Julia Ärzte zum Verlieben Band 122

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VERLIEBT IN DEN ADLIGEN LANDARZT von O'NEIL, ANNIE
Eine Katastrophe! Julia MacKenzies Klinik droht das Aus. Die Entscheidung hängt von Lord Oliver Wyatt ab, auf dessen Grundstück die Klinik steht. Doch Oliver ist nicht nur ein adliger Arzt mit viel Geld und Macht, sondern auch ein Mann, der verhängnisvoll gut küsst …

HERZ IN ZARTEN HÄNDEN von RYDER, LUCY
In tiefer Nacht fährt Paige hoch: Was war das für ein Geräusch? Beherzt wirft sie die Taschenlampe nach dem Einbrecher - Volltreffer! Doch als der erstaunlich attraktive Fremde wieder zu sich kommt, erfährt sie peinlich berührt, dass er ein Kollege ist, ein Mediziner …

HEILT LIEBE WIRKLICH ALLES? von HAWKES, CHARLOTTE
Als der renommierte Chirurg Max Van Berg mit ihr heiß flirtet, verbringt Evie mit ihm spontan eine hinreißende Liebesnacht. Sie will das Leben feiern - denn gerade hat sie die Diagnose bekommen, dass ihr eigenes am seidenen Faden hängt! Aber die Nacht hat ungeahnte Folgen …


  • Erscheinungstag 08.02.2019
  • Bandnummer 0122
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713461
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie O’Neil, Lucy Ryder, Charlotte Hawkes

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 122

ANNIE O’NEIL

Verliebt in den adligen Landarzt

Sie ist bezaubernd! Dr. Oliver Wyatt kann den Blick nicht von der hübschen Julia abwenden. Ihre Lebensgeschichte berührt ihn, ihr medizinisches Engagement imponiert ihm. Aber wie wird die Ärztin aus Leidenschaft reagieren, wenn sie erfährt, dass er über die Zukunft ihrer kleinen Landklinik entscheiden wird – und plant, die Klinik zu schließen?

LUCY RYDER

Herz in zarten Händen

Mit schrecklichen Kopfschmerzen kommt Tyler wieder zu sich: Eine Frau im Nachthemd, so zierlich und süß wie eine Elfe, hat ihn k.o. geschlagen! Aber was macht diese Fremde im Haus seines Vaters? Als der Arzt und Weltenbummler das endlich erfährt, ist es fast zu spät zu fliehen: Dr. Paige Carlyle hat sein flüchtiges Herz fest in ihren zarten Händen …

CHARLOTTE HAWKES

Heilt Liebe wirklich alles?

Es war nur eine unbedeutende Affäre – aber der Chirurg Max Van Berg weiß, dass er sich selbst belügt. Denn als er die schöne Dr. Evie Parker nach einem langen Auslandseinsatz erneut trifft, will er nur eins: sie wieder lieben. Doch warum weicht sie seinem Blick aus, und warum kreuzen sich ihre Wege ausgerechnet bei einem Nierenfacharzt?

1. KAPITEL

„Los geht’s, Doc! Wer zuerst oben ist!“

Es war schon schwer genug, durch den Schlamm zu kriechen, aber nur an einem glitschigen Netz aus einer Schlammgrube zu klettern, war noch mal eine Nummer härter.

„Ich glaube, ich weiß schon, wer gewinnen wird“, keuchte Julia. Sie war sich ziemlich sicher, dass der neunzehnjährige Gärtnerazubi ihr gegenüber im Vorteil war.

„Sie sind der Grund dafür, dass wir überhaupt hier mitmachen. Zeigen Sie uns, wie’s geht!“

Die aufmunternden Worte verliehen ihr neue Entschlossenheit. Julia packte das Netz und zog sich aus dem hüfttiefen Graben. Schlamm tröpfelte ihre Beine hinab. Sie fühlte sich wie das Monster aus dem Sumpf und sah vermutlich auch nicht besser aus. Aber alles in allem war das hier ein großer Spaß.

Richtig?

Es war ja nicht viel anders als eine Ganzkörperbehandlung. Julia ging kurz das Risiko ein, ihren schlammverkrusteten Mund zu öffnen, um zu lachen. Was wusste sie schon von Wellnesshotels und Schlammmasken?

Auf dem Internat war sie nicht gerade verwöhnt worden. Sie hatte jung geheiratet, einen Soldaten, und die Jungs vom SAS, dem Special Air Service, scheffelten auch keine Reichtümer.

Sie fand mit dem Fuß Halt in einer Schlaufe des Netzes und griff blindlings nach der nächsten. Adrenalin schoss durch ihre Adern, als sie es tatsächlich schaffte, sich einen weiteren Meter nach oben zu ziehen.

Die neue Kraft, die sie schöpfte, erinnerte sie daran, wie es auch mit ihrer Familie wieder bergauf ging. Nach zwei düsteren Jahren wagten sie einen Neuanfang. Ihre Kinder waren gesegnet mit Talenten, Intelligenz und einem großzügigen Onkel und genossen jetzt eine Erziehung, von der sie nur hatte träumen können. Und sie selbst? Nachdem sie von der Frau eines Soldaten zur Witwe eines Soldaten geworden war, hatte ihr Leben einen ganz anderen Lauf genommen. Und jetzt steckte sie mitten in einem Schlamm-Hindernisrennen. Matt würde sich kringelig lachen, wenn er sie so sehen könnte!

Nein. Wenn sie es sich recht überlegte, dann hätte Matt schon längst die Ziellinie erreicht, um sie von dort aus gemeinsam mit den Kindern anzufeuern. Während er sich kringelig lachte.

Sie kniff die Augen zusammen und kletterte weiter, Masche für Masche, in der Hoffnung, dass die körperliche Anstrengung die Erinnerungen verscheuchen könnte.

Es ist schon in Ordnung. Alles kommt wieder in Ordnung. Sie hatte sich durch die von Trauer schwere Zeit geschleppt, als sie jeden Tag geweint hatte, und jetzt war die Zeit gekommen, wo sie die Trauer hinter sich lassen und weitermachen musste. Sie musste einfach. Für sich selbst und für ihre Kinder.

Hier in St. Bryar brachte sie langsam alles in Ordnung, bis der Nebel aus Schmerz sich lichtete und ihr der Weg in die Zukunft offenstand. Wenn ihr doch nur kein Zentner Schlamm an den Beinen kleben würde! Das Gefühl erinnerte sie an die Schwere, die sich auf sie gesenkt hatte, als die zwei uniformierten Offiziere an ihre Tür geklopft und ihr die Sterbeurkunde ihres Mannes überreicht hatten.

„Doc! Ich bin schon fast oben!“

Um sie herum herrschte ein wildes Gedränge, und Julia kehrte in die Gegenwart zurück. Überall hörte man Gelächter und anfeuernde Rufe. Die Leute aus dem Dorf hatten sich an der Steinmauer versammelt, die den schlammgefüllten Graben rund um das Herrenhaus Bryar Hall umgab. Sie feuerten die durch den Schlamm unkenntlich gewordenen Läufer mit lauten Rufen an, während diese das letzte Hindernis vor der Ziellinie beim Herrenhaus erkletterten.

„Das sollte uns noch ’nen Fünfer mehr einbringen, Doc!“

Julia schaute nach oben und sah, wie der Azubi sprang. Er legte einen wundervollen Bauchklatscher mitten in den Schlamm hin, und die Menge jubelte.

Sie hoffte, dass dieses Hindernisrennen für wohltätige Zwecke die Finanzen des Krankenhauses von St. Bryar aufpolstern würde. Sie hatten es dringend nötig, nicht zuletzt, weil es Gerüchte gab, der mutmaßliche Erbe würde das Krankenhaus und das umliegende Anwesen sofort im Stich lassen, sobald sie eine Finanzspritze brauchten. Sie wusste nicht recht, wie sie Lord Oliver einschätzen sollte, nach allem, was sie über ihn gehört hatte. War er ein weltgewandter Philanthrop oder ein sprunghafter Playboy?

Die Geschichten, die sie gehört hatte, widersprachen einander, und sie konnte sich kein eindeutiges Bild von ihm machen. Für das Dorf und seine Bewohner hoffte sie natürlich, dass er das Krankenhaus als wichtigen Teil von Bryar Hall sah. Im Moment war sein Wohlwollen der einzige Grund, dass sie nicht schließen mussten. Was sie heute an Spenden sammeln würden, war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie musste ein Hindernisrennen laufen!

Sie holte tief Luft, wischte sich den Schlamm aus den Augen und schaute nach oben. Ein bisschen Training hätte nicht geschadet. Es lagen nur noch zwei Meter vor ihr, aber sie war völlig erschöpft. Es hatte sich nicht gelohnt, mitten auf dem Netz ein Päuschen zu machen und über ihr Leben nachzudenken.

Im Nachhinein kamen ihr Zweifel. Ja, das Hindernisrennen im Schlamm war ihre Idee gewesen, aber hätte sie als Allgemeinärztin nicht am Rande bleiben sollen, um einzugreifen, falls sich jemand verletzte?

Doch ihr Instinkt riet ihr, dass Taten mehr sagten als Worte und dass es jetzt endlich Zeit war, loszulegen.

Sie warf ihren schlammverkrusteten Zopf über die Schulter und streckte die Hände aus. Noch eine Masche und noch eine – sie stieg immer höher. Nur noch ein kleines Stück, bis …

„Aua! Ihr Fuß ist auf meiner Hand!“ Sie sah gerade noch, wie der große schwarze Stiefel sich hob, bevor sie und der Mann, der ihr auf die Hand getreten war, über die Spitze des Netzes kullerten und zusammenstießen. Der Schlamm zwischen ihnen klebte sie aneinander fest, während Julia keuchend versuchte, zu Atem zu kommen.

„Ich rutsche!“ An den schlüpfrigen Seilen konnte Julia keinen Halt finden. Zum Glück spürte sie, wie er einen Arm um ihre Taille schlang. Er zog sie dicht an seine schlammige, aber angenehm männliche Brust. Sie bemerkte, wie sein nasses T-Shirt an seinen breiten Schultern klebte. Ein elektrisierendes Kribbeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, und am liebsten hätte sie sich noch enger an ihn geschmiegt.

„Halten Sie sich auch gut fest?“

Woran denn? An Ihren herrlich breiten Schultern? Ach, du meine Güte, sag das bloß nicht laut!

„Ich muss nur …“

„Stellen Sie den Fuß auf eine Masche. Ich habe Sie fest im Griff.“

Oh ja, das haben Sie! Julias nackte Beine berührten seine, während sie versuchte, sicheren Halt zu finden. Daran könnte ich mich gewöhnen … Julia nahm den Trubel und die Rufe um sie herum nur noch als entferntes Rauschen war. Wie konnte das sein? Sie hatte sich doch hoffentlich nur die Finger verletzt und nicht auch noch eine Gehirnerschütterung abbekommen, oder?

„Was ist mit Ihrer Hand? Habe ich Ihnen wehgetan?“

Wenn er sie so an seine harte Brust drückte, fiel es ihr schwer, so komplizierte Fragen zu beantworten.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er weiter. „Wenn es Ihnen hilft, kann ich Sie mit meinem Bein festhalten.“

Oh, bitte nicht! Das würde mir den Rest geben. Wer war er überhaupt? Tarzan? Dafür hatte er nicht die richtige Frisur, aber abgesehen davon …

„Ich werde Sie nicht loslassen, bis Sie mir sagen, dass alles in Ordnung ist.“

„Es geht mir gut, ich …“ Sie wagte es, einen zweiten Blick auf ihn zu werfen, und schnappte nach Luft. Moosgrüne Augen strahlten sie aus einem schlammverschmierten Gesicht an. Unter der langsam trocknenden Schicht aus Morast konnte sie scharf geschnittene Wangenknochen, volle Lippen und pechschwarzes Haar erkennen.

Sie griff fester nach dem Seil. Sie wollte sich erden, wollte sich an den Ehering erinnern, den sie nicht mehr trug. Aber ein Blick in diese grünen Augen reichte aus, und ihr zitterten die Knie. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie das überwältigende Verlangen, jemanden zu küssen. Ihn zu küssen.

Nein, das wollte sie nicht!

Doch, das willst du.

Sie benahm sich ja wie eine Zwölfjährige!

Julia atmete tief durch und versuchte, eine logische Antwort auf die Frage zu finden, wie sich eine dreiunddreißigjährige Witwe, Mutter zweier dreizehnjähriger Zwillinge, in einer solchen Situation am besten verhalten sollte. Sie hing dicht an ihn gedrückt in dem Netz, es gab kein Entkommen. Bleib professionell, Julia! sagte sie sich. Schließlich bist du Ärztin. Sie kam jeden Tag mit den unterschiedlichsten Körpern in Berührung. Die muskulösen, schlammbedeckten, sich eindeutig zu sexy an sie pressenden Körper waren dabei aber eher selten. Ihr Herz klopfte schneller, als ihr ein paar sehr pikante Vorstellungen durch den Kopf gingen.

„Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen wehgetan habe. Darf ich mir Ihre Hand mal ansehen?“

Verflixt, selbst seine Stimme klang erotisch. Süß wie Schokolade. Julia spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und hoffte, er bemerkte nicht, wie rot sie wurde. Dieses eine Mal war sie dankbar für die dicke Schlammkruste auf ihrer Haut.

„Sind Sie verletzt? Oder schaffen Sie es bis ins Ziel?“

Julia betrachtete ihre linke Hand. Sie blutete nicht, aber die Finger waren definitiv geschwollen, und das unheilvolle schmerzhafte Pochen sagte ihr, dass hier eine unangenehme Überraschung auf sie wartete. Diagnose? Angebrochen, wenn nicht sogar gebrochen. Als leitende Ärztin eines Krankenhauses konnte sie das jetzt wirklich nicht gebrauchen.

„Keine Sorge. Ich bin Ärztin.“

„Keine Sorge. Ich bin Arzt.“

Julia musste lachen, weil sie gleichzeitig gesprochen hatten. Probehalber versuchte sie, die Finger zu bewegen. Autsch! Schlechte Idee.

Moment mal.

Ein Arzt? Soweit sie wusste, war sie die einzige Ärztin in St. Bryar. Kam er aus dem Nachbardorf? Das würde ja bedeuten, dass sie sich wiedersehen könnten. Schluss jetzt, Julia! rief sie sich zur Ordnung. Damit fangen wir gar nicht erst an. Männer gehören nicht zu deinem Karriereplan. Besonders kein Mann, der so süß ist, dass du ihn am liebsten anknabbern würdest …

„Wo arbeiten Sie denn?“

Wieder hatten sie gleichzeitig gesprochen. Diesmal lachten sie beide, wenn auch ein wenig nervös.

„In St. Bryar“, antwortete sie. Sein Blick wurde merklich kühler.

Hatte sie ihm etwa damals den Job vor der Nase weggeschnappt? Oder mochte er es nicht, wenn jemand von außerhalb in die kleine dörfliche Welt eindrang? Sie hatte sich hier eigentlich sehr willkommen gefühlt und fand es seltsam, dass er so reagierte.

„Kein Grund zur Sorge“, sagte sie und wand sich aus seinen Armen. „Ich werde mich im Ziel darum kümmern. Ich hatte sowieso keine Hoffnung auf eine Siegermedaille.“

„Eine Auszeichnung für besondere Verdienste wäre wohl eher angebracht. Es tut mir wirklich sehr leid. Wenden Sie sich auf jeden Fall an mich, falls es noch irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann.“ Unter dem Schlamm zeichnete sich sein Lächeln ab.

Julia schlüpfte unter seinem Arm durch und glitt zurück in den Graben. Sie fühlte sich wie betäubt. Matt hatte nach seinem Tod die Auszeichnung für besondere Verdienste erhalten. Die kleine runde Scheibe war ihr erst vor Kurzem zugestellt worden. Als könnte das etwas an der Tatsache ändern, dass ihr Mann tot war.

„Dann mal los!“, rief sie und unterdrückte ein Stöhnen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Hand, als sie wieder in die Seile griff. Es tat höllisch weh, aber ihre Gefühle, die unter der Oberfläche brodelten, trieben sie weiter voran. Matt war tot, und das hier war der Beginn ihres neuen Lebens. Das musste sie sich immer wieder sagen.

Ihre Reaktion auf den sexy Körper des anderen Arztes war etwas Neues für sie. Die letzten sieben Monate in St. Bryar hatten ihr immer wieder bewiesen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Es war lange überfällig gewesen, dass sie sich um ihre Karriere gekümmert hatte. Über die Jahre hatte sie immer wieder darauf gebrannt, ihre medizinischen Kenntnisse in der Praxis anzuwenden, während sie zu Hause „die Stellung hielt“, wie Matt es ausdrückte, wenn er sich wieder seine Reisetasche über die Schulter warf und sie zurückließ.

Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als sie ihre einhändige Rutschpartie zurück in den Graben begann. Oh ja, sie würde die Stellung halten. Selbst wenn sie jedes Wochenende zu so einer Spendenveranstaltung musste, um dem unbekannten zukünftigen Lord von Bryar Hall zu beweisen, dass das Krankenhaus sein Gewicht in Gold wert war.

Oliver ließ den Blick über die Menge schweifen und hoffte, dass er diese blauen Augen wiederfinden konnte, die unter der dicken Schlammschicht gefunkelt hatten und die er nicht vergessen konnte. Diese Frau, die neue Allgemeinmedizinerin am Krankenhaus von St. Bryar, hatte nicht nur rein körperlich Eindruck auf ihn gemacht. Sie hatte alle seine Sinne vereinnahmt und ihn völlig aus der Bahn geworfen. So etwas hatte er schon lange nicht mehr erlebt. In der Zeit, die er als freiwilliger Chirurg in Kriegsgebieten verbracht hatte, hatte er sich eigentlich angewöhnt, stets distanziert zu bleiben und seine Gefühle streng unter Kontrolle zu halten.

Bis jetzt.

Seit wann gab es diese neue Ärztin, die auf die verrückte Idee gekommen war, ein Hindernisrennen im Schlamm zu veranstalten? Wo war Doktor Carney geblieben? Carney, mittlerweile über sechzig, hatte die Klinik schon geleitet, als Oliver noch ein kleiner Junge gewesen war. Sein Vater hätte die Stelle doch nicht neu besetzt, ohne Oliver Bescheid zu sagen? Andererseits hätte er auch nicht gedacht, dass sein Vater dieses Hindernisrennen genehmigte.

„Lord Oliver! Schön, Sie zu sehen.“

Oliver drehte sich zu dem völlig schlammverkrusteten Mann um, der ihm die Hand entgegenstreckte.

„Hallo … ähm …?“

„Max Fend. Aus dem Dorf. Ich hab’ früher immer meinem Dad geholfen.“ Er hielt inne und wartete wohl darauf, dass Oliver ihn wiedererkannte. „Er kümmert sich auf Bryar Hall um das Feuerholz. Schon seit Ewigkeiten.“ Als Max auffiel, dass Oliver frisch geduscht war, zog er schnell die Hand zurück. „Ich sollte Sie besser nicht schmutzig machen, Lord Oliver.“

„Sei nicht albern, Max.“ Oliver lächelte, in der Hoffnung, dass er überspielen konnte, wie unsicher er sich fühlte. „Und bitte, sag doch Oliver zu mir.“ Er hasste es, wenn man ihn Lord Oliver nannte. Es geschah ihm nur recht, dass es gerade jetzt passiert war. Schließlich hatte er Max nicht wiedererkannt, den er fast jeden Tag gesehen hatte, als er ein Kind gewesen war. Es gefiel ihm nicht, dass er sich überhaupt nicht mehr auskannte.

Früher hatte er immer darauf zählen können, dass in Bryar Hall alles beim Alten blieb. Es war immer dasselbe: sein Titel, die furchtbaren Benimmregeln, das unnötige Katzbuckeln der Einwohner, deren Lebensumstände ja doch davon abhingen, was er mit dem Anwesen tun würde, wenn er es erbte. Sein ganzes Leben hatte er darauf verwendet, diesen strengen Regeln zu entkommen – und gerade hatte er genau die Rolle übernommen, die er immer so gefürchtet hatte. Der überhebliche Adlige.

Zehn Jahre, in denen ich einfach nur Doktor Ollie war, für die Katz!

„Doktor MacKenzie weiß wirklich, wie man eine Party schmeißt.“

„Ah, die neue Ärztin?“

Max nickte grinsend. Kein Wunder. Selbst unter all dem Schlamm konnte jeder erkennen, dass diese Frau eine Wucht war.

„Das Rennen war also ihre Idee?“

„Ja, Sir. Sie ist wie ein Wirbelwind über uns hereingebrochen und hat tausend Veränderungen mitgebracht. Manchmal erkenne ich St. Bryar kaum wieder.“ Oliver hätte erwartet, dass Max und alle anderen im Dorf auf so viele Veränderungen ungehalten reagiert hätten, aber Max grinste breit.

„Sie scheint die Leute hier ja regelrecht verhext zu haben.“ Oliver war sich selbst nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war.

„Oh, das hat sie, Lord Oliver. Das hat sie. Es war schon lange überfällig, dass hier mal jemand mit ein bisschen Begeisterung auftaucht und Schwung in den alten Laden bringt!“ Max schien kein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Natürlich nichts gegen Sie, Lord Oliver“, fügte er hastig hinzu. „Ich weiß ja, dass das Rote Kreuz sich auf Sie verlassen hat. Sie müssen wahre Wunder in den ganzen Kriegsgebieten geleistet haben.“

„Keine Sorge, ich bekomme schon nichts in den falschen Hals.“

Max lächelte. Er klopfte Oliver auf die Schulter. Für ihn war die Sache damit erledigt, aber seine Bemerkung hallte in Oliver nach. Man sah ihn hier nicht als eine Konstante an, und die Leute hatten ja recht damit. Er wollte sich nirgendwo niederlassen, und am allerwenigsten auf Bryar Hall, dem Anwesen, auf dem die Zeit stehen geblieben war.

Als sein Taxi vorgefahren war, hatte ihn die geschäftige Lebendigkeit vollkommen überrascht, die jetzt hier herrschte. Er hatte kaum Zeit zum Nachdenken gehabt, bevor auch schon sein innerer Lausbub die Kontrolle übernommen hatte. Er war in Sporthosen und ein altes T-Shirt geschlüpft und hatte sich unter die Leute gemischt – endlich als der Oliver, der er immer hatte sein wollen.

Als Kind hatte er immer davon geträumt, im alten Befestigungsgraben des Herrenhauses die verrücktesten Sachen anzustellen. Jetzt wurde sein Traum wahr, und das alles nur dank dieser wunderschönen Frau, die sich nicht zu schade war, ihre Fingernägel bei einem Hindernislauf im Schlamm zu ruinieren. Fantastisch! Als er sie vorhin an sich gezogen hatte, hatte es sich wie die natürlichste Sache auf der Welt angefühlt.

Und er hatte sein Glück mit Füßen getreten – wortwörtlich. Das war die Chance, auf die er sein ganzes Leben gewartet hatte, und er verletzte die Frau, die ihm das ermöglicht hatte. Das war ja mal wieder typisch.

Wenn jemand vom Gemeindeblatt davon Wind bekam, dass er der neuen Ärztin die Finger gebrochen hatte – was würde das für einen Skandal geben!

Er lachte kurz auf, aber dann wurde er wieder ernst. War sie wirklich fit genug gewesen, weiterzumachen? Er hätte darauf bestehen sollen, ihr von dem Netz herunterzuhelfen.

Sein erstes Treffen mit der neuen Ärztin mitten im Schlamm war ein Omen dafür, wie diese Geschichte weiter verlaufen würde: chaotisch, gefühlvoll und voller unerwarteter emotionaler Rutschpartien. Genau das, was er vermeiden wollte.

Diese Reise hatte er eigentlich nur seinem Vater zuliebe unternommen, der sich geschworen hatte, mit siebzig seine Verwalterpflichten an den Nagel zu hängen, um noch einmal etwas von der Welt zu sehen. Das war nur fair, aber Oliver hatte davor gegraut.

Sein Vater hatte ihm deutlich erklärt, dass Bryar Hall nun Oliver gehörte und er damit tun konnte, was er wollte. Natürlich wäre es dem alten Herrn lieb, wenn das Anwesen im Familienbesitz bliebe, aber letztlich lag die Entscheidung bei Oliver.

Der siebzigste Geburtstag seines Vaters war schon in ein paar Monaten, und Oliver konnte das Unvermeidliche nicht mehr länger hinauszögern. Als er die Tickets für die Reise gekauft hatte, hatte es sich angefühlt, als würde er seinen eigenen Hinrichtungsbefehl unterschreiben.

Stattdessen hatten ihn die Veränderungen hier vollkommen aus der Bahn geworfen. Das verträumte alte Dörfchen, Überbleibsel der Vergangenheit, sprühte plötzlich vor Leben. So eine Energie hatte der Ort schon lange nötig gehabt, seit …

„Oliver! Komm doch bitte hier herüber.“

Oliver lächelte seinem Vater zu, der ihn zu einem mit bunten Wimpeln geschmückten Tisch winkte. Mit seinem Gehstock, dem gepflegten grauen Oberlippenbart und dem eleganten Tagesanzug war er jeder Zoll ein Gentleman. Oliver würde in diese Rolle niemals so gut passen wie er.

In den zehn Monaten, die seit dem Tod seiner Mutter vergangen waren, war sein Vater um Jahre gealtert. Jetzt bereute er es plötzlich, dass er im letzten Jahr nicht mehr Zeit mit seinem Vater verbracht hatte. Sie hatten zwar jede Woche telefoniert, aber das war einfach nicht dasselbe. Er hätte für ihn da sein müssen – er hätte hier in St. Bryar sein müssen.

Wie sollte er jemals in die Fußstapfen seines Vaters treten, wenn die Reihe an ihm war? Allein der Gedanke an den Titel „Duke of Breckonshire“ trieb Olivers Adrenalinspiegel in die Höhe. Normalerweise kannte er diesen Adrenalinschub nur von der Arbeit in Krisengebieten.

Er liebte seinen Beruf. Er war gerne einfach nur ein namenloser Arzt mit einem roten Kreuz auf dem Rücken statt „Mylord“. Ob Südsudan oder Syrien, in den Stützpunkten war er immer nur einer von vielen gewesen. Er war Doktor Ollie, in abgetragenen Jeans, bedeckt mit rotem Staub, rund um die Uhr im Dienst.

„Oliver! Ich möchte dir gerne jemanden vorstellen.“ Sein Vater winkte ihn herüber zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die um den Tisch standen, auf dem die Ansteckbänder für die Sieger sowie der erste Preis, eine Trophäe in der Form von Bryar Hall, lagen. Er wusste, wen sein Vater meinte, bevor sie sich auch nur zu ihm umgedreht hatte. Er hatte sie nicht lange im Arm gehalten, aber er würde sich immer daran erinnern, wie sich ihre Hüften unter seinen Fingern angefühlt hatten.

„Doktor Julia MacKenzie, darf ich Ihnen meinen Sohn Oliver vorstellen? Er ist ebenfalls Arzt, wissen Sie.“

„Wir hatten bereits das Vergnügen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und schaute ihr fest in die Augen. Zwischen ihnen knisterte es gewaltig, und er war sich nicht sicher, ob das die Anziehungskraft oder das Potenzial für einen Streit war. Erkannte sie ihn ohne die Schlammkruste überhaupt wieder?

„Ich würde Ihnen ja die Hand schütteln“, sagte sie und hob die Augenbrauen. „Aber …“

Er zuckte zusammen, als Julia mit der gesunden rechten Hand die linke nach oben hob. Sie hatte sie gewaschen und verbunden, aber die Finger waren eindeutig stark angeschwollen.

So viel dazu.

„Es tut mir sehr leid. Ich hoffe, wir können trotzdem miteinander auf gutem Fuß stehen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das noch immer feuchte Haar, aber am liebsten hätte er sich die Hand vor die Stirn geschlagen. Geht es noch geschmackloser? Bring das wieder in Ordnung, du Idiot!

„Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten, was Sie von den Schmerzen ablenkt? Einen Scone vielleicht?“ Verflixt. Weltmännischer Charme hatte noch nie zu seinen Stärken gehört. Panisch ließ er den Blick noch einmal übers Büffet wandern. „Oder ein Stück Schokoladenkuchen?“

„Nein danke.“ Ihre Mundwinkel zuckten, als müsste sie ein Grinsen unterdrücken. „Ich habe schon genug von Margarets Ingwerplätzchen gehabt, als wir die ganze Veranstaltung aufgebaut haben, Doktor Wyatt. Oder ist Ihnen Lord Oliver lieber?“

„Einfach nur Oliver, bitte.“ Sie lächelte, aber er presste die Lippen zusammen. Dieses Spielchen wollte sie also spielen? Das war altbekanntes Gebiet für ihn. Eine einzige schlecht gewählte Redewendung, und schon hatte sie ihn als das unsensible Adelssöhnchen abgestempelt.

„Sie stecken also hinter diesem ganzen Rummel? Ist nett geworden. ‚Der große Freizeitspaß auf Bryar Hall‘ hieß es doch, richtig?“, bemerkte er.

„Ich bin ja so froh, dass Sie es nett finden“, erwiderte sie mit einem kühlen Lächeln.

Er bemerkte, wie Julias Blick zu dem großen gläsernen Behälter auf dem Tisch mit den Preisen huschte. Er war bis oben hin vollgestopft mit Scheinen und Münzen. „Kohle fürs Krankenhaus!“ stand auf einem Zettel, den jemand daran aufgehängt hatte.

Na klasse. Es war eine Spendenaktion gewesen – und er hatte sich gerade darüber lustig gemacht. Komm schon, Oliver, sagte er sich. Sei nicht so kleinlich! Offensichtlich war ihr gelungen, was er niemals für möglich gehalten hatte.

„Ich finde es sogar mehr als nett. Es ist eine schöne Abwechslung, wie sich alle amüsieren und wie viel Trubel hier plötzlich herrscht.“

Ihr Lächeln wurde wärmer. Gut. Er fand es hier vielleicht schrecklich, aber er musste ihr ja nicht gleich den Wind aus den Segeln nehmen. Es war sicher kein Kinderspiel gewesen, diese Veranstaltung zu organisieren.

„Ihr Vater war uns bei der Organisation eine große Hilfe und hat uns unterstützt“, fuhr sie fort und strahlte seinen Vater an.

Oliver konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

„Es war einfach wundervoll, Oliver!“, erklärte sein Vater. Offensichtlich war er erfreut darüber, wie glatt alles gelaufen war. „Weißt du, früher war der Befestigungsgraben um unser Anwesen nur dafür da, damit die Reiher sich die fettesten Goldfischer herauspicken konnten. Aber Doktor MacKenzie scheint einen unerschöpflichen Vorrat an Ideen zu haben, wie wir wieder Leben in dieses alte Dörfchen bringen.“

Julia schenkte ihm ein Lächeln, das ihre Grübchen zum Vorschein brachte. „Vielleicht würden Sie ja gerne für das Krankenhaus spenden, das schon so lange zum Anwesen gehört? Ohne Ihre Spende muss ich nämlich bis nach Manchester fahren, damit meine Hand geröntgt werden kann.“

Jetzt konnte er sie endlich besser einschätzen: Sie redete nicht um den heißen Brei herum.

Es war kein Geheimnis, dass Oliver sich nicht allzu viel aus dem Bryar-Anwesen machte. Dass er es jetzt bald erben sollte, beschäftigte beinahe jeden im Dorf. Die Zukunft eines so kleinen Ortes stand und fiel damit, wie er mit seinem Erbe umging. Er spürte, wie Julia ihn unverhohlen musterte.

„Da kann ich Ihnen etwas Besseres bieten“, entgegnete er. „Wie wäre es mit einer ärztlichen Untersuchung frei Haus?“

„Sehr großzügig von Ihnen. Aber ich bin durchaus selbst in der Lage, meine Verletzung zu untersuchen.“ Sie spitzte die Lippen, als warte sie nur auf seine Erwiderung.

Oder auf einen Kuss.

Das war natürlich Unsinn, aber der Gedanke daran gefiel ihm. Er verdrängte ihn hastig, denn schließlich hörte sein Vater zu.

Sie wollte also eine Auseinandersetzung? Bitte, die konnte sie gerne haben.

„Sie können sich ja wohl schlecht selbst röntgen. Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, dass Sie es mir erlauben, meinen Fehler wiedergutzumachen.“

„Das Krankenhaus wird sich die Röntgenuntersuchung nicht leisten können, wenn Sie nichts spenden.“ Zuckersüß lächelte sie ihn an.

Ein Punkt für sie. Sie war gut in diesem Spiel, sehr gut.

Sie war außerdem so attraktiv, dass es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Sie hatte nichts mit den stets adrett gekleideten Erbinnen gemeinsam, die seine Mutter ihm gern vorgestellt hatte, sondern wirkte viel natürlicher. Ihre helle Haut hatte kein bisschen Make-up nötig. So wie es aussah, war sie eine klassische englische Schönheit mit einem feurigen Temperament. Unter anderen Umständen hätte er …

Aber nein, es hatte keinen Sinn, sich das auszumalen. Die Umstände waren eben, wie sie waren.

„Ich werde dafür aufkommen. Wir sehen uns im Krankenhaus, so gegen drei?“ Ihr Gespräch war damit quasi beendet, und Oliver erlaubte sich ein letztes Mal einen ausführlichen Blick auf sie. Es gab keinen Zweifel: Julia McKenzie sah bereits in verdreckter Sportkleidung hinreißend aus. Er fragte sich, wie er sie erst in sauberem Zustand finden würde.

Dafür müsste sie lange und ausgiebig duschen, mit ganz viel Schaum … Schluss jetzt!

Sie schaute auf die Uhr, die unter dem Dachgiebel des Stalls angebracht war. Es war kurz nach zwei. „Von mir aus.“

Sie sah so unglücklich aus, wie er sich fühlte. Sie waren anscheinend wie füreinander gemacht.

„Also, dann. Abgemacht.“

2. KAPITEL

Wenn Julias Hand nicht so wehgetan hätte, dann hätte sie ihr Haar so lange einschamponiert, bis die Erinnerung an diesen nervtötenden Mann gleich mit weggespült worden wäre.

So konnte sie sich jedoch nur kurz abduschen und sich ein wenig frisch machen, bevor sie sich im Untersuchungsraum des Krankenhauses mit Doktor Oliver Wyatt traf. Sie zog ihre saphirblaue Bluse mit dem vorteilhaften Ausschnitt an, die ihre Augenfarbe betonte. Natürlich nicht, um sich für ihn herauszuputzen.

Höchstens ein bisschen.

Wer hätte ahnen können, dass Oliver Wyatt so gut aussah? Wenn sie dem Buschfunk im Dorf Glauben schenken durfte, hätte er eher Ähnlichkeit mit den Wasserspeiern über dem steinernen Tor des Anwesens haben sollen.

Stattdessen waren ihr beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen, so wie sie ihn angestarrt hatte. Das passte ihr gar nicht. Olivers Anwesenheit in St. Bryar brachte das schöne ruhige Leben durcheinander, dass sie sich hier aufgebaut hatte.

Andererseits hatte auch dieses ruhige Leben auf tönernen Füßen gestanden. Wer wusste schon, wie lange sich das Krankenhaus noch halten konnte? Der Duke of Breckonshire hatte unmissverständlich klargemacht, dass sein Sohn die Zügel in die Hand nehmen würde, sobald er zurückkam.

Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, dann brauchte das Krankenhaus St. Bryar dringend ein paar Renovierungsmaßnahmen. Trotzdem war es dank der Hilfe einer Schwadron von Freiwilligen die einzige medizinische Versorgung, die den Einwohnern von St. Bryar rund um die Uhr zur Verfügung stand.

Es gab etwa vierzig Minuten Autofahrt entfernt ein Krankenhaus des National Health Service, aber man musste Glück haben und durfte nicht hinter einem Traktor im Verkehr feststecken. Ein Helikopter war die einzige Möglichkeit, im Notfall einen Patienten in ein richtiges Krankenhaus zu bringen, und nach den letzten Budgetkürzungen der Regierung fürchtete Julia, dass auch das bald nicht mehr möglich sein würde. Sie hatte im Internet nach Fördergeldern gesucht und bereits einen ganzen Stapel von Anträgen ausgedruckt.

Sie zog einen Rock an und strich mit ihrer unverletzten Hand den Stoff der weit fallenden Bluse glatt. Ihr Herz klopfte laut vor Nervosität, aber sie riss sich zusammen. Sie hatte keinen Grund, nervös zu sein! Entschlossen reckte sie das Kinn vor, schnappte ihren Haustürschlüssel und machte sich auf den Weg zum Krankenhaus. Hoffentlich würde ihr der kleine Spaziergang helfen, sich zu sammeln.

Julia hatte ihren neuen Job erst vor sieben Monaten angetreten, aber sie hatte schon ihr Herz daran gehängt. Unter keinen Umständen würde sie zulassen, dass Mr. Was-steckt-hinter-meinen-rätselhaften-grünen-Augen in einem Anfall von Reiselust all ihre Träume zerstörte. Es schien ihn nie lange an einem Ort zu halten. Südsudan, Kongo, Libyen – wo war er im letzten Jahr noch überall gewesen? Er hatte den Menschen dort geholfen – aber was war mit den Menschen hier in St. Bryar? Sie hatte hier ganz alleine für alles gesorgt und fühlte sich im Stich gelassen.

„Jemand zu Hause?“

Julias Herz schlug schneller, als sie Olivers Stimme erkannte.

Lass dich nicht von ihm durcheinanderbringen! sagte sie sich. Streng dich an. Du wirst ihn mit kalter Höflichkeit in seine Schranken weisen.

„Komme schon!“, rief Julia in den Flur und legte den Netzschalter um, der die Stromzufuhr zum Röntgenraum regelte. Sie nahm sich vor, Oliver mit einem einnehmenden Lächeln zu begrüßen.

Doch sie musste nur einen Blick auf ihn werfen, und ihre guten Vorsätze waren verflogen. Er schaute sich gerade im schäbigen Empfangsraum um. Ihr war es egal, wie abgewetzt der avocadogrüne Teppich aussah – sie liebte dieses alte Gemäuer.

„Die Bude braucht mal wieder einen neuen Anstrich, was? Hier sieht es immer noch genauso aus wie früher, als ich ein kleiner Junge war.“

Julia konnte nur hoffen, dass der Blick, mit dem sie Olivers süffisantem Grinsen begegnete, genauso eiskalt war, wie sie es geplant hatte. In Wahrheit war sie sich sicher, dass er erkannte, wie verunsichert sie war. Zum Glück konnte er nicht auch noch spüren, wie ihr Herz schneller schlug. Sofort aufhören! Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.

Oliver war die Art von Naturbursche, für die sie immer schon eine Schwäche gehabt hatte. Matt war ebenfalls durchtrainiert gewesen, ein richtiger Vorzeigesoldat. Aber die Macht, mit der sie sich zu Oliver hingezogen fühlte, war fast schon animalisch. Ohne Zweifel war er der einzige Mann, an dem eine Brille mit dünnem Drahtgestell, wie er sie trug, gut aussah. Sie ließ ihn gebildet wirken und passte gut zu seinem pechschwarzen Haar, das sich im Nacken zu kringeln begann. Die Tweedjacke saß perfekt über seinen Schultern und ließ seinen schlanken Körperbau erahnen. Seine langen, eleganten Finger sahen nicht so aus, als würde er harte Arbeit scheuen. Alles in allem wirkte er kein bisschen wie der adlige Erbe, der einfach so in den Tag hinein lebte.

Zu schade.

Es wäre ihr lieber gewesen, er wäre ein blasses, schmieriges und eingebildetes Adelssöhnchen. Dann wäre sie nicht so abgelenkt. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlug den Weg zum Röntgenzimmer ein. Sie kam hier nicht weiter, wenn sie ihn nur anstarrte.

Sei tapfer, Julia!

„Wo Sie das gerade erwähnen, Sie haben recht“, sagte sie „Das Krankenhaus ist so gut besucht, dass ein renovierter Eingangsbereich eine große Freude für die Patienten wäre.“

„Haben Sie heute genug Spenden eingenommen, um das zu finanzieren?“

Anscheinend versteckte er hinter seinem guten Aussehen nur seine Kaltblütigkeit. Nun, dieses Spielchen konnte sie auch spielen.

„Ich denke doch.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Obwohl die Spenden, die wir heute gesammelt haben, wahrscheinlich besser in die medizinische Ausrüstung fließen sollten.“ Nimm das!

„Eine gute Entscheidung. Die Leute hier mögen Veränderungen nicht besonders.“

Julia wagte es nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen. Wollte er sie damit bevormunden oder ihr ein Kompliment machen? Vielleicht steckte aber auch etwas anderes dahinter. Schließlich hatte er seine Kindheit hier verbracht. Es musste einen guten Grund dafür geben, dass er dieses wunderschöne Fleckchen Erde jetzt mied wie der Teufel das Weihwasser.

„Hier hat sich aber einiges verändert. Waren das früher nicht Untersuchungszimmer?“

„Ja, das waren sie. Früher“, betonte sie extra. Er sollte wissen, was sie davon hielt, dass er sich ebenso wie die anderen Einwohner des Dorfes gegen jede Veränderung zu sträuben schien. „Eines habe ich aber zu einem … nun ja …“ Es fiel ihr schwer, die richtige Bezeichnung zu finden.

„Doktor MacKenzie? Sind Sie das?“

Julia war froh, dass sie auf diesen Ruf hin in den Palliativraum schlüpfen konnte. „Hallo, Doktor Carney. Alles in Ordnung?“

„Aber ja, meine Liebe. Ich habe mich nur gefragt, wie Ihr Tag im Schlamm gelaufen ist.“

Das Eis um Julias Herz schmolz dahin. Sie legte eine Hand auf Doktor Carneys Unterarm und fühlte unauffällig seinen Puls. Doktor Carney war ein herzensguter Mann und einer der Gründe dafür, warum Julia so fleißig Spenden sammelte. Wäre sein Bauchspeicheldrüsenkrebs nicht im letzten Stadium, dann hätte er dem Hindernislauf bestimmt beigewohnt und sie angefeuert. Aber da die Dinge nun mal so lagen, hatte sie mit dem Duke eine heimliche Abmachung getroffen, dass sie sich um den alten Junggesellen kümmerte.

Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sie dem Duke hatte schwören müssen, weder Doktor Carney noch Oliver jemals etwas von den finanziellen Zuwendungen zu erzählen, die er dem Krankenhaus leistete. Auch die Finanzen des Dukes waren nicht unerschöpflich, aber im Moment war er ihr eine große Hilfe.

„Doktor Carney? Ich bin es, Oliver.“

Julia erstarrte, als Oliver hinter ihr ins Zimmer kam, aber sie entspannte sich wieder, als sie sah, wie freudig Doktor Carney lächelte.

„Na, wenn das nicht der kleine Wirbelwind Ollie ist!“

Oliver schnitt eine peinlich berührte Grimasse. Das versprach noch lustig zu werden!

„Ein kleiner Wirbelwind, hm?“ Julia grinste schadenfroh. „Tun Sie sich keinen Zwang an, ich will alles darüber wissen!“

Als der kränkliche alte Mann jedoch Anstalten machte, sich aufzurichten, eilte sie an seine Seite. Dann fiel ihr wieder ein, dass ihr momentan ja nur eine gesunde Hand zur Verfügung stand.

„Kleiner Wirbelwind? Könnten Sie bitte mit anpacken?“

Olivers Gesicht zeigte keine Regung. War sie zu weit gegangen?

„Aber gerne doch, liebes Sumpfmonster.“

Sie atmete erleichtert auf. Also verstand er wohl doch Spaß. Oder hatte sie etwa beim Duschen ein paar Schlammreste übersehen? Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.

Gemeinsam halfen sie Doktor Carney in eine aufrechte Position. Julia wurde nachdenklich. Was genau wusste sie eigentlich über Oliver? Er war Unfallchirurg und hatte seinen Facharzt an einem städtischen Krankenhaus gemacht. Anscheinend konnte er gar nicht weit genug von St. Bryar wegkommen, denn in seiner Zeit beim Roten Kreuz war er von Krisengebiet zu Krisengebiet gereist.

Aber sie hatte auch durch den ganzen Klatsch und Tratsch nicht erfahren können, was ihn wirklich bewegte. Nun, dann musste sie wohl selbst Nachforschungen anstellen.

„Warum bist du zurückgekehrt aus … Afrika war es doch, oder?“

Hervorragend. Doktor Carney hatte die Frage gestellt, die sie so brennend interessierte.

„Mein Vater hat einen Sparringpartner im Schach gebraucht“, scherzte Oliver. Julia konnte heraushören, wie viel ihm seine Familie bedeutete.

„Das ist anständig von dir, Junge“, sagte Doktor Carney und tätschelte Olivers Hand. „Man darf die alten Leute nicht einfach sich selbst überlassen, man muss sie in …“

„In Schach halten“, ergänzte Oliver lächelnd, offensichtlich nicht zum ersten Mal. Er setzte sich auf Doktor Carneys Bett und ergriff seine Hand. Julia trat einen Schritt zur Seite. „Ist das eine Herausforderung?“

„Natürlich, Ollie. Aber an deiner Stelle würde ich unser Treffen dafür recht bald einplanen.“

Oliver warf Julia einen fragenden Blick zu. Er wusste genauso gut wie sie, was Doktor Carney damit sagen wollte: Er hatte nicht mehr lange zu leben. Das letzte Mal, als sie mit ihm den langen Weg zum Krankenhaus in Manchester auf sich genommen hatte, war die Prognose niederschmetternd gewesen: noch etwa drei Monate. Das war jetzt einen Monat her. Für Oliver waren das bestimmt keine guten Neuigkeiten.

„Ich verspreche es, Doktor Carney. Schließlich muss ich ja meinem alten Lehrer zeigen, wie gut ich inzwischen geworden bin!“

„Da bin ich ja mal gespannt!“

Jeder konnte erkennen, wie nah die beiden Männer einander standen. Julia war zutiefst betrübt und wütend über Doktor Carneys Krankheit, aber sie hoffte, dass Oliver nun wenigstens begreifen würde, wie wichtig es ihr war, hier eine Palliativstation einzurichten.

Erst jetzt traf es sie wie ein Hammerschlag, was es eigentlich bedeutete, dass Oliver hier war. Dieser Mann würde über ihrer aller Zukunft entscheiden. Wie auch immer er mit seinem Erbe umging, seine Entscheidung würde sich direkt auf das Krankenhaus auswirken. Der jetzige Duke hatte deutlich gesagt, dass die Finanzierung des Krankenhauses in Olivers Ermessen lag, sobald er die Verantwortung übernommen hatte. Sie würde ihre Anstrengungen verdoppeln müssen, damit die Klinik unabhängig von seiner finanziellen Unterstützung existieren konnte.

„Also gut.“ Olivers Stimme unterbrach ihre Gedanken. „Sollen wir Sie dann mal röntgen?“

„Das wäre wohl am besten.“ Sie legte Doktor Carney eine Hand auf die Schulter. „Sie liegen bequem? Brauchen Sie noch irgendetwas?“

„Nein, meine Liebe. Sie sind alles, was ich brauche.“

Julia schluckte. Sie würde Doktor Carney einen würdigen Abschied bereiten, und dann würde sie sein Werk fortführen und dieses Krankenhaus auf Vordermann bringen. Dazu war sie fest entschlossen.

In Olivers Kopf drehte sich alles. Er hatte nicht damit gerechnet, seinen Mentor in einem Hospizzimmer wiederzusehen. Doktor Carney war seit Olivers Jugendjahren sein großes Vorbild gewesen und hatte zwei Generationen von Wyatts medizinisch betreut. Der freundliche Arzt hatte sich um Olivers sterbende Mutter gekümmert, als diese mit ihrer Lungenentzündung gekämpft hatte. Wie hatte es so weit kommen können? Er wusste, dass er die jetzige Situation selbst zu verantworten hatte. Das war der Preis, den er für sein Leben im Ausland bezahlte: Eine völlig Fremde kümmerte sich um seinen alten Mentor.

Er schaute zu Julia, deren weizenblonder Zopf hinter ihr schaukelte, während sie zum Röntgenraum am anderen Ende des Gebäudes gingen. Ihm wurde langsam klar, was für einen unheimlichen Einfluss diese Frau nicht nur auf ihn, sondern auf das ganze Dorf ausübte. Es klang zwar ein wenig albern, aber sie holte offenbar aus jedem das Beste heraus. Das war in diesem alten Dorf, das in der Vergangenheit festzustecken schien, schon eine große Leistung.

Es würde ihm schwerer fallen als gedacht, seine Distanz zu ihr zu wahren. Aber in seiner Zeit bei der Armee hatte er schon alles gesehen. Beim Anblick der langen Schlangen vor den Ärztezelten in den Flüchtlingslagern hatte er lernen müssen, seine Gefühle zu unterdrücken. Jetzt musste er sich auch Doktor Julia MacKenzie gegenüber kühl und beherrscht verhalten.

Doch als er Julia sah, die sich über den Röntgentisch beugte, verschlug es ihm die Sprache. Ihr blondes, noch feuchtes Haar fiel ihr über die Schultern nach vorne und lenkte die Aufmerksamkeit weiter nach unten auf den Ausschnitt ihres Tops. Erst als sie ihn unter den Ponyfransen hervor mit funkelnden Augen ansah, konnte er den Blick wieder abwenden. Sie brachte ihn völlig aus dem Konzept. Es war schon ewig her, dass er so intensiv auf jemanden reagiert hatte. Da half es auch nicht, dass sie erst vor einer guten Stunde schlammverschmiert und Brust an Brust dagestanden hatten.

Am liebsten hätte er sie auf den Tisch gesetzt, die Hände in ihrem Haar vergraben und sie ausgiebig geküsst. Ruhe bewahren, Oliver!

„Also gut, dann gucken wir uns das mal an.“ Oliver zwang sich, auf Julias Hand zu schauen. Sein Blick wanderte ihren schlanken Arm nach oben, zu ihrer hellen Schulter, die unter dem Baumwollstoff hervorlugte …

Genug jetzt!

„Dann wollen wir mal.“

Oliver und Julia schwiegen, bis er die Röntgenfolie unter ihrer Hand hervorzog und sie in den beleuchteten Kasten klemmte, um die Ergebnisse zu betrachten.

„Ich hoffe, Sie sind keine Linkshänderin.“

Er versuchte nicht einmal, optimistisch zu klingen. Ihr Ringfinger und der kleine Finger waren eindeutig gebrochen. Es entging ihm nicht, dass sie keinen Ehering trug. „Wir sollten Ihre Hand besser in einen Verband packen.“

„Keine Sorge“, sagte Julia missmutig. „Ich kann die Finger selbst zusammentapen und schienen. Ich will so beweglich wie möglich bleiben, und einen Gips kann ich da nicht gebrauchen.“

„Dann ist Ihnen hoffentlich klar“, bemerkte Oliver, „dass Sie damit direkt gegen die Anweisungen Ihres behandelnden Arztes verstoßen.“

„Das sagt der Richtige. Schließlich hat mich mein behandelnder Arzt überhaupt erst so zugerichtet.“ Julia blieb nur mit Mühe so ruhig.

„Wollen Sie sich etwa selbst anästhetisieren und dann die Knochen wieder richten?“

Julia warf einen Blick auf das Röntgenbild. Es wäre durchaus machbar. Vielleicht nicht gerade empfehlenswert, aber machbar. Besonders, wenn sie wollte, dass der unhöfliche Oger von St. Bryar seine Pranken von ihr ließ. Auch wenn er für einen Oger sehr attraktiv ist …

„Das war der Plan. Sie haben bestimmt genug zu tun, auch ohne mich verarzten zu müssen.“

„Von mir aus.“ Er wandte sich ab und marschierte hinaus, doch im Türrahmen blieb er noch einmal stehen. „Morgen komme ich wieder. Sie werden Hilfe brauchen.“

„Ich krieg das schon hin, danke. Ihre Hilfe ist nicht nötig“, rief sie ihm hinterher.

Julia atmete tief durch und zählte bis zehn, bevor sie zum Vorratsschrank marschierte und auf der Suche nach dem Tape darin herumwühlte. Wie konnte er es wagen, sich ihr und ihrem Krankenhaus einfach aufzudrängen?

Gut, technisch gesehen war es sein Krankenhaus auf seinem Grund und Boden. Aber wenn man davon absah, dann war sie schließlich die Verantwortliche, und sie würde nicht zulassen, dass er sich in alles einmischte und ihre hart erkämpften Fortschritte wieder rückgängig machte!

Julia atmete tief durch. Sie würde ihm schon zeigen, wie man ein Krankenhaus leitete – ein Krankenhaus, das für das Überleben eines ganzen Dorfes notwendig war. Nur weil er in seiner schusssicheren Weste um die Welt jettete und als gut aussehender Wohltäter auftrat, hieß das noch lange nicht, dass es Zeitverschwendung war, den Leuten hier in diesem schönen Dorf zu helfen. Ganz im Gegenteil! Sie hatte sich für diesen Job entschieden, und er war genauso wichtig wie Olivers Einsatz in Krisengebieten.

Sie lehnte die Stirn gegen ein Regalbrett und versuchte, die wilden Wirbel ihrer Gedanken zu beruhigen. Machte Oliver ihr so zu schaffen? Oder waren es ihre Schuldgefühle wegen Matt?

Matt. Ihr Ehemann. Der Soldat. Der absolut treue und verlässliche Matt, mit dem sie schon seit Grundschulzeiten befreundet gewesen war. Sie hatte gelernt, sich mit der nagenden Enttäuschung abzufinden, wenn er wieder einmal verkündete, dass sie umziehen würden und sie ihre Karrierepläne leider hintanstellen musste. Es gab immer „ein dringenderes Problem auf der Welt“, um das er sich kümmern musste. Und wer konnte das schon bestreiten?

Aber genau über dieses Thema hatten sich Julia und Matt bei ihrem letzten Gespräch noch gestritten. Sie hatte ihm an den Kopf geworfen, dass sie die Nase voll davon hatte, ständig Sack und Pack durch die Gegend zu schleppen und zum x-ten Mal auf ihre Karrierechancen zu verzichten. Sie hatte immer schon als niedergelassene Ärztin arbeiten wollen – und nun hatte sie bekommen, was sie sich gewünscht hatte. Aber zu welchem Preis?

Julia schluckte. Sie hatte sich schon tausendmal den Kopf darüber zerbrochen. Matt hätte sich für sie gefreut. Er hätte sie dabei unterstützt, dass sie tat, was sie liebte.

Sie machte sich wieder auf die Suche nach Verbandsmaterial. Endlich fand sie eine Rolle Tape – ein örtlicher Fußballverein hatte sie gespendet.

„Schön, Sie mal lächeln zu sehen.“

Als sie Olivers Stimme hörte, zuckte Julia zusammen.

„Oh! Ich dachte, Sie wären schon weg.“

„Ich bin noch mal zurückgekommen. Ich fürchte, ich war im Umgang mit meiner Patientin nicht gerade einfühlsam.“ Er legte den Kopf schief und grinste sie an.

Ha! Er ist also doch nicht perfekt!

Julia kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Möglicherweise“, räumte sie schließlich ein, „sind Sie an eine besonders sture Patientin geraten.“

„Stur? Sie doch nicht.“ Olivers Grinsen wurde noch breiter. Er griff nach dem Tape und der Schiene. „Darf ich?“

Julia war klar, dass es am besten war, Oliver das machen zu lassen. Sie war jung und hatte keine Lust, sich jetzt schon über eine Arthritis Gedanken machen zu müssen.

„In Ordnung, Sie haben gewonnen.“ Sie führte ihn in das Untersuchungszimmer am Ende des Flurs. Und das hatte sicher nichts damit zu tun, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie in dem winzigen Vorratsschrank so eng beieinanderstanden.

Oliver nahm Julias Hand. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie schmal und feingliedrig ihre Finger waren. Perfekt für eine Chirurgin – aber dann wäre ihre Verletzung noch schlimmer gewesen.

„Wollten Sie nie etwas anderes werden als eine Landärztin?“

Julia blitzte ihn an, und ihm wurde klar, wie er gerade geklungen hatte. Seine Mutter hatte immer schon versucht, ihm seine besserwisserische Art auszutreiben.

Oliver ruderte rasch zurück. „Entschuldigung, ich habe mich im Tonfall vergriffen. Ich wollte nur wissen … Sind Sie glücklich in Ihrem Job?“

„Absolut.“ Sie schaute ihn herausfordernd an. Doch dann lehnte sie sich zurück und dachte offensichtlich nach. „Natürlich ist die Belastung nichts im Vergleich zu Ihrer Arbeit“, fuhr sie fort. „Aber ich liebe es. Wissen Sie, meine Eltern waren im diplomatischen Außendienst. Später habe ich einen Soldaten geheiratet. Ich glaube, ich habe nie irgendwo länger als ein paar Jahre gewohnt.“ Sie zog einen Schmollmund.

Wie kam es nur, dass ihre Lippen so rot waren, ganz ohne Lippenstift? Es lenkte ihn fürchterlich ab. Er dachte lieber darüber nach, was sie gerade erzählt hatte.

„Sie sind verheiratet?“ Er versuchte sich im Small Talk, auch wenn er bereits bemerkt hatte, dass sie keinen Ehering trug.

„Mein Mann ist gestorben.“ Sie schluckte. „Vor knapp anderthalb Jahren.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Das Risiko bestand immer.“ Sie klang erstaunlich ruhig. Oliver unterbrach seine Arbeit mit der Schiene und schaute Julia in die Augen.

„Die Arbeit beim Militär ist gefährlich“, sagte sie ohne Verbitterung. „Aber die Kinder trösten mich wenigstens.“

Olivers Augenbrauen schossen in die Höhe. „Sie haben Kinder?“

„Ja. Zwei.“

„Waren sie heute beim Rennen dabei? Ich kann mir vorstellen, dass ein aufregender Tag im Schlamm für die meisten Kinder genau das Richtige ist.“ Kinder? Damit war sie ja wirklich früh dran. Sie sah keinen Tag älter aus als dreißig.

„Da haben sie nicht unrecht!“ Sie lachte, und ihre Augen leuchteten wieder, als sie weitererzählte. „Den beiden gefällt es hier, sie fühlen sich sehr wohl. Aber ihre Schule in Manchester veranstaltet dieses Wochenende einen Ausflug, komplett mit einem Musicalbesuch im West End.“

„Die St.-Bryar-Grundschule ist wohl nicht gut genug?“ Er hatte die Frage ausgesprochen, ohne wirklich darüber nachzudenken. Oliver war selbst nicht auf die Grundschule im Dorf gegangen, also warum machte ihm das jetzt so viel aus?

„So ist das nicht. Das verstehen Sie ganz falsch!“, erwiderte Julia auf seinen Protest. „Meine Zwillinge – sie sind beide dreizehn – gehen aufs Konservatorium in Manchester. Ich weiß nicht, woher sie das haben, aber sie sind unglaublich talentierte Musiker. Henry spielt Cello, und Ella spielt Geige.“

Oliver versuchte verzweifelt, alle Puzzlestücke zusammenzusetzen. Sie war die Witwe eines Soldaten, eine ausgebildete Allgemeinärztin, und ihre Kinder gingen eine gute Stunde entfernt auf ein Internat. Was um alles in der Welt tat sie dann hier, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagten? Er wurde einfach nicht schlau aus dieser Frau.

Julia war erleichtert, als Oliver bald darauf ging. Sonst hätte sie sich wirklich anstrengen müssen, um ihn weiterhin nicht zu mögen. Als sie die ersten Gerüchte darüber vernommen hatte, dass der Erbe des Bryar-Anwesens kein großes Interesse daran hatte, sich in der Gegend häuslich niederzulassen, hatte sie beschlossen, mit aller Macht dafür zu kämpfen, dass das Krankenhaus bestehen blieb.

Sie hatte sich geschworen, Oliver als ihren Erzfeind zu betrachten, schon bevor sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Wer hätte ahnen können, dass er so sexy war? Oder dass seine göttlichen grünen Augen von so dichten schwarzen Wimpern umrahmt wurden? Wo Julia normalerweise kühl und distanziert blieb, fühlte sie sich jetzt wie ein Vulkan, unter dessen Oberfläche das Magma brodelte.

Ihr Lachen klang in dem leeren Untersuchungszimmer ungewöhnlich laut. Wem wollte sie denn etwas vormachen? Dass sie Oliver kennengelernt hatte, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Bis dahin war ihr Leben überschaubar und unkompliziert gewesen.

Nun ja, nicht ganz. Ehrlich gesagt überhaupt nicht.

Nach Matts Tod war sie ins große Ungewisse aufgebrochen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie sie als verwitwete Mittdreißigerin mit zwei Kindern ein Leben für sich aufbauen sollte, geschweige denn eine eigene Arztpraxis.

Endlich, nach langem Insichgehen und der Unterstützung durch ihre Kinder, die ihr mit ihrer Begeisterung für die Musik so viel Kraft gaben, hatte sie jetzt einen Platz für sich gefunden. Regelmäßigkeit. Sicherheit.

Obwohl das Krankenhaus schon einige Jährchen auf dem Buckel hatte, liebte sie es. Sie liebte jede einzelne der Rosenknospen, die sich an der steinernen Außenwand hochrankten und jetzt bald aufblühen mussten. Sie freute sich über jeden Patienten, dem sie in diesem winzigen Dorf helfen konnte.

Wo sie gerade daran dachte, sie musste Doktor Carney noch auf den neuesten Stand bringen, bevor sie nach Hause in ihr Cottage ging. Die Nachtschwester würde ihm später seine Medikamente verabreichen, aber Julia schaute gerne zur Teezeit nach ihm. Er hatte sein ganzes Leben dem Krankenhaus gewidmet, und sie wollte, dass er wusste, dass er es in fähigen Händen zurücklassen würde.

Sie reckte den Kopf zu seiner Zimmertür herein. Er schien zu schlafen. Sie legte die Finger auf sein Handgelenk und überprüfte den Puls. Seine Werte waren recht zufriedenstellend. Natürlich konnte sie nicht sagen, wie viel Zeit ihm noch blieb, aber sie konnte zumindest dafür sorgen, dass er die bestmögliche Versorgung erhielt und seine letzten Tage glücklich verbrachte.

„Er hat das Herz am rechten Fleck, wissen Sie.“

Julia erschrak. Doktor Carney war ja wach!

„Wen meinen Sie?“ Dumme Frage. Du weißt genau, von wem er spricht.

„Oliver.“ Doktor Carney schaute sie an. Julia war jedes Mal wieder erstaunt, wie klar seine blauen Augen waren. „Er hat sich nur nie wirklich davon erholt, und für ihn … Für ihn ist es einfach schwierig, hier zu sein.“

„Sie meinen, weil er Sie so plötzlich im Krankenhaus gesehen hat?“

Als er auffordernd auf seine Matratze klopfte, setzte Julia sich zu ihm. Sie zupfte nervös an der selbst gestrickten Decke, die jemand aus dem Dorf vorbeigebracht hatte.

„Oh, das war sicher nicht besonders schön für Oliver. Wir hätten ihn vielleicht vorwarnen sollen. Aber nein, das meinte ich nicht. Ich werde es ihm überlassen, Ihnen davon zu erzählen.“

„Mir wovon zu erzählen?“ Julia spürte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten.

„Es steht mir nicht zu, das zu sagen, meine Liebe. Aber geben Sie ihm einfach Zeit. Seien Sie geduldig.“

„Doktor Carney, wenn Sie in mir Verständnis wecken wollen für den Mann, der all das hier erben wird, aber es vorzieht, ständig anderswo zu sein …“ Sie hielt inne. Wenn sie Doktor Carney sagte, was sie von Oliver hielt, konnte das vielleicht nach hinten losgehen. Aber wenn Oliver tatsächlich nicht vorhatte, sich um das Krankenhaus zu kümmern, würde sie ihre Anstrengungen verdoppeln müssen. Sie musste einfach wissen, woran sie war.

„Sie denken doch nicht, dass er das Anwesen verkaufen wird, oder?“

„Das sind wirklich nur Gerüchte. Noch ist nichts geschehen, nicht wahr?“ Doktor Carney tätschelte Julias Hand. „Wahrscheinlich habe ich schon zu viel gesagt. Geben Sie ihm einfach eine Chance. Sie beide sind einander ähnlicher, als Sie vielleicht denken.“

„Ha! Das glaube ich kaum. Er ist ein Jetsetter, und mir gefällt es hier im beschaulichen St. Bryar.“ Schon in dem Moment, als sie die Worte aussprach, wusste sie, dass sie nicht ganz richtig lag. Das Einzige, das sie mit Sicherheit über Oliver wusste, war, dass er eine Leidenschaft für die Medizin besaß. Und natürlich, dass Doktor Carney ihm am Herzen lag. Es musste schwer für ihn gewesen sein, hierherzukommen und plötzlich diesen Mann, den er schon sein ganzes Leben kannte, in einem so schlechten Zustand zu sehen. „Es tut mir leid. Sie haben natürlich recht. Ich kenne Oliver ja überhaupt nicht. Ich schätze, ich war einfach von seiner plötzlichen Ankunft hier überrascht.“

„Ist schon in Ordnung, meine Liebe. Eine so große Veränderung ist für jeden schwierig zu bewältigen.“

„Da sagen Sie etwas!“ Julia schaute aus dem Fenster. Vielleicht hatte Oliver ja etwas Gutes mit seinem Erbe vor. Vielleicht würde er noch ein wenig hierbleiben … Ein schüchterner Schmetterling flatterte in ihrem Bauch. Immer langsam mit den jungen Pferden!

Julia drückte sanft Doktor Carneys Hand. „Ruhen Sie sich jetzt aus. Es war ein langer Tag für Sie.“

Doktor Carney lächelte sie verständnisvoll an. „Träumen Sie schön, Doktor MacKenzie.“

Oliver sprang über die jahrhundertealte halbhohe Stalltür, die in die Küche führte. Das hatte er schon als Kind so gemacht, und heute, fünfzehn Jahre nach seinem letzten Sprung, hatte er plötzlich wieder Lust darauf bekommen.

War es Rührseligkeit? Oder hatte er einfach nur gute Laune, weil er einer schönen Frau begegnet war? Julia MacKenzie hatte St. Bryar auf den Kopf gestellt. Als er jedoch die frisch gebackenen Karfreitagsbrötchen erblickte, schob er seine Gedanken beiseite.

„Finger weg, kleiner Prinz!“

Diese Worte kamen ihm bekannt vor, und er kannte auch die strenge Stimme.

„Clara!“

„Na, komm her, du. Du hast dich hier noch überhaupt nicht blicken lassen, seit du angekommen bist!“ Sofort schenkte sie ihm eine herzliche Umarmung, wie sie es schon immer getan hatte, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Nachdem Doktor Carneys Anblick ihn so schockiert hatte, war Oliver dankbar für diesen vertrauten Umgang.

Clara Bates arbeitete schon seit vierzig Jahren für die Familie Wyatt und machte keine Anstalten, ihr eisernes Regiment in der Küche von Bryar Hall aufzugeben.

„Ich bin doch erst ein paar Stunden hier!“ Er befreite sich aus ihrer Umarmung. „Aber jetzt erklär mir mal bitte, warum ich keines deiner leckeren Brötchen stibitzen darf?“

Vorsichtshalber stellte Clara das Tablett mit den Brötchen weiter weg und sagte dann: „Die sind für den Kuchenverkauf in der Kirche.“

„Für den was bitte?“ So etwas hatte es in der kleinen Gemeinde von St. Bryar noch nie gegeben.

„Unsere Julia MacKenzie hatte die Idee.“ Clara lächelte strahlend. „Wir sammeln Spenden, damit wir eine von diesen Wiederbelebungsmaschinen anschaffen können.“

„Einen tragbaren Defibrillator?“, hakte er nach. Das war eine gute Idee. Darauf hätte er schon längst selbst kommen können.

„Ja, genau. Wenn wir eine bestimmte Spendensumme erreichen, wird der Rest aus Fördergeldern bezahlt. Doktor MacKenzie weiß, wie man das beantragt.“

Oliver lehnte sich an den alten Backofen. Augenblick mal: „Unsere“ Julia MacKenzie? Das war aber schnell gegangen. Eigentlich war es harte Arbeit, sich in die alten Strukturen hier in St. Bryar einzufügen. Als Einheimischer wurde man erst betrachtet, wenn die Familie seit etwa dreihundert Jahren im Dorf wohnte. Er war beeindruckt – und verärgert. Er hatte eigentlich herausfinden wollen, wie die Dinge in St. Bryar liefen, aber wenn Julia jeden Tag wieder etwas Neues einführte, dann konnte er sich kein klares Bild machen.

„Du hast ja keine Ahnung, was hier alles passiert ist“, fuhr die Köchin fort. Sie hatte anscheinend nicht bemerkt, wie Oliver die Stirn runzelte. „Sie ist hier aufgetaucht und hat frischen Wind in das alte Dörfchen gebracht. Seit dem Tod deiner Mutter herrscht zum ersten Mal wieder Leben im Dorf! Natürlich ist es ganz anders als zu Zeiten der Duchesse. Deine Mutter war ja sehr traditionsgebunden. Sie mochte es, wenn alles beim Alten blieb.“ Sie schaute Oliver mit großen Augen an und tätschelte seinen Arm.

Er wusste, was sie sagen wollte. Seine Mutter hatte in der Vergangenheit festgesteckt und immer alles so erledigt, „wie man die Dinge nun einmal macht“. Bryar Hall war ein Ort der altmodischen Etikette gewesen. Oliver hatte immer angenommen, dass alle anderen die Einstellung seiner Mutter teilten. Sollte er sich über seine ganze Kindheit hinweg getäuscht haben?

„Doktor MacKenzie hat es nicht so mit den Details, aber sie weiß, wie man die Dinge in Bewegung setzt. Es scheint nichts zu geben, wo sie nicht mit anpacken kann, um das Dorfleben besser zu machen. Du solltest sie mal kennenlernen. Ihr seid vom gleichen Schlag!“

Oliver wurde das Gefühl nicht los, dass sie von einem sehr unterschiedlichen Schlag waren. Er hatte sich nie in die Angelegenheiten eingemischt, die das Anwesen betrafen, und sie schien nichts anderes zu tun.

Er trommelte mit den Fingern auf die Herdplatten. Als er nach Hause gekommen war, waren seine Aufgaben klar gewesen: endlich die Übergabe des Anwesens von seinem Vater an ihn abwickeln und dann entscheiden, auf welche Weise er die Pflichten des Duke of Breckonshire übernehmen würde. Würde er zu Hause bleiben oder immer auf Achse sein? Das Anwesen verkaufen oder hier Wurzeln schlagen?

Würde er sich von der aristokratischen Etikette erdrücken lassen oder als Chirurg beim Einsatz in Krisengebieten seine Freiheit genießen?

Genug gegrübelt.

Die Leute im Dorf wussten genauso gut wie er, dass er eigentlich gar nicht hier sein wollte. Er musste nur eine Möglichkeit finden, seine Verbindungen zu seiner alten Heimat so schmerzlos wie möglich zu kappen. Aber seit er hier angekommen war, war alles immer komplizierter geworden.

Wie hatte Julia es nur fertiggebracht, alle für ihre Projekte zu begeistern? Sogar er hatte sich mit der Begeisterung angesteckt. Keine zehn Pferde hätten ihn davon abhalten können, bei dem Hindernisrennen mitzumachen.

„Aus dem Weg mit dir. Ich habe noch eine Ladung Brötchen im Ofen.“ Kurzerhand schob Clara Oliver zur Seite, um sich ungestört am Ofen zu schaffen zu machen.

„Und du bist ganz sicher, dass nicht einmal ein klitzekleines Brötchen für mich übrig bleibt?“

Clara schob ihm ein frisches, noch dampfendes süßes Brötchen herüber. „Aber wenn ich Doktor MacKenzie erklären muss, warum wir fünfundzwanzig Pence zu wenig verdient haben, dann werde ich dich verpetzen!“, neckte sie ihn.

Das würde Julias schlechte Meinung von ihm vermutlich nur bestätigen.

Ein Kuchenverkauf beeinflusste seine Entscheidung zwar nicht wirklich, aber sie würde ihm leichter fallen, wenn er wusste, dass Julia hier war. Er wollte das Krankenhaus nicht einfach sich selbst überlassen, und sie hatte offensichtlich die Notwendigkeit bemerkt, dass die Einrichtung finanziell unabhängig wurde. Vielleicht hatten sein Vater und Doktor Carney sie deshalb eingestellt: Sie machte langfristige Pläne und wollte hierbleiben. Und er selbst wollte – nein, er konnte das nicht. Das war immer Alexanders Aufgabe gewesen.

Er verdrängte den Gedanken.

„Was gibt es heute zum Abendessen, Clara?“

„Ich muss dich leider enttäuschen, Schätzchen. In letzter Zeit nimmt dein Vater immer nur eine Kleinigkeit zu sich, während er mit einem guten Buch am Kaminfeuer sitzt. Wenn du möchtest, kann ich dir natürlich etwas Deftigeres zubereiten. Die Speisekammer ist immer gut gefüllt.“

Überrascht hob Oliver die Augenbrauen. Sein ganzes Leben lang hatte seine Familie im Speisesaal gegessen. Seine Eltern hatten darauf bestanden. Es war Tradition. Er versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Er konnte es seinem Vater nicht verdenken, dass er in diesem großen, eindrucksvollen Zimmer nicht alleine essen wollte.

„Mach dir keine Umstände, Clara. Dann esse ich zusammen mit Vater.“ Er gab ihr rasch einen Kuss auf die Wange und eilte dann die steinerne Treppe hinauf. Er fragte sich, welche Veränderungen ihn wohl noch erwarteten.

3. KAPITEL

„Hallo?“ Oliver drückte noch fester gegen die Krankenhaustür. Sie war nicht abgeschlossen, wollte aber einfach nicht nachgeben. Er holte Schwung, um sie mit der Schulter aufzustoßen.

„Stopp! Sie können hier nicht rein.“ Julias Stimme ertönte klar und deutlich hinter der mit Gardinen verhängten Tür.

„Ich wusste nicht, dass es vorgeschriebene Besuchszeiten gibt“, scherzte Oliver. Er hatte gehofft, ein paar ruhige Stunden mit Doktor Carney verbringen zu können, mit einer Partie Schach und ein wenig Geplauder.

„Wenn Sie rein wollen, müssen Sie den Hintereingang benutzen.“

Oliver verlagerte den großen Strauß Narzissen und das Schachbrett auf den anderen Arm. Das war jetzt wirklich ein bisschen unhöflich.

Er ging um das kleine steinerne Gebäude herum, und ihm fiel auf, wie gut die Beete und Blumenrabatten gepflegt waren. War das der Gärtner gewesen oder war es Julias Verdienst? Er fragte sich, mit wie wenig Schlaf diese Frau wohl auskam.

Als er die Hintertür ohne Probleme aufstieß, verflog seine schlechte Laune sofort. Julia stand am Haupteingang auf einer Leiter und war auf ganz bezaubernde Art in eine Tapetenrolle verwickelt. Offensichtlich war bei ihrer Aktion etwas schief gelaufen.

„Blumen!“ Julia riss überrascht die Augen auf und kam auf der Leiter ins Schwanken. Ohne nachzudenken, ließ Oliver den Strauß fallen und machte einen Schritt vorwärts, um sie festzuhalten.

„Autsch! Falsche Hand!“

„Tut mir leid.“

Vorsichtig hielt Julia die linke Hand nach oben und griff mit der rechten nach seiner Schulter, um sich abzustützen. Oliver hielt seine Kollegin noch immer um die Taille gefasst.

„Ich liebe Narzissen!“ Julia schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Das wäre doch nicht nötig … Oh. Die sind nicht für mich, oder?“ Sie wurde rot und wand sich unruhig, um seinem Griff zu entkommen. Schade. Es gefiel ihm, wenn sie so nah bei ihm war.

„Sie waren für Doktor Carney gedacht“, gab Oliver zu. „Es sind seine Lieblingsblumen, und ich wollte die Atmosphäre hier ein bisschen aufheitern. Aber anscheinend sind Sie mir da zuvorgekommen.“

„Wohl kaum.“ Julia versuchte, sich aus der grünen, mit Gänseblümchen bedruckten Tapetenrolle zu befreien. „Ich weiß nicht, was ich mir bei dieser Heimwerkeraktion gedacht habe, und jetzt haben Sie auch noch mitbekommen, was für eine schlechte Figur ich hier abgebe.“

Es war unmöglich, bei ihrem Grinsen nicht mitzulächeln, aber gleichzeitig war er nicht der Meinung, dass sie eine schlechte Figur abgab. Ganz im Gegenteil: Sie hatte ihr blondes Haar mit einem roten Tuch zurückgebunden, die Jeansbluse über dem Bauch zusammengeknotet und die Hose hochgekrempelt.

„Und jetzt kommen Sie bei meinem Geschwätz noch nicht einmal zu Wort. Dabei sollte das hier eine Überraschung für Sie werden!“

„Eine Überraschung?“ Womit sollte er die denn verdient haben? Dafür, dass er in ihr Leben und auf ihre Finger getreten war und den schlechtesten Eindruck aller Zeiten hinterlassen hatte?

„Jetzt tun Sie mal nicht so, Oliver“, neckte Julia ihn und stieg von der Leiter. Die Tapete fiel knisternd zu Boden. „Als Sie gesehen haben, dass der Empfangsbereich seit der Krönung der Queen nicht mehr renoviert wurde, hat Ihre Miene Bände gesprochen. Ich hatte diese Aktion seit Wochen geplant, aber dann musste ich den Spendenlauf planen und organisieren, und eines führte zum anderen … Jetzt sind Sie hier und bekommen nur mit, was hier für ein Durcheinander herrscht. Dabei wollte ich doch, dass bei Ihrer Rückkehr alles perfekt aussieht.“

Oliver war wie hypnotisiert von ihren unglaublich roten Lippen, die sich so schnell bewegten.

„Oliver?“

„Äh, ja?“

„Ich tue es schon wieder, oder?“

„Was denn?“ Oliver zwang sich, ihr in die Augen zu sehen. Kornblumen, dachte er. Ihre Augen haben die Farbe von Kornblumen.

„Ich rede und rede und rede, bis sich mein Gesprächspartner schließlich ein Herz fasst und mich unterbricht, weil ich nur noch Blödsinn erzähle.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn an, als wünschte sie sich, er würde sie unterbrechen.

Ich könnte sie von der Leiter heben und einfach küssen, dachte Oliver. Das wäre mal ein Themenwechsel. Er zwang sich, einen Schritt zurückzutreten. Zum Glück hatte er das nicht laut gesagt! Dieses Gespräch verlief ganz anders, als er geplant hatte.

Das war es wohl mit meinem schönen ruhigen Besuch bei Doktor Carney.

„Oh, ich weiß!“ Julia schlüpfte an ihm vorbei und ging den Flur hinunter. „Ich setze Wasser auf und mache Ihnen und Doktor Carney eine schöne Tasse Tee. Und eine Vase für die Blumen treibe ich auch noch auf. Tun Sie einfach so, als wäre ich gar nicht da – so ist es am einfachsten, nicht wahr?“

Oliver sah ihr nach, wie sie in der kleinen Küche des Krankenhauses verschwand. Er wusste, es war lächerlich, aber es kam ihm vor, als sei der Raum gerade ein wenig dunkler geworden.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf. Er durfte sich von ihrer mitreißenden Art nicht aus dem Konzept bringen lassen. Dieser Besuch sollte ihm eigentlich beweisen, dass er für ein Leben auf Bryar Hall nicht geschaffen war. Aber seit seiner Ankunft fühlte er sich, als hätte er ein Paralleluniversum betreten. Das Bryar-Anwesen sprühte nur so vor Leben und vor unendlichen Möglichkeiten – und dann war da noch Julia.

Vielleicht spielte die Nostalgie ihm einen Streich. Es war lange her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war. Noch einmal schüttelte er den Kopf. Ein gutes Schachspiel mit Doktor Carney – das würde ihn wieder auf den Boden der Tatsachen bringen.

Julia riss die Tür zur winzigen Kühltruhe auf und reckte ihren Kopf hinein, so weit es ging. Ihre hochroten Wangen brannten vor Hitze. Hätte sie sich noch mehr blamieren können?

Sie hatte gehofft, den ersten schlechten Eindruck, den sie bei Oliver hinterlassen hatte, wieder wettmachen zu können – aber doch nicht so! Sie hatte sich wie eine geschwätzige Vollidiotin benommen.

Sie nahm sich einen Eiswürfel, schloss das Gefrierfach und sank zu Boden. Sanft fuhr sie mit dem Stück Eis über ihr Gesicht. Sie wäre ihm lieber anders gegenübergetreten: beherrscht und gefasst. Alle Förderanträge ausgefüllt und bewilligt. Das Krankenhaus hundertprozentig finanziert. Der Eingangsbereich frisch renoviert.

Sie hätte jetzt eine Umarmung von ihren Kindern vertragen können. Am Wochenende, wenn die beiden nach Hause kamen, fühlte sich ihr Cottage erst richtig wie ein Zuhause an. Sie erfüllten das Haus mit Musik und Gelächter, und meistens bestand Doktor Carney darauf, dass einer der Zwillinge ihm etwas vorspielte. Dann breitete sich die Musik durch das Krankenhaus aus, und Julia konnte sich um ambulante Patienten kümmern, im Garten arbeiten oder in der Küche herumwerkeln und für eine kleine Weile vergessen, dass sie verwitwet war und dass ihr wundervolles jetziges Leben nur zustande gekommen war, weil Matt gestorben war. Sie ballte eine Faust und zerquetschte beinahe den kümmerlichen Rest des schmelzenden Eiswürfels.

Als das Wasser im Teekessel zu sprudeln begann, kehrten ihre Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. In letzter Zeit war sie unkonzentriert und hing oft ihren Gedanken nach. Bestimmt vermisste sie einfach die Kinder.

Nein, das stimmte nicht. Schließlich vermisste sie die Kinder immer.

Gib es doch endlich zu, Julia! ermahnte sie sich. Es war offensichtlich. Es gab einen ganz bestimmten Grund dafür, dass sie sich so seltsam fühlte, und der hatte dunkles Haar, wundervolle grüne Augen und saß gerade bei Doktor Carney und spielte Schach.

„Das ist nicht wahr, oder?“, rief Julia entgeistert, als sie ihre teuren Stiefel unterhalb der Treppe vorbeitreiben sah. Sie hatte bereits schlecht geschlafen, und jetzt auch noch das.

Gestern hatte sie sich noch darüber gefreut, wie hübsch der späte Frost die Wiesen und Knospen verzierte. Den alternden Rohren in ihrem Cottage hatte er allerdings nicht gut getan. Ihr Haus war überflutet! Dabei sollten die Kinder eigentlich die Osterferien zu Hause verbringen, und bis dahin waren es nicht einmal mehr zwei Wochen.

Sie atmete tief ein und machte einen Schritt ins Wasser. Brr, war das kalt! Sie zog die nassen Stiefel an, hastete zur Tür und riss sie auf. Das Wasser, das ihr bis zur Mitte der Unterschenkel reichte, floss langsam ab, und Julia bekam eine Gänsehaut. Es würde Monate dauern, bis das Cottage wieder ganz trocken war. Eine Katastrophe!

„Das ist ja ein interessanter Start in die Woche.“

Erschrocken blickte Julia auf. Sie kannte diese tiefe Männerstimme und wusste, dass sie nichts als Ärger bedeutete.

„Ich mache nur einen Frühjahrsputz“, entgegnete sie und hoffte, dass ihr Lächeln verschmitzt wirkte. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …“

„Eigentlich bin ich gekommen, um im Krankenhaus zu helfen“, erklärte er. „Das hatte ich doch gesagt, erinnern Sie sich?“ Der Blick aus seinen grünen Augen schien sie zu durchbohren.

„Nach unserem kleinen Unfall können Sie bestimmt ein weiteres Paar Hände gebrauchen. Außerdem muss ich mir die Buchführung ansehen, und da Sie Doktor Carneys Nachfolgerin sind, würde ich gerne erleben, wie Sie den Krankenhausalltag handhaben.“

Oliver kam zu ihr herüber und schaute ins Haus. Plötzlich war er ihr viel zu nahe. Scherte der Kerl sich nicht um einen Diskretionsabstand? Sie zitterte. Das musste an der Kälte liegen. Sie konnte sich ja einfach an ihn schmiegen, den Kopf in seine Halsbeuge legen und tief den Duft seines Rasierwassers einatmen …

„Sieht so aus, als müsste ich Ihnen auch hier als strahlender Ritter zu Hilfe eilen!“

„Sie haben Ihren weißen Hengst wohl zu Hause vergessen.“ Julia war sich selbst nicht sicher, ob sie schnippisch sein oder mit ihm flirten wollte. So nahe bei Oliver wirkte seine wahnsinnige Anziehungskraft ungehindert auf sie, und ihr Verstand hatte sich verabschiedet.

„Sie können unmöglich hierbleiben, während die Rohre repariert werden. Packen Sie am besten gleich Ihre Tasche. Irgendwo im Herrenhaus werden wir schon ein Plätzchen für Sie finden. Bryar Hall ist groß genug, damit wir uns nicht auf die Zehen treten müssen.“

Das war jetzt nicht gerade eine herzliche Einladung.

„Nein danke, das wird nicht nötig sein. Ich komme schon zurecht.“

Sie sollte mit Oliver unter einem Dach wohnen? Auf keinen Fall. Es war ihr ein Rätsel, wie sie mit nur einer gesunden Hand ihr Haus reparieren und die Klinik leiten sollte, aber sie wusste, dass die Nähe zu diesem launischen Mann ihr dabei kein bisschen helfen würde.

„Seien Sie nicht albern.“ Er trat zurück auf die Veranda und holte seine Autoschlüssel hervor, als sei alles beschlossene Sache. „Ich glaube nicht, dass dieses Haus auf wundersame Weise in den nächsten Tagen komplett trocknen wird. Ich kann nicht verantworten, dass Sie jetzt auch noch krank werden.“

„Ich wohne nicht alleine hier, haben Sie das schon vergessen?“

Oliver blinzelte sie verständnislos an.

„Meine Kinder. Die Zwillinge kommen in zwei Wochen nach Hause, sie verbringen die Osterferien hier.“

„Wie gesagt“, wiederholte Oliver. „Bryar Hall ist groß genug. Es sollte Platz genug für alle sein.“

„Danke für das herzliche Willkommen“, flüsterte Julia ihm hinterher, als er schon auf dem Weg zum Auto war. Wie konnte er nur in einem Moment so liebevoll und im nächsten eiskalt sein? Stand er mit beiden Füßen fest auf dem Boden oder war er ein abgehobener Adliger? Nur eines war sicher: Ihr gemütliches kleines Leben würde wieder einmal auf den Kopf gestellt werden.

Oliver packte das Lenkrad so fest, dass seine Handknöchel weiß hervortraten. Am liebsten hätte er den Kopf gegen das Armaturenbrett geschlagen. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Julia MacKenzie in sein Haus einzuladen? Selbst wenn sie nicht in seiner Nähe war, kreisten seine Gedanken ständig um sie. Die letzten vierundzwanzig Stunden ohne Julia hatten seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt. Er hatte eigentlich den Kopf frei bekommen wollen, damit er das Krankenhaus inspizieren konnte.

Ihr Anblick in diesem winzigen Nachthemdchen … Er hätte nur vorsichtig über ihre Schulter streichen müssen, um die dünnen Träger hinunterzustreifen.

Er räusperte sich vernehmlich. Er wollte sie nur unter Beobachtung halten, damit er wusste, was sie plante. Schließlich verfolgten sie, völlig unabhängig von der Wirkung, die Doktor MacKenzie auf ihn hatte, unterschiedliche Ziele.

„Fahren Sie los!“

Oliver erschrak, als Julia, mittlerweile vollständig bekleidet, die Tür aufriss und sich neben ihn auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie hatte eine riesige Verbandstasche dabei.

„Was ist passiert?“

Autor

Annie Oneil
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Lucy Ryder
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Charlotte Hawkes
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