurz vor ihrer Hochzeit verlassen, hatte sie verletzt und in tiefe Trauer und Einsamkeit gestürzt. Es war völlig egal, dass er damals keinen anderen Ausweg gesehen hatte.

Und als ihm dann klar wurde, dass es übereilt gewesen war, hatte er es nicht mehr zurücknehmen können. Denn die Zeitungen waren voll gewesen mit den Nachrichten seiner geplatzten Hochzeit. Die Boulevardpresse hatte sie mit der Scheidung seiner Eltern wenige Jahre davor verglichen. Das erinnerte James an all die Gründe, warum er die Dinge so lassen sollte, wie sie waren. Mila hatte etwas Besseres als ihn und seine kaputte Familie verdient.

Freya war damals für ihre Freundin da gewesen, und sie hatte ihm die Hölle heiß gemacht. James wusste, dass seine Schwester ihm nicht verzeihen konnte, was er Mila angetan hatte.

In diesem Moment ertönte Stimmengewirr von draußen und enthob Mila einer Antwort. Dann herrschte das totale Chaos. Die Polizei stürmte die Klinik, gefolgt von den Rettungssanitätern.

Aber noch schlimmer war das Erscheinen eines einzigen Feuerwehrmanns. Besorgt sah er sich als Erstes nach Mila um, die ihm um den Hals fiel und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

Schulterzuckend erwiderte er: „Ja, ich weiß. Tut mir leid, ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Denn ich habe über Funk mitbekommen, dass es aus der Bright Hope einen Notruf gab. Dem musste ich einfach folgen.“

Das war Tyler Richardson, Milas Ex. Offensichtlich war doch noch nicht so ganz Schluss zwischen den beiden, wie sie behauptet hatte. Und Tyler durfte sich anscheinend Sorgen um ihre Sicherheit machen, während ihm das nicht erlaubt war.

James betrachtete den schlanken, durchtrainierten Mann mit den kurzen Haaren und verspannte sich. Gefühle, die er lange tot geglaubt hatte, erwachten wieder, als er Mila dabei zuhörte, wie sie den Polizisten schilderte, was passiert war.

Er zwang sich, ein paar Schritte zurückzutreten, und lauschte ihren Erklärungen. Irgendwie war er stolz auf sie. Sie war selbstbewusst und blieb bei den Fakten. Ganz anders als die scheue junge Frau, die ihn vor sechs Jahren in ihren Bann gezogen hatte.

Mila hatte die Welt bereist. Ganz allein. Wahrscheinlich war sie in Situationen gewesen, die hundertmal gefährlicher waren als das, was in der Klinik passiert war.

Hätte sie auch so wachsen können, wenn sie zusammengeblieben wären? Oder hätte er sie in eine Schublade gepresst, wie seine Schwester ihm einmal vorgeworfen hatte?

Wie auch immer die Antwort lautete, es war nicht zu leugnen, dass Mila sich sehr verändert hatte.

Der Feuerwehrmann an ihrer Seite schien sie auch zu respektieren. Verrückterweise sahen die drei – die Frau, der Mann und das Kind – wie eine Familie auf einer Postkarte aus.

Das gefiel James nicht. Überhaupt nicht.

Er trat einen Schritt nach vorn. „Ich möchte den Jungen gern in meine Klinik mitnehmen, wo wir die neuesten Geräte haben. Wir müssen ihn gründlich untersuchen und herausfinden, ob er außer seinen Füßen noch andere körperliche Gebrechen hat.“

Für die Patienten, die nach einem Eingriff noch Physiotherapie brauchten, standen in der Hollywood Hills Klinik immer ein paar kleine Apartments bereit.

„Das wäre wunderbar. Danke, James.“

Tyler drehte sich abrupt um und sah ihn prüfend an.

Bildete er sich das nur ein, oder lag wirklich eine Drohung im Blick des Feuerwehrmanns? Beide sahen sich in die Augen und verharrten so, bis Mila sich räusperte.

James trat einen Schritt zurück. „Ich werde Adam Walker anrufen und ihn fragen, ob er noch freie Termine hat. Er ist einer der besten orthopädischen Chirurgen im ganzen Land.“

Mila schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, hatten sie einen warmen Glanz, den er schon lange nicht mehr gesehen hatte. „Danke. Ich schulde dir was.“

„Nein, tust du nicht.“

Wenn jemand einem etwas schuldete, dann war er es. Was er ihr angetan hatte, konnte er wohl nie wiedergutmachen. Denn sie hatte ihm dabei geholfen, etwas zu entdecken, das seinen Lebensweg bestimmt hatte.

Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie Leonardo, so nannte er sich, durch die Bürokratie geschleust hatten. Als temporär Schutzbefohlener des Staates Kalifornien konnten sie ihn dann endlich in die Hollywood Hills Klinik bringen. Mila war nach draußen gegangen, um sich von Tyler zu verabschieden, und wollte noch eine kleine Reisetasche mit ein paar Sachen packen, denn sie bestand darauf, mit Leo im Klinikum zu bleiben.

Denn was würde geschehen, wenn er Angst bekam? Oder einen Albtraum hatte? Dann sollte er nicht allein sein.

„Bist du sicher, dass du bei ihm bleiben willst?“

Die Kinderabteilung würde erst morgen früh wieder geöffnet sein. Aber vielleicht war es ja besser so, denn James war plötzlich so müde wie schon seit Jahren nicht mehr. Ob aus körperlichen oder emotionalen Gründen, hätte er nicht sagen können.

„Ich bin mir ganz sicher“, erwiderte Mila und stieg in den Ambulanzwagen ein. „Könntest du so nett sein und ihm ein paar Sachen besorgen, wie frische Kleidung und eine Zahnbürste?“

„Wie bitte?“

„Oh, entschuldige.“ Sie griff in ihre Tasche und holte ihr Portemonnaie heraus.

Er hob die Hand, denn er erkannte, dass sie ihn falsch verstanden hatte. Er war froh, dass sie ihn und nicht Tyler gebeten hatte, Besorgungen für den Jungen zu machen.

„Ich brauche kein Geld von dir. Ich habe nur keine Ahnung, welche Kleidergröße er hat.“

„Verstehe. Naja, ich schätze, er ist etwa drei Jahre alt. Das heißt, Größe achtundneunzig müsste eigentlich hinkommen. Kauf ihm bitte auch Unterwäsche und zwei Paar Socken, okay?“

„Alles klar. Ich treffe dich dann in einer Stunde in der Klinik.“

„Ja, gut. Bis später!“

Die Türen des Krankenwagens wurden zugeschlagen, und dann fuhr der Wagen mit blinkenden Lichtern davon.

James sah ihm nach und war froh, eine Minute für sich zu haben.

Er brauchte Zeit, um zu verstehen, was heute Abend passiert war. Warum der Köder, mit dem er im Restaurant noch gespielt hatte, ihn jetzt selbst an der Angel hängen ließ. Er konnte sich nicht befreien, ohne Schaden zu nehmen. Andererseits, wenn die Sache den Bach hinunterging, würde er sich vielleicht losreißen und auf das Beste hoffen müssen.

Adam Walker empfing sie an der Tür.

Mila war froh darüber, denn ihre Beine zitterten noch immer. Tylers plötzliches Erscheinen in der Bright Hope Klinik hatte ihr zugesetzt, besonders weil James dabei gewesen war. Noch immer hatte sie ihre Schuldgefühle ihm gegenüber nicht überwunden.

Verdammt!

Es war vorbei. Mit beiden. Und es gab keinen Grund, sich schuldig zu fühlen.

Außerdem durfte für sie jetzt nur Leo zählen, denn das Kind brauchte dringend ihre Hilfe.

„Bringen wir ihn in einen Untersuchungsraum“, sagte Adam und streckte dem kleinen Jungen, der jetzt im Rollstuhl saß, seine Hand entgegen. Leonardo zögerte kurz und legte dann seine kleine Hand in die große des Mannes. Adam war erfahren im Umgang mit Kindern und wusste, wie er ihr Vertrauen gewinnen konnte.

Mila, die den Rollstuhl schob, hatte der Szene lächelnd zugeschaut.

Dann legten sie den Jungen auf einen Untersuchungstisch. Der Chirurg rollte die zerschlissene Jeans des Kleinen hoch, um besser seine Füße und Knöchel betrachten zu können.

Autor

Karin Baine
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Tina Beckett
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Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
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Tina Beckett
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