Julia Ärzte zum Verlieben Band 127

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Amalie Berlin
Die heilenden Küsse des griechischen Arztes

Ein Erdbeben erschüttert Mythelios: Die schöne Ärztin Erianthe will den Menschen auf der griechischen Insel helfen - und läuft Dr. Ares Xenakis in die Arme! Das Wiedersehen mit ihm reißt eine tiefe Wunde in ihrem Herzen auf. Kann Ares sie mit zärtlichen Küssen endlich heilen?

Scarlet Wilson
Nur Liebe lässt uns leben

Voller Hoffnung fliegt Gene in die Schweiz. Vielleicht kann man hier seinem kleinen Sohn helfen? Doch nichts hat ihn darauf vorbereitet, dass er sich in Genf auf den ersten Blick in die hübsche Dr. Cordelia Greenway verliebt. Und noch viel weniger darauf, dass sie ihn belügt …

Susan Carlisle
Alle wollen Dr. Maxwell

Der Chirurg Rex Maxwell ist perfekt für Tiffanis PR-Kampagne für das Krankenhaus: gutaussehend, charmant, kompetent. Aber es gibt zwei Probleme: Rex hasst das Licht der Öffentlichkeit - und Tiffani weiß nicht, wie lange sie dem sexy Doc widerstehen kann …


  • Erscheinungstag 28.06.2019
  • Bandnummer 127
  • ISBN / Artikelnummer 9783733713515
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amalie Berlin, Scarlet Wilson, Susan Carlisle

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 127

AMALIE BERLIN

Die heilenden Küsse des griechischen Arztes

Seit zehn Jahren lebt Dr. Ares Xenakis mit einer schweren Schuld: Damals ließ er die schwangere Erianthe im Stich, die ihm vertraut hat. Doch jetzt bringt ein schweres Erdbeben Erianthe, inzwischen selbst Ärztin, zurück zu ihm auf die griechische Insel Mythelios. Gibt ihnen eine gnädige Schicksalsgöttin eine zweite Chance?

SCARLET WILSON

Nur Liebe lässt uns leben

Wie ein Damoklesschwert schwebt ihre Herzerkrankung über Dr. Cordelia Greenway. Eine eigene Familie ist undenkbar, weshalb sie um Kinder einen großen Bogen macht. Bis der attraktive Gene Du Bois und sein Söhnchen unerwartet in ihr Leben treten. Jeden Tag beweisen die beiden ihr von Neuem, wie liebenswert das Leben ist – und wie lebenswert die Liebe!

SUSAN CARLISLE

Alle wollen Dr. Maxwell

Dr. Rex Maxwell ist nicht begeistert, sich selbst auf riesigen PRPlakaten in der City zu sehen. Der angeschlagene Ruf des Kranken hauses soll so verbessert werden, mit ihm als Star! Einen Vorteil hat es allerdings: Er arbeitet eng mit Tiffani Romano von der Werbeagentur zusammen. Insgeheim startet er seine eigene Kampagne: Tiffani zu erobern …

PROLOG

Zehn Jahre zuvor …

Der Kies spritzte nach allen Seiten hoch, als Ares von der Zufahrtsstraße auf den Parkplatz des kleinen Flugplatzes von Mythelios raste. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Aufruhr in seinem Inneren.

Am Rande des Rollfelds hielt er abrupt an und sprang aus dem Wagen.

Bitte lass es nicht zu spät sein!

Sein Herz hämmerte so heftig, dass es wehtat. Vor zwanzig Minuten hatte ihn sein bester Freund Theo voller Panik angerufen. Seine Eltern waren im Begriff, seine kleine Schwester fortzuschicken. Heute. Genau jetzt.

Ares hatte gedacht, er könnte mehr Zeit mit ihr verbringen, bevor es dazu kam. Er wusste gar nicht mehr, wieso er dieser Vereinbarung überhaupt zugestimmt hatte. Ihr Vater hatte nichts davon gesagt, dass Erianthe gleich am nächsten Morgen abreisen würde.

Er stürmte durch das Eisentor an der Rückseite des Hangars, wo die Privatflugzeuge aller Geschäftspartner von Mopaxeni Shipping untergebracht waren. Durch die Hitzeschwaden, die von dem schwarzen Asphalt aufstiegen, rannte er immer weiter.

Erianthe hatte schon oft gegen ihre Eltern rebelliert. Sie waren streng traditionell eingestellt und allzu sehr auf ihr Image bedachte Milliardäre. Sie hatten nun also entschieden, dass ihre minderjährige Tochter am besten in einem Kloster aufgehoben wäre, um ihre beschämende Schwangerschaft zu verbergen.

Theo hatte nie daran geglaubt, dass seine Eltern seine Schwester tatsächlich wegschicken würden. Ares hingegen wusste es seit gestern. Er war nur davon ausgegangen, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie die Insel verließ. Man sah ihr ja noch gar nichts an.

Doch Theo wusste nicht, welche Schuld Ares daran hatte, dass Erianthe in ein anderes Land ins Exil geschickt wurde. Zudem zwangen ihre Eltern sie dazu, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Er glaubte, seine kleine Schwester sollte aufs Internat, um sich besser aufs Lernen zu konzentrieren.

Als Ares um den Hangar kam, erblickte er das Flugzeug. Es stand schon auf dem Rollfeld bereit, die Türen geöffnet und die Treppe noch daran befestigt. Die lange schwarze Limousine, die Erianthes Vater oft fuhr, stand zwischen ihm und dem Flugzeug, aber durch die abgedunkelten Fenster konnte Ares nichts erkennen.

Wie hatte Dimitri Nikolaides ihn nur dazu überreden können, Erianthe und sein Kind aufzugeben? Gestern war es ihm als vernünftig erschienen, jetzt jedoch spürte er nichts als Panik.

Mit brennenden Lungen versuchte er, in der sengenden Morgensonne noch mehr aus sich herauszuholen.

„Ihr seid beide noch viel zu jung, um Eltern zu sein.“

„Du wirst ihr mehr wehtun, wenn ihr verheiratet seid und sie dich dann langweilt.“

„Sie ist erst sechzehn.“

Nachdem jetzt alles so schnell ging, war ihm klar, was für einen riesigen Fehler er begangen hatte. Er würde sie verlieren, alle beide.

Ares sprintete an der Limousine vorbei und fasste nach dem Treppengeländer, als ihn von hinten ein Schlag traf und er auf dem heißen Asphalt landete. Von mehreren Händen wurde er grob gepackt und hochgezerrt, ehe er genug Luft geholt hatte, um nach Erianthe zu rufen.

Dimitri hatte seine Wachleute mitgebracht.

Obwohl Ares sich heftig wehrte, schleppten ihn die Männer um den Wagen herum, weg von ihr. Sie musste im Flugzeug sein.

Er war ihr so nah.

Da er keine Kraft mehr hatte, blieb ihm nur noch seine Stimme.

„Erianthe!“ Immer wieder schrie er ihren Namen, den Blick auf die dunkle Türöffnung gerichtet.

Die Männer zerrten ihn weiter zurück zum Hangar, doch Ares schrie wieder, so laut er konnte.

Dann plötzlich blieb ihm fast das Herz stehen, als er sie schließlich an der Flugzeugtür sah. Sie hatte ihn gehört.

Schroff schüttelte sie die Hände ihres Vaters ab, stürzte die Treppe hinunter und rannte auf Ares zu. Ihr glänzendes dunkles Haar flog im Wind, und sobald sie näher kam, konnte er erkennen, wie blass sie war, die Lider ihrer nachtschwarzen Augen gerötet.

Immer näher.

Die Männer hörten auf, ihn weiter wegzuschleifen.

Noch näher.

Sie ließen ihn los.

Voll neuer Kraft lief Ares mit weit ausgebreiteten Armen auf Erianthe zu. Auch wenn er wusste, dass sie unter diesen Umständen nie zusammen sein könnten, wollte er sich dennoch bei ihr entschuldigen. Daran musste er festhalten, bis er eine Möglichkeit fand, zu ihr zu kommen.

Als er sie fast erreicht hatte, verzog sie das tränenüberströmte Gesicht. Sie blieb abrupt stehen, hob den Arm, und ein scharfer Schmerz traf seine linke Wange. Um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren, wich Ares unwillkürlich zurück.

Sie hatte ihn geohrfeigt?

„Eri …“ Er verstummte unter ihrem wütenden Blick.

„Ich habe dir vertraut!“, stieß sie halb schluchzend, halb schreiend hervor. Dann schlug sie seine Hand fort, als er sie instinktiv an sich ziehen wollte. „Ich dachte, du bist anders, aber du bist genau wie er!“

„Nein …“, brachte Ares mühsam hervor. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er war nicht wie Dimitri Nikolaides, sondern dieser hatte ihn ausgetrickst. Seine Ängste und Schwächen kaltblütig ausgenutzt. „Wir können weg…“

Erianthes kurzes, hartes Auflachen stoppte ihn.

„Ich hasse dich.“ Ihre geflüsterten Worte trafen ihn bis ins Mark.

In dem Moment trat Dimitri zu ihnen, griff nach Erianthes Arm und begann, sie zum Flugzeug zurückzuzerren. Ares wusste nicht einmal, wohin. In ein Land, das weit genug entfernt war, dass niemand hier etwas von dem Baby erfahren würde.

Auch wenn ihn diesmal niemand festhielt, war er außerstande, sich zu rühren.

„Das werde ich dir nie verzeihen!“

Er wollte ihr sagen, dass er sie liebte. Aber würde sie ihm glauben?

„Es tut mir leid.“ Es war das Einzige, was ihm einfiel, und er wiederholte es immer wieder.

Die Männer, die ihn weggeschleppt hatten, halfen nun Dimitri, seine heftig strampelnde Tochter die Treppe hinaufzuziehen.

Die letzten Worte, die Erianthe ihm entgegengeschleudert hatte, würden Ares noch lange in den Ohren klingen, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. Denn sie hatte recht.

Es war alles seine Schuld.

1. KAPITEL

Das letzte Mal, als Dr. Erianthe Nikolaides auf ihrer Heimatinsel war, war sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen. Außerdem schwanger und verraten von dem Jungen, den sie geliebt hatte. Jetzt, zehn Jahre später, kam sie nur deshalb zurück, weil ihr Adoptivbruder sie nach dem Erdbeben auf Mythelios darum gebeten hatte.

Theo hatte alle hierher zurückgerufen, um in der Klinik mitzuhelfen, die die einzige medizinische Versorgungseinrichtung der Insel darstellte. Allerdings hatte er auch darauf bestanden, dass Erianthe zuerst ihre Facharztprüfung ablegte, bevor sie seinem Ruf folgte. Daher hatte sich ihre Ankunft etwas verzögert.

In der Julihitze klebte ihr das dunkle Haar am Nacken. Auf dem Weg zu dem hübschen dreistöckigen Gebäude, in dem sich die Klinik von Mythelios befand, wurde jeder Schritt zu einer kraftraubenden Anstrengung. Ihre Knie waren wackelig, und sie schaffte es kaum, ihre Koffer die Straße hinaufzubugsieren. Bestimmt lag es nur an der Hitze und nicht an der Vergangenheit und den damit verbundenen Geheimnissen. Und auch nicht an dem schweren Stein, der ihr im Magen zu liegen schien, weil sie wusste, dass es außer Theo noch einen anderen Mann gab, dem sie heute begegnen würde.

Ares Xenakis war genau wie Erianthe nach Hause gerufen worden. Theo hatte der gesamten Clique Bescheid gesagt. Die Sprösslinge der reichen Partner der Mopaxeni-Reederei, als Kinder vernachlässigt, bis sie etwas falsch gemacht hatten. Vier Männer, die den Klinik-Betrieb finanzierten und teilweise auch selbst hier mitarbeiteten. Und nun auch Erianthe, die außer ihren beruflichen Fähigkeiten nichts zu bieten hatte. Schon vor vielen Jahren hatte sie jeden Kontakt mit ihren Eltern abgebrochen und damit auch auf ihren Treuhandfonds verzichtet. Erst letzte Woche war ihre Facharztausbildung offiziell beendet gewesen.

Geräuschvoll klappernd, schob sie sich durch den Haupteingang, denn es war nicht leicht, ihre beiden Trolleys gleichzeitig zu manövrieren. Ein Rad blieb am Türrahmen hängen, sodass der große Koffer eingeklemmt wurde, als die Tür sich hinter ihr schloss. Na super. Es wäre doch zu schön, wenn wenigstens ein Teil dieser Reise glattgehen würde.

Energisch zog sie an dem Koffer, bis er sich so plötzlich löste, dass sie rückwärts ins Foyer der Klinik stolperte. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Fluch. Als Erianthe sich umdrehte, waren die Augen aller Anwesenden in dem vollen Anmeldebereich auf sie gerichtet. Und zwar mit einem Ausdruck, als würden die Leute erwarten, dass ein solcher Krach auch mit entsprechendem Unheil verbunden wäre.

Fast hätte Erianthe angefangen zu lachen. Das einzige Unheil, das sie je auf Mythelios verursacht hatte, betraf nur sie selbst. Sie hatte dem falschen Jungen vertraut und war nicht sofort weggelaufen, als ihr Vater das Wort „Kloster“ ausgesprochen hatte.

Schlagartig schwand ihr Bedürfnis zu lachen. Dennoch setzte sie ein Lächeln auf, damit sie bei ihren zukünftigen Patienten einen möglichst freundlichen Eindruck erweckte.

Sie hatte eine Woche Zeit gehabt, um sich auf das Wiedersehen mit Ares vorzubereiten, und darauf, ihren Eltern über den Weg zu laufen. Inzwischen war sie nicht mehr von diesem maßlosen Zorn erfüllt, der damals ihre Rachefantasien beflügelt hatte. Mittlerweile wusste sie nicht mehr, was sie sagen oder fühlen sollte. Zehn Jahre waren eine lange Zeit.

Konzentrier dich auf heute.

Die Eingangstür schwang zu und verbannte die glühende Hitze, an die Erianthe nach all den Jahren in England nicht mehr gewöhnt war.

Sie rieb sich die Nasenwurzel und atmete tief durch. Nein, sie musste sich auf diese Sekunde, diese Minute konzentrieren. Keiner der drei Verräter von damals war im Moment hier. Also brauchte sie sich auch nicht zu überlegen, wie sie mit ihnen umgehen sollte.

„Dr. Nikolaides.“

Vor ihr stand eine Frau, die ihr zulächelte und die Hand nach dem größeren Trolley ausstreckte. Mit der anderen Hand lotste sie die von der Reise sichtlich mitgenommene neue Ärztin zu einem Zimmer in der Nähe.

„Ihr Bruder hat gerade einen Patienten. Also bitte, ruhen Sie sich hier ein bisschen aus. Ich schicke ihn dann gleich zu Ihnen.“ Sie knipste das Licht an.

Nun konnte Erianthe das kleine Büro erkennen. Die Frau wirkte freundlich, aber bestimmt, und hatte auch etwas Mütterliches an sich. Ihr schwarzes Haar war von einigen silbrigen Strähnen durchzogen, was ihr eine gewisse Würde verlieh. Und ihr ruhiger Tonfall strahlte etwas Tröstliches aus.

Erianthe fühlte sich etwas besser. Nicht mehr ganz so, als würde sie vom Himmel in die staubigen Felsen hier hineingepresst.

Die Frau sagte noch etwas von Kaffee, ehe sie hinausging. Danach ließ Erianthe sich auf den Drehsessel sinken.

Petra. Ach ja, das war ihr Name.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich streng. Petra. Die großartige Klinik-Managerin, von der Theo so oft begeistert erzählte.

Das glatte Leder des Sessels, das sie durch ihre dünne Leinenhose spürte, wirkte angenehm kühlend. Erst da merkte Erianthe, wie sehr ihr Kopf dröhnte. Vermutlich schon eine ganze Weile.

Durch die offene Tür schaute sie auf den Flur. Dabei zählte sie ihre tiefen Atemzüge, bis die Erinnerungen, die sie seit Theos Anruf überfluteten, allmählich etwas in den Hintergrund traten. Es war diese starke Willenskraft, die sie damals auch durch die ersten Monate ihrer Verbannung getragen hatte.

Auf einmal wurde der Anmeldebereich durch einen breiten Lichtstrahl erhellt, unterbrochen von einem unförmigen Schatten, als die Tür sich wieder schloss. Es folgten ein angestrengtes Stöhnen und dann ein Ruf nach Hilfe von einer rauen Männerstimme. Alle Leute, die im Foyer warteten, blickten beunruhigt durch die Bürotür zu Erianthe.

Da draußen gab es niemanden, der helfen konnte. Und sie war schließlich Ärztin. Ihre Schwäche von eben verschwand, und ­Erianthe eilte hinaus.

Ein Mann kauerte auf dem Fußboden neben einer schwangeren Frau, die sich schwer auf ihre linke Seite lehnte, während sie mit der anderen Hand gegen die rechte Seite ihres gewölbten Bauches drückte. Sie war vielleicht im sechsten oder siebten Monat.

Erianthe kniete sich neben die Frau, stellte sich vor und fragte den Mann: „Ist sie hier hingefallen?“

„Nein, ich habe sie hingesetzt. Sind Sie die Baby-Ärztin?“, fragte er.

Baby-Ärztin. Offenbar hatte Theo ihnen von ihr erzählt.

„Ja, ich bin Geburtsmedizinerin. Sagen Sie mir, was passiert ist.“

In diesem Augenblick kehrte Petra mit einem dampfenden Becher und einem Teller in der Hand zurück. Als sie Erianthe neben der Patientin knien sah, stellte sie beides schnell auf dem Anmeldetresen ab und lief los, um einen Rollstuhl zu besorgen.

Zu dritt gelang es ihnen, die Schwangere in den Rollstuhl zu befördern. Dann führte Petra alle zu dem kleinen Raum, in dem Erianthe gerade gesessen hatte, ehe sie davoneilte, um die Patientenakte und Material zu holen.

„Haben Sie Schmerzen?“, erkundigte sich Erianthe.

Die Patientin nickte und drückte wieder gegen ihre rechte Seite.

„Wann haben die Schmerzen angefangen? Und können Sie beschreiben, wie sich der Schmerz anfühlt?“

Obwohl der Frau das Sprechen schwerfiel, konnte Erianthe herausbekommen, dass es sich sehr wahrscheinlich nicht um eine Geburtssituation handelte.

„Tut es mehr weh, wenn Sie auf der rechten Seite liegen?“ Sie prüfte den Puls der Patientin, während sie zuhörte, wie diese ihre Symptome beschrieb: Verstärkte Übelkeit, aber erst, nachdem die Schmerzen begonnen hatten, die auch mit einigen Verdauungsproblemen einhergingen.

In diesem Moment kam Petra mit einer Krankenschwester im Schlepptau zurück. Ein bekanntes Gesicht.

„Cailey!“

Erianthe hatte ihre gute Freundin von früher nicht mehr gesehen, nachdem sie die Insel verlassen hatte. Damals hatten sie sich angefreundet, weil Caileys Mutter als Haushälterin der Nikolaides gearbeitet hatte. Erianthe hatte Cailey immer vermisst, war jedoch nicht imstande gewesen, mit irgendjemandem von zu Hause zu reden und gleichzeitig ihre Geheimnisse zu wahren.

Eigentlich konnte sie es auch jetzt nicht. Am liebsten hätte sie ihr sofort alles erzählt, um endlich reinen Tisch zu machen. Doch ein solches Geständnis würde nur noch größeren Schaden anrichten.

Außerdem war kaum Zeit für eine richtige Begrüßung, geschweige denn für ein ausführliches Geständnis. Also lächelte sie Cailey nur schnell an, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Patientin richtete.

„Ich brauche Temperatur und Blutdruck. Sieht nach einer Blinddarmentzündung aus. Haben wir auch einen richtigen Untersuchungsraum? Und bildgebende Geräte?“, fragte Erianthe. „Ich möchte gerne ein paar Tests durchführen. Es gibt hier doch ein Labor, oder?“

„Blinddarmentzündung?“ Die brüchige Stimme des Mannes zeigte die Sorge um seine Frau.

„Wir werden sie sehr gründlich untersuchen“, antwortete Erianthe. „Dann wissen wir mehr darüber, wie wir sie behandeln müssen. Wie lange hat sie die Schmerzen schon?“

Innerhalb der nächsten Minuten bestätigte Cailey eine leicht erhöhte Temperatur bei der Patientin, die auf eine Entzündung hindeutete. Und der Ehemann berichtete, dass seine Frau eine Nacht mit immer stärker werdenden Schmerzen hinter sich hatte.

„Wer ist der Chirurg an der Klinik?“, wollte Erianthe wissen.

„Dr. Xenakis hat die meiste Erfahrung“, erwiderte Cailey.

Obwohl sie so wenig wie möglich über Ares hatte wissen wollen, hatte Erianthe doch mitbekommen, dass er Notfallmediziner geworden war, nicht Chirurg.

Leise sagte sie zu Cailey: „Gibt es momentan keinen Allgemeinchirurgen?“

„Ares hat durch seine Hilfseinsätze sehr viele Erfahrungen gesammelt. Er arbeitet bei einer Organisation, die medizinisches Personal in schwer zugängliche Regionen schickt, um den Menschen dort zu helfen.“

Er arbeitete für eine Hilfsorganisation? Erianthe war erstaunt. Das hatte sie nicht erwartet. „Ist er da?“

„Ja. Wir bringen Jacinda jetzt am besten erst mal in ein Zimmer“, warf Petra ein. „Ich schicke ihn dann zu Ihnen. Dr. Nikolaides, möchten Sie sich vielleicht umziehen? In dem Eckschrank da drüben finden Sie die Klinik-Kleidung. Machen Sie einfach die Tür zu, und ziehen Sie sich um. Wir sind im hinteren Untersuchungsraum.“

Dies verlief nicht ganz so, wie Erianthe sich ihren ersten Tag hier vorgestellt hatte. Eigentlich hatte sie lediglich vorgehabt, ihren Bruder zu begrüßen. Da sie sein Liebesnest mit Cailey nicht stören wollte, hatte sie die Absicht, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Und um Ares wollte sie ohnehin einen großen Bogen machen.

Und jetzt sollte sie ausgerechnet mit ihm zusammen operieren.

„Macht ihr ein CT mit ihr?“, fragte sie rasch, bevor Cailey verschwand.

Cailey blieb stehen. „Im Augenblick haben wir leider kein funktionierendes Gerät. Unser Computertomograf ist seit dem Erdbeben kaputt. Ich dachte, du willst wahrscheinlich ein großes Blutbild wegen der Entzündungswerte?“

Petra ging mit Jacinda schon voraus.

Ein CT war nicht absolut notwendig, außerdem zu riskant für das Ungeborene. Früher hatten Ärzte eine Blinddarmentzündung auch ohne bildgebende Verfahren korrekt diagnostiziert. Es wäre eine Absicherung, aber heute mussten sie eben ohne auskommen.

„Ja, ein Blutbild auf jeden Fall“, bestätigte Erianthe.

Die Insel mit einem Rettungshubschrauber anzufliegen war noch immer schwierig, und bei einer Blinddarmentzündung drängte die Zeit. Sie musste sich mit Ares besprechen und dann weitersehen.

Ares.

Sein Name war mit so viel Zorn und Herzenskummer verbunden, dass allein der Gedanke ihr schon einen bitteren Geschmack im Mund verursachte.

Ihn beim Nachnamen zu nennen, Dr. Xenakis, erschien leichter für ihre angespannten Nerven.

Der Vorrat an Klinik-Kleidung im Schrank musste dringend aufgefüllt werden. Erianthe nahm sich vor nachzusehen, ob welche bestellt worden waren. Sie fand eine Hose, die ihr halbwegs passte, und dazu ein viel zu großes Oberteil. Dann holte sie bessere Schuhe, ein Haarband sowie ein Stethoskop aus ihrem Koffer. Die Kleidung war ohnehin nicht dazu gemacht, der Figur zu schmeicheln, und sie wollte ja auch keinen Modepreis gewinnen.

Sie war froh, Ares auf einer professionellen Ebene zu begegnen. Indem sie sich ausschließlich auf ihre Patientin konzentrierte, konnte sie ihre persönlichen Gefühle erst einmal beiseiteschieben.

Erianthe hatte sowohl mit ihren Ex-Freunden als auch mit irgendwelchen Idioten professionell zusammengearbeitet und sich niemals aus der Fassung bringen lassen. Und Ares war eben nur ein Kollege, nichts weiter.

Sie verließ das Büro, nahm sich auf dem Weg noch schnell den Kaffee und ihren Snack und hatte beides schon halb verspeist, als sie den Untersuchungsraum erreichte. Doch bevor sie eintreten konnte, tauchte Theo neben ihr auf, begrüßte und umarmte sie. Erianthe musste ihre Arme ausbreiten, um ihren Kaffee nicht zu verschütten.

Theo war genauso liebevoll zu ihr wie immer, und sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Nichts hätte sie lieber getan, als bei einem Menschen Zuflucht zu suchen, der immer hinter ihr stand. Falls sie sich dies je gestatten würde.

Es ärgerte sie, dass all die alten Gefühle wieder in ihr aufstiegen, seitdem sie von der Fähre heruntergekommen war.

Rasch gab sie Theo einen Kuss auf die Wange, ehe sie zurückwich. „Vorsicht, sonst kippe ich dir den Kaffee über den Rücken.“

Er lachte. „Schön, dich zu sehen. Wir reden dann nachher, ja? Bist du fit genug, um zu behandeln? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Erianthe lächelte und sagte dann: „Ich bin ja nicht hierhergelaufen und habe auch nicht gerade viele Zeitzonen überquert. Mir geht’s gut. Ich warte nur noch auf die Ergebnisse der Blutprobe, um meine Diagnose zu bestätigen. Falls sie operiert werden muss, werde ich assistieren.“

Theo warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er nickte. „Wie du meinst. Du bist die einzige Gynäkologin hier und wirst also automatisch viele Patientinnen bekommen. Wir haben gut zu tun und suchen immer noch mehr Leute. Aber du brauchst auf jeden Fall noch eine Hebamme und weiteres Pflegepersonal. Das besprechen wir alles später.“

Die Arbeit hatte Erianthe seit ihrem Klosteraufenthalt immer gerettet. Der Schock, so plötzlich von allem, was sie kannte, weggerissen zu werden, hatte ihre rebellische Ader als Teenager erstickt. Doch letztendlich hatte der Wunsch, für ihr Kind zu sorgen, die entscheidende Änderung in ihrem Leben herbeigeführt. Und danach war das Studium das Einzige gewesen, woran sie sich noch hatte festhalten können. Sie hatte eine ruhige Hand, eine ruhige Stimme und schließlich auch ruhige Gedanken entwickelt.

Aber das Wiedersehen mit Ares würde wehtun, das wusste sie.

Entschlossen klopfte sie und betrat den Raum. Cailey, die Jacinda Blut abgenommen hatte, klebte gerade ein Pflaster in deren Armbeuge.

Der Ehemann stand mit Tränen in den Augen daneben.

Jacinda, die mittlerweile ein Krankenhemd trug, lag auf der linken Seite zusammengerollt. Sie war sehr jung, vermutlich Anfang zwanzig. Als sie sich bewegte, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben.

Fünf Minuten später hatte Erianthe sich davon überzeugt, dass es keine Anzeichen für verfrühte Wehen gab. Sie war gerade dabei, behutsam die rechte Unterleibsseite ihrer Patientin abzutasten, als Ares hereinkam.

Er sagte nichts, und sie schaute nicht auf. Doch sie spürte seine Anwesenheit. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er größer wirkte als früher.

„Ich bin Dr. Xenakis“, stellte er sich vor.

Seine Stimme klang auch anders. Tiefer und voller. Aber seine Art zu sprechen hätte Erianthe überall wiedererkannt. Er verlieh seinen Worten einen besonderen, unverwechselbaren Klang.

Erst jetzt riskierte sie es, ihn anzusehen.

„Dr. Nikolaides hat gesagt, wir haben eine …“ Abrupt brach er ab, als sein Blick auf sie fiel.

Er sieht anders aus, stellte sie fest. Behaart. Früher hatte er immer auf eine tadellose Erscheinung geachtet, sich alle drei Wochen die Haare schneiden lassen, um seine Locken zu zähmen. Jetzt trug er das Haar lang und hatte es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Aber vor allem der Bart veränderte sein Aussehen. Noch nie hatte Erianthe einen Arzt, geschweige denn einen Chirurgen, mit so viel Gesichtsbehaarung getroffen.

Er hatte dieselbe Ausstrahlung wie damals, und seine grünen Augen, die sie an die ersten Frühlingsblätter erinnerte, waren auch dieselben. Ansonsten jedoch stimmte nichts aus ihrer Erinnerung mit diesem Mann in OP-Kleidung überein, den sie vor sich sah.

Trotzdem merkte sie, wie sie auf einmal von Kopf bis Fuß zitterte.

Stumm starrte Ares sie an.

„Blinddarmentzündung“, erklärte Erianthe gepresst. Dann nahm sie Jacindas Hand und wandte sich wieder ihrer Patientin zu.

Er ist nur ein Arzt, ein Kollege. Tu so, als würdest du mit Dr. Stevenson reden. Diesem genialen Mistkerl aus dem letzten Krankenhaus.

Was würde sie zu Stevenson sagen?

Sie wäre klar und bestimmt. „Es dauert noch zehn Minuten, bis das Blutbild da ist, aber es ist nur eine Formalität. Wir sollten den OP vorbereiten.“

Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, dass Ares sich noch nicht wieder gefangen hatte.

„Dr. Nikolaides?“ Jacinda wirkte alarmiert. „Ihre Hand zittert.“

Verdammt. „Ich brauche nur einen Kaffee.“

„Also nicht deshalb, weil Sie sich Sorgen um das Baby machen?“

„Nein. Ihre Schwangerschaft ist schon weit genug fortgeschritten, und die Narkose stellt für Sie und das Baby keine Gefahr dar. Wir werden uns gut um Sie beide kümmern. Machen Sie sich keine Gedanken.“ Erianthe griff nach ihrem Kaffeebecher und trank einen großen Schluck daraus. Dabei zwang sie sich dazu, ihre Hand absolut ruhig zu halten.

Schließlich bewegte auch Ares sich und ging um den Ablagetisch herum, der neben Erianthe stand. Unwillkürlich trat sie weiter zurück, um möglichst viel Abstand zu ihm zu wahren.

„Wo genau ist der Schmerz?“, fragte er Jacinda. Danach stellte er noch weitere Fragen, die er für seine Einschätzung benötigte.

Schweigend schaute Erianthe bei der Untersuchung zu. Im Grunde waren Dr. Xenakis und sie jetzt praktisch Fremde.

„Der Schmerz sitzt zu weit oben“, stellte er leise fest. „Das ist keine Blinddarmentzündung.“

Doch er irrte sich.

„Im dritten Trimester wird der Blinddarm von dem größer werdenden Baby aus der Beckenhöhle nach oben verdrängt.“ Erianthe war selbst erstaunt, wie fest und sicher ihre Stimme klang.

Sowohl Jacinda als auch ihr Ehemann wandten sich Ares zu, und weil er schwieg, sah Erianthe ebenfalls zu ihm hin. Sie ignorierte das seltsame Gefühl in ihrer Magengegend, als sie in seine schönen Augen blickte.

Sein zusammengepresster Mund ließ darauf schließen, dass das Wiedersehen für ihn auch nicht einfach war.

„Ich versichere Ihnen, dass ich solche Fälle schon mehrmals gesehen habe, Dr. Xenakis“, fügte Erianthe hinzu.

Stirnrunzelnd erwiderte er ihren Blick, wobei er sich den Nacken rieb. „Würden Sie mich begleiten, um unseren Anästhesisten zu informieren, Dr. Nikolaides?“

Nein.

Ihr ganzer Körper schien dagegen zu protestieren, und sie wurde blass. Dennoch nahm sie all ihre Kraft zusammen und nickte zustimmend.

Dann konnte sie auf einmal wieder klar denken. Es war alles in Ordnung.

„Ich möchte, dass Cailey so lange hierbleibt“, sagte sie.

Während Ares ihre zukünftige Schwägerin holte, nutzte Erianthe die Zeit, um ihre Patientin noch einmal zu beruhigen.

Cailey brachte den Laborbefund mit, und Erianthe prüfte die drei wichtigsten Ergebnisse. Sie gab noch ein paar Anweisungen, ehe sie Ares aus dem Zimmer folgte.

Da sie sich in der Klinik nicht auskannte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihm zu gehen.

Am Ende eines kurzen Flurs öffnete er eine Tür und hielt sie ihr auf. Eine höfliche Geste. Vollkommen normal.

Erianthe trat ein.

Ihre Anspannung verstärkte sich jedoch, als sie ihren Blick durch den unbeleuchteten Raum schweifen ließ. Kein Schreibtisch, keine Leute. Bloß zwei Etagenbetten.

Kein Büro.

Dies musste das Rufbereitschaftszimmer sein. Sofort wirbelte sie herum und fasste nach der Türklinke.

„Erianthe?“

„Es gibt gar keinen Anästhesisten“, stieß sie hervor.

Da Ares ihr den Fluchtweg versperrte, wich sie von der Tür zurück.

„Ich habe noch nie eine Blinddarmoperation an einer Schwangeren durchgeführt“, sagte er. „Ich soll deiner Diagnose folgen, das verstehe ich. Sie hat starke Schmerzen, und der Blinddarm könnte durchbrechen, bevor wir sie nach Athen bringen können. Aber …“

„Wo ist der Anästhesist?“, unterbrach sie ihn.

„Nicht hier. Aber sie haben ihn schon angerufen, er ist unterwegs. Doch bevor er kommt, sag mir bitte, an wie vielen solcher Operationen du schon beteiligt warst“, antwortete er. „Ich habe zwar schon Not-Blinddarm-OPs durchgeführt, aber keine, bei denen sich der Blinddarm nicht im rechten unteren Quadranten befand. Leider steht uns kein CT zur Verfügung, also haben wir nicht allzu viele Möglichkeiten. Aber falls deine Diagnose falsch ist, wäre das eine unnötige Operation, die die Patientin und ihr Baby gefährdet. Und ich trage die Verantwortung dafür.“

„Glaubst du etwa, dass ich ein Baby unnötig in Gefahr bringen würde?“, entgegnete Erianthe aufgebracht.

Ares wurde blass. Ihre Worte hatten ihn getroffen, und er trat einen Schritt zurück.

Sekundenlang schwieg er.

„Nein“, erwiderte er dann.

2. KAPITEL

Sie mussten sich auf Jacinda und ihr Baby konzentrieren. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um wegen der Vergangenheit zu streiten und über ihr eigenes Kind zu reden.

Daher sagte Erianthe: „Ich habe schon zweimal bei einer solchen Operation assistiert und mehrere Male zugeschaut. Ich bin zwar keine Chirurgin, aber ich kann Kaiserschnitte durchführen, und ich habe in meiner klinischen Ausbildung Chirurgie gemacht. Wenn wir eine andere Möglichkeit hätten, würde ich sie verlegen lassen. Aber du hast ihre Entzündungswerte gesehen. Es kann sein, dass das verdammte Ding schon durchgebrochen ist. Es muss so schnell wie möglich raus. Wir dürfen nicht warten.“

Ares streckte die Hand nach dem Laborbefund aus, den sie ihm reichte.

Er wirkte resigniert, und eine steile Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. „Wohin wird der Blinddarm normalerweise verdrängt? Und führt man die OP mit einem Ultraschall durch?“

Sie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Aber ich denke, wir könnten es so machen, wenn du es sehen willst.“

Ares nickte. „Hast du auch bei einer gewöhnlichen Blinddarm-OP assistiert? Kannst du mir die Unterschiede erklären?“

„Ich kann dir sagen, was ich weiß. Aber es ist schon Jahre her, seit ich eine normale Blinddarm-Operation miterlebt habe.“

„Wann war das?“

„In meinem ersten Jahr als Assistenzärztin.“

„Wie gut kannst du mit dem Ultraschallgerät umgehen?“

„Hervorragend“, gab Erianthe selbstbewusst zurück.

„Dann ist das dein Job. Assistieren und den Ultraschallkopf so zu führen, dass wir den Appendix sehen können, bis ich weiß, was ich zu tun habe.“

„Gut.“

„Ich vertraue dir“, sagte er.

Der Satz verursachte ihr einen kalten Schauer, und sie war nicht imstande, dasselbe zu ihm zu sagen. Höchstens rein medizinisch gesehen. Auf der persönlichen Ebene vertraute sie Ares ganz und gar nicht.

„Weißt du, ob der Anästhesist schon mal eine Narkose bei einer Schwangeren gemacht hat?“, fragte sie deshalb schnell. „Die ist nicht so tief. Und da es häufig Probleme mit Reflux gibt, brauchen wir einen guten Protonenpumpenhemmer.“

Er öffnete die Tür und ging hinaus, wobei er sie mit einer kurzen Handbewegung aufforderte, ihm zu folgen.

In weniger als einer halben Stunde war Jacinda im OP und die Narkose eingeleitet. Erianthe hielt den Anästhesisten mehr auf Trab als gewöhnlich, indem sie verlangte, dass er die Herzfrequenz für Mutter und Kind jedes Mal nannte, sobald diese sich um mehr als drei Herzschläge pro Minute veränderte.

Da Erianthe das Ultraschallgerät bediente, musste sie dummerweise direkt neben Ares stehen anstatt ihm gegenüber. So nahe, dass ihre OP-Kittel sich immer wieder streiften.

Doch sie konzentrierte sich auf den Ultraschallkopf in ihrer Hand, während sie das Gerät mit dem Fuß hin- und herrollte, damit Ares den besten Blick auf den Monitor erhielt.

„Hier, das ist das Schnittbild des Blinddarms.“

„Vergrößert“, murmelte er. Dies war die Bestätigung ihrer ­Diagnose.

Erianthe bewegte den Ultraschallkopf mehrmals so, wie Ares es haben wollte, bis er zufrieden war und wusste, wie er vorgehen wollte.

Sobald er den ersten Schnitt gemacht hatte, wurde der Ultraschall überflüssig, und Erianthes Job bestand darin, ihm die In­strumente zu reichen, das Gewebe mit einer chirurgischen Zange festzuhalten und den Blutfluss zu kontrollieren.

Das Arbeiten mit Ares fiel ihr erstaunlich leicht. Er bewegte seine Hände sicher und mit einer Eleganz, die im krassen Gegensatz zu seinem jetzigen Aussehen stand.

„Ich sehe ihn“, sagte er nach einer Weile. Als er sich etwas zur Seite lehnte, konnte Erianthe das vergrößerte und entzündete Organ ebenfalls betrachten.

„Du liebe Güte, der ist ja riesig. Aber zumindest sieht er sauber aus.“

„Und ist offenbar auch nicht durchgebrochen. Ich hole ihn raus, und du untersuchst ihn.“

Sie reichte Ares die erforderlichen Instrumente, um den Blinddarm vom aufsteigenden Dickdarm abzuklemmen und ihn dann säuberlich zu entfernen.

Sobald er ihn auf das chirurgische Tablett gelegt hatte, prüfte Erianthe von allen Seiten, ob irgendwo Öffnungen zu erkennen waren.

„Er ist intakt“, stellte sie schließlich fest.

Dann kehrte sie wieder an den OP-Tisch zurück, um Ares dabei zu helfen, die Wunde auszuspülen, ehe er sie wieder verschloss.

„Wir müssen mal sehen, welche Antibiotika wir vorrätig haben. Falls es ein Mittel gibt, das du bevorzugst, aber nicht vorhanden ist, können wir es bis heute Abend bestellen. Bis dahin würde ich ihr das Beste geben, was wir hier haben. Eri … Dr. Niko­laides …“

Trotz seiner Maske sah sie, wie er die Augen flüchtig zusammenkniff, als er sich verbesserte. Aber sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte. Sie hatte keine Ahnung, was das alles für ihn bedeutete.

Letztendlich spielte es jedoch keine Rolle, ob und inwiefern er sich betroffen fühlte. Erianthe waren vor allem Theo, Chris und Deakin wichtig. Daher musste sie eine Möglichkeit finden, mit Ares umzugehen, ohne die Nerven zu verlieren. Sonst wären die vielen Jahre, in denen sie ihr Geheimnis vor den anderen bewahrt hatte, vergeblich gewesen. Und dann hätte sie das alles ohne Grund ganz alleine durchgestanden.

Ihr war klar, wie Theo mit seinem typischen Beschützerinstinkt darauf reagieren würde. Und egal, was Chris und Deakin davon halten mochten, wenn sie davon erfuhren, was zwischen Ares und ihr vorgefallen war – es würde die vier Freunde auf jeden Fall auseinanderbringen. Wahrscheinlich für immer.

Jeder von ihnen hatte schon genug Leid in seinem Leben erlebt, und Erianthe wollte ihnen nicht noch mehr zufügen. Vor allem, da sich an der Vergangenheit ohnehin nichts mehr ändern ließ. Außerdem hatte sie selbst schon genug verloren. Sie wollte nicht auch noch Chris und Deakin verlieren, auch wenn sie vielleicht versöhnlicher wären als ihr allzu beschützender Bruder.

„Dr. Nikolaides?“, wiederholte Ares fragend.

Da merkte sie erst, dass sie ihm noch gar nicht geantwortet hatte. „Ich schaue nach, sobald wir hier fertig sind. Ist das Labor rund um die Uhr besetzt? Ich möchte ihre Werte gerne heute Nacht und morgen früh weiter überprüfen. Außerdem sollten die Bakterien im Blinddarm auf Resistenzen hin untersucht werden.“

„Das lässt sich einrichten. Und wenn nicht, bleibe ich hier und mach das. Ich habe schon öfter Bakterienkulturen angelegt.“

„Machst du bei deiner Hilfsorganisation jeden Job?“ Zumindest hatte er sich dort hervorragende chirurgische Fähigkeiten angeeignet.

„Wir tun alle das, was getan werden muss. Medizinisches Personal ist bei den Einsätzen noch knapper als hier.“

Ares vernähte den letzten Faden, Erianthe schnitt ihn ab, tupfte die Wunde ab und legte den Verband an. Die Narkose war beendet. Sie horchte mit dem Stethoskop erst das Herz des Babys und dann das der Mutter ab.

„Und ich bin gut in dem, was ich tue“, setzte er hinzu.

Die Herzfrequenz bei beiden war stabil, die von Jacinda war allerdings etwas höher, als es Erianthe lieb war. Doch das passierte nun mal bei einer Infektion.

Sie nahm das Stethoskop aus den Ohren. „Haben wir einen Aufwachraum? Vermutlich nicht, oder?“

Ares hatte Maske und Handschuhe abgelegt, sah Erianthe jedoch mit demselben eindringlichen Blick an wie vorhin im Untersuchungszimmer. Sie spürte, wie ihre Anspannung zurückkehrte, da sie nicht wusste, was in ihm vorging.

„Sie kommt zu sich“, sagte da der Anästhesist.

Erianthe zog ihre Maske ebenfalls ab und stellte sich an den Kopf der Patientin. „Jacinda? Machen Sie die Augen auf.“

Als diese der Aufforderung folgte, berichtete Erianthe ihr die gute Neuigkeit, unterstützt von Ares.

„Jetzt werden wir Sie in Ihr Zimmer bringen und dort weiter versorgen“, sagte er.

Wenn er mit Jacinda sprach, wurde seine Stimme sanft und liebevoll. Es erinnerte Erianthe an die Art, wie er sie nach dem Schwangerschaftstest in den Armen gehalten und getröstet hatte. Als sie aus Angst vor der Reaktion von Dimitri und Hera überlegt hatten, ob sie nicht lieber zusammen weglaufen sollten, an einen sicheren Ort.

Ares sah sie an. „Wohin gehst du?“

„Nirgendwohin.“ Erianthe musste sich räuspern.

„Du weichst mir aus.“

Sie wies zur Tür. „Ich begleite sie, um ihre Vitalfunktionen zu überwachen.“

„Ist die Herzfrequenz des Babys noch in Ordnung?“

„Ja“, bestätigte sie. „Können wir das Ultraschallgerät mit in ihr Zimmer nehmen?“

Ares nahm seine Kappe ab und warf sie in den entsprechenden Behälter. Auf einmal war er todmüde. Zu erschöpft, um liebenswürdig zu sein, und zu erschöpft für dieses sonderbare Verhalten zwischen ihnen beiden. „Bring du sie nach oben, ich komme mit dem Ultraschall gleich nach.“

Im Augenblick brauchte er dringend frische Luft. Eigentlich konnte er genauso gut auch nach Hause gehen. Wenn er blieb, würde er vermutlich nur mit Erianthe in einem Zimmer festsitzen, ohne etwas zu tun zu haben.

Abgesehen davon lag seine Privatinsel dicht vor Mythelios, und er besaß ein schnelles Boot.

„Wer kann mir zeigen, wo es ist?“, fragte sie.

Dass sie ihn nicht ansehen mochte, sagte alles. Wahrscheinlich hasste sie ihn noch immer, und Ares konnte es ihr nicht verübeln. Was damals passiert war, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Er würde sein Leben lang dafür bezahlen, genau wie sie.

Er hatte gewusst, dass es hart sein würde, Erianthe wiederzusehen. Mit diesem Engegefühl in seiner Brust, das immer stärker zu werden schien, hatte er jedoch nicht gerechnet.

Sie hatte sich verändert und schien nicht mehr oft zu lächeln.

Noch immer wusste er nicht, was er damals hätte tun sollen, damit es zu dritt für sie funktioniert hätte. Aber Erianthe hatte die größte Last ihres gemeinsamen Fehlers allein tragen müssen. Ohne ihn. Ohne irgendjemand anderen.

Sein eigenes Leid war nichts im Vergleich zu ihrem.

Ares erwartete keine Vergebung von ihr und hatte auch nicht die Absicht, sie darum zu bitten.

„Ich sage Petra Bescheid, damit sie jemanden schickt.“ Er zog seinen OP-Kittel aus, um einen Stift und einen Notizblock aus seiner Tasche zu holen.

Nachdem er seine Telefonnummer aufgeschrieben hatte, legte er den Zettel auf das Ultraschallgerät und wartete, bis Erianthe, die erneut die Herztöne des Babys abhorchte, die Stöpsel des Stethoskops aus ihren Ohren zog.

„Wenn du mich brauchst, um die Laborwerte zu erstellen, oder falls es Anzeichen für ein Leck gibt oder wir irgendwas übersehen haben, ruf zuerst mich an“, sagte er. „Nicht jemand anders. Ich kann in zehn Minuten hier sein.“

Da sie zögerte, den Zettel zu nehmen, bezweifelte Ares auf einmal, dass sie ihn aus irgendeinem Grund anrufen würde.

„Wann bist du heute Morgen aufgestanden?“, erkundigte er sich. „Du hast ja schon eine längere Reise hinter dir.“

Ein verärgerter Seufzer war ihre einzige Antwort.

„Erianthe, du musst ziemlich erschöpft sein“, sagte er. „Ich bleibe, und du gehst mit Theo nach Hause.“

„Ich …“, begann sie, schaute dann jedoch an ihm vorbei zur Tür. „Ich werde nicht bei Theo wohnen, das muss ich ihm noch sagen.“

„Warum nicht?“

„Cailey und er sollten ein bisschen Privatsphäre haben. Chris ist vor ein paar Tagen angekommen, also werde ich ihn fragen, ob ich bei ihm wohnen kann.“

„Wie du meinst, dann eben bei Chris. Aber Theos Haus ist näher, falls ich dich brauche“, erwiderte Ares.

„Ich gehe zu Chris.“

Gereizt biss er die Zähne zusammen. „Na schön, dann geh zu Chris. Ich bleibe hier.“

Zum Glück war die Patientin wieder eingeschlafen, sodass sie von diesem Wortwechsel nichts mitbekam.

„Ich möchte nur nett sein, Erianthe. Wir brauchen nicht beide hierzubleiben.“

„Aber ich bin die Geburtsmedizinerin.“

„Und ich der Chirurg.“

„Na und?“

„Falls die Wehen einsetzen sollten, rufe ich dich an, okay? Willst du wirklich noch mehr Zeit mit mir verbringen, obwohl wir diesen Eiertanz aufführen? Ich habe es jedenfalls schon satt, und ich will dich nicht hier haben“, entgegnete Ares.

Erianthe sprang von ihrem Stuhl auf und stieß ihm mit blitzenden Augen den Finger vor die Brust. „Ich müsste schon im Koma liegen, um nicht zu merken, wie viel dir daran liegt, mich loszuwerden. Das ist in Ordnung, weil ich auch nicht gerade scharf darauf bin, mit dir zusammen zu sein. Ich werde jetzt die Klinik verlassen, aber ich bin es leid, von meinem Zuhause wegzulaufen.“

Am liebsten hätte er sie gepackt. So sehr er auch wollte, dass sie ging, so sehr wollte er auch endlich mit ihr ins Reine kommen.

Glühende Hitze schoss ihm in die Wangen. „Ich habe dich nie darum gebeten.“ Er hatte sie nie um irgendetwas gebeten. Nicht mal um eine Erklärung.

Erianthe griff nach seinem Zettel, kritzelte eine Nummer auf die andere Seite und gab ihn zurück. „Nein, aber unter anderem deinetwegen konnte ich nicht zurückkommen.“

Mit einer schroffen Bewegung nahm Ares den Zettel. „Du wolltest mich doch nie wiedersehen. Es war deine Entscheidung, von hier wegzubleiben. So, wie es meine Entscheidung war, auch wegzubleiben. Bis jetzt.“

„Ganz recht. Ich treffe nämlich meine eigenen Entscheidungen.“

„Dann tu das bei Chris“, sagte er scharf und trat zurück. „Und komm nicht vor morgen früh wieder hierher. Es sei denn, ich rufe dich an.“

„Hey, hast du mir überhaupt nicht zugehört?“, fuhr sie ihn an. „Ich habe dir gesagt, dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe, Dr. Xenakis. Von dir lasse ich mir ganz sicher nichts mehr sagen. Ich werde jetzt gehen, weil ich müde bin, und wenn ich dich sehe, würde ich am liebsten schreien. Wie wär’s, wenn du ab morgen ein bisschen mehr Höflichkeit zeigen könntest? Die anderen sind nicht blöd. Dass sie noch nichts erraten haben, liegt nur daran, weil sie uns noch nicht zusammen gesehen haben.“

Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und marschierte hinaus.

Erianthe hatte recht, sie mussten sich zusammenraufen. Aber nicht heute Abend.

Ares schaute ihr nach. Eine Woche hatte nicht gereicht, um sich auf das Wiedersehen mit ihr vorzubereiten. Vielleicht hätte er sie vorher anrufen sollen.

Zehn Jahre lang hatte er immer das junge Mädchen von damals vor Augen gehabt. In seinen Gedanken war sie nicht älter geworden. Und wenn er an sie dachte, fühlte auch er sich genauso jung wie damals. Noch immer achtzehn … und dumm. Noch immer verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung.

Glück war etwas, von dem Ares nicht glaubte, dass es lange anhalten könnte. Das hatte er von seinen Eltern und deren zahlreichen zerbrochenen Ehen gelernt. Aber Sicherheit und vorübergehendes Glück wären vielleicht möglich gewesen. Bis zu dem Zeitpunkt, als er alles vermasselt hatte und Erianthe mit ihrem gemeinsamen Kind in die Verbannung geschickt worden war.

Vor zehn Jahren hatte es zwischen ihnen nicht geklappt, und jetzt war das Mädchen von damals für immer verschwunden. Früher war sie die absolute Mascara- und Make-up-Queen gewesen, sie hatte älter und härter gewirkt. Er hatte gesehen, wie sie ihren Eyeliner mit einer Zigarette geschmolzen hatte, damit sie den schwärzesten Lidstrich der Welt bekam. Dazu knallroten Lippenstift und die kürzesten Röcke, die man sich vorstellen konnte. All das, was ihre Eltern am meisten aufregte.

Frech. Furchtlos. Stark.

Jetzt trug sie kein Make-up mehr, und irgendwie sah sie jünger aus als früher. Wann immer Ares sie anblickte, sah er in ihren schwarzen Augen eine endlose Reihe langer, trostloser Nächte und noch etwas anderes, Düsteres. Enttäuschung. Zorn. Abscheu.

Das Leuchten in ihren dunklen Augen war erloschen, als wä­re etwas in ihr zerstört, zerbrochen. Das konnte ihr jeder ansehen.

Nachdem er Jacindas Werte und auch die des Babys kontrolliert hatte, setzte er sich hin.

Die drei Wochen, die er auf Mythelios bleiben wollte, kamen ihm schon jetzt zu lang vor. Wie sollte er bloß die drei Monate, die er Theo eigentlich versprochen hatte, aushalten?

Als er eben Erianthes Gesichtsausdruck gesehen hatte, war ihm klar geworden, wie bestürzt er gewirkt haben musste.

Als Theo ihn angerufen hatte, um ihn nach Hause zu bitten, hatte Ares sich bereit erklärt, drei Monate auf der Insel zu verbringen, um seine Freunde zu unterstützen.

Doch bei dem Gespräch mit seinem Chef hatte sein Selbsterhaltungstrieb die Oberhand behalten. Als dieser ihn fragte, wann er zu seinem nächsten Einsatz bereit wäre, hatte Ares sich versprochen und gesagt, er wäre in drei Wochen zurück. Er hatte sich nicht berichtigt.

Drei Wochen, und jetzt musste er noch zwei davon durchhalten. Dann würde er schon einen Weg finden, sich heimlich davonzustehlen, wenn seine Dienststelle ihn zum nächsten Einsatz rief.

Trotzdem konnte auch in zwei Wochen eine Menge schiefgehen.

Hinter ihm wurde die Tür geöffnet.

Verdammt noch mal. Erianthe.

Ares sprang auf und fuhr herum, bereit für den nächsten Streit mit ihr. Stattdessen sah er sich Deakin gegenüber, der ihn verblüfft ansah.

„Begrüßt du jeden so, oder habe ich dir irgendwas getan?“

„Ich dachte, du bist Erianthe“, sagte Ares und setzte sich wieder. „Ich habe sie weggeschickt, damit sie ein bisschen Schlaf kriegt. Sie war stinksauer auf mich.“

Früher, als sie zusammen gewesen waren und ihre Beziehung vor den anderen geheim gehalten hatten, war es lustig gewesen, so zu tun, als würden sie gegenseitig aufeinander herumhacken. Jetzt erschien es ihm als das kleinere Übel, seinen Freunden, die wie Brüder für ihn waren, etwas vorzumachen. Die hässliche Wahrheit vor den Menschen zu verbergen, die er liebte, war besser, als ihnen etwas zu gestehen, was ihre Freundschaft unweigerlich zerstören würde.

„Niemand konnte Erianthe so auf die Palme bringen wie du. Genau wie früher.“ Deakin ging um den Stuhl herum und warf einen Blick auf die Überwachungsmonitore. „Sie hat sich noch nie gerne was sagen lassen. Aber sie muss wirklich müde gewesen sein, weil sie sich vor ein paar Minuten von Theo hat mitnehmen lassen. Oder sie wollte unbedingt weg von dir. Wie hast du es geschafft, dass sie gegangen ist?“

„Ich habe ihr gesagt, ich will sie nicht hier haben“, antwortete Ares wahrheitsgemäß.

„Ganz schön grob.“ Deakin zog die Brauen zusammen.

„Nach dem Ende meiner Assistenzzeit war mir zumute, als könnte ich ein ganzes Jahr lang schlafen. Aber sie ist während eines Notfalls angekommen und wurde auch noch gleich bei einer Not-OP gebraucht.“ Ares lehnte sich zurück. „Sie musste sich dringend ausruhen, und sie wütend zu machen, war die beste Methode, dafür zu sorgen, dass sie geht.“

„Es war also nur zu ihrem Besten?“

„Willst du mir irgendwas sagen?“, fragte er Deakin geradeheraus.

„Ich versuche bloß, dich zu verstehen.“

„Morgen wird sie mir dafür danken.“

Beide wussten, dass das nicht stimmte.

Deakin zog die Brauen hoch. „Du bist ziemlich finster drauf.“ Er druckte ein Kurz-EKG aus, notierte Datum und Uhrzeit und steckte den Bogen in das Krankenblatt. „Bist du sicher, dass nicht lieber jemand anders die Patientin überwachen soll?“

„Ja, ganz sicher.“ Ares rieb sich über das Gesicht, um seine Müdigkeit loszuwerden. „Gegen den Sudan ist das hier ein Sonntagsspaziergang.“

„Nicht sehr überzeugend“, entgegnete sein Freund.

„Pech. Ich muss dich ja nicht über …“ Da Jacinda sich in diesem Augenblick rührte, stand er auf, nahm ihre Hand und sagte ihren Namen. Als sie erwachte, wiederholte er, was Erianthe vorhin schon zu ihr gesagt hatte. Eine Narkose konnte Erinnerungslücken verursachen.

„Die Operation ist gut verlaufen. Sie haben es wunderbar überstanden, und das Baby auch.“

„Dem Baby geht es gut?“ Ihre Worte klangen noch ein wenig verwaschen.

„Ja, mit dem Baby ist alles in Ordnung. Ich bleibe bei Ihnen, um Sie zu überwachen. Aber ich gehe davon aus, dass Sie friedlich schlafen werden. Okay?“

Sie nickte, drückte seine Hand und schlief wieder ein.

„Bleib nicht die ganze Nacht wach“, mahnte Deakin leise. „Warte, bis sie sich von der Narkose erholt hat, und sieh zu, dass du dann auch etwas Schlaf kriegst. Wir haben morgen ein Frühstücksmeeting in der Taverna von Stavros. Das wollte ich dir ­eigentlich nur ausrichten.“

„Ein Frühstücksmeeting? Wieso?“

„Weil wir dich aus irgendeinem Grund gerne mit dabei hätten. Die ganze Truppe.“

„Mit Freundinnen?“

„Nein, nur wir.“

Auf ein solches Treffen hätte Ares lieber verzichtet. Seit seiner Rückkehr hatte er sich bereits mit all seinen Freunden getroffen, aber zusammen mit Erianthe? Keine gute Idee.

„Ich werde versuchen zu kommen, aber ich verspreche nichts“, sagte er daher.

„Wenn kein Notfall eintritt, wirst du da sein.“ Deakin knuffte ihn kameradschaftlich in die Seite, bevor er zur Tür ging. „Und du solltest dir überlegen, ob du dich nicht mal rasieren willst. Sonst glauben noch alle, dass du an totaler Erschöpfung leidest. Jeder mit auch nur dem kleinsten bisschen Energie hätte dieses Ding da so schnell wie möglich gebändigt. Und für die Auktion muss der Bart sowieso ab, sonst dürfen wir noch dafür bezahlen, dass dich überhaupt jemand nimmt.“

„Bloß weil du und Theo euch davor drücken könnt, euch an gelangweilte Schickeria-Damen versteigern zu lassen, heißt das noch lange nicht, dass Chris und ich für euch einspringen werden“, protestierte Ares.

Er war zwar bereit, eine Menge für die Klinik und für Mythelios zu tun, aber es gab auch Grenzen.

Lachend verließ Deakin den Raum.

Dem Fotoshooting für den Kalender war Ares glücklicherweise entgangen, weil er so weit entfernt von jeglicher Zivilisation gearbeitet hatte, dass sie keinen Fotografen zu ihm hatten schicken können. Er hatte der Klinik eine größere Spende zukommen lassen, um es wieder auszugleichen.

Die Junggesellen-Versteigerung sollte erst in ein paar Wo­chen stattfinden – bis dahin wäre er ohnehin schon weg, falls das Universum es im Hinblick auf Erianthe halbwegs gut mit ihm meinte.

3. KAPITEL

Schwer ließ Erianthe sich auf das Gästebett in Chris’ fantastischer Villa über den Klippen fallen. Wie lange hatte es gedauert, bis es ihr gelungen war, ihre Gefühle erfolgreich zu verstecken? Und war es ihr jemals so unendlich schwergefallen?

Die unvermeidliche Konfrontation mit Ares hatte sie schon sehr viel Energie gekostet, doch die Zeit mit Chris und seinem Baby hatte ihr auch noch den letzten Rest an Kraft geraubt.

Theo, der es recht gut aufnahm, dass seine kleine Schwester nicht bei ihm und Cailey wohnen wollte, hatte sie zu Chris’ Haus gefahren. Dann wollte er jedoch unbedingt noch so lange bleiben, bis er sich davon überzeugt hatte, dass es Erianthe dort gut ging. Deshalb hatten sie alle zusammen einen Kaffee getrunken, während Theo den kleinen Evangelos, Chris’ sieben Monate altes Söhnchen, geknuddelt hatte. Trotz seiner süßen dicken Pausbacken sah der Kleine seinem Vater unglaublich ähnlich.

Bald würde Theo selbst Vater werden, und so, wie er mit seinem kleinen Neffen ehrenhalber umging, schien er ein echtes Naturtalent zu sein. Viel besser, als ihr Vater Dimitri es jemals gewesen war. Und Theo wäre sicher auch ein wundervoller Onkel für Erianthes Kind gewesen … Plötzlich hatte die Erschöpfung Erianthe vollkommen überrollt. Zum Glück konnte sie es vor den anderen auf ihre Reise schieben. Ihre Gesichtszüge ließen sich noch einigermaßen kontrollieren, ihre körperlichen Reaktionen jedoch nicht. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit hatte sie während ihrer gesamten Schwangerschaft begleitet, und sie hatte sich geschworen, sich nie wieder so zu fühlen.

All die Dinge, die heute geschehen waren, lagen außerhalb ihrer Kontrolle. Und irgendwie schien gerade alles außer Kontrolle zu geraten.

Erianthe schaute aus dem Fenster auf das Spiel von Licht und Schatten der Spätnachmittagssonne, die durch die Bäume im Garten schien. Dabei versuchte sie, das Zittern in ihrem Innern zu überwinden. Zumindest merkte man es ihrem Gesicht und ihren Händen nicht mehr an. Aber es war noch immer da. Dort, wo es niemand sah und sie immer alles so weit wie möglich vor anderen verbarg.

Sie dachte an das Baby von Theo.

Erianthe hatte niemanden, dem sie von ihrer Tochter erzählen konnte, weil sie schon vor zehn Jahren hätte Mutter werden sollen. Dass sie jetzt eigentlich ein rebellisches, vorpubertierendes Mädchen hätte haben sollen, das sie in den Wahnsinn trieb. Eine Tochter, die nie zuhörte, alle Wände mit Postern von Bands beklebte und ihre Mutter für eine Idiotin hielt.

Da Theo ein so unglaublich beschützender großer Bruder war, blieb Erianthe im Moment nichts anderes übrig, als hier zu sitzen, in die Luft zu starren und nachzudenken. Doch die Erinnerungen an die Vergangenheit taten ihr gar nicht gut. An ihr kleines Mädchen, das sie hätte lieben und aufziehen sollen.

Sie hätte alles für ihre Tochter getan.

Erianthe streckte sich auf dem Bett aus. Chris würde es sicher verstehen, wenn sie das Dinner ausfallen ließ, um zu schlafen. Er hatte sie vorhin ebenso besorgt beobachtet wie Theo.

Morgen sah bestimmt wieder alles besser aus. Dieses emotionale Zerschlagenheitsgefühl lag wahrscheinlich nur an dem Schock ihrer Rückkehr nach so langer Zeit. Aber jeder Schock ging irgendwann vorbei. Die Begegnung mit Ares hatte alles wieder aufgewühlt, doch jetzt wusste Erianthe, mit welchen Gefühlen sie rechnen musste. Zorn. Dass sie ihr Kind zutiefst vermisste. Verrat. Und auch Einsamkeit. Wenn sie alleine war, brauchte sie wenigstens ihre Gefühle nicht mehr zu unterdrücken. Vor all den wohlmeinenden Menschen, die sich große Sorgen machen würden, falls sie Tränen bei ihr sahen.

Da klopfte jemand leise an ihre Zimmertür.

Rasch wischte Erianthe sich über die Augen und eilte zur Kommode, um so zu tun, als sei sie mit Einräumen beschäftigt. Daher warf sie nur einen Seitenblick zur Tür, als Chris den Kopf hereinsteckte.

„Willst du schlafen gehen?“ In seinen blauen Augen lag ein fragender Ausdruck. „Ich weiß, du bist müde, aber falls du noch ein paar Minuten aufbleibst …“

Sie schob eine Schublade zu und drehte sich zu ihm um. Inzwischen waren ihre Augen wieder trocken.

„Ich habe keine bestimmten Schlafenszeiten mehr, sondern bin jetzt ganz frei und ungebunden“, erwiderte sie in gespielt fröhlichem Ton. „Was kann ich für dich tun?“

„Würdest du vielleicht ein paar Minuten auf Evan aufpassen?“ Chris blieb an der Tür stehen.

„Na klar.“

„Entschuldige, dass ich dich darum bitte, obwohl du so erschöpft bist. Aber ich dachte … Du hilfst, Kinder auf die Welt zu bringen, wahrscheinlich liebst du Babys. Er ist gerade aufgewacht, und ich müsste dringend mal duschen.“

Im Grunde genommen war es keine große Sache, und immerhin hatte er sich ohne Weiteres bereit erklärt, sie aufzunehmen. Auch wenn Erianthe Babys tatsächlich liebte, hatte sie meistens nur mit denen zu tun, die sich noch im Mutterleib befanden.

„Ja, gern“, sagte sie. „Soll ich ihn füttern oder sonst irgendwas?“ Solange sie eine Aufgabe hatte, wäre es auf jeden Fall leichter.

Wenig später hatte sie Evan auf dem Arm, der mit seinen großen Augen vertrauensvoll zu ihr aufschaute, und ihre Arme fingen erneut an zu zittern.

Chris hatte den Kleinen schon gefüttert und gebadet, wie der frische, pudrige Babyduft verriet. Also gab es für Erianthe nichts zu tun, außer ihn zu halten.

Vielleicht wäre es besser, einfach nur bei ihm zu sitzen und so auf ihn aufzupassen. Vorsichtig legte sie Evan in sein Bettchen und stieß das Mobile darüber an, um ihn abzulenken.

Dann setzte sie sich in einen bequemen Sessel daneben, wodurch das Zittern in ihren Armen allmählich nachließ.

Den Kopf zurückgelehnt, schloss sie die Augen und zählte ihre Atemzüge. Nur ein paar Minuten, dann wäre Chris fertig mit seiner Dusche, und Erianthe konnte schlafen gehen.

Als Evan erfreut gluckste, erstarrte sie. Wie albern. Er war doch bloß ein Baby, kein Pulverfass, das jederzeit explodieren könnte. Sie fühlte sich schrecklich.

Morgen würde es ihr sicher besser gehen.

Tief einatmen.

Schlaf wirkte wie ein geistiger und emotionaler Neustart. Wenn man ein Gerät ab- und dann wieder einschaltete, funktionierte es oft wieder. Bei ihr würde es auch so sein.

Morgen würde es ihr besser gehen.

Ausatmen.

Da fing der Kleine an zu weinen.

Um sieben Uhr am nächsten Morgen, schön und sonnig wie immer, schleppte Ares sich mühsam zur Taverna. Mittlerweile überlegte er, ob er nicht das Büro seiner Hilfsorganisation anrufen und nach einem neuen Einsatz fragen sollte, anstatt zu warten, bis er angerufen wurde.

Nach vielen schlaflosen Stunden spürte er seine Erschöpfung.

Nur allzu gerne würde er so schnell wie möglich von hier verschwinden. Aber dann wäre er nicht nur ein Feigling, sondern auch jemand, der seine Freunde im Stich ließ, wenn sie ihn brauchten.

Am Tresen blieb er stehen, wo Stavros, der Wirt, mit finsterer Miene und einer Brille auf der Nase die Papiere auf seinem Klemmbrett durchging.

„Wer hat dich bestochen, so früh an einem Donnerstagmorgen aufzumachen?“, fragte Ares.

Schweigend musterte Stavros ihn, bis er schließlich antwortete. „Sag deinen Freunden, sie sollen leiser sein. Mein Kopf verträgt heute früh keinen Krach von eurer Truppe.“

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Ares betrachtete ihn aufmerksam und suchte nach möglichen Anzeichen für einen Kater oder eine Verletzung. Doch seine Augen waren nicht blutunterlaufen, er sprach klar und deutlich und roch auch nicht nach jemandem, der zu viel getrunken hatte. Zwar war Stavros nie besonders überschwänglich, aber normalerweise doch so umgänglich, dass man sich nicht fragen musste, ob man als Gast überhaupt willkommen war.

„Ist mit dir alles in Ordnung, Stavros?“, fragte Ares halblaut.

„Kopfschmerzen.“

Er nickte. „Falls du irgendwas brauchst …“

„Erwartet nicht von mir, dass ich euch bediene“, unterbrach ihn Stavros. „Die Küche ist geschlossen.“

„Alles klar.“ Ares konnte es gut verstehen, wenn jemand in Ruhe gelassen werden wollte.

Widerstrebend ging er zu dem großen Tisch in der Mitte der Taverna. Er achtete darauf, niemanden lange anzusehen, vor allem nicht Erianthe.

„Da ist ja unsere Vogelscheuche!“, rief Deakin scherzhaft. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als er Ares kommen sah.

Alle schauten zu ihm hin, abgesehen von ihr.

„Nein, er ist ein Fell-Model“, widersprach Theo. „Er lässt sich einen Wahnsinnsbart wachsen. Ehrlich, Mann, der hat mich gestern sogar angeknurrt. Und ich glaube, neulich habe ich gesehen, wie er einen Vogel verschlungen hat.“

Für sieben Uhr morgens waren die beiden entschieden viel zu gut gelaunt.

„Eigentlich füttere ich ihn eher mit den Seelen meiner Feinde.“ Auch Ares bemühte sich um einen scherzhaften Ton, doch es klang eher müde.

Er ließ sich möglichst weit weg von Erianthe auf einen Stuhl fallen. „Stavros hat gesagt, wir sollen leise sein.“

Alle blickten zu dem Wirt hinter dem Tresen hinüber. Theo wurde ernst und senkte die Stimme. „Er ist schon eine ganze Weile ziemlich mürrisch.“

„Vielleicht hat er Streit mit Maria?“, mutmaßte Deakin.

Jeder bemühte sich, leiser zu sprechen als zuvor, und sie steckten die Köpfe enger zusammen.

Gegen seinen Willen wurde Ares’ Blick geradezu magnetisch von Erianthe angezogen. Weder gerötete Wangen noch ein Lächeln, und sie sagte auch nichts. Ausnahmsweise schaute sie nicht weg, und die Schatten unter ihren Augen zeigten, dass sie vermutlich genauso wenig Schlaf gehabt hatte wie er.

„Kein Kaffee, kein Frühstück. Wir hätten uns lieber bei Theo treffen sollen.“ Deakin streckte sich gähnend.

„Wieso treffen wir uns überhaupt?“, fragte Ares missmutig.

„Zum Frühstücken“, erwiderte Chris. „Aber das klappt ja jetzt nicht.“

„Und weil die meisten von uns ab und zu mal hier gewesen sind, aber nie alle zusammen“, ergänzte Deakin.

Seit fast genau zehn Jahren.

Ares vergaß jeden Geburtstag, manchmal sogar seinen eigenen. Doch den traurigen Tag, an dem er Erianthe das letzte Mal gesehen hatte, beging er jedes Jahr damit, dass er alles trank, was den scharfen Schmerz dämpfte.

„Du bist also doch die ganze Nacht aufgeblieben“, sagte Deakin kopfschüttelnd. „Dann bist du ja wohl heute nicht zu viel zu gebrauchen.“

„Stimmt“, bestätigte Ares. „Ich muss nach Hause und schlafen. Irgendjemand sollte also einspringen, falls es einen chirurgischen Notfall gibt.“

„Es dauert aber eine Weile, um von deiner Insel hierher zurückzukommen“, wandte Theo ein.

„Mit meinem Boot geht es ziemlich schnell.“ Mythelios war eine kleine Insel, und seine noch wesentlich kleinere Privatinsel war in Sichtweite. „Oder ihr holt Chris, wenn es wirklich dringend ist. Er kann nämlich mehr als nur Schädel aufschneiden.“

Chris schnaubte. „Es ist unmöglich, so kurzfristig einen Babysitter zu kriegen. Gestern Abend musste ich sogar Erianthe bitten, auf Evan aufzupassen, damit ich duschen konnte.“

Ares sah Erianthe an. Sie wurde blass und senkte sofort die Augen.

Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass es keinem außer ihm aufgefallen war. Damit es auch so blieb, lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.

„Gut, dann schlafe ich eben im Rufbereitschaftsraum“, erklärte er.

„Wie geht es Jacinda und dem Baby?“ Erianthes Stimme war so leise, dass nur er es zu hören schien.

Die anderen hatten sich unterdessen in ein Gespräch über Klinikpersonal vertieft.

„Beiden geht es gut“, antwortete Ares. Und plötzlich hörten auch die anderen wieder zu. „Ich habe heute Nacht noch mal ein Blutbild gemacht. Da hatten sich die Leukozyten schon verringert. Und bevor ich hergekommen bin, habe ich noch eine Blutprobe entnommen, die jetzt im Labor ist. Jacinda hat weniger Schmerzen, und das Baby hat einen regelmäßigen Herzschlag. Es bewegt sich immer noch sehr wenig, aber nach einer Vollnarkose dauert es wohl eine Weile. Zumindest habe ich das heute Nacht so gelesen.“

„Das stimmt“, bestätigte Erianthe. „Die Sache ist hoffentlich gerade noch mal gut gegangen.“

„Ja, seit gestern scheint es deutlich besser geworden zu sein.“

Deakin hob betont die Augenbrauen. „Wenn ihr so weitermacht, wäre es sogar möglich, dass ihr die Patienten nicht mit eurem ständigen Gezanke abschreckt.“

Seine Bemerkungen gingen Ares auf die Nerven, was eigentlich die komplett falsche Reaktion auf eine solche freundschaftliche Hänselei war. Im Allgemeinen konnte er wie alle anderen genauso gut austeilen wie einstecken. Aber früher hatte er nie etwas wirklich ernst genommen – bis zu dem Tag, als nichts mehr witzig gewesen war. Heute fiel es ihm schwer, den Unterschied zwischen witzigem Sarkasmus und Verbitterung zu erkennen.

„Wir streiten uns bloß vor anästhesierten Patienten, die nichts davon mitbekommen“, sagte Ares.

„Oder wenn Ares sich aufführt, als wäre er mein Boss“, ergänzte Erianthe. Als sie noch Kinder waren, hatte sie das so oft behauptet, dass alle lachten.

Damit wurde die Unterhaltung lockerer, und sowohl Ares als auch Erianthe entspannten sich etwas.

Nach zehn Jahren, in denen sie nie alle zusammen gewesen waren, stellte sich das alte Gefühl von Freundschaft und Zugehörigkeit wieder ein. Wenn Ares abreiste, würde er es vermissen.

Das Gespräch, das zunächst als Meeting geplant gewesen war, entwickelte sich eher zu einer Erzähl-Runde. Alle berichteten von ihren verrücktesten Fällen, und sie verglichen die Klinik hier mit den Einrichtungen, die sie sonst kannten.

Theo erzählte, wie er sich in den ersten zwei Tagen nach dem Erdbeben gefragt hatte, was Ares dazu veranlasst hatte, ausgerechnet Notfallmediziner zu werden. Er selbst hatte zwar gelegentlich mit Notfällen zu tun, aber es gefiel ihm besser, ein ganz normaler praktischer Arzt zu sein.

„Notfallmedizin ist nicht jedermanns Sache.“ Ares versuchte gar nicht erst zu beschreiben, was ihn daran anzog. Oder weshalb er sich für die extremste Art dieses Fachgebiets entschieden hatte, indem er dorthin ging, wo es nur die minimalste medizinische Ausstattung, aber den dringendsten Bedarf gab. Tatsächlich wusste er selbst nicht einmal genau, warum er derartige Einsätze in Katastrophengebieten übernahm.

Theo grinste seine Schwester an. „Dies ist jetzt dein erster richtiger Job als großes Mädchen!“

Sie stieß ihn energisch vor die Brust. Er lachte und rieb sich die Stelle. Als einziges Mädchen mit vier Jungs in der Gruppe hatte sie früh gelernt, sich zu behaupten. Sie konnte härter zuschlagen, als man vermutete. Und oft sogar härter, als die Jungen sich untereinander boxten, wenn es mal zu einer hitzigen Auseinandersetzung kam, was nur selten geschehen war.

„Im Ernst, ich weiß, dass du in dieser schicken Londoner Geburtsklinik gearbeitet hast. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn du dich zuerst ein bisschen mehr an die Notfallaspekte der Arbeit in unserer Klinik gewöhnst“, sagte Theo.

Notfallaspekte? Ares merkte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.

„Ist vielleicht keine so tolle Idee, wenn wir vermeiden wollen, dass die beiden sich vor den Patienten zanken“, warf Deakin ein.

Erianthe wandte sich ihrem Bruder zu. „Ich habe schon mal in einer Notaufnahme gearbeitet. Das gehörte zu meiner Assistenzzeit, und die ist noch nicht so lange her.“

„Mehrere Jahre.“

„Aber ich erinnere mich noch gut daran.“ Sie ließ sich nie gerne etwas sagen, auch nicht indirekt.

Nach dem Streit von gestern Abend fragte Ares sich, ob sie Anweisungen von Theo eher akzeptieren würde als von jemand anderem.

„Seid ihr zwei wirklich nicht imstande, vor den Patienten miteinander auszukommen?“ Theo schlug einen heiteren Ton an, auch wenn seine Frage ernst gemeint war.

Finster sah Erianthe ihn an, und Ares setzte eine möglichst ausdruckslose Miene auf. Wenn sie beide allzu heftig protestierten, würde es nur unnötig Verdacht erregen.

„Ich begreife nur nicht, wieso das nötig ist, obwohl es so viele Frauen auf der Insel gibt, dass ich mehr als genug beschäftigt sein werde. Mit Vorsorgeuntersuchungen, pränataler Überwachung und Geburten“, widersprach sie. „Apropos, wie oft gibt es hier eine Geburt? Bei einer Einwohnerzahl von etwa zehntausend wahrscheinlich eine oder zwei pro Woche?“

„So ungefähr“, bestätigte Theo. „Es wird ein paar Tage dauern, bis es sich herumgesprochen hat und du voll beschäftigt bist. Und wir alle übernehmen Notfälle, wenn es nötig ist. Bis die Patienten bei dir Schlange stehen, kannst du Ares über die Schulter schauen.“

Sie holte tief Luft, und ihre Wangen waren leicht gerötet, doch dann stieß sie die Luft wieder aus und schwieg. „Na schön. Falls ich nicht gebraucht werde, um Gesundheitsprobleme von Frauen zu behandeln, werde ich Ares begleiten.“

„Tja, ich kippe jedenfalls gleich um vor Müdigkeit“, sagte Ares. „Vielleicht kann sie ja morgen damit anfangen.“

„Aber du kommst am Samstag zur Hochzeit?“

Er war zwar schon aufgestanden, doch anscheinend nicht schnell genug verschwunden. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. „Wer heiratet denn?“

Soviel er wusste, war sein Vater momentan verheiratet, und seine Mutter hatte sich nach ihrer sechsten Scheidung erst mal eine Auszeit gegönnt. Außerdem lebten beide nicht auf Mythelios. Das konnte also nicht der übliche Grund sein, weshalb Ares schon wieder zu einer Hochzeit musste.

„Cailey und ich!“ Theo sah ihn an, als hätte er es ihm schon zwanzig Mal gesagt.

Sobald irgendjemand vom Heiraten sprach, schaltete Ares ab. „Anscheinend bin ich noch müder, als ich dachte. Natürlich werde ich da sein. Und wo?“

Bis Samstag saß er also hier fest. Das bedeutete, er musste bis Montag warten, ehe er seinen Rettungsanker aktivieren konnte.

Trotz Theos Anweisung musste Ares am Freitagmittag auf die Suche nach Erianthe gehen, um ihr mitzuteilen, dass eine schwangere Frau auf sie wartete.

Am Donnerstag hatte er bis nachmittags im Rufbereitschaftsraum geschlafen und war dann nach Hause gefahren. Und wann immer er heute zwischen zwei Fällen nach ihr schaute, hatte er zu seiner Erleichterung festgestellt, dass Erianthe jedes Mal selbst ­Patienten behandelte. Ein guter Vorwand, um sie in Ruhe zu lassen.

Aber jetzt musste er sie suchen.

Dr. Lea Risi war Psychiaterin und die neue Kollegin in der Klinik. Sie hatte gleich nach dem Erdbeben hier ausgeholfen und war mittlerweile mit Deakin zusammen. Als sie zufällig hörte, wie Ares bei Petra nach Dr. Nikolaides fragte, hatte sie ihm gesagt, dass Erianthe im Ruhegarten war. Nach dem ernsten Ausdruck in ihren grünen Augen zu schließen, schien offenbar irgendwas nicht in Ordnung zu sein.

Als er Erianthe im Garten fand, konnte er Leas Besorgnis nachvollziehen. Sie saß auf einer Bank neben dem Springbrunnen und starrte regungslos ins Wasser. Sie wirkte so tief in Gedanken versunken, dass er in drei Metern Entfernung stehen blieb.

Ohne aufzuschauen, fragte sie: „Brauchst du mich?“

„Ja, da ist eine Patientin für dich. Eine Schwangere.“

Erianthe stand auf und zog ihr Hemd zurecht.

Dann ging sie zur Hintertür der Klinik. „Bloß eine Vorsorgeuntersuchung, oder gibt es ein Problem?“

Ares führte sie zu dem entsprechenden Behandlungszimmer. „Sie möchte eine Kontrolle, aber sie ist beunruhigt. Und sie meinte, sie hätte gehört, dass die Baby-Ärztin da wäre.“

Er klopfte, öffnete die Tür und ließ Erianthe eintreten. „Nyla Sarantos, dies ist unsere Geburtsmedizinerin Dr. Nikolaides.“ Nachdem er sie einander vorgestellt hatte, erklärte er: „Miss Sarantos ist im siebten Monat schwanger und macht sich Sorgen um ihr Baby.“

Erianthe wandte sich ihrer Patientin zu, womit sie ihm wohl zeigte, dass er nicht länger gebraucht wurde. Als sie begann, Nyla eine Reihe von Fragen zu stellen, beschloss er, doch zu bleiben, und lehnte sich an den Schrank.

Wenn es um Schwangere ging, machte Ares sich häufig so große Sorgen, dass er sie lieber von anderen Ärzten behandeln ließ. Selbst wenn es sich nur um etwas so Einfaches wie eine Schnittwunde handelte, die genäht werden musste. Während Jacindas Operation hatte er es geschafft, sein Unbehagen zu verdrängen, da es wirklich nötig gewesen war.

Eigentlich dachte er überhaupt nicht gerne an schwangere Frauen und sie zu behandeln, fand er noch schlimmer.

„Also, Nyla. Erzählen Sie mir, weshalb Sie sich Sorgen machen.“ Erianthe richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihre Patientin und nahm deren Hand. Sie war eine Ärztin, der ihre Patienten wirklich wichtig waren.

Als Teenagerin hatte sie sich nicht für Medizin interessiert, zumindest wusste Ares nichts davon. Damals hätte er sie eher als Naturwissenschaftlerin gesehen oder vielleicht auch als Geisteswissenschaftlerin. Aber Medizin passte zu ihr, das sah er jetzt.

„Ich habe Angst, dass mein Baby krank ist. Es bewegt sich kaum.“

Erianthes Lächeln schwand. Sie ließ Nylas Hand los und steckte sich sofort das Stethoskop in die Ohren. Sorgfältig horchte sie den Bauch ihrer Patientin ab, wobei sich die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen immer mehr vertiefte.

Als sie ihre Hand das dritte Mal hob, bebten ihre Finger. Ares trat rasch an die Untersuchungsliege, wobei er Erianthe nicht aus den Augen ließ. Innerhalb weniger Sekunden wurde sie blass unter dem honigfarbenen Teint.

Er nahm sein eigenes Stethoskop und lauschte von der anderen Seite des Bauches her auf den Herzschlag des Kindes.

Nylas Herz raste und pochte so heftig, dass es ihn beunruhigte. Und das Baby? Weil der Herzschlag der Mutter so laut war, konnte er nichts anderes hören.

Ares wurde eiskalt zumute, und auch sein Herzschlag beschleunigte sich. Er probierte eine tiefere Stelle. Noch immer nichts.

Wieder bewegte Erianthe das Stethoskop weiter, genau wie er. Doch in dem Moment, als ihr Stethoskop Nylas Bauch erneut berührte, legte sie ihre Hand auf seine. Bei dieser Berührung schien plötzlich sein ganzer Körper zu vibrieren. Forschend betrachtete er ihr Gesicht, ohne sich zu rühren. Er atmete nicht einmal.

Ihre Züge entspannten sich, und ein kleines Lächeln erschien in ihren Augen. Erleichterung. Eine Erleichterung, die sich über ihre kleine zarte Hand auf ihn übertrug.

„Ist es tot?“ Nylas Stimme klang brüchig.

Ares schüttelte den Kopf, und Erianthe antwortete: „Es ist da.“ Sie lauschte noch ein wenig länger darauf, wie das kleine Herzchen schlug. Dann schien sie zu merken, dass sie noch immer Ares’ Hand festhielt, und zog ihre Hand zurück.

Autor

Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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Amalie Berlin
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