Julia Ärzte zum Verlieben Band 137

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ÄRZTIN AUF ZEIT - GELIEBTE FÜRS LEBEN? von SUSANNE HAMPTON

Liebe? Nie wieder! schwört sich die hübsche Kinderärztin Jessica. Doch ihr bitterer Vorsatz wird auf die Probe gestellt, als sie Dr. Harrison Wainwright und seinem kleinen Sohn begegnet. Ja, zu lieben ist ihre größte Angst - aber zugleich auch ihre größte Sehnsucht …

GIB DIESEM GLÜCK EINE CHANCE! von LOUISA GEORGE

Yoga im Regen, ein leuchtendbunter Hut, ein strahlendes Lächeln: Jeden Tag feiert Rose nach einer überstandenen Erkrankung! Als Krankenschwester versucht sie, anderen zu helfen - zusammen mit ihrem neuen Boss, dem zurückhaltenden Dr. Thompson. Aber kann sie auch sein Herz heilen?

IM SIEBTEN HIMMEL MIT DR. BRENNAN von SUSAN CARLISLE

Ein unruhiger Helikopter-Flug zu einem Schwerverletzten bringt Dr. Brennans Herz in Gefahr. Ganz fest hält die schöne Schwester Stacey seine Hand. So, als wollte sie nie wieder weg von ihm! Dabei ist sie doch nur einen Monat in seiner renommierten Maple Island Clinic …


  • Erscheinungstag 03.04.2020
  • Bandnummer 137
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715540
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susanne Hampton, Louisa George, Susan Carlisle

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 137

SUSANNE HAMPTON

Ärztin auf Zeit – Geliebte fürs Leben?

„Oh, Entschuldigung!“ Die wunderschöne Fremde, die ihm mit dem Trolley über den Fuß gefahren ist, rührt etwas in Harrisons Herzen: In ihren grünen Augen steht so viel Einsamkeit … Aber schnell ist der flüchtige Moment am Flughafen vorbei – bis der australische Landarzt sieht, wer die neue Vertretungsärztin in der kleinen Klinik ist!

LOUISA GEORGE

Gib diesem Glück eine Chance!

Warum ist er auf dem besten Weg, sich in Schwester Rose zu verlieben? Er weiß doch, wie es ist, wenn einem die Liebste genommen wird! Für Dr. Thompson war es der schwärzeste Tag in seinem Leben, als seine Frau Pippa starb. Doch die neue Schwester in der Praxis bringt Liebe, Licht und Glück zurück. Noch ahnt Joe nicht, was Rose und Pippa teilen …

SUSAN CARLISLE

Im siebten Himmel mit Dr. Brennan

Schwester Stacey hat den Job in der Inselklinik angenommen, weil sie der hohe Standard hier reizt. Sie hat ihn bestimmt nicht angenommen, weil Klinikgründer und Chirurg Dr. Cody Brennan ein Traummann ist, ein alleinerziehender Dad, der mit ihr überraschend heiß flirtet. Aber sie hat sich geschworen, genau vier Wochen zu bleiben. Und keinen Tag länger!

1. KAPITEL

Dr. Jessica Ayers schob den Riemen ihrer Oversize-Tasche höher auf die Schulter und verließ die 36-sitzige Propellermaschine. Nach einer etwas holperigen Landung stand das Flugzeug nun am Armidale Airport. Wobei die Landung das geringste ihrer Probleme war, denn ihr Leben verlief zurzeit alles andere als glatt!

Jessica holte tief Luft, um die innere Unruhe zu bekämpfen, die sie jedes Mal befiel, wenn sie in eine fremde Umgebung kam. Zwar hatte sie sich selbst für dieses Nomaden-Dasein entschieden, aber manchmal überwältigte sie das bedrückende Gefühl, dass es für immer so weitergehen würde. Wieder eine neue Stadt. Wieder neuen Menschen begegnen, die sie nur flüchtig kennenlernen konnte, weil sie in sechs Wochen zum nächsten Job aufbrach.

Doch sie hatte sich nun einmal dazu entschlossen, als Vertretungsärztin zu arbeiten und kreuz und quer durch Australien zu reisen. Wurzeln zu schlagen, sich häuslich niederzulassen, das gehörte nicht zu ihrer Lebensplanung. Nicht mehr.

Zutiefst verletzt und von Scham erfüllt, weil sie sich in den falschen Mann verliebt hatte, glaubte sie nicht daran, dass es für sie jemals ein Happy End geben könnte. Dann lieber in Bewegung bleiben wie ein rollender Stein, kein Moos ansetzen, sich an niemanden binden.

Noch eine solche Enttäuschung, dessen war Jessica sich sicher, würde sie nicht überleben. Ihre beste Freundin Casey war da völlig anders. Die stürzte sich nach einer gescheiterten Beziehung mit Feuereifer auf die Online-Dating-Portale in der Hoffnung, endlich den Richtigen zu finden.

So optimistisch wie Casey war Jessica nicht.

Sie blickte zum bedeckten Himmel hinauf. Kurz vor fünf an diesem Juninachmittag blies ein stürmischer Wind, und die hinter Wolken verborgene Sonne verabschiedete sich gerade von einem kalten Wintertag. Jessica hielt sich am regenfeuchten Handlauf fest und begriff sofort, dass das keine gute Idee gewesen war. Jetzt war ihr Wollhandschuh durchnässt.

Seufzend ging sie die sieben Stufen hinunter und wischte noch mehr Tropfen in die feuchte Wolle, während sie sich an die Reling klammerte. Unerbittlich zerrte der Wind an ihr, sodass sie Mühe hatte, geradeaus zu gehen. Jessica zog beide Handschuhe, den pitschnassen und den trockenen, aus und ging zu dem kleinen Stapel Handgepäck unter einer der Tragflächen. Da die winzigen Fächer über den Sitzen nicht genug Platz boten, durften die Gepäckstücke nicht mit in die Kabine genommen werden.

Jessica erkannte ihren metallicsilbernen Rollkoffer, der zu ihrem übrigen Gepäck passte, unter den schwarzen sofort und griff mit klammen Fingern danach. Sie hatte schon immer einen Sinn für Ordnung gehabt, ein Erbe ihres Vaters, der beim Militär gewesen war. Ein Jammer, dass sie nicht mehr danach leben konnte, zumindest nicht in ihrem Privatleben. Da war nichts in Ordnung.

Die Haare flogen ihr ins Gesicht, nahmen ihr fast die Sicht, als sie über das sturmumtoste Rollfeld eilte. Ihre Jacke schlug auf, der Wind fuhr durch ihren dünnen Pulli, während sie den Pfützen auszuweichen versuchte. Armidale empfing sie mit eisiger Kälte, nachdem Sydney sie mit schwülem Wetter verabschiedet hatte.

Stumm fragte sie sich, was sie eigentlich machte. Nicht in der letzten Stunde und auch nicht im letzten Monat, als sie sich für die Vertretungsstelle in der Pädiatrie des Armidale Regional Memorial Hospital verpflichtete – dessen leitender Oberarzt ironischerweise in den Flitterwochen weilte. Nein, sie fragte sich, was sie mit ihrem Leben machte. Ihre Lippen zitterten, wie immer, wenn die Enttäuschung fast körperlich wehtat. Aber Jessica hatte sich schnell wieder im Griff. Sie durfte sich diesen Gefühlen nicht ergeben. Sie hatte niemanden, der sie wieder herausholte, wenn sie in ein schwarzes Loch fiel.

Sie hatte nur sich selbst. Als sie sechzehn war, starb ihr Vater und vor drei Jahren ihre Mutter. Geschwister hatte sie nicht, nur Cousins und Cousinen und natürlich einen Freundeskreis. Doch die waren alle längst verheiratet und hatten Familie. Jessica hatte nicht einmal einen Freund und wollte auch keinen haben.

Früher hatte sie sich in den eleganten Boutiquen Brautkleider angesehen, jede märchenhafte Kreation aus Spitze und Satin betrachtet und sich vorgestellt, in welcher sie zum Altar schreiten würde, wo Tom, der Mann ihrer Träume, auf sie wartete. Sie hielt ein Brautbouquet aus weißen Rosen in der Hand, entzückend angezogene Kinder streuten Blumen, und die milden Strahlen der Nachmittagssonne fielen durch die Buntglasfenster ins Kirchenschiff. Beim Bräutigam angekommen, würde er ihre Hand nehmen, und dann würden sie sich versprechen, einander bis an ihr Lebensende zu lieben.

Der Traum war wie eine Seifenblase zerplatzt. Ohne Vertrauen war eine Ehe nichts wert, und Jessica vertraute den Männern nicht mehr. Sie logen, versprachen, was sie nicht halten konnten, und brachen Herzen – manchmal sogar zwei gleichzeitig.

Jessica zog ihren Rollkoffer in die kleine Flughafenhalle. Ohne romantische Träume musste sie das Beste aus dem machen, was sie hatte, und das waren sechs Wochen in einem Krankenhaus mitten im ländlichen New South Wales. Eine neue Erfahrung, da sie bisher nur in Großstadtkrankenhäusern gearbeitet hatte.

Ungeduldig riss sie ihr Köfferchen über eine leichte Schwelle. Es war nicht schwer, da sich ihre Schuhe, Kleidung und andere Habseligkeiten im eingecheckten Gepäck befanden, aber sie ließ ihren Frust an dem unschuldigen Objekt aus.

Bei dem Wetter draußen hatte sie das Gefühl gehabt, auf einem Hexenbesen hergeflogen zu sein. Erfahrungsgemäß dürfte sich ihre melancholische Stimmung jedoch in ein, zwei Tagen legen. Sich der neuen Umgebung anzupassen, aber nie so lange zu bleiben, dass Bindungen entstanden, das war seit gut einem Jahr ihr Motto. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihr das von Mal zu Mal schwerer fiel. Allmählich fand sie das ständige Herumreisen anstrengend.

Und nun stand sie wieder vor einem Neuanfang, der nichts ändern und sie vor allem nicht wieder zu dem Menschen machen würde, der sie einst gewesen war: eine optimistische junge Ärztin, die das Leben liebte und geglaubt hatte, den Mann gefunden zu haben, der sie genauso liebte wie sie ihn.

Fast zwölf Monate waren inzwischen vergangen. Ihr Herz fühlte sich immer noch wie betäubt an, und sie schämte sich wie damals zutiefst darüber, dass sie beinahe eine Familie auseinandergerissen hatte.

Es war schwer zu begreifen. War sie nun Opfer oder Täterin? Bei der Frage drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Und egal, wohin sie reiste, die Enttäuschung folgte ihr. Sie war von dem Mann enttäuscht, der ihr etwas vorgemacht und seine Frau betrogen hatte. Sie war von sich selbst enttäuscht und vertraute ihrem Urteilsvermögen nicht mehr.

Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, wie sie sich mit Tom in ihrem Bett geliebt hatte. Einem Mann, auf den zu Hause Frau und Kinder warteten, ohne dass Jessica die geringste Ahnung gehabt hatte.

Sie verscheuchte die demütigende Vorstellung. Sechs Wochen Armidale, darauf sollte sie sich konzentrieren. Und vielleicht, eines Tages, würde sie so weit sein, sich wieder zu vertrauen.

Im Moment zweifelte sie allerdings stark daran.

„Oh nein!“ Gedankenverloren hatte sie nicht auf ihre Umgebung geachtet, bis ihr Rollkoffer ruckte und sie begriff, dass sie einem Mann über den Fuß gefahren war. Jessica blickte nach unten auf den eleganten Lederloafer, den nun der feuchte Abdruck ihres Kofferrädchens zierte. „Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.“

„Schon gut“, tröstete die tiefe Männerstimme. „Ich bin sicher, dass nichts gebrochen ist.“

Jessica sah auf. Der Fremde lächelte, ein echtes Lächeln, das seine blauen Augen erreichte. Sie bezweifelte allerdings stark, dass ihr Missgeschick dafür verantwortlich war. Normalerweise reagierten die Leute nicht mit einem glücklichen Strahlen, wenn ihnen jemand über den Fuß fuhr.

Sein Glück ging tiefer, das spürte sie. Eine neue Liebesbeziehung vielleicht? Bei seinem Aussehen kamen sicher viele Frauen ins Schwärmen. Sie natürlich nicht! Doch trotz ihrer erklärten Abneigung Männern gegenüber verdiente dieser eine aufrichtige Entschuldigung.

„Nein, wirklich, verzeihen Sie. Ich hätte besser aufpassen müssen.“

„So etwas kann immer passieren. Denken Sie nicht mehr daran.“ Wieder lächelte er umwerfend offen. Seine blauen Augen leuchteten auf, was sein leicht gebräuntes markantes Gesicht noch attraktiver machte. Noch nie hatte Jessica jemanden auf diese charmante Weise lächeln sehen.

Ohne ein weiteres Wort ging er davon. Verblüfft und ein wenig atemlos blickte Jessica ihm nach und fragte sich, was um alles in der Welt da gerade passiert war. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ein Mann, von dem sie nichts wusste, außer dass er sehr gut aussah und stilvolle Schuhe trug – der eine mit einem nassen Radabdruck versehen –, hatte ihr den Atem geraubt.

Warum? Weil er anders war? Weil er ungewöhnlich reagiert hatte? Während sie sich dem Gepäckband näherte, wunderte sie sich, dass sie sich länger als die üblichen dreißig verächtlichen Sekunden, die sie für jeden Mann höchstens übrighatte, mit ihm befasste. Lag es daran, dass er so faszinierend glücklich gewirkt hatte? Jessica ertappte sich dabei, dass sie gern den Grund dafür gewusst hätte.

Der Lautsprecher-Aufruf für die Passagiere nach Sydney brachte sie abrupt in die Gegenwart zurück. Glück oder Unglück dieses Mannes gingen sie nichts an. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun, um sich über andere den Kopf zu zerbrechen. Zuerst musste sie ihr Gepäck und dann ihre Hausschlüssel abholen. Viel Zeit blieb ihr nicht, da das Büro der Immobilienverwaltung um halb sechs schloss.

Sie konnte nicht anders, sie suchte ihn in der Menge und sah, dass er auch zum Band ging. Um sie herum fielen sich Familienmitglieder um den Hals, küssten sich Liebespärchen, und ein paar Reisende standen allein da wie sie.

Auch auf den Fremden wartete niemand.

Die Reisetaschen und Koffer, die meisten schwarz, einige wenige bunte als Farbtupfer dazwischen, schoben sich durch die grauen Gummilaschen und auf das Laufband. Vollgepackte Rucksäcke, ein Rollstuhl und sogar ein Surfbrett erschienen. Für eine Extra-Ausgabe für übergroße Stücke war das Terminal anscheinend zu klein.

Einer nach dem anderen nahmen Jessicas Mitreisende ihren Besitz an sich und verließen die Halle. Als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass auch der attraktive Fremde weg war. Sie wusste nicht, warum, aber sie wünschte, er wäre noch da. Seltsamerweise fühlte sie sich ohne ihn allein.

Jessica konzentrierte sich wieder auf das Naheliegende: ihr Gepäck zu finden, und zwar schnell, damit sie heute Nacht ein Dach über dem Kopf hatte. Mit wachsender Besorgnis beobachtete sie, wie das Gepäckkarussell sich leerte, ohne dass ihre Koffer auftauchten. Mit wachsendem Druck im Magen spähte sie durch die Gummilaschen. Da kam nichts mehr …

Ihre Sachen mussten in Sydney geblieben sein! Sie hatte nichts außer dem Inhalt ihrer Handtasche und ihrem Laptop und einigen Notizbüchern im kleinen Rollkoffer. Das Gefühl der Einsamkeit drohte übermächtig zu werden, und nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück.

Wieder einmal wurde Jessica daran erinnert, dass sie allein war. In einer fremden Stadt, weit weg von dem, was einmal für sie ein Zuhause gewesen war.

Dr. Harrison Wainwright verließ das Flughafengebäude von Armidale. Das letzte Tageslicht schwand, die Luft war kalt und frisch, so wie er es liebte. Ein feuchter Schleier bedeckte die Landschaft, da es kurz vor der Landung geregnet hatte, was den Duft nach Heu und Eukalyptus noch verstärkte.

Einen Moment lang blieb Harrison stehen, um tief einzuatmen. Die Winterzeit in Armidale gehörte für ihn zur schönsten des Jahres, und er war einfach glücklich, wieder hier zu sein. Los Angeles gefiel ihm zu keiner Jahreszeit. Sechs Tage, an denen er Smog eingeatmet hatte, waren sechs Tage zu viel.

Den Sydney Morning Herald, den er heute Morgen am Zeitschriftenkiosk gekauft hatte, unter dem Arm, schob er seinen Koffer zum Taxistand. Gut gelaunt und leichten Schrittes, obwohl ihm gerade die hübsche junge Frau in der Halle über den Fuß gefahren war. Hübsch war allerdings noch untertrieben. Eine bezaubernde Schönheit, dachte er, als er ihr Gesicht wieder vor sich sah: herzförmig, heller Teint, smaragdgrüne Augen, dazu aschblondes, vom Wind leicht zerzaustes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel.

Er wurde das Bild nicht so schnell wieder los, während er auf ein Taxi wartete. Der Ausdruck ihrer Augen beschäftigte ihn. Sie hatte traurig gewirkt, ja, verloren. Von hier konnte sie nicht sein, er kannte jeden in seiner Heimatstadt. Entweder befand sie sich auf der Durchreise, oder sie besuchte jemanden in Armidale.

Harrison drängte die Gedanken beiseite. Schon einmal hatte ihn eine schöne Fremde neugierig gemacht, seinem Leben eine andere Richtung gegeben – und es beinahe ruiniert. Nicht zu reden davon, dass sie ihm seit Jahren den letzten Nerv zu rauben drohte. Nein, das würde ihm nicht noch einmal passieren. Endlich konnte er das schreckliche Kapitel abschließen und nach vorn blicken.

Die vergangenen fünf Jahre waren die Hölle gewesen, der er nun zum Glück entronnen war. Harrison hatte sich geschworen, nie mehr sein Herz über seinen Verstand regieren zu lassen. Seit langer Zeit war er wieder glücklich … In seinem Sinne glücklich, jedenfalls.

Harrison hob den Arm, als ein Taxi kam, und verbannte die hinreißende Fremde aus seinen Gedanken. Er war zu Hause, hatte erreicht, was er sich verzweifelt gewünscht hatte.

Nichts und niemand würde ihn in Zukunft vom Kurs abbringen.

Die Sorgerechtsunterlagen trug er bei sich, und die Scheidungspapiere sollten in den nächsten Tagen eintreffen. Dann war er auch offiziell ein freier Mann, befreit von einer Last, die er lange mit sich herumgeschleppt hatte. Es machte ihn unbeschreiblich glücklich, dass er nicht mehr befürchten musste, seinen Sohn bei einem Sorgerechtsprozess zu verlieren. Oder dass sein Junge zwischen zwei Kontinenten hin- und hergereicht wurde.

Auch brauchte er keine mütterlichen Besuche mehr anzukündigen, die letztendlich dann doch nicht stattfanden. Harrison musste seinem fünfjährigen Jungen nicht mehr erklären, warum seine Mutter ihre Versprechen brach. Er konnte ihm in die unschuldigen blauen Augen sehen und sicher sein, dass Armidale ihr Zuhause bleiben würde.

Harrison Wainwright war fest entschlossen, der beste alleinerziehende Vater der Welt zu werden!

Ärger über die verlorene Zeit drohte in ihm aufzuwallen, aber er ließ ihn nicht zu. Er hatte, was er wollte, und mochte nicht mehr an die bitteren Enttäuschungen denken. Allerdings wusste er auch, dass es ihm nicht von heute auf morgen gelingen würde.

Eins war jedoch sicher: Eine feste Beziehung kam für ihn nicht mehr infrage. Von heute an gab es nur noch Harrison und Bryce. Sie brauchten niemanden. Sein Haus und sein Herz waren voll.

Und er würde nie wieder riskieren, dass seinem Sohn wehgetan wurde.

2. KAPITEL

„Verzeihung, Miss. Kann ich Ihnen helfen?“

Tief in Gedanken versunken, hörte Jessica die Männerstimme nicht. Das leere Gepäckband erschien ihr wie ein Spiegelbild ihres Lebens. Erst, als die Propellermaschine draußen startete, blickte sie auf. Der kleine Flieger raste die Startbahn entlang, hob ab in den sturmgrauen düsteren Abendhimmel. Dass Jessicas Koffer nicht mitgekommen waren, bedeutete, dass sie heute Nacht nicht in ihrem Lieblingspyjama schlafen konnte. Wobei es fraglich war, ob sie rechtzeitig an die Hausschlüssel kam. Wenn nicht, und danach sah es aus, hatte sie nämlich auch kein Bett!

Jessica fühlte sich hilflos und überfordert von der Situation. Etwas, das sie früher an sich nie gekannt hatte. Die alte Jessica hatte immer gewusst, was zu tun war, schon als Teenager. Ehrgeizig verbrachte sie jede freie Stunde, selbst an den Wochenenden, über den Büchern. Ihr Fleiß zahlte sich aus, sodass sie nicht nur Schuljahr für Schuljahr unter den Besten abschloss, sondern auch die Schule mit Auszeichnung beendete. Da sie zu den zwanzig besten Abiturienten in South Australia gehörte, war ihr ein Medizinstudienplatz sicher. Ihr Ziel: Fachärztin für Pädiatrie zu werden.

Auf dem Weg dorthin überlegte sie kurz, sich auf pädiatrische Chirurgie zu spezialisieren, aber nach einem Jahr Praxis erkannte sie, dass der tägliche Umgang mit Kindern sie glücklicher machte.

Im Laufe der Jahre hatte es wenige Männer gegeben, die sie abgelenkt hatten. Ihr gesellschaftliches Leben hielt sich in Grenzen, sodass sie sich auf ihre Studien konzentrieren konnte. Am Ende sah sie sich als Chefärztin der Pädiatrie in einem großen Ausbildungskrankenhaus. Ja, Jessica Ayers hatte ihr Leben sorgfältig geplant.

Doch alles ließ sich nicht planen. Manches geschah, ohne dass Jessica darauf Einfluss gehabt hätte. Einige Ereignisse waren traurig, wie der frühe Tod ihres Vaters, der nicht mehr erleben sollte, dass seine Tochter ihr Medizinstudium abschloss. Und als sie dreißig war, starb ihre Mutter. Letztendlich war Jessica jedoch dem Schicksal dankbar, dass keiner von beiden mitbekam, dass sie sich in einen verheirateten Mann verliebte.

„Miss? Ich hatte gefragt, ob ich Ihnen helfen kann …“

Sie wandte sich um und sah einen älteren Mann vor sich, auf dessen Bomberjacke das Logo des Armidale Airport prangte.

„Mein Name ist Garry, und ich gehöre zum Bodenpersonal des Flughafens. Vermutlich stehen Sie noch hier, weil Ihr Gepäck nicht da ist?“

Nichts lag Jessica ferner, als den Menschen ihrer neuen vorübergehenden Heimat geringschätzig zu begegnen. Allerdings sprachen ihre Taten nicht gerade für sie: Dem einen fuhr sie über den Fuß, einen anderen beachtete sie erst gar nicht.

„Es sind zwei Gepäckstücke … und entschuldigen Sie bitte, Garry, ich wollte nicht unhöflich sein.“

„Keine Sorge. Haben Sie einen langen Flug hinter sich? Eine Handvoll Passagiere ist heute aus Los Angeles gekommen. Die Armidale Romance Writers haben an einer Konferenz in den USA teilgenommen, und vier sind nun wieder hier. Meine Schwägerin schreibt Liebesromane und war dabei, deshalb weiß ich davon. Und einer unserer Ärzte ist auch in Amerika gewesen, aber natürlich nicht beim Liebesroman-Kongress“, fügte Garry verschmitzt hinzu. „Wir sind hier auf dem Land, da bleibt nicht viel geheim.“

„Nein, ich hatte es nicht weit, nur fünfzig Minuten von Sydney. Mein schlechtes Benehmen kann ich also nicht mit Jetlag entschuldigen …“

„Aber mit fehlendem Gepäck. Das bedeutet für jeden Stress. Lassen Sie mich mal sehen, wie ich helfen kann.“

Jessica fragte sich flüchtig, ob sie auf einem anderen Stern gelandet war. In dieser Kleinstadt in New South Wales schienen die freundlichsten Menschen der Welt zu wohnen. Wieder tauchte das markante Gesicht des Mannes mit den schicken Lederschuhen vor ihrem inneren Auge auf. Er hatte etwas an sich gehabt, das sie seltsamerweise nicht vergessen konnte.

Sie verscheuchte die Gedanken. Viel wichtiger war jetzt, dass sie sich um ihr Gepäck und vor allem ihre Unterkunft kümmerte!

„Es war ein langer Tag, und ich muss bis um halb sechs die Schlüssel meiner Mietwohnung abgeholt haben. Und ich habe außer dem hier …“ Sie deutete auf ihren Rollkoffer. „… nichts bei mir.“

„Es tut mir sehr leid, dass Ihr Gepäck fehlt. So etwas passiert bei uns nicht oft. Allerdings hilft Ihnen das auch nicht weiter. Wenn Sie mir Ihren Namen sagen, fange ich gleich an nachzuforschen.“

„Dr. Jessica Ayers.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Ayers.“ Galant griff er nach ihrem Köfferchen.

„Bitte sagen Sie Jessica.“

„Gern, Jessica. Gehen wir kurz rüber zum Check-in. Geben Sie mir die Gepäckquittung, die Sie mit der Bordkarte bekommen haben, und ich rufe in Sydney an, damit die Koffer mit der nächsten Maschine hergeschickt werden. Die kommt um halb zwölf …“

„Das ist zwar spät, aber wenigstens noch heute.“ Jessicas Stimmung hob sich.

Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider war Ihr Flug der letzte. Der nächste trifft um halb zwölf morgen Vormittag ein, aber ich lasse das Gepäck zu Ihnen nach Hause liefern.“

„Zu mir nach Hause?“ Jessica folgte ihm, als er schnellen Schrittes ans andere Ende des Terminals eilte. „Ich habe keine Ahnung, ob ich noch irgendwo unterkomme. Der Zeitpunkt, bis zu dem ich meine Schlüssel abgeholt haben muss, verstreicht gerade.“

Garry warf einen Blick auf seine Armbanduhr, als sie den Check-in erreichten. „Jetzt ist es Viertel nach fünf. Mit dem Taxi sind Sie in zehn Minuten in Armidale. Lassen Sie mich im Maklerbüro anrufen und darum bitten, dass sie ein paar Minuten warten, bis Sie dort sind.“

„Glauben Sie, dass man sich darauf einlässt?“ In Sydney wäre ihre Chance wahrscheinlich gleich null, das Büro pünktlich geschlossen.

„Sagen Sie mir, wo Sie gebucht haben?“

„Gibt es denn mehr als einen Makler?“

Garry grinste. „Armidale liegt zwar auf dem Land, aber wir haben fließend Wasser, Verkehrsampeln … und mehr als einen Immobilienvermittler.“

„Verzeihen Sie“, sagte Jessica beschämt.

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Anscheinend sind Sie ein Großstadtmädchen. Ihr erster Besuch hier?“

Sie nickte betreten, während sie durch ihre Mails scrollte. „Dunstan Boyd heißt der Immobilienverwalter von …“ Jessica kniff die Augen leicht zusammen, um den kleingedruckten Briefkopf zu lesen.

„Boyd and Associates Real Estate“, beendete Garry den Satz für sie.

Verblüfft starrte Jessica ihn an. „Sie kennen sie?“

„Ja, meine Schwägerin arbeitet dort. Falls es Probleme gibt, finden Sie sicher in einem unserer schönen Motels ein Bett für die Nacht, aber ich kann Ihnen fast garantieren, dass sie oder einer ihrer Kollegen auf Sie warten werden.“

Zutiefst erleichtert atmete Jessica auf. Zumindest hätte sie dann ein Bad, wo sie ihre Unterwäsche auswaschen und zum Trocknen aufhängen könnte.

„Möchten Sie mir jetzt Ihre Kontaktdaten geben? Jemand vom Flughafen wird Sie morgen anrufen, um zu erfragen, zu welcher Adresse Ihr Gepäck gebracht werden soll.“ Er zückte Stift und Papier aus seiner Bomberjacke.

Jessica notierte ihre Handynummer, Garry verstaute den Zettel und begleitete sie nach draußen zum Taxistand.

„Am besten schicken Sie es zum Armidale Regional Memorial Hospital.“ Sie stellte den Kragen ihrer Jacke auf. Der schneidende Wind schien seit ihrer Ankunft noch kälter geworden zu sein. „Dort werde ich morgen sein, sodass mittags niemand zu Hause ist. Vorausgesetzt, Sie liegen richtig, und ich habe ein Zuhause.“

„Seien Sie unbesorgt, Jessica. Sie werden eins haben“, beruhigte er.

Am Stand wartete ein leeres Taxi, und da niemand sonst es beanspruchte, stieg Jessica ein. Garry verstaute ihren Rollkoffer und beugte sich dann zum Fahrerfenster hinunter.

„Können Sie die junge Dame bitte zu Boyd and Associates Real Estate bringen? Marsh Street Nr. 29.“

„Klar.“

Jessica ließ die Fensterscheibe herunter. „Vielen Dank, Garry“, sagte sie, als der Wagen anfuhr.

„Immer gern!“

Garry behielt recht. Ein Kollege seiner Schwägerin hatte auf sie gewartet, und auch der Taxifahrer wartete, während Jessica hineineilte. Nachdem sie sich ausgewiesen hatte, legte ihr der junge Mann zwei Papiere zur Unterschrift vor und gab ihr dann den Hausschlüssel und die Wagenschlüssel für den Mietwagen, der am Morgen für sie auf der Auffahrt abgestellt worden war.

Jessica hatte alles sorgfältig arrangiert. Allerdings war es nur ein schwacher Abglanz ihrer früheren Ordnungsliebe. Vor einem Jahr noch hätte sie ihre Kleidung vorausgeschickt und eine örtliche Wäscherei beauftragt, die Sachen gebügelt in den Schrank zu hängen. Von einem Supermarkt hätte sie sich Schränke und Kühlschrank mit Lebensmitteln auffüllen lassen. Vorzugsweise fettreduzierte, die Tom mochte. Tom, der üble Betrüger, um dessen Cholesterinwerte sie sich die meiste Zeit Sorgen gemacht hatte!

Ihm hatte Jessica es zu verdanken, dass sie längst nicht mehr so organisiert war, wenn es um ihre persönlichen Bedürfnisse ging. Nur ihrer Arbeitsmoral hatte er nichts anhaben können. Ihre Patienten gingen ihr über alles.

„Rufen Sie mich jederzeit auf dem Handy an, falls Sie Fragen haben“, meinte der freundliche Angestellte. „Es ist ein hübsches Haus, sauber, ordentlich und vollständig möbliert. Die Umgebung wird Ihnen gefallen.“

Jessica war nicht anspruchsvoll. Bett und Bad genügten ihr vorerst völlig, und morgen brauchte sie einen Wagen, um zum Krankenhaus zu fahren.

„Vielen Dank, dass Sie meinetwegen länger geblieben sind“, sagte sie und umklammerte die beiden Schlüssel, als hinge ihr Leben davon ab.

„Keine Ursache, ich helfe gern.“

Eine halbe Stunde später fuhr das Taxi – auf dem Rücksitz zwei große Einkaufstaschen – vor dem dunklen Haus vor. Der hilfsbereite Fahrer hatte Jessica zu einem kleinen Laden gefahren, der jeden Abend bis zehn Uhr geöffnet war. Dort deckte sie sich mit Milch, Brot, Haferflocken, frischem Obst und anderen notwendigen Dingen wie Schaumbad, Zahnbürste und Zahnpasta ein.

Morgen früh musste sie ausgeruht sein, da viel Arbeit auf sie wartete. Grund genug, sich etwas Leckeres zu essen zu kochen, früh schlafen zu gehen und am nächsten Tag gut zu frühstücken. Sie würde den ganzen Tag auf den Beinen sein, vielleicht sogar im OP stehen müssen.

Jessica blickte die baumbestandene Straße hinunter. Sie wirkte idyllisch, hinter den Fenstern der Häuser leuchtete ein mildes Licht, vielleicht brannte hier und dort ein heimeliges Kaminfeuer.

Ihr gegenwärtiges Zuhause zeigte keine Zeichen von Leben. Natürlich hatte sie nichts anderes erwartet. Sie kannte niemanden in der Stadt, wer sollte sie willkommen heißen? So war es schließlich überall, wohin sie von der Agentur auch geschickt wurde.

Zwar besaß sie noch ihr Reihenhaus in Surry Hills, einem Vorort im Osten von Sydney, aber sie nutzte es praktisch nur als Basislager zwischen den einzelnen Aufträgen. Während ihrer jahrelangen Beziehung hatte Tom dort zwei-, dreimal in der Woche übernachtet, und sie wollte nicht mehr als ohnehin schon daran erinnert werden. Eines Tages würde sie es verkaufen.

Jessica war heilfroh, dass sie den Schlüssel zu dem gemieteten Haus hatte und bald schon ein warmes Bad nehmen konnte. Allein der Gedanke an duftenden Lavendelschaum beruhigte sie.

Der Taxifahrer lud ihren Rollkoffer und die Einkäufe aus, und sie ging voraus zum Eingang. Licht flammte auf, sobald sie sich der Terrasse näherte, und Jessicas Blick fiel auf eine wohl erst kürzlich gestrichene graue Fassade mit weißen Fensterläden und einer roten Haustür. Das Häuschen wirkte gemütlich und einladend. Rechts und links der Holztür standen in Form geschnittene Buchsbäume in quadratischen Betontöpfen, und davor lag eine Fußmatte mit dem Schriftzug „Willkommen“. Unter dem Carport parkte ihr kleiner Mietwagen, knallrot wie die Eingangstür.

Der Garten bestand aus Rasen und niedrigen Büschen, und Jessica lächelte erfreut. Mit einem grünen Daumen war sie noch nie gesegnet gewesen, also würde sie nur ab und zu den Rasen mähen und den Rest Mutter Natur überlassen.

Sie bedankte sich beim Taxifahrer, der ihr die Sachen zur Tür getragen hatte, und bezahlte ihn.

„Soll ich Ihnen die Taschen nicht noch ins Haus bringen?“

„Nein, vielen Dank, das ist nicht nötig.“ Jessica meinte es ernst. Sie brauchte keinen Mann, der ihr half. Sie kam allein zurecht. Allerdings waren die Menschen hier in Armidale ausgesprochen herzlich und hilfsbereit, sodass sie sich fast heimisch fühlte. Unter anderen Umständen und zu einer anderen Zeit hätte sie sich vielleicht vorstellen können, hier zu leben.

Der Fahrer nickte, steckte das Geld ein, blies in seine kalten Hände, um sie zu wärmen, und machte sich auf den Weg zu seinem Taxi. Abgesehen davon, dass sie keine Hilfe brauchte, wollte Jessica ihn nicht länger aufhalten. Unterwegs waren sie ins Gespräch gekommen, und sie hatte erfahren, dass dies für heute seine letzte Tour war, bevor er nach Hause zu seiner Frau und dem neugeborenen Sohn zurückkehrte.

Im Lichtschein der Verandalampe fand Jessica schnell den Lichtschalter im Flur. Innen roch es leicht nach Wandfarbe und Möbelpolitur. Das Häuschen war also auch drinnen frisch renoviert worden.

„Ein Neuanfang für uns beide, hm?“, murmelte sie, trug ihre Habseligkeiten hinein und schloss die kalte Nachtluft aus.

Eine Stunde später kam sie aus dem Bad, das feuchte Haar in einem weißen Handtuchturban verborgen. Während sie unter der Dusche stand, hatte die Zentralheizung die Räume gewärmt. Als Jessica in einer der Schubladen einen Fön und kleine Fläschchen Shampoo und Spülung gefunden hatte, beschloss sie, dass das Schaumbad noch warten konnte. Die frisch gewaschenen Haare würden vielleicht davon ablenken, dass sie an ihrem ersten Tag in ihrer Reisekleidung auftauchte. Jeans, T-Shirt und Sweatshirt würde sie morgen wieder tragen müssen. Zu ihrer großen Freude fand sie einen flauschigen weißen Bademantel auf ihrem Bett. Die kleinen Willkommensgesten gefielen ihr.

Jessica sah sich das Haus an, das angenehm sauber und mit geschmackvollen Möbeln ausgestattet war. Kein 08/15-Mobiliar, sondern ausgesuchte Stücke, die von einer gemütlichen Vergangenheit auf dem Land erzählten.

Was sie an ihre eigene, weniger erfreuliche Vergangenheit erinnerte. Jessica verdrängte die Gedanken rasch und machte sich daran, etwas zu essen zu kochen. Auch ein Geschirrspüler war vorhanden, doch nach dem Essen waren zwei kleine Pfannen, ein Teller, ein Glas, Messer und Gabel schnell abgewaschen. Danach gab es nicht mehr viel zu tun, außer sich die Haare zu föhnen und ins Bett zu gehen. Lange zu überlegen, was sie morgen anziehen würde, brauchte sie nicht – dem fehlenden Gepäck sei Dank!

„Musst du wieder weg, Daddy?“

Harrison schloss das Buch mit den Gutenachtgeschichten und legte es auf den Nachttisch, während er seinen Sohn liebevoll ansah. „Nein, Bryce. Daddy geht nirgendwohin.“

„Wenn ich aufwache, bist du da? Du steigst nicht ins Flugzeug und fliegst weg?“

Die unschuldigen Fragen gingen ihm zu Herzen und bestätigten Harrison, dass er das Richtige getan hatte, als er beschloss, um das alleinige Sorgerecht zu kämpfen. Sein Sohn gehörte nach Armidale, zu den Menschen, die ihn liebten, seit er auf die Welt gekommen war.

„Ja, ich werde hier sein, und später gehen wir zu Granny und Grandpa frühstücken. Zum zweiten Frühstück, Granny macht dir immer gern etwas Leckeres, bevor du zur Schule musst.“ Harrison deckte Bryce etwas mehr zu und strich ihm durch das schwarze Haar.

Der Junge kicherte. „Ich hoffe, es gibt Pancakes.“

„Ich auch.“ Harrison küsste ihn auf die Stirn, knipste das Licht aus und verließ leise das Zimmer. Ihm war seltsam leicht ums Herz, weil Bryce genau dort war, wo er hingehörte. Und nichts und niemand würde ihm das je wieder nehmen können.

Beim Klingeln ihres Smartphone-Weckers wachte Jessica auf. Das Haus war über Nacht angenehm warm geblieben, und sie genoss es, entspannt unter der Bettdecke zu liegen. Als sie sich im Zimmer umschaute, sah sie erst jetzt im Tageslicht, dass die Wände in einem zarten Rosa gestrichen waren. Der Farbton fand sich im Überwurf und den Kissen wieder, die sie gestern Abend auf den Lehnstuhl gelegt hatte. Zwei gerahmte Bilder mit Vogelmotiven hingen über dem Bett, und die Möbel waren aus massivem Eichenholz.

Wirklich hübsch für ein Häuschen, das für Kurzaufenthalte vermietet wird, dachte sie, während sie aufstand. Jessica hätte ruhig noch länger schlafen können, da sie erst in einer guten Stunde im Krankenhaus erwartet wurde. Aber sie wollte etwas früher da sein und vorher noch am Flughafen anrufen, um daran zu erinnern, dass man ihr Gepäck zu ihrem Arbeitsplatz befördern sollte. Sie mochte nicht länger als unbedingt nötig in ihrem unpassenden Outfit herumlaufen.

Jessica duschte rasch, aß Haferflocken mit Milch und Eukalyptushonig und trank einen Tee dazu, erledigte den Anruf und verließ dreißig Minuten später das Haus. Den Weg zum Krankenhaus hatte sie am Abend zuvor gecheckt. Es lag keine zehn Autominuten entfernt.

Die kalte Morgenluft empfing sie mit einem Duft, der sie für einen kurzen Moment stehen bleiben ließ. Es roch frisch und nach dem großen Eukalyptusbaum auf dem Nachbargrundstück. Kein Smog, keine schweren Gerüche nach frühmorgendlichen Autoschlangen oder Industrie. Die saubere ländliche Luft tat gut, und Jessica war nicht bewusst gewesen, wie sehr ihr ein so einfaches natürliches Vergnügen gefehlt hatte.

Kurz darauf saß sie in ihrem kleinen roten Mietwagen und fuhr, ein bisschen aufgeregt, zum Krankenhaus. Jeans, Sweatshirt und grau-limonengrüne Sportschuhe hätte sie nie freiwillig an ihrem ersten Tag als Vertretungsärztin angezogen, und sie hoffte nur, dass ihre Koffer bald auftauchten.

„Ich bin Errol Langridge. Freut mich sehr, Sie im Namen des Direktoriums unseres Armidale Regional Memorial Hospital herzlich begrüßen zu dürfen, Dr. Ayers. Wir sind sehr froh, Sie, wenn auch nur für eine kurze Zeit, bei uns zu haben.“ Der ältere, tadellos gekleidete Mann schüttelte ihr freundlich die Hand. Das blau-weiß karierte Hemd und die Chambrayhose passten vom Stil in die ländliche Umgebung, waren jedoch von erlesener Qualität.

Lächelnd sah Errol Langridge sie mit seinen blassblauen Augen an. „Ein gelungener Coup für uns, muss ich sagen. Für Vertretungen schickt man uns selten jemanden mit Ihrer Kompetenz und Erfahrung. Die meisten kommen direkt von der Universität.“

„Ich freue mich, hier zu sein, Professor Langridge.“ Sie war sich seiner Position wohl bewusst, nachdem sie im Briefkopf des Bestätigungsschreibens seinen Titel gelesen hatte. „Und bitte, nennen Sie mich Jessica.“

„Dann müssen Sie Errol sagen. Gleiches Recht für alle, und außerdem fühle ich mich jünger als 68, wenn Sie mich beim Vornamen nennen.“

„Natürlich, Errol.“

Der Professor lächelte, wurde aber schnell ernst, als lautes Sirenengeheul einen Notfall ankündigte. Jessica folgte ihm auf sein Zeichen hin, und während er schnellen Schrittes weitereilte, sprach er über die Schulter gewandt mit ihr.

„Sie können gleich unsere Notaufnahme kennenlernen. Sobald etwas Ruhe eingekehrt ist, stelle ich Sie dem Chefarzt der Abteilung vor. Sie werden mit Harrison Wainwright oft zusammenarbeiten, da viele der kleinen Patienten über die Notaufnahme auf unsere Station kommen. Er arbeitet schon so lange hier am Krankenhaus, dass er, obwohl kaum älter als vierzig, fast eine Institution ist. Harrison ist ein strenger Vorgesetzter, doch das hat seine Vorteile, und außerdem wäre es schwierig, ihn loszuwerden.“

Das hörte Jessica gar nicht gern. Komplizierte Kollegen standen nicht auf ihrer Wunschliste. Wahrscheinlich hatte er einen wasserdichten Arbeitsvertrag, aus dem die Klinik nicht aussteigen konnte. Hoffentlich kreuzten sich ihre Wege in den nächsten sechs Wochen nicht so häufig, wie Errol angekündigt hatte.

Der Professor lachte auf. „Verzeihen Sie mir meinen Humor oder, wie meine Frau sagen würde, meinen schlechten Geschmack bei Witzen. Wir sind unendlich froh, dass Harrison niemals auch nur angedeutet hat, dass er uns verlassen will. Er ist in Armidale aufgewachsen und nach dem Studium zurückgekehrt. Ohne ihn würde das Krankenhaus nicht funktionieren. Er ist brillant, und sowohl unsere Medizinstudenten als auch die Patienten lieben ihn. Die Krankenschwestern auch, aber sicher aus anderen Gründen.“

Jessica war nicht sicher, wie sie das verstehen sollte. Während der Professor sie einerseits beruhigt hatte, wollte sie andererseits gar nicht wissen, warum die Schwestern diesen Mann liebten.

Die Sanitäter brachten im Eilschritt eine Rollliege herein, auf der ein junges Mädchen mit Halskrawatte lag, die sein Genick immobilisierte. Das rechte Bein war geschient. Jessica trat beiseite, als ein zweiter Patient hereingeschoben wurde.

„Motorradunfall“, erklärte einer der Rettungssanitäter, während eine Krankenschwester ihnen die Kabinen zuwies. „Zwei Personen. Eine weiblich mit Verdacht auf Wirbelsäulenverletzung, dazu Knöchelfraktur und leichte Schnittwunden. Die andere männlich mit Verletzungen an einer Hand und der Stirn. Keine weiteren sichtbaren Verletzungen.“

Bei dem jungen Mann waren Kopf und Hand bandagiert, doch ihm schien sonst nichts zu fehlen, da er das Krankenhauspersonal mit hektischen Fragen bombardierte. Eine Sanitäterin versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Zwei Krankenschwestern und ein junger Arzt übernahmen ihn schließlich, während sich andere Ärzte und Pflegekräfte um das ernsthaft verletzte junge Mädchen kümmerten.

Plötzlich tauchte die nächste Rollliege auf, bei ihr zwei Rettungssanitäter. „Unfall mit Fahrerflucht auf der Mundy Street. Verdacht auf Oberschenkelfraktur. Weiblich, dreiundsiebzig.“

„Dr. Steele, sobald Sie Ihren Patienten untersucht haben, überlassen Sie ihn bitte den Schwestern und sehen sich unsere ältere Patientin an“, ertönte eine tiefe Stimme aus der Kabine mit dem jungen Mädchen.

Jessica sah einen hochgewachsenen Mann im Chefarztkittel, der ihr den Rücken zuwandte. Er war groß, fast eins neunzig, hatte dichtes dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und strahlte eine natürliche Autorität aus. Jessica vermutete, dass sie den Chefarzt der Notaufnahme vor sich hatte, von dem Errol gerade noch gesprochen hatte.

Der Assistenzarzt unterhielt sich kurz mit den Krankenschwestern und eilte wie gefordert zu der alten Dame.

Obwohl es in der Notaufnahme scheinbar wie im Taubenschlag zuging, lief alles wie am Schnürchen, und das, obwohl zusätzlich zu den Neuzugängen zwei weitere Notfälle versorgt werden mussten. Bewundernswert. Der Chefarzt schien ein erfahrener Mann zu sein, sicher nicht nur in der Triage, sondern auch bei der Mitarbeiterführung, sodass die Patienten sich beruhigt und gut aufgehoben fühlten. Genau diese professionelle Arbeitsatmosphäre wünschte sich Jessica während ihrer Zeit in der Pädiatrie.

Innerhalb weniger Momente kippte die Stimmung. Der junge Mann, den eine zierliche Krankenschwester versorgte, entriss ihr plötzlich seinen Arm und wollte vom Bett steigen.

„Es ist alles meine Schuld, alles meine Schuld!“, schrie er. „Ich muss zu ihr. Ich muss sie sehen, ihr sagen, dass es mir leidtut!“

Schnell wurde Jessica klar, dass die Schwester mit der Situation überfordert war. Niemand hier in der Notaufnahme wollte einen Patienten, der emotional überreagierte und sich womöglich noch in die Behandlung seiner schwer verletzten Freundin einmischte.

Sie schnappte sich ein Paar sterile Handschuhe aus dem Spender an der Wand hinter ihr und einen Kittel vom Stapel daneben. „Entschuldigen Sie mich, Professor. Ich würde gern sofort mit meinem Dienst beginnen, falls Sie nichts dagegen haben.“

Errol wirkte etwas verwirrt, nickte aber, als Jessica in die Kabine eilte, wo der Tumult stattfand.

„Ich bin Dr. Ayers, und ich möchte Ihnen gern helfen“, erklärte sie, legte bestimmt die Hand auf seine Beine und hob sie dann wieder auf die Liege.

Überrascht starrten die Schwestern sie an.

„Ich dachte, Sie könnten ein wenig Unterstützung gebrauchen. Ich bin Fachärztin für Pädiatrie und als Vertretung hier. Heute ist mein erster Tag, und ich muss mich entschuldigen, dass ich noch kein Namensschild trage.“ Sie deutete auf Errol, weil ihre Kleidung, deutlich sichtbar unter dem blauen Kittel, nicht gerade auf eine Medizinerin schließen ließ. „Professor Langridge kann sich für mich verbürgen.“

Die ältere Krankenschwester blickte zu ihm hinüber, und er nickte bestätigend. Die jüngere verließ sich auf Jessicas Wort und versuchte, mit ihr zusammen die Situation unter Kontrolle zu bringen.

„Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?“, bat Jessica den Patienten und verschaffte sich einen kurzen Überblick über die Ausstattung der Kabine. Auf einem Rollwagen lag ein Stethoskop, und sie hängte es sich um den Hals. Der junge Mann beruhigte sich ein wenig und ließ sich an die Überwachungsmonitore anschließen, die seine Herzfrequenz, den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung im Blut aufzeichnen sollten.

„Ich möchte Ihnen helfen, während unser Team in der Kabine gegenüber sich um das Mädchen kümmert, das mit Ihnen gebracht wurde. Ihre Verletzungen sind auf den ersten Blick ernster als Ihre, aber wir müssen Sie gründlich untersuchen, um sicherzugehen, dass Sie keine inneren Schäden davongetragen haben. Bei Motorradunfällen sind nicht alle Verletzungen auf Anhieb sichtbar. Bevor ich beginne, nennen Sie mir bitte Ihren vollen Namen und Ihr Alter.“

„Cody Smith, und das da drüben ist meine Freundin.“

„Ich bräuchte auch ihren Namen, damit ich ihn an die behandelnden Kollegen weiterleiten kann.“

„Lassen Sie mich hingehen, dann sage ich ihnen alles persönlich.“ Wieder versuchte er aufzustehen. „Ich will ihr doch nur sagen, wie leid es mir tut!“

„Das kann ich nicht erlauben“, entgegnete Jessica fest. „Bitte liegen Sie still, ich möchte mir Ihre Augen ansehen.“ Sie hielt sein Kinn fest und leuchtete ihm mit der Stablampe erst ins linke, dann ins rechte Auge.

„Meine Augen sind okay. Da blutet nichts oder so.“

„Cody, wie ich schon sagte, müssen wir uns erst davon überzeugen, dass Ihre Verletzungen wirklich nur geringfügig sind. Auch wenn Sie nirgends bluten, könnte der Unfall ein Schleudertrauma verursacht haben, das Ihre Sehfähigkeit beeinträchtigen und zu einer Reihe anderer Probleme führen kann. Haben Sie Schwierigkeiten zu fokussieren, wenn Sie zwischen Nah- und Fernblick wechseln?“

„Nein, mir geht’s gut“, winkte er ab. „Ich kann das Exit-Schild lesen und ihren Namen.“ Cody deutete auf das Namensschild der Krankenschwester.

„Ist Ihnen übel, verspüren Sie einen Brechreiz, sobald Sie sich umsehen?“

„Nein, überhaupt nicht, sagte ich doch schon. Ich mache mir nur Sorgen um meine Freundin.“

„Wir dürfen Sie trotzdem nicht zu ihr lassen. Verstehen Sie bitte, dass Sie das medizinische Team nicht bei der Arbeit stören dürfen.“

„Ich will ihr doch nur helfen.“

„Das können Sie tun, indem Sie uns ihren Namen sagen und wie alt sie ist.“

„Ginny Randolf. Sie ist siebzehn.“

„Danke.“ Jessica setzte ihre Untersuchung fort und fand nichts Auffälliges.

„Ich gebe das weiter, bin gleich wieder da“, sagte die jüngere Krankenschwester und machte sich auf den Weg.

„Und wie alt sind Sie?“, fragte Jessica.

„Sechzehn.“

„Okay, Cody, wir werden Ihnen etwas Blut abnehmen und auf Alkohol testen. Hatten Sie getrunken?“

„Nein, ich fahre noch auf Probe. Deshalb sind wir nicht verunglückt. Glauben Sie etwa, dass ich betrunken gefahren bin?“ Seine Stimme klang schrill, und Jessica beeilte sich, ihn zu beschwichtigen.

„Ich glaube gar nichts.“ Ruhig sah sie ihm in die Augen. „Dies ist reine Routine. Bei Fahrzeugunfällen ist ein Alkohol- und Drogentest Pflicht.“

„Mein Führerschein ist vorläufig, ich darf keinen Tropfen trinken. Außerdem bin ich in der Ausbildung. Ich will doch meinen Job nicht verlieren, Ginny ist in der neunten Woche schwanger!“

Jessica und die Schwester sahen sich nur an, und sofort eilte diese los, um die wichtige Information weiterzugeben. Bei inneren Verletzungen bestand die Gefahr einer Fehlgeburt.

„Wir wissen es erst seit ein paar Wochen.“ Cody lehnte sich, auf die Ellbogen gestützt, zurück. Anscheinend akzeptierte er endlich, dass er bleiben musste, wo er war. Dass ein Hüne von Pfleger die Kabine betrat, um Jessica zu assistieren, trug sicher dazu bei, dass der junge Mann sich fügte.

„Wir haben uns gestritten, wann wir es ihren Eltern sagen. Die mögen mich nämlich nicht. Deshalb wollte ich noch ein bisschen warten, damit sie sie nicht zwingen können, es loszuwerden. Ginny war aber entschlossen, es ihnen heute Abend zu sagen. Ich hab Angst gekriegt und nicht aufgepasst und die Einfädelungsspur nicht gesehen. Wir sind von der Straße abgekommen und in den Zaun gekracht.“

Eine Schwester zog den Vorhang um Ginnys Kabine zu.

„Was ist los? Warum machen sie das? Ist sie okay?“ Panisch richtete er sich auf.

„Ihre Freundin ist in guten Händen“, versicherte Jessica. „Dank Ihnen weiß das Team von der Schwangerschaft und wird alles tun, um Mutter und Kind zu schützen.“

„Können Sie bitte hingehen und fragen? Ich muss wissen, was da los ist, sonst dreh ich durch. Ihr darf nichts passieren!“

Widerstrebend nickte sie. Sie gehörte nicht einmal offiziell zum Team und war nicht besonders erpicht, ihre Kompetenzen noch mehr als ohnehin schon zu überschreiten. Andererseits schien Cody einem Nervenzusammenbruch nahe, seit der Vorhang ihm die Sicht auf seine Freundin versperrte. Physisch fehlte dem jungen Mann nichts, und da die beiden Krankenschwestern wieder da waren und seinen Zustand beobachteten, machte sie sich auf den Weg.

Und sie hoffte inständig, dass Codys Ängste sich nicht bestätigten.

Vorsichtig schob sie den Vorhang einen Spalt auseinander und lugte in die Kabine. Der Arzt, den sie vorhin von hinten gesehen hatte, nahm gerade eine Ultraschalluntersuchung vor. Alles wirkte ruhig, sodass Jessica es nicht für nötig hielt, sich einzumischen.

„Ihrem Baby geht es gut, Ginny“, hörte sie ihn sagen. „Das Herzchen schlägt kräftig, und es gibt keine Anzeichen, dass das Kleine unter Stress steht. Es tut mir leid, dass Sie nicht auf den Bildschirm sehen können, aber ich werde Ihnen später Bilder zeigen. Bis wir Ihr Genick und die Wirbelsäule untersucht haben, müssen Sie flach liegen bleiben. Ich vermute, dass nur Ihre Muskeln betroffen sind, da Sie keins der Symptome aufweisen, die für eine spinale Verletzung sprechen. Ich schicke Sie gleich zum MRT – keine Röntgenaufnahme und deshalb völlig sicher für Ihr Baby –, um Ihren Zustand abzuklären. Sie und Ihr Kind sind für uns oberste Priorität.“

Stumm pflichtete Jessica seinem Behandlungsplan bei. Der Mann hatte eine angenehm freundliche Art, mit seinen Patienten umzugehen, und eine beruhigende Stimme. Tief, männlich und doch warmherzig. Sie kam ihr bekannt vor, doch das täuschte sicher. Schließlich kannte sie niemanden hier in Armidale.

Sie hob die Hand, um den Vorhang zu schließen, und in dem Moment konnte sie das Profil des Arztes sehen. Jessica schnappte nach Luft, ihr Herz machte einen Satz. Sie kannte ihn doch. Aber als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, trug er keinen weißen Chefarztkittel.

Stattdessen zeichnete sich deutlich der nasse Abdruck ihres Rollkoffers auf seinem eleganten Lederschuh ab.

3. KAPITEL

Einen Moment lang war Jessica sprachlos.

Harrison Wainwright hatte im selben Flugzeug gesessen wie sie. Er musste der Arzt gewesen sein, der mit der Liebesroman-Schreibgruppe aus Los Angeles gekommen war. Der Mann, dem sie über den Fuß gefahren war. Der Mann, der ihr nicht mehr aus dem Sinn ging.

Als sie den Vorhang schloss, verspürte sie ein erwartungsvolles Kribbeln im Magen. Nicht vor Nervosität, sondern mehr etwas, das man fühlte, wenn man jemandem wiederbegegnete, der vertraut war. Eine unerklärliche Regung, die nicht nur mit der Begegnung am Flughafen zu tun hatte. Als wäre sie mit ihm verbunden … oder würde es irgendwann sein. Ein Gefühl, das sie in der letzten Nacht wach gehalten hatte, als sie an ihn dachte.

Jessica schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sie kannte den Mann nicht, und da war auch keine Verbindung. Außerdem wollte sie keine, weder mit Dr. Harrison Wainwright noch mit einem anderen Mann!

Trotzdem war sie von ihrer eigenen Reaktion verunsichert. Sie holte tief Luft, atmete bewusst langsam und lange aus, um sich zu fangen. Mit Männern wollte sie nichts mehr zu tun haben, jedenfalls nicht auf emotionaler Ebene. Man konnte ihnen nicht vertrauen.

Tom hatte ihr Vertrauen in Männer und in die Liebe zerstört. Sie war immer noch wütend, weil er ihr ihre unschuldige Sicht auf die Welt genommen und eine Verbitterung zurückgelassen hatte, die sie weder mochte noch je erwartet hätte. Nein, sie würde sich nicht wieder verlieben, nie mehr!

Anfangs war Jessica froh gewesen, dass Harrison sie nicht bemerkt hatte. Doch dann wurde ihr klar, wie albern das war. Ein Zusammentreffen konnte sie nicht vermeiden, weil Professor Langridge sie bei nächster Gelegenheit einander vorstellen würde.

Ihr Herz schlug ein bisschen schneller. Es hatte nichts mit dem Zwischenfall am Flughafen zu tun. Sie war nicht einmal sicher, ob Harrison sich überhaupt noch daran erinnerte. Aber ihr Körper reagierte auf seine Nähe, ihr wurde warm, fast ein bisschen schwindelig. So kannte sie sich gar nicht. Diese widerstreitenden Gefühle waren ihr fremd, sie hatte so etwas weder vor, nach noch während ihrer Zeit mit Tom empfunden.

Der – bis gerade eben – mysteriöse Fremde hatte ihre Gedanken stärker beherrscht, als ihr lieb war. Auf einmal wurde sie sich ihres Aussehens unangenehm deutlich bewusst. Für die Notaufnahme war ihre Kleidung völlig unpassend. Warum hatte sie für die Flugreise nicht etwas Schickeres angezogen? Normalerweise legte Jessica großen Wert auf ihr Äußeres und hätte sogar den Taxifahrer gebeten, ein paar Minuten zu warten. Gestern Morgen war sie jedoch spät dran gewesen und hatte befürchtet, ihren Flug zu verpassen. Also war sie in den Sachen aus dem Haus gerannt, in die sie morgens schnell geschlüpft war, um dieses und jenes noch zu erledigen.

In einem Outfit, als wollte sie wandern gehen!

Es passte nicht zu der Jessica, die stets darauf geachtet hatte, dass sie gut frisiert und gekleidet zur Arbeit ging. Selbst wenn Rock und Bluse unter dem Arztkittel verborgen waren, zeigten Schuhe und Ohrschmuck zurückhaltende Eleganz. Manchmal, wenn sie in den Spiegel sah, fragte sie sich, ob ihre Kleidung nicht eher zu einer Frau gepasst hätte, die zwanzig, dreißig Jahre älter war. Aber es gefiel ihr so.

Jessica vermied es, sich feminin anzuziehen. Seit sie unwissentlich die Geliebte eines verheirateten Mannes geworden war, hatte sie in schlaflosen Nächten, von Selbstzweifeln gequält, oft überlegt, ob Tom auf sie aufmerksam geworden wäre, wenn sie anders ausgesehen hätte. Vielleicht ja, vielleicht nein, aber ihre konservative Art, sich zu kleiden, dürfte ein unmissverständliches Signal an jeden Mann aussenden.

Jessica wollte eine gute Ärztin sein, ein Mann kam in ihrer Lebensplanung nicht mehr vor.

Und nun erkannte sie sich kaum wieder. Was war mit ihr los, dass sie sich wie ein aufgeregter Teenager fühlte, der seine Emotionen nicht im Griff hatte? Vielleicht, dachte sie, bin ich müde. Das machte sie unruhig und anfällig für Stimmungsschwankungen. Am Bett lag es nicht, das war sehr bequem, und sie hatte nicht schlechter geschlafen als sonst.

Ihr Zustand hatte nichts mit körperlicher Erschöpfung zu tun. Wahrscheinlich hatte sie genug davon, ewig unterwegs zu sein. Immer wieder von Neuem irgendwo anzufangen, ohne wirklich Ruhe zu finden. Sich ständig zu fragen, was sie hätte anders oder besser machen können. Aber sie hatte getan, was sie getan hatte, und musste mit den Folgen leben. Musste versuchen, ihren Frieden damit zu machen, dass sie „die andere Frau“ gewesen war. Musste die Liebe vergessen und sich auf ihre Arbeit als Ärztin konzentrieren. Kompetent, zuverlässig, professionell.

Leider machten ihr, was den professionellen Auftritt anging, zwei verlorene Koffer einen Strich durch die Rechnung.

Jessica kehrte zu Cody zurück, versicherte ihm, dass es seiner Freundin und dem Kind gut ging, und fügte hinzu: „Ginny wird gleich zum MRT gebracht.“

„Was ist das? Wird es ihr wehtun oder dem Baby?“

„MRT steht für Magnetresonanztomografie und bietet eine sichere Alternative zu einer Röntgenaufnahme. Im ersten Schwangerschaftstrimester, also in den ersten zwölf Wochen, kann ein MRT dem Ungeborenen nichts anhaben.“

„Warum muss sie das machen?“

„Der verantwortliche Arzt möchte sich davon überzeugen, dass Ginny an Genick und Rücken keine Verletzungen erlitten hat, und außerdem den Knöchelbruch genauer einschätzen.“

In der Kabine tauchte der junge Arzt von vorhin auf. „Ich bin John Steele, Assistenzarzt der Notaufnahme“, stellte er sich vor.

„Hi, ich bin Jessica Ayers, Kinderärztin in Vertretung.“

„Ich weiß, die Schwestern haben es mir erzählt“, antwortete er lächelnd. „Willkommen an Bord und danke, dass Sie hier eingesprungen sind. Man hat mir gesagt, dass heute Ihr erster Tag ist.“

„Ich helfe gern.“

„Sie machen sich gut im Team.“ Er griff nach Codys Patientenkarte. „Unsere Schwestern halten Sie für großartig, und die sind nicht so leicht zu beeindrucken. Wenn Sie das innerhalb der ersten Minuten geschafft haben, kann Ihnen nichts passieren. Haben Sie Dr. Wainwright schon kennengelernt? Er leitet unsere Abteilung.“

Jessica schüttelte den Kopf. Was sollte sie sagen? Obwohl sie ihm unter ungewöhnlichen Umständen begegnet war, hatte man sie offiziell noch nicht vorgestellt.

„Wie auch immer, wir haben Sie lange genug mit Beschlag belegt. Ich kann übernehmen, wenn Sie nach oben in die Pädiatrie wollen.“

„Okay, wunderbar … Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, John.“

„Ebenfalls.“

Sie wandte sich ab und stellte fest, dass der Professor auf sie gewartet hatte. Warmherzig lächelnd blickte er ihr entgegen. Das und John Steeles sympathisches Willkommen hätten eigentlich dafür sorgen sollen, dass Jessica sich entspannte. Das Gegenteil war der Fall. Sie wünschte, sie wäre geradewegs in ihre Abteilung gegangen. Dann wäre ihr die Begegnung mit dem Mann vom Flughafen noch eine Weile erspart geblieben. Und falls nicht ein neuer Notfall sie davor rettete, musste sie sich ihr stellen.

Während Jessica Einmalkittel und Handschuhe in den Abfalleimer warf, sah sie Harrison Wainwright auf sich zukommen. Was blieb ihr anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen und nach vorn zu blicken?

Seit einem Jahr tat sie nichts anderes.

„Errol, was bringt Sie in die Notaufnahme?“, fragte Harrison.

„Die junge Dame hier“, antwortete der Professor. „Darf ich vorstellen …“

„Jessica Ayers, Dr. Jessica Ayers“, hörte sie sich sagen und hätte sich ohrfeigen können. Sie hatte nicht nur einen älteren Vorgesetzten unterbrochen, sondern ihren Namen wiederholt und ihren Titel genannt. Jetzt war sie nicht nur schlecht gekleidet, sondern auch noch unhöflich!

Wo war die umsichtig agierende Fachärztin geblieben, die gerade bei einem Notfall ausgeholfen hatte? Was ging nur in ihrem Kopf vor, dass sie sich so seltsam benahm?

Jessica kannte die Antwort. Sie stand direkt vor ihr, in Gestalt eines großen dunkelhaarigen und verboten gut aussehenden Mannes!

Der Professor warf ihr ein erstauntes Lächeln zu, räusperte sich und fuhr fort: „Dr. Ayers ist unsere neue Vertretungsärztin in der Pädiatrie und brennt sichtlich darauf, jeden kennenzulernen.“

Wo war das Loch im Boden, wenn sie eins brauchte? Der Linoleumfußboden der Notaufnahme dachte nicht daran, sich aufzutun, also trat sie die Flucht nach vorn an und streckte Harrison die Hand hin. Er schüttelte sie, doch Jessica entging nicht, dass sein Blick auf ihre Schuhe fiel. Zweifellos fragte er sich, warum sie sich an ihrem ersten Arbeitstag anzog, als wollte sie zu einer Bergtour aufbrechen.

Jessica wappnete sich. Der Professor hatte keine Bemerkung gemacht, aber sie war sicher, dass jemand anders, Harrison wahrscheinlich, etwas sagen würde.

„Willkommen im Team, Dr. Ayers. Wir begegnen uns nicht zum ersten Mal.“

Natürlich erinnerte er sich daran, dass die übereifrige Vertretungsärztin ihm gestern über den Fuß gefahren war. Ein schlechter erster Eindruck, gefolgt von einem unprofessionellen zweiten! Konnte sie das noch toppen? Vielleicht, indem ihr Magen vor Nervosität und Verlegenheit revoltierte und sie sich auf den Fußboden erbrach?

„Ach, Sie kennen sich?“, fragte Errol überrascht.

„Nein“, erwiderte Jessica schnell.

„Ja“, kam Harrisons Antwort nur zwei Sekunden später.

„Was denn nun?“ Der Professor runzelte die Stirn. „Ja oder nein?“

„Zu behaupten, dass wir uns kennen, wäre übertrieben“, sagte Jessica.

„Wir sind uns gestern am Flughafen über den Weg gelaufen“, erklärte Harrison. „Buchstäblich.“

Errol blickte sie fragend an.

Peinlich berührt nickte Jessica. „Ich habe ihn überrollt.“ Sie wandte sich Harrison zu. „Es tut mir so leid. Sonst bin ich nicht so ungeschickt.“

„Das kann passieren“, entgegnete er lächelnd.

„Schön, dass Sie nicht nachtragend sind, Harrison“, meinte Errol. „Und so schnell können Sie nicht gefahren sein, Jessica, da keine äußeren Verletzungen zu sehen sind. Waren Sie auf einem Scooter unterwegs?“

„Nein, ich habe ihn nicht umgefahren. Ich bin über seinen Fuß gerollt … mit meinem Koffer.“

„Und ich kann noch nicht einmal einen Kratzer vorweisen“, fügte Harrison hinzu.

Seine tiefe, raue Stimme ließ ihre Haut prickeln.

„Jetzt bin ich vollends verwirrt.“ Errol runzelte die Stirn.

„Wie gesagt, so etwas kommt vor … vor allem in einem überfüllten internationalen Flughafen wie dem von Armidale“, meinte Harrison mit einem übermütigen Grinsen, das einen Tumult an Gefühlen in ihr auslöste.

Jessica sagte nichts. Sie wollte den Blick abwenden, konnte es aber nicht. Wie angewurzelt stand sie da, Kopf und Herz in Aufruhr.

„Ich muss gleich zu einer Vorstandssitzung.“ Errol blickte sichtlich konfus von einem zum anderen. „Also überlasse ich es Ihnen, sich bekannt zu machen oder wieder bekannt zu machen – wie auch immer.“ Bevor er sich abwandte, sagte er zu Jessica: „Noch einmal … Herzlich willkommen am Armidale Regional Memorial, Jessica. Ich bin sehr froh darüber, Sie hierzuhaben. Was Ihre Zeit bei uns betrifft, habe ich ein gutes Gefühl.“

Sie täuschte ein erfreutes Lächeln vor, dachte jedoch genau das Gegenteil. Nichts war gut, und sie hatte ein miserables Gefühl. Was weder mit dem Krankenhaus noch mit Errol zu tun hatte, sondern einzig und allein mit dem Mann, der vor ihr stand.

„Sie sind also der Neuling, Dr. Ayers?“ Harrison beugte sich vor.

„Ja, und bitte nennen Sie mich Jessica.“ Mehr fiel ihr nicht ein. Sonst hatte sie keine Schwierigkeiten, ein Gespräch zu beginnen, aber auf einmal fehlten ihr die Worte. Das, was ihr durch den Kopf ging, konnte sie nicht aussprechen, und manche Sinne schienen aus einem langen Schlaf zu erwachen.

Harrisons Aftershave war so dezent, dass es in der nach Desinfektionsmitteln riechenden Notaufnahme kaum wahrnehmbar war. Jessica jedoch entging leider nicht, wie sich der Duft seiner warmen Haut mit dem von Sandelholz mischte. Ihr Puls beschleunigte sich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

„Zu Ihrer Beruhigung – mein Schuh ist ohne Schaden wieder getrocknet. Nichts weist mehr darauf hin, dass er von Ihrem wild gewordenen Koffer niedergewalzt wurde.“

Sein aufrichtiges Lächeln machte sein markantes Gesicht noch attraktiver. Trotzdem spürte Jessica, dass eine gewisse Zurückhaltung mitschwang. Sie hätte gedacht, dass sie die Einzige war, die mit sich und der Welt auf Kriegsfuß stand. Oder deutete sie seine Miene falsch? Immerhin befanden sie sich in der Notaufnahme, natürlich war er gleichzeitig darauf konzentriert, jederzeit reagieren zu können. Der Mann leitete die Abteilung des größten Krankenhauses in der Region New England.

In diesem Moment konnte Jessica ihrem Instinkt nicht vertrauen. Und das machte sie unsicher. Mehr noch, die gesamte gegenwärtige Situation und vor allem Dr. Harrison Wainwright verunsicherten sie. Sie fluchte stumm. Warum konnte der Kollege nicht in Errols Alter sein? Ein gut aussehender und verwirrend faszinierender Mann, der außerdem angenehm überrascht zu sein schien, mit ihr zusammenarbeiten zu können, war das Letzte, was sie gebrauchen konnte!

Harrison wunderte sich, wie sehr er sich freute, die hübsche Blonde vom Flughafen wiederzusehen. Er hatte an sie gedacht, bevor er gestern Abend einschlief, sich gefragt, ob und wann er ihr in Armidale begegnen würde. Sie war eine Schönheit, keine Frage, doch es gab viele schöne Frauen in New England, und mit einigen von ihnen war er in den letzten Jahren ausgegangen.

Zu dieser fühlte er sich jedoch auf eine Art hingezogen, die tiefer ging.

Keinen Augenblick hätte er gedacht, dass sie zusammenarbeiten würden. Warum war sie nach Armidale gekommen? Sie schien über genug fachliche Qualifikationen zu verfügen, um das Krankenhausdirektorium zu beeindrucken. Es sollte nicht schwer für sie sein, woanders einen Job zu finden. Wieso hatte sie sich für Armidale entschieden?

Er blickte auf ihre Hand und sah rasch wieder auf. Sie trug keinen Ring, was allerdings nicht bedeuten musste, dass sie Single war. Wieso interessierte er sich dafür? Und wieso erfüllte es ihn mit einem unerwarteten Hochgefühl, dass sie, zumindest auf den ersten Blick, ungebunden war? Ihr Beziehungsstatus ging ihn nichts an. Seit fünf Jahren war er damit beschäftigt, seinen eigenen zu klären. Obwohl seine Ehe nur noch auf dem Papier bestanden hatte, dauerte es lange, sie offiziell zu beenden. Als seine Frau sich entschloss, ihn und den gemeinsamen Sohn zu verlassen, war jedes Gefühl, das er vor Jahren für sie empfunden hatte, gestorben.

Dr. Jessica Ayers weckte mehr als Neugier in ihm, und Harrison war hin- und hergerissen zwischen dem, was er fühlte, und dem, was sein Kopf ihm sagte. Herz und Verstand lagen Meilen auseinander!

Die Doppeltüren zur Notaufnahme schwangen auf, und zwei Rettungssanitäter rasten mit einer Rollliege herein.

„Männlich, Identität unbekannt, Verdacht auf Metamphetamin-Überdosis“, meldete der größere der Sanitäter, während sein Kollege je eine Kühlkompresse auf Stirn und Brust des Patienten drückte. Der Mann hing am Tropf und war fixiert.

„Kabine drei.“ Die Stationsschwester bedeutete der Schwester, die Jessica bei der Untersuchung von Cody Smith assistiert hatte, und einer jungen Frau, ihr zu folgen. Letztere wirkte etwas nervös, und da das Armidale Regional Memorial Hospital ein Lehrkrankenhaus war, nahm Jessica an, dass es sich um eine Medizinstudentin handelte.

Im nächsten Moment wurde ihre Vermutung bestätigt.

„Melissa, wenn Sie Fragen haben, immer raus damit“, sagte die ältere Schwester. „Ihr erster Praxiseinsatz mag eine Herausforderung sein, aber wir sind ja da, um zu helfen.“

„Man muss ihn lieben, den hektischen Montagmorgen“, murmelte Harrison zu Jessica gewandt, bevor er sich zu seinem neuen Patienten begab. Er streifte sterile Handschuhe über, während die Sanitäter den Mann auf ein Krankenhausbett hoben und ihn erneut fixierten.

„Wie haben Sie ihn gefunden?“, fragte er einen der Sanitäter.

„Der junge Mann wurde vor zehn Minuten von einem Ladenbesitzer an der Beardy Street zusammengesunken neben einem Müllcontainer gefunden. Keine Ausweispapiere. Wir kennen die einschlägige Klientel, er gehört nicht dazu. Ist vielleicht neu in der Stadt oder konsumiert nicht regelmäßig. Anfangs schien er bewusstlos, aber es wurde schnell klar, dass er illegales Zeug genommen hatte. Er litt unter Halluzinationen, redete von Ameisen, die ihn bei lebendigem Leib auffressen, und zuckte unkontrolliert mit den Beinen. Die Lage eskalierte schließlich, indem er uns wüst beschimpfte und dann mit Brustschmerzen und Atemnot zusammenbrach. Zwei Minuten, nachdem wir ihn auf die Trage gehoben hatten, normalisierte sich seine Herzfrequenz.“

„Haben wir irgendwelche Hinweise auf die Menge? Hat er die Droge geschnupft oder geraucht? Wissen Sie, wie viel Zeit vergangen ist, seit er sie genommen hat?“

„Nein, keine Anhaltspunkte. Wir können auch nicht sagen, ob er allein war oder Gesellschaft hatte.“

„Vitalzeichen?“

„Wir haben anfänglich eine erhöhte Körpertemperatur von 39,5° aufgezeichnet, konnten sie jedoch mit Kühlkompressen senken. Puls war ebenfalls hoch, ist aber jetzt stabil.“

„Gute Arbeit“, lobte Harrison und wandte sich an die Stationsschwester. „Alison, beginnen Sie mit einer Magenspülung, und verabreichen Sie Aktivkohle.“

Harrison gab weitere Anweisungen, als er den unruhigen, immer noch fixierten jungen Mann untersuchte. Er hob die Sauerstoffmaske, um den Mund genau zu inspizieren. „Sein Zahnstatus scheint in Ordnung zu sein, sein Körpergewicht im Normbereich. Deshalb gehe ich davon aus, dass es sich um eine akute Überdosis handelt und er erst kürzlich mit Meth angefangen hat. Hoffen wir, dass eine Therapie ihn auf den rechten Pfad zurückbringen kann, bevor er in den chronischen Missbrauch abgleitet.“

Die junge Schwester hängte den Infusionsbeutel in einen Ständer und entließ die Sanitäter. „Danke, Leute, dass ihr ihn hergebracht habt. Brian, grüß deine Mutter herzlich, und wir sehen uns nächstes Wochenende.“

Die familiäre Atmosphäre erinnerte Jessica wieder daran, dass sie sich auf dem Land befand, wo die Menschen sich untereinander mehr oder weniger gut kannten.

„Klar, gern, Phoebe. Tommos Geburtstagsparty wird bestimmt lustig“, antwortete der jüngere Sanitäter, ehe er mit seinem Partner an der Stationszentrale ein paar Papiere unterschrieb und die Notaufnahme verließ.

„Ich brauche ein großes Blutbild, EKG und Harnprobe. So wie der arme Junge aussieht und riecht, trägt er Letztere mit sich herum“, sagte Harrison. „Kann jemand oben anrufen und nachfragen, ob ein Bett frei ist? Ich möchte ihn stationär aufnehmen, damit er heute oder morgen mit einem Psychologen spricht, bevor wir ihn wieder auf die Straße entlassen.“

„Das mache ich gleich“, erwiderte Alison. „Wir sind zurzeit nicht voll ausgelastet, es sollte etwas frei sein. Wir stecken ihn am besten in ein Krankenhaushemd, und dann sehe ich mal nach, ob ihm etwas von der Heilsarmee passt. Die spenden regelmäßig saubere Kleidung für solche Fälle.“ Sie desinfizierte seine Armbeuge und nahm Blut ab. Der Patient lag still, nur gelegentlich zuckten seine Beine, als müsste er immer noch imaginäre Krabbeltiere abwehren.

Harrison trat beiseite und die junge Frau auch. Als sie die Kabine verließen, schloss er die blauen Vorhänge. Dann wandte er sich an die Medizinstudentin, die unschlüssig dastand.

„Melissa, da unser Patient jetzt stabil ist, können Sie mir sagen, was Sie aus Fachbüchern oder eigener Erfahrung über Methamphetamin-Missbrauch wissen?“

„Also … selbst erlebt habe ich solche Fälle noch nicht, weil dies mein erstes Krankenhauspraktikum ist. Aber ich weiß, dass die Psychose nach einer Methamphetamin-Überdosis manchmal bis zu zwölf Monaten andauern und mit dauerhafter Paranoia und zunehmendem Gedächtnisverlust einhergehen kann. Weitere Folgen für den Patienten können sein: Wahnvorstellungen, wiederkehrende Infektionen, Zahnschäden, Gewichtsverlust, Hautgeschwüre und sogar Schlaganfall und Herzinfarkt, unabhängig vom Alter.“

„Das ist richtig. Je nachdem, wie lange und in welcher Dosis Meth eingenommen und wie schnell mit der Behandlung begonnen wurde, fallen die Schäden mehr oder weniger schwer aus. Würden Sie dem noch etwas hinzufügen?“

„Methamphetamin ist eine stimulierende Rauschdroge, die sich auf das zentrale Nervensystem auswirkt. In seiner Struktur ähnelt es dem Amphetamin, ist jedoch stärker und hat ein höheres Suchtpotenzial. Legal erhält man es nur auf Rezept und in der Regel, um Narkolepsie zu behandeln.“

„Ich bin beeindruckt, Melissa. Interessieren Sie sich besonders für dieses Fachgebiet?“, fragte Harrison, während er gleichzeitig das Klemmbrett entgegennahm, das ihm die Stationsschwester reichte. Gleich darauf hatte er die Anordnung für Tests und stationäre Aufnahme des Notfallpatienten unterschrieben, und die Krankenschwester eilte weiter.

„Mein Vater ist Apotheker in Tamworth und hat uns früh vor Drogen und ihrem zerstörerischen Potenzial gewarnt. Das Zeug gibt es überall, nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Land.“

„Leider haben Sie recht. Wollen wir hoffen, dass dieser junge Mann noch rechtzeitig abspringen kann, bevor er der Sucht verfällt.“

„Seine Chancen sind allerdings gering“, meldete sich Jessica zu Wort. „Er muss den Entzug wollen, sich zu einer Therapie anmelden und sie durchhalten. Man braucht einen ganzheitlichen Ansatz, um etwas zu bewirken. Wenn seine Lebenssituation sich nicht grundlegend ändert, ist eine Nacht im Krankenhaus nicht mehr als ein Pflaster, das in der Wirklichkeit dort draußen leider ganz schnell wieder abfällt.“

Jessica sprach aus Erfahrung und hielt Harrisons Entscheidung, den Jungen über Nacht aufzunehmen, für optimistisch und wenig praktisch. Zu Beginn ihres Studiums hatte sie noch naiv daran geglaubt, dass schon alles klappen würde, wenn man nach Fachbuch vorging.

Inzwischen hatte sie einen Punkt erreicht, an dem sie sich vom alltäglichen Kampf manchmal wie ausgelaugt fühlte. Nie würde sie den Anblick eines ihrer kleinen, bis auf die Knochen abgemagerten Patienten vergessen oder die Verletzungen im einst hübschen Gesicht der Zwölfjährigen, die sie sich während ihrer Wahnvorstellungen zugefügt hatte.

Damals weinte sich Jessica in den Schlaf, während sie sich sehnlichst wünschte, jedes dieser Kinder in die Arme zu schließen und zu beschützen. Doch das konnte sie nicht. Ihre professionelle Unschuld war ihr Stück für Stück genommen worden, nachdem sie erlebt hatte, wie Kinder an Drogen zugrunde gingen, weil auch ihre Eltern ihnen nicht helfen konnten. Der Sucht verfallen, konnten sie sich kaum selbst helfen.

Ja, Jessica hatte schon mehr gesehen als die junge Studentin. Flüchtig erinnerte sie sich daran, dass sie damals genauso gewesen war und es kaum erwarten konnte, endlich als Ärztin zu arbeiten. Voller Hoffnung, die Welt ein Stück besser machen zu können.

Das war längst vorbei.

Harrison betrachtete Jessica nachdenklich. Sie merkte ihm an, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung überrascht hatte. War sie zu scharf in ihrem Urteil gewesen? Aber hatte sie nicht allen Grund dazu, nachdem sie schon so oft kleine, von Drogenmissbrauch gezeichnete Kinder hatte behandeln müssen? Manchmal fühlte sie sich überwältigend traurig und hilflos.

„Sie haben vollkommen recht“, unterbrach Harrison sie in ihren Gedanken. „Es ist frustrierend. Mir ist klar, dass eine einzige Nacht ihn nicht davon abhalten wird, innerhalb der nächsten acht Stunden wieder eine Überdosis zu nehmen. Natürlich verändern wir damit nicht sein Leben, aber es verschafft uns etwas Zeit, für psychologische Beratung zu sorgen und die Sozialdienste einzuschalten. Wir können nur den Körper heilen und hoffen, dass die Kollegen die gebrochenen Lebensgeister flicken, um die Abwärtsspirale zu verhindern.“

Jessica war beeindruckt. Seine Antwort war schonungslos und doch voller Empathie. Dieser Arzt war weder naiv, noch behandelte er rein nach Vorschrift. Er war genauso frustriert wie sie und versuchte sein Bestes mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Harrison war ein Realist mit Herz.

Jetzt wandte er sich wieder Melissa und der aktuellen Aufgabe zu: sein Wissen an die folgende Ärztegeneration weiterzugeben. „Wissen Sie, wie man Methamphetamin auf der Straße noch nennt?“

„Ice?“

„Ja, und es gibt noch mehr Bezeichnungen, die die Freunde benutzen, wenn sie einen der ihren bei uns abliefern.“

„Andere Namen habe ich bisher nicht gehört.“

„Speed“, fiel Jessica ein und trat einen Schritt näher. „Oder Crystal Meth, Meth, Crystal, Panzerschokolade, Yaba, Crank. Ich glaube, ich kenne sie alle.“

„Eine beeindruckende Liste. Sie kennen sich aus mit dem Straßenjargon.“ Harrison sah sie mit einem Anflug von Neugier an. „Sie sind mit Herzblut bei dem Thema, aber ich glaube nicht, dass Sie in der Pädiatrie oft damit in Berührung kommen werden. Hier habe ich bisher niemanden unter siebzehn gesehen, der mit Drogen zu tun hatte.“

„Ich wünschte, ich könnte das bestätigen. Leider habe ich, gerade in den Großstädten, bedrückende Zustände erlebt. Es war kein Einzelfall, wenn Drogenabhängige im Alter von elf Jahren zu uns in die Pädiatrie kamen.“

„Elf?“ Schockiert sah Melissa Jessica an.

„Vor zwei Monaten habe ich in einem öffentlichen Krankenhaus in Melbourne ein Mädchen behandelt, das Methamphetamine konsumiert hatte. Vierzehn Tage vor seinem zwölften Geburtstag.“

„Und ihre Eltern? Wo waren die?“

„Haben das Gleiche gemacht. Chronisch abhängig.“

„Also hat sie kaum eine Chance“, meinte Melissa mutlos.

„Das stimmt leider, aber das ist nicht immer so.“

„Manchmal wünsche ich mir, dass Menschen erst einen Test bestehen müssen, bevor sie Kinder bekommen dürfen. Die armen Kleinen, die in eine solche Umgebung geboren werden, haben es später schwer, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.“

„Ja, Elternschaft bringt eine immense Verantwortung mit sich und ist zweifellos keine leichte Aufgabe. Aber wenn man sich einmal dafür entschieden hat, ein Kind zu bekommen, gilt diese Entscheidung ein Leben lang“, antwortete Jessica. „Es mag altmodisch klingen, doch ist das Kind erst einmal da, muss man die eigenen Bedürfnisse zu seinen Gunsten zurückstellen. Andererseits habe ich vielleicht gut reden, ich habe keine Kinder. Und heutzutage stelle ich es mir nicht einfach vor, ein Kind großzuziehen, vor allem für die vielen Alleinerziehenden muss es schwer sein.“

Harrison schwieg, doch sie spürte seinen Blick. Nicht kritisch, nein, sondern eher stolz. Was verrückt war, weil er sie überhaupt nicht kannte. Insgeheim hatte sie befürchtet, bei ihm mit ihren harschen Worten den Eindruck erweckt zu haben, dass sie an ihrem Beruf verzweifelte.

Abrupt wandte er den Blick ab und sagte zu Melissa: „Ich hoffe, dass Sie während Ihrer Famulatur viel Zeit in der Pädiatrie bei Dr. Ayers verbringen können. Für Ihre Ausbildung wäre das von unschätzbarem Wert. Mir hat sie jedenfalls heute Morgen in einigen Dingen die Augen geöffnet.“

4. KAPITEL

„Haben Sie schon eine Einführung in den Krankenhausbetrieb bekommen, oder hat der Professor Sie geradewegs in die Notaufnahme gebracht?“

Es war eine sachliche Frage, aber sie half Harrison auch, seine verwirrenden Gedanken zu zügeln. Und sie waren verwirrt – nicht erst, seit er Jessica formell vorgestellt worden war. Wieder einmal musste er sich eingestehen, dass er öfter an die schöne Ärztin gedacht hatte als beabsichtigt, seit sie ihm am Flughafen über den Weg gelaufen war.

Er hatte gehofft, sie irgendwann wiederzusehen, vielleicht im Supermarkt oder in einem Restaurant. Seine Fantasie gaukelte ihm Begegnungen vor, und er hatte sich gefragt, ob sie ihm mit dem Einkaufswagen über den Fuß fahren oder am Nebentisch sitzen und eine Gabel auf seinen Schuh fallen lassen würde … Immer wieder sah er ihr wunderschönes Gesicht vor sich und ertappte sich dabei, dass er unwillkürlich vor sich hin lächelte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit.

Harrison erinnerte sich auch an die unbeschreibliche Erleichterung, nachdem er aus dem Flugzeug gestiegen war und begriffen hatte, dass der Sorgerechtsstreit für immer und ewig ausgestanden war. Bryce war zu jung, um zu verstehen, dass ihm die Trennung von seinem Vater gedroht hatte. Aber fast das ganze Leben seines Sohnes lang lebte Harrison mit der Angst, Bryce könnte ihm für Monate oder länger weggenommen werden, um am anderen Ende der Welt bei einer Frau zu bleiben, an die der Junge sich nicht erinnerte. Obwohl sie seine Mutter war.

All diese Befürchtungen gehörten nun der Vergangenheit an. Harrison wartete nur auf die rechtsgültigen Scheidungspapiere, die der US-Anwalt ihm zuschicken würde. Mit Problemen rechnete er nicht mehr, da seine zukünftige Exfrau einen neuen Partner hatte, der mit Kindern nichts zu tun haben wollte. Es war bezeichnend für sie, dass sie deshalb auf das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn verzichtete. Der Mann war wesentlich älter, in der Filmbranche tätig und sehr wohlhabend.

Gestern Abend, nachdem er Bryce ins Bett gebracht und noch ein Scheit in die Glut gelegt hatte, saß Harrison am Kamin und starrte in die tanzenden Flammen. Er trank einen Schluck von seinem Gin Tonic, als das Scheit barst und knisternd Funken stoben, die das Zimmer mit einem warmen glühenden Schein erfüllten.

Hoffnung stieg in ihm auf. Nicht, dass er genau wusste, worauf er hoffte, aber die bedrückenden Sorgen ließen ihn endlich los. Unerwartet hatte er etwas, worauf er sich freute. Zwar wusste er nicht, warum, doch allein die Aussicht darauf, die unbekannte Schöne wiederzusehen, hob seine Stimmung.

Autor

Susanne Hampton
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Susan Carlisle
<p>Als Susan Carlisle in der 6. Klasse war, sprachen ihre Eltern ein Fernsehverbot aus, denn sie hatte eine schlechte Note in Mathe bekommen und sollte sich verbessern. Um sich die Zeit zu vertreiben, begann sie damals damit zu lesen – das war der Anfang ihrer Liebesbeziehung zur Welt der Bücher....
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Louisa George
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