Julia Ärzte zum Verlieben Band 146

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SCHWERES ERBE FÜR DR. KING von ANNIE CLAYDON

Vizedirektorin in Alex Kings Klinik werden? Natürlich sagt Marie dazu Ja. Schon seit dem Studium schwärmt sie für den gut aussehenden Arzt. Die gemeinsame Arbeit bringt sie einander endlich näher. Doch als Marie von Alex‘ Geheimnis erfährt, weiß sie, dass es für sie keine Zukunft geben kann!

RETTE MEIN HERZ! von KATE HARDY

Sam ist der neue Kollege? Hayley würde am liebsten aus dem Krankenhaus flüchten. Zu viele Nächte hat sie an den attraktiven Arzt denken müssen, der nur ein Urlaubsflirt hatte sein sollen. Auf keinen Fall will sie noch einmal ihr Herz verlieren!

JA ZUR WEIHNACHT, JA ZUR LIEBE von ROBIN GIANNA

Hell funkelt der Weihnachtsbaum am Rockefeller Center, als Conor sie in seine Arme zieht. Hier fühlt Jillian sich so geborgen wie nie. Können sie und ihr Ex-Mann das Feuer dieses Mal am Leben halten, oder hat der brillante Chirurg immer noch nicht gelernt, sein Herz über die Karriere zu stellen?


  • Erscheinungstag 11.12.2020
  • Bandnummer 146
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715632
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie Claydon, Kate Hardy, Robin Gianna

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 146

ANNIE CLAYDON

Schweres Erbe für Dr. King

Marie zur Vizedirektorin seiner Klinik zu machen war die beste Entscheidung, die Alex je getroffen hat. Jeden Tag mit der bezaubernden Ärztin zusammenzuarbeiten weckt Gefühle in ihm, die er noch nie zuvor empfunden hat – Gefühle, die Marie zu erwidern scheint. Bis er eines Tages all seinen Mut zusammennimmt und ihr sein Geheimnis offenbart …

KATE HARDY

Rette mein Herz!

War er für sie nur ein Mittel gewesen, um über den Tod ihres Ehemannes hinwegzukommen? Erfreut hatte Sam festgestellt, dass er als Notarzt in dem gleichen Krankenhaus arbeiten würde wie Hayley. Auf Island hatten sie sich großartig verstanden. Doch ihr kühler Empfang jetzt macht all seine Hoffnung auf eine Fortsetzung ihrer Urlaubsromanze zunichte …

ROBIN GIANNA

Ja zur Weihnacht, ja zur Liebe

Nicht einmal ein Jahr hat ihre Ehe gehalten, obwohl die Gefühle da waren. Nun bringt ein gebrochenes Handgelenk Conor McCarthy dazu, seine Ex-Frau wieder bei sich aufzunehmen. Endlich haben sie Zeit für aufrichtige Gespräche. Kann der erfolgreiche Chirurg dieses Mal mit Jillians Hilfe seinen Ehrgeiz überwinden und die Liebe in sein Leben lassen?

1. KAPITEL

Der erste Freitag im Februar

Schon seit zwölf Jahren stand in ihrem Kalender am ersten Freitag im Februar immer der gleiche Termin, und als Marie sich umschaute und die zwölf lachenden Gesichter und den mit Essen und Wein vollbeladenen Tisch betrachtete, konnte sie nur hoffen, dass es immer so bleiben würde.

Im letzten Jahr an der Universität hatte sie einen Kurs belegt, deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen irgendwie alle etwas Besonderes gewesen waren. Sie hatten sich sofort gut verstanden, miteinander gelacht und Positives und Negatives aus ihrem Medizinstudium miteinander geteilt. Seitdem hatten sie zwar längst alle ihren Abschluss gemacht und ein eigenes Leben, aber einmal im Jahr trafen sie sich immer noch.

Sunita reichte ihr Handy herum, damit alle das Foto ihres kleinen Babys sehen konnten. Will war gerade erst aus Amerika wiedergekommen, und Rae erzählte Geschichten aus Afrika. Nate hatte Probleme mit seiner Beziehung und unterhielt sich konzentriert mit David, der nachdenklich nickte. Sobald sich die Gelegenheit ergab, würde Marie seinen Platz einnehmen und Nate ihre Unterstützung anbieten.

Und Alex …

Marie wollte es nur ungern zugeben, aber auf ihn freute sie sich immer am meisten. Er war damals schon beliebt bei allen gewesen und man hatte viel von ihm erwartet. Er hatte nicht nur akademische Höchstleistungen erbracht, sondern liebte das Leben und hatte einen großartigen Sinn für Humor. Mit ihm hatte sie eine besonders enge Freundschaft verbunden, und wenn man Alex langfristig in seinem Leben behalten wollte, war Freundschaft dafür die richtige Wahl. Er hatte eigentlich immer eine Beziehung, aber sie hielten nie lang.

Heute jedoch schien ihn etwas zu beschäftigen. Er sah sich Sunitas Fotos an, lächelte und sagte immer das Richtige, aber sobald er das Telefon abgegeben hatte, spielte er mit seinem Essen herum und starrte vor sich hin.

Marie beugte sich vor und spürte den weichen Kaschmirpullover, als sie ihn am Arm berührte. „Was ist los, Alex?“

Er zuckte mit den Schultern und grinste plötzlich. „Ich … bin am Cruisen. Eine Hand am Lenkrad und Wind im Haar.“

Seine grauen Augen mit den langen Wimpern waren noch immer dieselben, und auch wenn seine dunklen Haare kürzer waren als letztes Mal – an Wildheit hatten sie nichts eingebüßt.

Die Erinnerungen waren noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Oft war Alex vor ihrem Wohnheim aufgekreuzt, das Dach des Cabrios geöffnet. Er wolle nur den warmen Wind spüren, hatte er gesagt, und ob Marie mitkommen möchte.

Aber sein Lächeln hier am Tisch war nicht so sorglos wie damals.

„Und du? Bewegst du immer noch Himmel und Erde?“

Marie lachte. „Ich bin immer noch am Schaufeln.“

„Eine Schaufel nach der anderen. Das kannst du gut.“

Er ließ es wie ein Kompliment klingen. Wie etwas Gutes, Wertvolles und nicht einfach nur wie das Leben. Ihr Leben zumindest.

Alex hatte sich nie um Geld sorgen müssen. Seine Familie hatte ihn unterstützt. Marie hingegen hatte Medizin studiert, obwohl ihre Familie ihre Hilfe gut hätte gebrauchen können. Von der Hand in den Mund, so war es immer gewesen. Meist hatte sie genug Geld gehabt, um die Miete zu bezahlen, aber leicht war es nicht gewesen.

Am anderen Ende des Restaurants trug ein Kellner einen Kuchen mit Geburtstagskerzen zu einem Tisch, an dem sechs junge Frauen saßen. Er sang Happy Birthday, und die Frauen stimmten ein. Alex sah zu und sang leise mit.

Das Geburtstagskind stand auf und beugte sich über den Kuchen. Alex sprang auf und an einigen Kellnern vorbei auf die Frau zu. Erst als Marie aufstand und hinter ihm hereilte, sah sie, warum: Die Frau wedelte mit ihrem Arm herum, sodass die Flammen nur noch höher stiegen.

Alex erreichte sie, als sie gerade in Panik verfiel. Er griff nach ihrem Arm und schüttete eine Wasser aus einer Karaffe darüber, die auf dem Tisch gestanden hatte.

Totenstille herrschte im ganzen Restaurant, nur die Frau schluchzte. Alex hielt sie fest und sah Marie an, um sich zu vergewissern, dass sie bei den anderen fünf Frauen blieb, während er mit der Verletzten Richtung Toiletten eilte.

„Was macht er? Wir müssen …“

Eine der anderen erhob sich, aber Marie bat sie, sich wieder zu setzen. Alex hatte es unter Kontrolle, und wenn er Hilfe gebraucht hätte, wäre er deutlich geworden.

„Keine Sorge, wir sind beide Ärzte. Die Verbrennung muss sofort gekühlt werden, und das macht mein Kollege jetzt. Wir bleiben lieber hier.“

Alex würde darauf achten, ob die Frau Zeichen eines Schocks zeigte, und das ging besser, wenn nicht so viele Leute um sie herumstanden.

„Aber … sie stand in Flammen …“, sagte eine andere ihrer Freundinnen.

Es hätte viel schlimmer kommen können. Ihre Bluse schien aus Baumwolle gewesen zu sein, nicht aus einem künstlichen Stoff, der noch schneller in Brand geraten wäre. Wenn Alex nicht so schnell reagiert hätte, wäre wertvolle Zeit verstrichen.

„Alex hat die Flammen ja ganz schnell gelöscht. Aber ich gehe auch einmal nach ihr schauen, okay?“

Marie drehte sich kurz zum Tisch ihrer Freunde, die alle ruhig, aber wachsam sitzen geblieben waren. Auch sie vertrauten darauf, dass Alex oder Marie sie zu Hilfe rufen würden. Marie winkte Sunita zu, die sofort aufstand und sich an den anderen Tischen vorbeischlängelte. Marie bat sie, bei den fünfen zu bleiben.

Die junge Frau saß auf einem Hocker vor dem Waschbecken, und Alex ließ ihr lauwarmes Wasser über den Arm laufen, den er vorsichtig stützte. Er lächelte und redete mit freundlicher Stimme auf sie ein.

„Wie viele Kerzen hatte denn der Kuchen, Laura?“

Ihre Mundwinkel zitterten. „Achtzehn. Ich bin heute achtzehn geworden. Deswegen feiern wir.“

„Es wird alles gut. Das ist eine Verbrennung ersten Grades, das heißt, eine nicht besonders schlimme Verbrennung. Es tut bestimmt eine Weile weh, aber Sie werden keine Narbe zurückbehalten. Das wird noch ein schöner Geburtstag heute, versprochen.“ Er warf Marie einen Blick zu. „Das hier ist meine Freundin Marie. Sie ist auch Ärztin und kann deshalb nicht anders, als nachzuschauen, ob ich alles richtig mache.“

Alex lächelte sie an. Er hatte ein zauberhaftes Lächeln, das sie an ihre gemeinsame Zeit in der Notaufnahme erinnerte, wo sie öfter mit solchen Fällen zu tun gehabt hatten. Laura drehte sich zu Marie um, und Alex hielt ihren Arm weiter so, dass er unter dem Wasserstrahl blieb.

„Er macht das ziemlich gut.“

„Das freut mich.“

„Wo sind die anderen? Essen sie Kuchen?“

„Nicht ohne Sie, Laura. Aber sie möchten wissen, wie es Ihnen geht.“

Alex war es offensichtlich gelungen, sie zu beruhigen, wenn sie als Erstes an ihren Kuchen dachte.

„Gut, dass sie warten“, sagte Alex. „Laura hat mir nämlich versprochen, dass ich auch ein Stück bekomme. Aber wir bleiben noch eine Weile hier und kühlen die Verbrennung. Dann können Sie wieder nach Hause. Wir schreiben Ihnen ein paar Anweisungen auf.“

„Ein paar Anweisungen?“ Marie grinste Laura verschwörerisch zu. „Na, das klingt ja streng.“

Alex lachte. „Erster Punkt: Machen Sie sich noch einen schönen Geburtstagsabend.“

Es hätte so anders kommen können – dann hätte Laura ihren Abend in der Notaufnahme verbracht, wo sie erfahren hätte, dass sie Hautverpflanzungen bräuchte und lang Schmerzen leiden würde. Aber sie würde einfach nach Hause gehen, mit nasser Kleidung, weil Alex die Wasserkaraffe über ihr entleert hatte. Mit nur minimalen Verbrennungen. Ihre Zukunft wartete auf sie, genauso vielversprechend wie zuvor.

Sie blieben noch eine Weile sitzen, und Alex erkundigte sich regelmäßig, wie es ihr ging. Dann erklärte er ihr, wie sie die Verbrennung versorgen sollte. Sunita hatte die fünf Freundinnen geholt – und den gut verpackten Kuchen. Aus dem Restaurant hörte man wieder gut gelauntes Geplauder. Der Vorfall war wohl größtenteils vergessen.

Dann brachte er Laura und ihre Freundinnen hinaus zu einem bestellten Taxi, und Marie sah, wie er sich, als der Wagen abfuhr, gegen die Metallabsperrung vor dem Restaurant lehnte. Er blickte in den Himmel hinauf, der zwischen den Gebäuden kaum zu sehen war. Sein lockeres, völlig entspanntes Verhalten hatte er wohl nur Laura zuliebe aufrechterhalten.

Es war ganz egal gewesen, was in ihrem letzten Jahr an der Universität auf sie eingeprasselt war, Alex hatte alles mit guter Laune überstanden. Jetzt jedoch schien ihn wirklich etwas zu beschäftigen – todunglücklich wirkte er mit einem Mal.

Ob sie ihm helfen konnte? Vielleicht blieb er dort draußen, damit sie zu ihm kam. Sie hatten sich schon oft Geheimnisse anvertraut. Sie nahm Alex’ Jacke, die noch über seiner Stuhllehne hing, und schlich sich davon.

Alex hatte sich gefreut, Marie wiederzusehen. Er hatte schon überlegt, ob er sich ihr anvertrauen könnte, und jetzt, da Laura auf dem Nachhauseweg war, dachte er erneut darüber nach. Aber er würde es nicht tun. Eigentlich begriff Marie immer alles, was ihn beschäftigte, aber warum die letzten Monate so schwer für ihn gewesen waren, das würde sie nicht verstehen. Sie hatte immer kämpfen müssen, und es fühlte sich falsch an, ihr davon zu erzählen, wo er doch immer alles gehabt hatte, was er sich wünschen konnte.

„Ist dir nicht kalt?“

Es überraschte ihn nicht, ihre Stimme zu hören. Vielleicht stand er deswegen hier und zitterte: weil Marie zu ihm kommen sollte.

„Nicht besonders.“ Er nahm ihr seine Jacke ab und legte sie ihr um die Schultern. Diese Geste machte ihn so zufrieden, dass es fast albern war.

„Ein bisschen wie früher.“ Sie blickte ihn an, und plötzlich fühlte es sich nicht nur ein bisschen wie früher an.

„Ja. Ich bin froh, dass es Laura gut geht.“

„Das hat sie dir zu verdanken. Jetzt stehen wir schon mal hier … und deine Jacke ist so schön warm …“ Marie grinste ihn an. „Da kannst du mir auch erzählen, was los ist.“

Es war verlockend. Alex hatte ihrem Blick nie widerstehen können. In der Sonne waren ihre Augen fast violett, im Schatten tiefblau. Ihr dunkles Haar trug sie momentan ganz kurz und glänzend, wie eine Elfe sah sie aus.

„Mir geht’s gut. Ich bin nur müde.“

„Weißt du noch, als du mal bei mir vorbeigekommen bist, nachdem ich die ganze Nacht an den Abstracts gesessen hatte?“

„Ich habe echt noch nie gesehen, dass jemand beim Kaffeetrinken eingeschlafen ist. Vor allem, weil mein Kaffee wirklich ordentlich stark war.“

Marie hatte damals kurze Zusammenfassungen für eine wissenschaftliche Zeitschrift geschrieben, was mehr Geld eingebracht hatte als das Kellern und auch besser in ihren Tag gepasst hatte. Gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren, das war für sie nie einfach gewesen, aber Alex hatte schon früh gelernt, dass sie sich nicht helfen ließ.

Er hatte sich damals zum ersten Mal so richtig frei gefühlt. Maries zwei kleine, schäbige Zimmer ganz oben in einem Mietshaus waren immer sauber geschrubbt gewesen und so bunt, wie sie es sich leisten konnte.

„Was seltsam war …“ Marie sah ihn wissend an. „Als ich wieder aufgewacht bin, warst du weg. Ich wollte mir meine Abstracts noch einmal durchlesen – und sie waren alle perfekt. Nicht einmal ein einziger Rechtschreibfehler.“

Alex hatte immer gedacht, dass sie es nicht gemerkt hatte. Damals hatte er versucht, Marie ins Bett zu bringen, und sie war in seinen Armen zusammengesackt, sodass er sie getragen hatte. Er hatte ihr die Strickjacke und die Schuhe ausgezogen und dann nicht weitergemacht. Stattdessen hatte er sie mit der bunten Patchworkdecke zugedeckt. Manchmal hatte er sich vorgestellt, wie sie beide zusammen nackt darunter liegen würden, aber Marie war eine viel zu gute Freundin, ein viel zu guter Mensch, und er wollte keine kurze Romanze mit ihr anfangen.

Alex hatte sich damals das Dokument angesehen, das auf dem Laptop geöffnet war, und wollte es speichern und schließen, aber dann war ihm ein Fehler aufgefallen, er hatte sich hingesetzt und alles durchgearbeitet, um ihre Müdigkeitsfehler zu beseitigen.

„Wahrscheinlich bist du besonders gut, wenn du auf Autopilot schaltest“, sagte er und versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen.

„Wahrscheinlich. Dann schreibe ich sogar beim ersten Mal synthetisieren richtig.“

„Gibt es bestimmt eine Studie zu.“

Sie grinste ihn an. „Solche Wörter lernt man vermutlich als Erstes, wenn man eine gute britische Schule besucht.“

„Mach dich nur lustig. Nur weil ich auf einer Schule war, die stolz darauf ist, dass sie sich in den letzten hundert Jahren kein bisschen weiterentwickelt hat …“ Alex hatte diese Schule gehasst, die nur ein winziges bisschen weniger versnobt gewesen war als seine Eltern und ihn regelrecht erstickt hatte.

„Ich mache mich gar nicht lustig. Ich fand das sehr süß von dir.“ Sie kam einen Schritt auf ihn zu. „Auch dass du mir immer die teuren Fachbücher geliehen hast. Und mich mit dem Auto abgeholt hast, damit ich nicht für den Bus zahlen musste.“

„Warum sagst du mir das jetzt alles? Damit ich endlich erkenne, dass ich offensichtlich nicht so taktvoll war, wie ich immer dachte?“

Marie schüttelte den Kopf. „Du warst sehr taktvoll. Meist ist es mir nicht einmal aufgefallen. Du warst mein Freund und hast mir geholfen. Und das sollte für beide Seiten gelten.“

Das war ihm klar. Aber er konnte einfach nicht darüber reden, nicht mit ihr. „Mir geht es wirklich gut. Aber danke, dass du fragst.“

„Solange du weißt, dass ich immer für dich da bin …“

Sie berührte ihn am Arm, und Alex wäre fast zurückgezuckt. All seine Sinne schrien danach, sich trösten zu lassen. Ob sie sich früher auch so gefühlt hatte? Trotz all ihrer Selbstständigkeit?

„Danke.“

Er wollte sie umarmen, freundlich, knapp, wie schon tausende Male. Aber als er ihren Körper spürte, konnte er plötzlich nicht mehr loslassen. Marie war das Einzige in seinem Leben, das nicht irgendwie beschmutzt oder verdorben war.

Er beugte den Kopf, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, aber in demselben Moment bewegte sie ihren Kopf – und ihre Lippen berührten sich. Bevor er sich zurückziehen konnte, trafen sich ihre Blicke. Maries Augen leuchteten mitternachtsblau.

Was, wenn er nicht immer die zerrüttete Ehe seiner Eltern vor Augen hätte und eine Beziehung führen könnte, die länger dauerte als ein paar Monate? Was, wenn er sich selbst genug vertrauen und eine Beziehung mit der Person eingehen könnte, die ihm am meisten bedeutete? Was, wenn er ihr Herz brechen würde? Was, wenn all das, vor dem er davongelaufen war, ihn plötzlich wieder eingeholt hatte?

All diese Fragen musste er sich stellen und beantworten, bevor er auch nur daran denken konnte, sie zu küssen. Aber dann spürte er erneut ihre weichen Lippen – und alles war verloren. Sie war weich und süß, und als er den Kuss erwiderte, reagierte sie sofort. Vielleicht dauerte es nur einen Moment, vielleicht eine ganze Stunde. Einen so perfekten Moment konnte man nicht wie üblich bemessen.

Selbst als sie sich zurückzog, war sie perfekt. Sie seufzte leise vor Bedauern und schlug die Augen nieder, sodass er ihre langen Wimpern sah.

Er hatte immer gedacht, dass er Marie nicht küssen durfte. Das war Gesetz, denn dann gäbe es kein Zurück mehr. Und er hatte recht gehabt. Marie war nicht irgendein hübsches Mädchen, das er leicht hinter sich lassen konnte.

„Willst du wieder reingehen?“

Sie sah ihn immer noch nicht wieder an. „Ja …“

Er spürte, wie sie sich in seinen Armen bewegte, und ließ sie gehen. Einen kurzen Moment blickte sie auf. Hatte er alles kaputt gemacht? Schon war sie im Restaurant verschwunden und setzte sich zu ihren Freunden.

Zwischen den einzelnen Gängen hatten alle den Platz getauscht, damit sie sich besser mit den anderen unterhalten konnten. Alex setzte sich, ohne Marie am anderen Ende anzusehen, und befand sich sofort mitten in einer hitzigen Unterhaltung über Fußball, die Emily und Will führten.

Erst als das Restaurant schloss und eine der Kellnerinnen ihnen die Jacken an den Tisch brachte, sah Marie ihn wieder an. Er stand plötzlich neben ihr und half ihr mit ihrem Mantel.

Marie lächelte. „Dann bis nächstes Jahr, Alex. Ich wünsche dir alles Gute.“

„Ja, bis dann.“

Er hatte kaum geantwortet, da war sie schon weg. Deutlicher hätte sie es nicht sagen können. Sie waren Freunde, und nichts würde das kaputt machen. Kein Feuer, keine Überschwemmung, kein wunderbarer, herzergreifender Kuss. Nächstes Jahr würden sie alles vergessen haben und weitermachen wie bisher.

2. KAPITEL

Der erste Freitag im Mai

Es waren nur vier U-Bahn-Stationen gewesen von dem Krankenhaus im Zentrum von London, in dem Marie arbeitete, aber die glänzenden Glasgebäude und trendigen Bars waren schnell verschwunden und wurden durch Wohnhochhäuser, kleine Läden und verschiedene Familien mit all ihren üblichen Problemen ersetzt.

Einige dieser Probleme kannte Marie aus erster Hand. Sie war nur fünfzehn Minuten entfernt von der Adresse aufgewachsen, die Alex ihr gegeben hatte. Ihr Vater war gegangen, als sie zehn gewesen war, und ihre Mutter war in ihrer eigenen Welt verschwunden. Vier elende Monate hatte Marie ohne ihre drei jüngeren Brüder in einer Pflegefamilie verbracht, und als sie endlich wiedervereint worden waren, hatte Marie sich geschworen, dass es für immer so bleiben würde.

Aber es hatte sie ihre Kindheit gekostet. Sie hatte sich um ihre Brüder gekümmert, während ihre Mutter ständig gearbeitet hatte, um sie finanziell über Wasser zu halten. Marie hatte eingekauft und gekocht, und am Wochenende war sie mit den dreien in den Park gegangen. Während sie auf dem Spielplatz getobt hatten, hatte Marie ihre Schulaufgaben gemacht.

Es war nicht einfach gewesen. Und einsam. Seit sie ausgezogen war, hatte sie ein paar Beziehungen gehabt, aber sie war immer vorsichtig geblieben, denn sie wusste genau, wie es sich anfühlte, verlassen zu werden. Sie hatte sich nie Hals über Kopf verliebt, hatte ihre Zweifel und Ängste nie aufgeben können. Weil sie sich aber immer noch um ihre Familie kümmerte, hatte sie zum Glück kaum Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Als sie das viktorianische Gebäude erreichte, sah es genauso unheilvoll aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Die Ziegel waren dunkel vor Schmutz, und die drei Geschosse schienen sie zu erdrücken wie ein dunkler Schatten in der Abendsonne. Das hohe, gusseiserne Tor quietschte, als Marie es öffnete. Hoffentlich war das alles kein Scherz.

Aber Alex’ Streiche waren üblicherweise ausgefeilter als das hier. Und als er sie angerufen hatte, klang es wirklich ernst. Er hatte den Kuss nicht erwähnt, sondern nur gesagt, er brauche ihre professionelle Meinung. Daraus hatte Marie geschlossen, dass er über die Sache hinweg war, genau so, wie sie es gehofft hatte. Es war eine Erleichterung. Und eine Enttäuschung.

Sie ging den zerklüfteten Asphalt hinauf zum Haus. An der Tür hing ein Zettel: Living Well Clinic. Marie verzog das Gesicht. Dieser Name passte nun wirklich nicht. Sie drückte auf die Klingel.

Fast sofort wurde die Tür geöffnet.

Alex sah angespannt aus. „Hallo! Danke, dass du gekommen bist.“

„Gern. Aber worum geht es denn?“

„Komm rein.“ Er trat einen Schritt zurück, und sie betrat das Haus. Als er die Tür hinter ihnen schloss, zuckte sie fast zusammen.

Es hatte sich viel verändert. Am anderen Ende der kleinen Eingangshalle befand sich ein Bogen, von dem der alte Putz entfernt worden war, sodass die Ziegel darunter zum Vorschein kamen. Eine neue Glastür war eingebaut worden. Als Marie darauf zuging, öffnete sie sich von selbst. Sie betrat einen großen, hellen Empfangsbereich, der früher einmal die Garderobe gewesen war.

Von der Decke hingen Kabel, und die Wände waren erst kürzlich neu verputzt worden. An einigen Stellen waren sie noch feucht und dunkel. Eines der Bogenfenster war ersetzt worden, die vielen Schichten Farbe auf den anderen waren abgeschliffen worden.

„Du kennst das Haus?“

„Ja, ich bin hier zur Schule gegangen.“

„Wirklich?“ Er grinste verlegen. „Das habe ich gar nicht gewusst. Vielleicht hätte ich ja deinen Namen in einem der Schultische gefunden. Eingeritzt.“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Du hast immer nur brav gelernt?“

„So ungefähr.“

Ihren Namen hier zu hinterlassen, hätte bedeutet, dass sie ihre Schulzeit vermissen würde. Dabei war sie nur hier gewesen, weil sie gemusst hatte. Und weil sie etwas vorhatte – all das hinter sich zu lassen.

„Was ist das alles hier, Alex? Arbeitest du jetzt hier? Oder ist das ein Freizeitprojekt?“

„Ich habe leider keine Freizeit mehr. Ich bin Vollzeit hier. Die Arbeit in der Praxis habe ich aufgegeben.“

Alex hatte immer schon gesagt, dass er so etwas machen wollte. Und jetzt war es so weit. Der nächste logische Schritt von seiner Arbeit als Allgemeinarzt in einem wohlhabenden Londoner Vorort wäre gewesen, eine eigene Privatpraxis zu eröffnen. Alex hatte die richtigen Kontakte und einen guten Ruf. Es hätte funktioniert.

„Und hier willst du deine Patienten empfangen?“

„Sobald man hier keine Schutzhelme mehr tragen muss.“ Er griff nach zweien und reichte ihr einen. „Komm, ich zeige dir, was wir gemacht haben.“

Es war ein großes Projekt. Einige der Klassenräume hatten sie aufgeteilt, um je zwei Behandlungsräume daraus zu machen. Die Decken waren hoch, und durch die Bogenfenster kam viel Licht. Im Erdgeschoss sollte es einen hochmodernen Fitnessraum geben, in dem Physiotherapeutinnen und Personal Trainer arbeiten würden. Die alte Aula war zu einer Cafeteria mit Aufenthaltsbereich geworden. Oben gab es Räume für die Ernährungsberatung sowie Besprechungsräume und Ecken für Gruppentherapien.

„Wir machen auch Körperfettmessungen, allgemeine Vorsorgeuntersuchungen …“ Alex öffnete eine Tür zu einem der alten Chemielabore, von denen nur noch die Mauern standen. „Und andere Diagnosen. Neben dem Gebäude haben wir einen großen Parkplatz für ein Mammografie-Mobil, und wenn die Klinik fertig ist, kommt es regelmäßig vorbei.“

Das Projekt war ehrgeizig und durchdacht und würde den Menschen vor Ort helfen. „Beeindruckend, Alex. Alles unter einem Dach.“

„So ist es geplant. Wenn sie einmal hier sind, können wir ihnen mit allem helfen. Ob schwierigere medizinische Sachen oder einfach nur ein gesünderer Lebensstil.“

„Und was ist mit den Schulhöfen?“

Sie gingen einen Korridor entlang, dessen Fenster auf einen der zwei Innenhöfe zeigten. Dort unten hatte sich noch nichts geändert.

„Dafür haben wir noch keine Pläne. Aber Pflanzen wären schön.“

„Und die alte Turnhalle?“ Der Anbau an der Rückseite der Schule war riesengroß, und es wäre eine Verschwendung gewesen, ihn nicht zu nutzen.

„Da haben wir was entdeckt. Komm mal mit.“

Er führte sie zu den großen Doppeltüren, durch die man in die Turnhalle gelangte.

Marie hielt die Luft an. Die Sitze an den Seiten waren rausgerissen worden, und von drei Seiten strömte das Tageslicht in den Raum. Die kaputten Holzdielen waren ebenfalls verschwunden, und in der Mitte war ein großes, mit Beton ausgegossenes Loch zu sehen.

„Ist das ein Schwimmbad?“

Er nickte. „Als wir uns die Pläne angesehen haben, ist uns aufgefallen, dass dieser Bereich in den Dreißigern als Schwimmbad gebaut wurde und erst später zur Turnhalle umfunktioniert wurde. Als wir den Boden rausgenommen haben, hat sich gezeigt, dass sie den Pool zugeschüttet hatten. Er ist immer noch brauchbar. Wir haben sogar noch Platz für ein Hydrotherapie-Becken.“

„Das ist toll! Und wollt ihr die Becken und den Fitnessraum nur für Patienten benutzen oder für alle aus der Nachbarschaft?“

„Es wird ein bisschen kosten, aber weit unter den normalen Preisen, und alle, die eine Überweisung von einem Arzt oder einer Ärztin haben, müssen gar nichts bezahlen.“

Alex schwieg und sah sie nachdenklich an. „Was ist mit dir? Willst du mitmachen?“

Das klang wie ein Märchen. Ein dunkles, gruseliges Schloss wurde zum Leben erweckt und verwandelt. Alex passte hinein wie der schöne Prinz.

„Wem gehört die Einrichtung denn, Alex?“

Er runzelte die Stirn, als wäre das nicht so einfach zu beantworten. „Das ist eine lange Geschichte … Sollen wir in mein Büro gehen und eine Tasse Kaffee trinken?“

Marie folgte ihm zu einem kleinen Bürotrakt am vorderen Ende des Gebäudes, gleich neben dem Empfangsbereich. Von hier aus konnte man sehen, wer kam und ging, und Marie schätzte, dass Alex sich dieses Büro mit Absicht so ausgewählt hatte. Er war immer gern bei allem dabei.

Sein Zimmer war eines der wenigen, das schon fertig war, aber es wirkte nicht, als ob er sich wohlfühlte. Die Wände waren cremefarben, und die hohen Fenster sorgten für einen minimalistischen Look, der kein bisschen zu Alex passte.

„Wie lang bist du schon hier, Alex?“

„Zwei Monate.“ Er sah sich um. In einer Ecke stand ein schlanker Holztisch, in der anderen ein Sofatisch mit gemütlichen Sesseln. „Warum?“

Zwei Monate? Und er hatte noch keine Bilder angebracht und sein Büro persönlicher gestaltet?

„Es sieht nicht besonders bewohnt aus.“ Marie sah sich um, aber die Helligkeit war anstrengend für die Augen. Endlich fiel ihr etwas auf, das sie kommentieren konnte. „Dein Stuhl ist schön.“

„Wenn ich stundenlang sitzen muss, soll er gemütlich sein. Willst du ihn ausprobieren?“

Er ging zu einem der tiefen Holzschränke und öffnete eine Tür, hinter der sich eine Kaffeemaschine und eine kleine Spüle verbargen. Der Stuhl war wirklich gemütlich und bot gleichzeitig genug Unterstützung für den Rücken. Sie fühlte nach den Hebeln und Knöpfen unter der Sitzfläche.

„Toll. Der hat mehr Funktionen als mein letztes Auto.“

Sie stand auf, als Alex mit dem Kaffee kam, aber er schüttelte den Kopf, damit sie sich wieder setzte. Sein Lächeln sah gezwungen aus. „Du hast noch gar nicht alle gefunden. Der Knopf da rechts neigt die Sitzfläche nach vorn.“

„Oh.“ Marie versuchte es und ratschte sich fast die Haut an dem harten Knopf aus. „Interessant. Du gehst also ergonomisch mit gutem Beispiel voran.“

Sie sagte einfach irgendetwas, damit es nicht so still war und Alex reagieren musste. Sie hatte ihn noch nie so besorgt gesehen. Oder belastet.

Sie beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab, als ob sie ihn einem Verhör unterziehen würde. „Was ist los, Alex? Und fang am besten am Anfang an.“

Er hielt inne und starrte in seine Tasse, als ob er dort den Anfang der Geschichte finden würde. „Es war einmal vor hundertundzehn Jahren …“

„Wie bitte? Wirklich?“

Er lächelte gequält, und Marie schämte sich für die Unterbrechung. Was immer vor hundertundzehn Jahren passiert war, musste wichtig sein. „Sorry.“

„Vor hundertzehn Jahren wurde der König der Belkraine abgesetzt. Er floh mit seiner Familie nach London. Sie hatten jede Menge wertvolle Juwelen dabei, besaßen hier mehrere Immobilien und einen ganzen Haufen Investitionen. Sein ältester Sohn war mein Großvater.“

Marie starrte ihn an. Sie hatte immer gedacht, dass Alex und sie sich im Laufe der Jahre all ihre Geheimnisse erzählt hatten, aber das war wohl nicht der Fall.

„Das heißt … du bist ein Prinz?“

Er sah sie bitter an. „Die Belkraine ist heute ja kein eigenständiges Land mehr. Ich kann wohl kaum Prinz eines Landes sein, das es nicht mehr gibt.“

Darum ging es doch gar nicht. Viele Monarchien hatten sich in den letzten hundert Jahren verändert, aber Privilegien und Geld verschwanden ja nicht.

„Dann ein Prinz im Exil?“

„Genau genommen ein König im Exil. Mein Vater ist im letzten Juni gestorben.“

„Das tut mir so leid.“

„Danke. Aber wir hatten schon seit Jahren nicht mehr gesprochen. Nicht, seit ich zur Uni gegangen bin.“

Marie biss sich auf die Zunge. Er hatte nie über seine Familie gesprochen, aber sie wusste, dass er ein Einzelkind war und seine Eltern ein großes Haus irgendwo auf dem Land hatten. Dass sie keinen Kontakt mehr hatten, hatte er nie erwähnt, und Marie dachte immer, er stamme aus einer ganz normalen, glücklichen Familie.

Jetzt war wirklich nicht der Zeitpunkt, Alex darauf hinzuweisen, dass er alle immer in diesem Glauben gelassen hatte.

„Das hat dir bestimmt wehgetan.“

Er zuckte mit den Schultern. „Das ist schon so lange her. Ich habe mich damit abgefunden.“

Sie hatte so viele Fragen. Was machte Alex hier? Warum hatte er ihr noch nie davon erzählt? Vielleicht sollte sie einfach schweigen und abwarten.

Alex sah sie unsicher an, und sie nickte ihm aufmunternd zu, damit er weiterredete.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Vater mir irgendetwas vererben würde. Bestimmt nicht sein ganzes Vermögen. Aber genau das ist passiert. Und ich weiß gar nicht, was ich mit dem ganzen Geld anfangen soll.“

„Wie viel …“

Natürlich fragte man nicht nach Geld, aber wenn der Betrag jetzt sein ganzes Leben durcheinanderbrachte, konnte das gut und schlecht sein. Gut, weil er all das machen konnte, was er sich schon immer gewünscht hatte. Schlecht, weil es ihn so zu belasten schien.

„Wenn man alle Aktien und Immobilien dazurechnet, sind es über zwei Milliarden.“

Sie starrte ihn an. Das war so viel Geld, dass sie es sich gar nicht vorstellen konnte.

„Und das … Du hast das alles hier gemacht?“ Mit ausgestrecktem Finger wedelte sie im Raum herum.

„Meine Vorfahren haben in ihrem Reichtum immer eine Möglichkeit gesehen, Macht zu erlangen und noch mehr Kohle. Ich will etwas weiser mit dem Geld umgehen.“

Es war wirklich weise. Altruistisch. Selbstlos. So war der Alex, den sie kannte. Seine Fröhlichkeit, seine Unbekümmertheit, mit der er in den Tag hineinlebte. Aber vor ihr saß jemand anders.

„Warte mal … Du heißt Alex King. Wie passend ist das denn?“

Hatte er all das gar nicht so gut versteckt, wie sie gedacht hatte?

„Ja. Auf meiner Geburtsurkunde steht allerdings Rudolf Aloysius Alexander König.“

Das war zu viel. Sie hatte nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt, dabei waren sie doch Freunde gewesen.

Und sie hatten sich geküsst und jede Sekunde dieses Kusses genossen.

Marie sprang auf und ging zum Fenster. Sie sah auf die Straße.

Marie kam nicht damit zurecht, und das erleichterte ihn fast. Die wenigen anderen Menschen, denen er davon hatte erzählen müssen, hatten ihm zu seinem plötzlichen Reichtum gratuliert und ihn plötzlich ganz anders behandelt. Marie war nicht so. Sein Geld und seinen Status hatte sie geschluckt, als ob es sie nicht interessierte. Was ihr wichtig war? Dass er ihr nie seinen echten Namen verraten hatte.

„King ist die englische Version von König. Alexander ist mein Drittname“, versuchte er zu erklären.

Aber sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, ich kenne dich, Alex …“

Es brachte wohl nichts, ihr zu erklären, dass viele Menschen ihren Namen änderten oder aus unglücklichen Familien kamen. Marie war verletzt, weil er ihr nie etwas davon erzählt hatte. Wenn sie je seinen Vater kennengelernt hätte, wäre es vielleicht anders gewesen.

„Rudolf König war der Name, den mein Vater mir gegeben hat, damit alle wissen, zu welcher Familie ich gehöre. Aber ich wollte mein eigenes Leben haben, Marie, und der einzige Maßstab sollte das sein, was ich selbst erreicht habe.“

„Ja, das verstehe ich.“ Sie starrte weiterhin aus dem Fenster und sah ihn nicht an.

„Aber?“

„Ich brauche noch eine Minute. Ich muss das ein bisschen verarbeiten.“

Okay. Verarbeiten klang nicht so schlimm.

Seit er von dem Testament seines Vaters gehört hatte, fühlte er sich, als würde er in ein Leben zurückgezogen, aus dem er sich schon längst befreit hatte. Geld und Status hatten seine Eltern kaputt gemacht, und er hatte schon jetzt das Gefühl, dass es auch ihn erdrückte.

Langsam drehte sie sich um und lehnte sich gegen die Fensterbank. Nachdenklich sah sie ihn an. „Also, Alex … Soll ich dich weiter Alex nennen? Oder Eure Majestät?“

„Du musst es mir nicht aufs Brot schmieren, Marie. Mache ich den Eindruck einer Majestät auf dich?“

Ihre Miene wurde weicher, fast lächelte sie. Ein Schritt hin zu der Wärme, die er von ihr brauchte. „Sorry … Wer weiß denn noch Bescheid?“

„Ein paar Leute, die ich aus der Schule kenne. Hier weiß es niemand, aber es ist nicht direkt ein Geheimnis. Ich rede nur nicht darüber.“

Sie funkelte ihn an. „Dann ist es doch ein Geheimnis. Ein Geheimnis ist etwas, über das man nicht mit seinen Freunden redet.“

„Ich habe dich nie angelogen.“ Er hörte selbst, wie wütend er klang, und atmete tief durch. „Entschuldige. Ich will nur, dass es hier um die Klinik geht und nicht um mich.“

„Natürlich geht es um dich. Du hast sie aufgebaut.“

„Ich habe dabei geholfen. Aber ich will, dass die Leute über das reden, was wir hier machen. Wenn es darum geht, wer ich bin, lenkt das nur ab.“

Dass es ihm auch darum ging, dass jedes Gespräch über seine Herkunft dazu führte, dass alte Wunden sich wieder öffneten, wollte er nicht sagen.

Marie nickte langsam.

Jetzt musste er ein Risiko eingehen. „Wenn du dich nicht für einen Job hier interessierst, kannst du auch einfach gehen. Ich bin dir nicht böse.“

Sie machte einen Schmollmund. „Das habe ich nicht gesagt.“

Gut. Das war ein Anfang. Er wusste genau, dass sie gesehen hatte, was diese Klinik alles bieten konnte – vielleicht sollte er ihr Augenmerk noch einmal deutlicher darauf lenken. Nicht auf sich selbst, nicht auf den Freund, der die Regeln gebrochen und sie geküsst hatte. Auf den Freund, der ihr nie erzählt hatte, wer er wirklich war.

„Die Klinik soll ein Aushängeschild sein. Finanziert und betrieben wird sie komplett durch einen Fond, den ich mit einem Teil meines Erbes eingerichtet habe. Ich will noch weitere Einrichtungen dieser Art eröffnen, im ganzen Land. Dafür brauchen wir aber Unterstützung von außen.“

„Du hast Großes vor, Alex.“

Er sah ein Funkeln in ihren Augen. Genau diese Aufregung wollte er auch verspüren.

„Ich würde dich gern als Geschäftspartnerin haben, als jemanden, mit dem ich meine Vision teilen kann. Was diese Modellklinik angeht und alle weiteren Einrichtungen. Du hast genauso das Sagen wie ich.“

Sie starrte ihn an. „Meinst du das ernst?“

Noch hatte sie nicht Nein gesagt. Er unterdrückte ein Lachen. Das hier war eine berufliche Zusammenkunft, er wollte sie aus rein professionellen Gründen hier haben, und so mussten sie auch miteinander reden.

„Deine Erfahrungen in der Notaufnahme und in der Diagnose machen dich zur perfekten Wahl für diese Arbeit, weil wir hier die richtigen Therapien und Behandlungen vorschlagen wollen. Und du hast noch nie Angst vor Herausforderungen gehabt.“

„Aber ich war auch noch nie in einer leitenden Position.“ Marie runzelte die Stirn, offenbar verärgert über sich selbst, dass sie zu viel Interesse gezeigt hatte. „Falls ich den Job überhaupt will.“

„Wir haben schon eine erfahrene Managerin dabei. Sie kann dir bei praktischen Dingen Ratschläge geben. Mir geht es mehr um deine Vision und um dein Wissen, was das Stadtviertel angeht. Was brauchen die Menschen hier?“

„Die Menschen hier? Die Menschen, die nicht so reich sind wie du? Soll das heißen, dass ich besser mit ihnen umgehen kann?“

Sie klang defensiv, und Alex hätte einfach sagen können, dass ihm dieser Gedanke so noch nicht gekommen war. „Ich glaube, dass du einige der Probleme kennst, die die Leute in diesem Viertel haben. Ich will Richtlinien und Pläne entwickeln, die genau zu diesen Menschen passen. Wenn du es anders formulieren möchtest, dann bitte.“

Sie grinste. Sie hatte wohl eine andere Antwort erwartet, aber seine war genau richtig gewesen. „Ich könnte bestimmt helfen …“

„Ich will nicht, dass du hilfst. Ich will dich als gleichwertige Partnerin, und wenn ich etwas falsch mache, musst du mir das sagen.“ Genau deshalb vertraute er ihr doch. Ihre Freundschaft war das richtige Fundament für dieses Vorhaben.

„Das ist aber ein großer Schritt für mich, Alex. Ich muss darüber nachdenken.“

„Natürlich. Nimm dir Zeit.“

Alex wusste, dass sie nicht lange brauchen würde. Sie konnte schnell Entscheidungen treffen. Wenn sie Nein sagte, war die Sache erledigt. Aber wenn sie Ja sagte, dann würde sie ihn vielleicht, ganz vielleicht, retten, damit er nicht doch irgendwann zu dem Mann wurde, den sein Vater sich immer als Sohn gewünscht hatte.

Als sie nach Hause kam, hatte sie bereits eine E-Mail von Alex im Posteingang, mit einer vollständigen Jobbeschreibung und einer detaillierten Übersicht über seine Pläne für die Klinik. Es dauerte, das alles zu lesen, und als sie fertig war, ging schon fast wieder die Sonne auf. Sie ging schlafen.

Aber auch am nächsten Morgen wusste sie noch nicht weiter. Sie lief fast doppelt so lange durch den Park wie sonst. Dann starrte sie abwechselnd an die Wand und surfte im Internet. Nichts half. Sie wollte die Stelle unbedingt. Dort hatte sie die Chance, selbst zu bestimmen und Teil einer mutigen Initiative zu sein, mit der sie Menschen helfen konnte, ein besseres, ausgefülltes Leben zu leben.

Aber Alex … Sie hatte ihn geküsst. Und er war jemand anders, als sie die ganze Zeit gedacht hatte. Wenn sie so überlegte, hatte er sie wirklich nicht angelogen. Wenn es ihr nie in den Sinn gekommen war, dass sein Vater ein unverschämt reicher König im Exil gewesen war, lag das vielleicht mehr an ihrer fehlenden Fantasie.

Aber nein. Es fühlte sich immer noch so an, als hätte sie einen Fremden geküsst. Als hätte sie sich ein bisschen in einen Mann verliebt, den sie gar nicht kannte. Und jetzt sollte sie mit ihm zusammenarbeiten?

Sonntagabend hatte sie genug überlegt. Es gab keinen Zweifel: Das war ihr Traumjob, aber sie musste drei Dinge von Alex wissen. Konnte er den Kuss vergessen? Warum hatte er ihr nie gesagt, wer er wirklich war? Und was bedeutete ihm die Klinik?

Das waren schwierige Fragen, und sie würde sie ihm indirekt stellen müssen. Nachdem sie eine geschlagene Stunde Notizen gemacht und strategische Überlegungen angestellt hatte, standen drei Formulierungen auf dem Blatt vor ihr, die ihr hoffentlich die richtigen Antworten bescheren würden.

Marie nahm ihr Telefon in die Hand und tippte eine Nachricht.

Bist du noch wach? Ich habe ein paar Fragen.

Nichts. Vielleicht hatte er sich den Abend freigenommen und war ausgegangen. Oder er schlief schon. Als Marie das Telefon wieder auf den Nachttisch legte, klingelte es.

„Schieß los.“

„Ähm, okay … Hast du den Job noch jemandem anders angeboten?“ Konkreter wollte sie nicht nach dem Kuss fragen.

„Nein.“

Marie verdrehte die Augen. „Eine sehr ausführliche Antwort. Dann gibt es eine Folgefrage: Warum nicht?“

Er lachte leise. „Willst du wissen, ob ich dir den Job angeboten habe, weil wir Freunde sind? Dann lautet die Antwort: Nein. Ich brauche Leute um mich, denen ich vertraue und die gut sind. Die besten Leute. Wenn ich nur mit dir quatschen wollen würde, hätte ich dich zum Mittagessen eingeladen.“

Das klang gut. Alex konnte private und berufliche Dinge trennen. Und wenn der Kuss für ihn in diesem Zusammenhang keine Rolle spielte, dann würde er es für sie auch nicht.

„Nächste Frage?“

Marie kniff die Augen zusammen. „Die Weihnachtstage, als wir zusammen an der Uni waren und alle nach Hause gefahren sind … Was hast du da gemacht?“

Er schwieg so lange, dass Marie sich fragte, ob er vielleicht aufgelegt hatte. Ob er wusste, wie wichtig ihr diese Frage war? Und warum?

„Ich bin zu Hause in meiner Wohnung geblieben und habe den ganzen Tag ferngesehen.“

Marie hielt die Luft an. Er verstand ihre Frage und antwortete ehrlich. „Du hättest mit uns kommen können. Wenn du nur gesagt hättest, dass du allein warst.“

„Komm schon, Marie, du selbst warst zu stolz, als dass du von mir auch nur ein paar Weihnachtsplätzchen angenommen hättest. Und jetzt willst du nicht verstehen, warum ich dir nicht sagen wollte, dass ich an Weihnachten alleine wäre?“

Das verstand sie, auch wenn es ihr leid tat, dass er dieses Gefühl gehabt hatte.

„Nächste Frage. Und ich hoffe, es ist eine sehr schwierige.“

Marie spürte, wie ihre Ohren heiß wurden. Aber das war Alex. Er konnte gnadenlos die Wahrheit sagen, aber da war immer noch ein Funken Selbstironie, der es ihr möglich machte, die Unterhaltung weiterzuführen.

„Glaubst du, dass die Klinik dich retten wird, Alex?“

Wieder war er einen Moment still. „Eine gute Frage. Ich hätte es nicht so formuliert. Aber mein Erbe ist eine große Verantwortung, und ich weiß nur zu gut und aus Erfahrung, dass so etwas einen Menschen zugrunde richten kann. Ich will der bleiben, der ich bin. Also ja, vielleicht hoffe ich, dass mich die Klinik rettet.“

Er hatte ihr genau die Antworten gegeben, die sie sich erhofft hatte. Jetzt konnte sie nur noch eines sagen. „Es ist ein tolles Projekt, Alex, und ich würde die Stelle gern annehmen.“

3. KAPITEL

Bei ihrer alten Stelle hatte Marie eine Kündigungsfrist von einem Monat, der ihr wie eine Ewigkeit schien. Jeden Tag bekam sie Updates aus der Klinik mit allem, was dort geschah. Die Abende und den größten Teil ihrer Wochenenden hatte sie damit verbracht, Alex zu antworten. Ihre Mails waren eher professionell distanziert als freundschaftlich, und das war auch gut so.

Obwohl sie gewusst hatte, dass die Arbeiten vorangegangen waren, war sie doch überrascht, als sie es selbst sah. Die Fassade war gereinigt worden, sodass die hellgelben Ziegel und die roten Terrakotta-Verzierungen um die Fenster und Türen wieder sichtbar wurden. Das Geländer war abgeschliffen und lackiert worden, und der alte asphaltierte Schulhof war neu gepflastert. Um ihn herum standen kleine Bäume, die schnell wachsen würden. Die Eingangstür war ebenfalls abgeschliffen und gestrichen worden, sodass man die vielen Tritte nicht mehr sah, die wütende Schüler und Schülerinnen ihr im Laufe der Jahre verpasst hatten.

Alex erschien in der Tür und sah viel weniger offiziell aus, als er in seinen E-Mails geklungen hatte. Viel eher wie der Mann, den sie geküsst hatte. Hoffentlich dachte sie nicht mehr so oft daran, wenn sie ihn in Zukunft jeden Tag sehen würde.

Marie lächelte nervös, als er sie durch die Glastür führte. „Das ist Wahnsinn!“

Alles war ordentlich und sauber, die Wände cremefarben. Gemütliche Stühle standen an der Wand. Die dicke, geschwungene Wand, die hüfthoch zwischen den Mitarbeitern und dem Eingangsbereich stand, war dafür da, dass niemand hinüberkletterte und zu einer Gefahr für das Personal wurde, aber sie war so elegant gestaltet, dass es gar nicht auffiel.

„Mir gefällt’s auch.“ Alex blickte sich um, als ob auch er den Raum zum ersten Mal sah. „Aber du fängst erst Montag an, weißt du? Wie war deine Abschiedsfeier gestern?“

Marie verdrehte die Augen. „Wir haben zu viel Kuchen gegessen und sind dann noch in einen Pub gegangen. Ich habe geweint. Deswegen muss ich heute die Kalorien und den Abschiedsschmerz abarbeiten.“

Er runzelte die Stirn. „Bereust du es schon?“

„Nein. Ich freue mich auf die neue Arbeit, aber das heißt ja nicht, dass ich die alte nicht vermissen kann.“

Er verzog den Mund, als ob er sich so etwas nicht vorstellen könnte – etwas Vergangenes zu vermissen –, aber dann lächelte er plötzlich. „Willst du dein neues Büro sehen?“

„Ja, bitte.“

Alex hatte vorgeschlagen, dass sie das Zimmer gleich neben seinem nahm, aber Marie wollte näher an den Krankenpflegerinnen und den anderen Mitarbeitern im ersten Stock sein, die für das Medizinische zuständig waren. Sie hatten das Problem so gelöst, dass sie das Büro gleich über Alex’ bekam und sie eine private Treppe eingebaut hatten.

„Was meinst du?“

Cremefarbene Wände, viel Licht und viel Platz. Wie in der ganzen Klinik. Vielleicht konnte sie selbst etwas Farbe hereinbringen? Marie hatte sich für einen Holzschreibtisch entschieden, und dahinter stand der gleiche Stuhl, den auch Alex hatte.

„Du hast mir auch einen besorgt!“

„Ja. Eine Investition. Ich will ja nicht, dass du wegen Rückenschmerzen krank feiern musst.“

Marie grinste ihn an und setzte sich hin. Der Stuhl reagierte auf ihre Bewegungen. „Ich brauche dann aber zwei freie Tage, um ihn mir richtig einzustellen.“

„Ich habe eine ganze Woche gebraucht. Die Anleitung ist in der obersten Schublade. Möchtest du mir einen Kaffee anbieten?“

„Oh, ich habe Kaffee?“

Sie konnte selbst eine Tasse gebrauchen. Kuchen und Bier waren gestern Abend nicht die beste Kombination gewesen.

„Hinter dir.“

Er zeigte auf eine Tür in der Ecke eines Schranks und setzte sich vor den Schreibtisch. Marie stand auf und fand eine kleine, gut ausgerüstete Kaffeeküche. Ein Farbklecks neben den weißen Tassen fiel ihr ins Auge.

„Du hast mir einen Kaffeebecher besorgt!“ Sie nahm die große pinke Tasse herunter und sah sie sich an. „Mit einem Pferd. Daran erinnerst du dich?“

„Du hast immer gesagt, du willst ein Büro mit einem Sofa, auf dem du dich in aller Ruhe mit deinen Patienten unterhalten kannst.“

Die Sitzecke in seinem eigenen Büro bestand aus vier schokoladenbraunen Sesseln, aber für Marie hatte er ein Sofa und zwei Sessel in einem helleren Ton ausgewählt.

„Und als du gesagt hast, dass nichts unmöglich ist, habe ich gesagt, man hat schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.“ Es war eine ganze Weile ein Scherz zwischen ihnen gewesen. „Danke, Alex.“

Er schien sich über ihre Reaktion zu freuen, aber immer noch hielt er sich zurück. Der Mann, den Marie kannte, hätte in dieser Klinik nichts als jede Menge spannende Möglichkeiten gesehen, aber die Verantwortung schien schwer auf seinen Schultern zu lasten.

Das würde sich schon noch ändern. Nächste Woche wollten sie eröffnen, und sobald die Leute da wären, würde sich seine Laune ändern. Er gab viel zu tun, wenn dieser Ort sein volles Potenzial erfüllen sollte. Alex hatte so viel mehr zu geben als nur sein Geld – nämlich kreativen Enthusiasmus, und genau das brauchten sie hier.

Marie schaltete die Kaffeemaschine an und fuhr mit den Fingern über die verschiedenen Kapseln. „Die muss ich alle probieren. Vielleicht fange ich ganz links an.“

„Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet.“

Als sie eine Tasse vor ihn hinstellte, nickte er dankbar und schob ihr einen großen Umschlag herüber. Marie öffnete ihn und ließ den Inhalt auf den Schreibtisch gleiten.

„Für dich. Mit der Kreditkarte kannst du alles kaufen, was du brauchst. Mit der Schlüsselkarte kommst du im Gebäude überall rein. Diese zwei Schlüssel sind für die Vordertür und der andere ist für das Alarmsystem. Ein Auto haben wir auch.“

Marie richtete die Karten und Schlüssel vor sich aus.

„Unser Computermann kommt am Montag, um deinen Rechner einzurichten. Sag mir Bescheid, wenn du noch was brauchst.“ Alex stand auf und nahm seine Tasse. „Ich lasse dich jetzt allein, damit du dich einrichten kannst. Wenn das okay ist. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen.“

Marie hätte gern mit ihm zusammen ausgepackt und sich die Klinik angesehen, weil sie im letzten Monat so viel gemeinsam besprochen und geplant hatten. Aber Alex war schon halb aus der Tür. „Okay. Vielleicht können wir ja später noch sprechen.“

„Ja, gern.“ Plötzlich lächelte er ihr zu. „Gefällt dir dein Büro?“

„Besser, als ich es mir je vorgestellt habe. Vielen, vielen Dank, Alex.“

„Es ist mir ein Vergnügen.“ Er schloss die Tür hinter sich.

Marie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lauschte der Stille. Es gab noch viel zu tun. Das ganze Team musste angelernt werden. Es galt, so viel in Bewegung zu setzen. Himmel und Hölle, eine Schaufel voll nach der anderen. Alex hatte sich einen Traum erfüllt, aber obwohl er alles dafür tat, dass das Projekt ein Erfolg wurde, spürte Marie, dass er es noch nicht lieben konnte.

Das musste sich ändern.

Den Samstag hatte Alex größtenteils in aller Stille in seinem Büro verbracht, und so war auch sie allein gewesen. Als am Montagmorgen die Angestellten und Bauarbeiter ankamen, war es für Marie eine Erleichterung. Sie verbrachte zwei Tage mit Sofia Costa, der Praxisleiterin, und führte Bewerbungsgespräche mit den zuvor ausgewählten medizinischen Mitarbeitern. Mittwochmorgen schnappte sie sich die blühende Pflanze, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, und ging nach unten.

Immer noch fragte sie sich, ob er so zurückhaltend war, weil sie sich geküsst hatten, aber da er sich allen anderen gegenüber genauso verhielt, war er wohl einfach nur professionell. Aufmerksam, mit einem Lächeln – aber ohne diesen Funken Begeisterung, den er sonst immer versprüht hatte. Ihr Alex. Die letzten Monate schienen ihm wirklich zugesetzt zu haben.

Er sah von dem Papierkram auf seinem Schreibtisch auf. „Wie waren die Bewerbungsgespräche?“

„Alles gute Leute, sodass es uns schwergefallen ist, uns zu entscheiden. Aber Sofia und ich haben jetzt drei ausgewählt, die wirklich erstklassig sind. Ich habe dir ihre Lebensläufe geschickt, damit du sie dir auch noch ansiehst.“

Sie stellte das Fleißige Lieschen auf seinen Tisch. Alex nahm den Topf hoch und sah sich die Pflanze an. „Ist das ein Wink mit dem Zaunpfahl, weil mein Büro etwas mehr Farbe gebrauchen könnte?“

„Eher ein Wink mit dem ganzen Bretterzaun.“

Alex lächelte, stand auf und stellte die Pflanze zentral auf die Fensterbank. Dann schob er sie nach links, dann nach rechts. Schließlich war er zufrieden.

„Du hast nicht zufällig noch ein paar mehr davon?“

Marie unterdrückte ein Lächeln. Der alte Alex war immer noch da und musste nur hervorgelockt werden. Wenn er mehr Pflanzen wollte, würde sie ihm das gesamte Fensterbrett füllen.

„Jede Menge. Ich habe Ableger von meiner Mum mitgenommen, kann ich dir morgen vorbeibringen.“

„Danke.“

Sie setzte sich ihm gegenüber. „Ich habe übrigens eine Idee.“

„Leg los.“ Sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. Offenbar interessierte er sich immer noch für Ideen in allen Farben und Größen.

„Die Innenhöfe. Sie sehen furchtbar aus, und ich würde gerne kleine Gärten daraus machen. Ich habe mit Jim Armitage gesprochen, und er meint, dass er noch jede Menge Klinkersteine übrig hat. Die kann man auf dem Beton verlegen, aber er will es sich erst selbst anschauen. Meine Schlüsselkarte funktioniert zwar, es ist aber noch ein zusätzliches Schloss an der Tür. Jim wollte schon durchs Fenster klettern, davon konnte ich ihn so gerade noch abhalten.“

Der Vorarbeiter war ein breiter, alter Mann, der kurz vor der Rente stand. Marie hatte befürchtet, dass er stecken blieb oder nicht mehr hereinkam. Alex dachte wohl das Gleiche, denn nun war ihm sein Humor nur zu gut am Gesicht abzulesen.

„Ich habe den Schlüssel bestimmt irgendwo …“ Er öffnete die untere Schublade seines Schreibtischs und holte einen Karton mit zahllosen Schlüsseln heraus.

„Schaust du sie dir mit mir zusammen an?“, fragte sie.

Wenn er jetzt sagte, dass sie das gut allein konnte, musste sie wohl mit ihm diskutieren. Denn natürlich konnte sie es allein, aber darum ging es nicht.

„Ich habe noch zu tun …“

„Das ist aber viel wichtiger, Alex. Lass dir das von deiner Geschäftspartnerin sagen.“

Er grinste und stand auf.

Schritt eins war erledigt. Schritt zwei würde schwieriger werden.

Marie war noch nie gut darin gewesen, ihre wahren Motive zu verbergen. Alex hingegen hatte das schmerzvoll gelernt, und es wäre bestimmt besser gewesen, wenn es nicht hätte sein müssen. Nun denn, sie hatte sich entschieden, ihn aus seinem Büro zu locken, und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es daran nichts mehr zu rütteln.

Marie brachte Farbe in sein Leben – in diese cremefarbenen Wände und zweckmäßigen Räume. Er folgte ihr den Flur hinunter, der parallel zu den Innenhöfen lief. Sie nahm die Schlüsselkarte aus der Tasche und zog sie durch die Vorrichtung. Dann suchte sie in dem Karton, den er aus dem Büro mitgenommen hatte, nach einem Schlüssel, der passen konnte. Es brauchte einige Versuche, aber schließlich hörten sie es beide klicken.

Sie rüttelte an der Klinke. „Klemmt immer noch.“

Alex versuchte es ebenfalls. „Sieht so aus, als ob sie zugemalt worden wäre. Hier geht eben nie jemand raus. Soll ich sie öffnen?“

Sie strahlte ihn an. „Ja, bitte.“

Er drückte mit der Schulter gegen die Tür, bis sie sich mit einem Krachen und Knirschen öffnete. Marie nahm eine schwere Plastiktüte, die auf einer der Fensterbänke lag, und ging in den Hof.

„Okay, wir müssen die Höhe der Klinkerziegel überprüfen …“

Sie holte einen Stein aus der Türe und schob ihn unter die Tür. „Das sieht aus, als ob es passt. Und Jim meint, dass es einen Wasserabfluss gibt.“

Sie zog ein großes Blatt Papier aus der Tüte, das mehrfach gefaltet war, und breitete es auf dem Beton aus. Marie hatte alles vorbereitet, und Alex beschlich das Gefühl, dass sie ihn ganz schön an der Nase herumgeführt hatte. Aber auf sehr elegante Art und Weise.

„Ich dachte an ein paar Stühle hier … Und da drüben die Beete. In der Mitte vielleicht ein kleiner Brunnen? Was meinst du?“

„Klingt gut. Haben wir denn das Geld dafür?“

„Ja, wenn wir es nicht übertreiben und die Ressourcen nutzen, die wir schon haben. Jim meinte, einer seiner Männer fährt mich zum Gartencenter.“

„Gut.“ Aber Alex wusste, dass seine Zustimmung nicht reichte. Marie wollte mehr.

Sie drehte sich zu ihm, und ihre violetten Augen versprühten Funken. „Was meinst du, Alex? Willst du mit mir einen Garten herrichten?“

Plötzlich war genau das Alex’ einziger Wunsch. Aber … „Meinst du wirklich, dass das so wichtig ist? Wir öffnen in sechs Tagen.“

„Die Klinik ist bereit. Du allerdings nicht. Du versteckst dich in deinem Büro, arbeitest sieben Tage die Woche. Seit Monaten schon. Du brauchst eine Pause, bevor es hier richtig losgeht. Und da du wahrscheinlich nicht einfach nach Hause gehen und ausspannen wirst, ist das hier die zweitbeste Lösung.“

Genau deswegen hatte er sich Marie als Partnerin gewünscht. Für solche Momente, in denen sie ihn ansah und ihm ganz ehrlich sagte, was er falsch machte. Er hatte gehofft, dass sie einen Plan hatte – und dass der nicht nur für die Klinik war, sondern auch für ihn selbst.

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Was sagst du?“

Sie war nicht aufzuhalten, und Alex brauchte wirklich eine Pause. Er war kurz davor, seinen Akku endgültig zu entleeren. „Okay, ich bin dabei. Was soll ich machen?“

„Ich besorge uns alles, was wir für diesen Hof hier brauchen. Lagern können wir das erst mal im anderen Hof. Ich frage Jim, wann er pflastern kann. Er meinte, er schafft es wohl diese Woche noch.“

„Vielleicht kann ich dabei helfen, die Bewegung wird mir guttun.“ Seine Hose saß enger als zuvor, und Alex war wirklich lang nicht mehr im Fitnessstudio gewesen.

„Das wollte ich so nicht sagen.“

Ihr Blick wanderte zu seinem Bauch, und Alex zog ihn instinktiv ein. Er hatte nicht gedacht, dass es so schlimm war.

„Mit ein bisschen Frischluft und Bewegung kriegst du das wieder hin.“

„Bist du jetzt auch noch meine Personal Trainerin?“

„Dafür sind Freunde da.“

Da hatte sie recht. Er brauchte eine Freundin wie sie, die seinen Tag übernahm wie ein Sonnenstrahl, der durch die Spinnweben fiel. Die etwas Unerwartetes tat und einen ganz normalen Arbeitstag in ein Abenteuer verwandelte.

Dafür war eine Freundin da. Eine Geliebte. Nein, den Gedanken verdrängte er schnell wieder. Keine seiner Geliebten war ihm jemals so wichtig gewesen wie Marie. Und das würde wohl auch niemals passieren. Er hatte gesehen, wie sein Vater seine Mutter in dieses traurige, stumme Gespenst verwandelt hatte. Schon vor langer, langer Zeit hatte Alex entschieden, dass er ein schönes Leben führen, aber niemals eine Ehe und eine Familie haben würde.

Er erwischte Marie, als sie gerade mit Eammon, einem von Jims Bauarbeitern, die Klinik verließ. „Mach dir keine Sorgen wegen der Finanzen. Kauf, was immer du willst. Ich kümmere mich darum.“

Marie schüttelte den Kopf. „Wir haben genug Geld für Pflanzen und Erde. So ist es besser.“

Er hatte schon wieder das Falsche gesagt. Wenn er wollte, hätte er das ganze Gartencenter kaufen können. Es wurde immer selbstverständlicher für ihn, seine Probleme mit Geld zu lösen, und das gefiel ihm nicht. So war er nicht.

Er lenkte ein. „Dann sag Bescheid, wenn ihr wieder da seid. Ich helfe euch beim Tragen.“

Sie strahlte ihn zum Abschied an und eilte zum Wagen. Ihr rotes Kleid wehte ihr um die Beine. Als sie auf den Beifahrersitz des alten Lieferwagens kletterte, musste Alex lächeln. Marie hatte schon immer gut ausgesehen, aber im Moment war sie schöner als je zuvor, voller Begeisterung für die Zukunft, die vielversprechend vor ihr lag.

Sie wäre sicher ein paar Stunden unterwegs. Alex ging zurück in sein Büro. Die Zeit würde ihm endlos erscheinen, und er hatte nur jede Menge Formulare auszufüllen.

Als Marie zurückkam, hatte Alex auch den Schlüssel für den zweiten Innenhof gefunden und die Tür geöffnet. Er hatte sich Jeans und Arbeitsstiefel angezogen, mit denen er Jim immer auf seinen Baustellenrunden begleitet hatte.

Der Lieferwagen bog auf den Parkplatz ein, und Marie kletterte heraus, die Wangen rot vor Aufregung.

„Alles bekommen?“

„Ja, ein paar kleine Sträucher und ganz viele Samen. Ein paar Topfpflanzen, Erde und Mulch. Ich habe ganze zwei Pfund weniger ausgegeben als geplant.“

„Und dafür hast du dir kein Eis gekauft?“ Alex ging zur Rückseite des Wagens und wartete, bis Eammon die Türen öffnete.

Ich habe ihr ein Eis gekauft.“ Eammon grinste, und Alex fragte sich plötzlich, warum er nicht mitgefahren war. Er hätte ihr ganz galant ein Eis spendieren können.

Er zog einen der Säcke mit der Blumenerde aus dem Wagen und hievte ihn sich auf die Schulter. Herrje, war der schwer. Eammon und er stapelten sie erst einmal auf dem Vorplatz, während Marie die Pflanzen aus dem Auto holte.

„Was meinst du? Ich dachte, weniger ist mehr.“

Sie hatte die Topfpflanzen nebeneinander hingestellt und musterte sie. Sie hatten ganz verschiedene Farben und Blattformen, und auch die Umtöpfe waren bunt durcheinander gewürfelt. Aber sie passten gut zueinander.

„Sieht bestimmt toll aus.“

Alex nahm zwei der schwereren Tontöpfe, und Eammon nahm Marie eine Pflanze ab, damit sie die leichteren Sachen tragen konnte.

Schon wieder eine Gelegenheit für Galanterie verpasst. Alex hatte zwar versucht, solche Gesten vollständig zu vermeiden, damit Marie nicht wieder an den Kuss dachte. Offenbar versuchten sie beide ihn zu verdrängen, aber wenn Eammon es durfte, hätte er es vielleicht auch gedurft.

Alex hatte ganz augenscheinlich Probleme mit seiner Rolle in der Klinik. Wenn er hart dafür gearbeitet hätte, hätte er bestimmt das Gefühl gehabt, seine Lebensziele erreicht zu haben. Aber die Sache war ihm in den Schoß gefallen, und so hatte er nichts mehr, auf das er hinarbeiten konnte. Das machte ihm zu schaffen.

Marie hatte immer nur kleine Ziele gehabt: Sie wollte ihrer Mutter helfen, mit vier kleinen Kindern zurechtzukommen. Sie wollte ein Leben für sich selbst schaffen und ihre jüngeren Brüder weiterhin im Auge behalten. Solche Wünsche ließen sich leichter erfüllen.

Nachdem sie den Lieferwagen ausgeladen und alles in den Innenhof getragen und ordentlich gelagert hatten, schien es Alex nicht eilig zu haben, zurück ins Büro zu kommen. Marie fragte, ob er helfen wolle, und er nickte stumm.

Sie legte Anzuchtschalen zurecht und füllte sie mit Erde. Alex ging die Einkäufe durch. Dann setzten sie sich auf zwei umgestülpte Eimer und fast eine Stunde lang arbeiteten sie schweigend. Langsam gingen alle nach Hause, bis sie die einzigen waren.

„Sag mir noch mal, wie das Land hieß, in dem dein Urgroßvater König war?“

Fragend sah Alex sie an. „Ist doch egal. Das Land gibt es ja nicht mehr.“

„Ich bin nur neugierig. Und es tut mir leid, dass ich so komisch reagiert habe, als du mir davon erzählt hast.“

„Schon gut.“ Er atmete lange aus und gab dann nach. „Belkraine. Mein Urgroßvater war Rudolf der Exzellente und Großartige, König der Belkraine. Mit Bescheidenheit hatte es meine Familie nicht so.“

„Wenn man Abermillionen in Bargeld hat und einen Palast dazu, muss man vielleicht nicht besonders bescheiden sein.“ Sie hielt inne. „Hatte er einen Palast?“

„Warum nur einen, wenn man gleich mehrere haben kann? Den alten Sommerpalast gibt es sogar noch. Er liegt genau an der Grenze zwischen Österreich und Italien.“

„Warst du mal da?“

Er verzog den Mund. „Immer in den Sommerferien. Mein Vater wollte jedes Jahr hin und uns zeigen, was unser Geburtsrecht war. Furchtbar.“

Alex klang bitter. Er war eigentlich nie nachtragend gewesen, deshalb musste ihm diese Erinnerung wirklich nahegehen.

„Mich würde es schon interessieren, wo meine Vorfahren gelebt haben. Allerdings hatten sie garantiert keinen Palast.“

„Es ist ja bestimmt auch ein spannender Ort. Inzwischen ist er wohl restauriert worden und sieht wieder so aus wie damals, als meine Urgroßeltern dort gelebt haben. Allerdings hatte mein Vater die Angewohnheit, auf alles mit dem Finger zu zeigen und mir und meiner Mutter lautstark zu erklären, dass das alles eigentlich uns gehörte und wir gezwungen waren, ein Leben in Armut zu führen.“

„Autsch.“

Marie verzog das Gesicht, und etwas, das fast ein Lächeln war, huschte über sein Gesicht.

„Ja, autsch. Mein Urgroßvater hat damals den Großteil des Familienvermögens mit ins Ausland nehmen können, und wir hatten wirklich immer mehr als genug, aber mein Vater meinte, er sei arm, weil ihm nicht alles gehörte, was ihm seiner Meinung nach hätte gehören sollen. Er hatte keine Ahnung, was Armut wirklich bedeutet. Das war wirklich peinlich.“

„Hast du deswegen nie etwas erzählt?“ Marie verstand langsam, dass es ihm nicht darum gegangen war, sie zu belügen.

„Deswegen und wegen noch ein paar hundert anderer Dinge. Zum Beispiel musste ich zu einer Jubiläumsfeier, die er zur Thronbesteigung unserer Familie im Jahre 1432 ausrichtete, eine Uniform tragen, die Prinzen in der Belkraine früher getragen hatten. An die Macht sind sie damals übrigens erst nach einer Reihe extrem blutiger Kriege gekommen. Sie haben einer anderen Familie die Krone weggenommen, aber das war wohl etwas ganz anderes.“

Er riss ein Päckchen mit Blumensamen auf, als ob er ihm den Kopf abreißen wollte. Die Kügelchen verteilten sich auf dem Betonboden, und Alex fluchte.

Marie unterdrückte den Wunsch, ihm zu sagen, dass es nicht so schlimm sei und sie sie wieder aufsammeln konnten, denn natürlich ging es gar nicht um die Blumensamen. Er hatte bestimmt seit Ewigkeiten nicht mehr darüber geredet. Jahrelang musste es schon in ihm gären, und nach außen hatte er immer nur den fröhlichen Alex gezeigt.

Sie beugte sich vor. „Zum Glück waren es nicht diese winzigen Begoniensamen. Die hätten wir nie wiedergefunden.“

Er lachte und seine Wut schien mit einem Mal verflogen zu sein. Dabei war es doch gar nicht schlecht, dass er sie zeigte. Besser, als sie ständig zu vergraben. Als sie die letzten Kügelchen gefunden hatten, stand er auf.

„Ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Können wir hier morgen weitermachen?“

„Klar. Kann ich dir helfen?“

„Nein, bleib ruhig hier. Wir können einen schönen Garten gebrauchen. Der gibt Menschen Hoffnung.“

4. KAPITEL

Wollte Marie wirklich so etwas über ihn wissen? Dass er der Großenkel eines tyrannischen Königs war? Alex entschied, dass er überreagierte, und es nur ganz normale Neugier ihrerseits war. Er wäre doch auch neugierig gewesen, wenn er plötzlich erfahren hätte, dass Marie eine Elfenprinzessin war. Allerdings hätte ihn das gar nicht überrascht – einen Verdacht in die Richtung hatte er schließlich schon immer gehabt.

Er wartete, bis er das Klappern der Vordertür hörte, und ließ seinen Stift fallen. Die Liste mit den Aufgaben, die er für Jim Armitage erstellen wollte, war das reine Chaos. Es war wohl besser, wenn er ihm einfach sagte, was vor der Eröffnung noch gemacht werden musste. Jim würde dann schon wissen, wie er seine Prioritäten zu setzen hatte.

Jetzt war er neugierig.

Marie hatte einige der Topfpflanzen neu arrangiert, so hatten sie ihr wohl besser gefallen. Über die Sträucher hatte sie eine leichte Plastikdecke gelegt, um sie vor dem Wetter zu schützen, genauso wie über die frisch gepflanzten Samen.

Alex hockte sich auf den umgedrehten Eimer, auf dem er vorhin schon gesessen hatte. Noch nie hatte er in einem Garten gearbeitet. Der Garten seiner Eltern war nur dafür da, ihn sich anzusehen, am besten aus der Entfernung. Der wilde Junge hätte nur alles durcheinandergebracht. Als er ausgezogen war, waren die Grünpflanzen in seiner ersten Wohnung meist wegen Vernachlässigung seinerseits eingegangen, und Alex hatte sich keine neuen kaufen wollen, um sie nicht auch noch zu töten.

Aber dieses Mal wollte er gern dabei sein, wenn sie etwas von Grund auf neu erschufen und es hegen und pflegen würden. Marie hatte keine bösen Absichten mit ihrer Frage verfolgt. Sie wollte etwas über die Könige der Belkraine erfahren, weil sie etwas über ihn hatte wissen wollen. Wenn sie ihn morgen noch einmal fragte, würde er antworten.

Als er am nächsten Morgen in die Klinik kam, saß Marie schon wieder im Garten, in Jeans und T-Shirt. Sein Eimer stand noch immer da und lud ihn stumm ein, sich zu setzen.

Alex öffnete die Tür und trat hinaus in den Hof. „Guten Morgen.“

Sie strahlte ihn an. Ihre Wangen waren leicht gerötet – sie hatte wohl gestern zu viel Zeit in der Sonne verbracht.

Alex setzte sich und griff nach einer leeren Anzuchtschale. Er füllte sie mit Komposterde und öffnete eine der Samenpäckchen. Er genoss eine Weile den kühlen Morgen und die Stille um sie herum, bevor er sprach.

„Als ich achtzehn war, habe ich mich mit meinem Vater gestritten, und er hat mich rausgeworfen.“

Sie sah ihn erschrocken an. „Das war bestimmt nicht einfach.“

Er schüttelte den Kopf. „Bei dir war es doch noch schlimmer. Dein Vater hat euch verlassen, als du erst zehn warst.“

„Das ist doch kein Wettbewerb hier, Alex. Du musst doch nichts verschweigen, nur weil du meinst, dass es mir auch schlecht ging. Außerdem ist mein Vater gegangen, weil er sich mit meiner Mutter gestritten hat, nicht meinetwegen.“

War das denn wirklich ein wichtiger Unterschied? Aber er wollte sie nicht fragen, denn im Moment ging es um ihn. Marie hatte nie ein Geheimnis um ihre Kindheit gemacht. Und wenn er wollte, dass ihre Freundschaft Bestand hatte, musste er nun auch endlich etwas von sich erzählen.

„Worüber habt ihr euch gestritten?“, fragte sie, während er noch überlegte.

„Mein Vater war ziemlich verbittert. Wie gesagt, er hatte alles, was man sich mit Geld kaufen kann, aber er hat immer gemeint, dass er Anspruch auf mehr hätte. Er wollte, dass wir leben wie eine königliche Familie, aber ich wollte mehr als das. Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Er meinte, wenn ich Medizin studieren will, dann würde er mich enterben. Soll er ruhig, habe ich zu ihm gesagt.“

Marie lächelte leicht. „Von dir hätte ich auch nichts anderes erwartet. Hat er denn jemals gesehen, was du erreicht hast? Hat er eingelenkt?“

„Nein, er hat meine Wünsche nie akzeptiert. Das Geld, mit dem ich das Studium bezahlt habe, stammte aus einem Fonds, den mein Großvater für mich eingerichtet hatte. Er kannte meinen Vater und hat das Geld so angelegt, dass der nicht dran kam.“

Marie zog die Augenbrauen hoch. „Hat er es denn versucht? Es klang so, als hätte er mehr als genug Geld.“

„Das Geld selbst war ihm ja egal, für ihn war es eine lächerliche Summe. Aber er wollte die Kontrolle über mich behalten. Aber als ich achtzehn war, konnte ich ihm endlich sagen, was ich wirklich vorhatte.“

„War es so gesehen nicht sogar gut für dich, dass er dich enterbt hat? Dann hatte er ja gar keine Macht mehr über dich.“

„Ja, ich habe mich unglaublich frei gefühlt.“

Sie lachte und griff nach der nächsten Anzuchtschale. „Du hast auch einen sehr freien Eindruck gemacht. Ich habe dich immer darum beneidet, aber ich habe ja auch nicht gewusst, warum du dich so fühlst. Habt ihr euch jemals wieder versöhnt?“

„Nein, ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er war auch kein guter Ehemann – er hat meiner Mutter sehr weh getan. Das konnte ich ihm nicht verzeihen.“

Es war schwer, darüber zu reden. Alex spürte einen Kloß im Hals.

Marie beugte sich vor und sah ihn besorgt an. Er musste es aussprechen.

„Er hatte Affären. Zahllose Affären und Geliebte. Er war mehrere Tage die Woche in London, und meine Mutter war immer furchtbar traurig. Als ich klein war, dachte ich, sie war traurig, weil sie ihn vermisste. Als ich ungefähr fünfzehn war, habe ich verstanden, was los war. Er hat sich nicht einmal besonders bemüht, es geheim zu halten.“

Marie knetete sich die Hände. „Deine arme Mutter …“

„Sie hat es einfach hingenommen. Das war das Schlimmste daran. Sie ist immer dünner und trauriger geworden und schien nach und nach zu verschwinden. Vor fünf Jahren ist sie dann gestorben.“

„Und du hast sie vorher nicht mehr gesehen?“

„Doch, ich habe sie oft besucht. Ich habe sie angerufen, und wenn mein Vater nicht da war, bin ich hingefahren. Das war das Einzige, was sie gegen seinen Willen unternommen hat. Und sie wollte immer wissen, wie es mir geht und wie meine Arbeit läuft. Sie wusste, dass sie zu mir hätte ziehen können, aber sie hat ihn nicht verlassen wollen.“

„Man kann nicht reinschauen in andere Menschen. Wir treffen alle unsere eigenen Entscheidungen“, sagte Marie langsam.

„Ja.“

Alex hatte auch eine Entscheidung getroffen, schon vor einer Weile. Der Gedanke an eine Frau und eine Familie schien verlockend, aber die unglückliche Ehe seiner Eltern hatte dazu geführt, dass er sich nicht vorstellen konnte, sich je auf etwas Ähnliches einzulassen. Jetzt, da er auch noch das Geld seines Vaters bekommen hatte und den Titel noch dazu, wusste er nicht, was er damit anfangen sollte. Er würde niemanden in seine Ratlosigkeit hineinziehen.

„Einmal habe ich noch versucht, mit meinem Vater zu sprechen. Auf der Beerdigung meiner Mutter. Er hat großes Trara darum gemacht, und ich fand es wirklich übel, nachdem er sie all die Jahre so schäbig behandelt hat. Aber sie hätte gewollt, dass ich da bin und auf ihn zugehe. Also wollte ich ihm die Hand geben, aber er hat mir sofort den Rücken zugedreht. Deswegen habe ich wirklich keine Ahnung, warum er mir jetzt sein ganzes Vermögen vermacht hat.“

Marie runzelte die Stirn. „Zumindest hat er endlich etwas richtig gemacht.“

„Findest du, ich gebe einen guten König im Exil ab und sollte mit meinen Milliarden um mich schmeißen?“

„Nein, ich glaube nicht, dass du dazu das Talent hast.“

Alex merkte, wie sich seine Schultern entspannten. Er grinste sie an. „Das mag ich an dir. Dass du mir so etwas nicht zutraust.“

„Trotzdem ist ja etwas Gutes daraus entstanden. Schau dich doch mal um.“

„Das stimmt. Die Klinik ist etwas Gutes, aber ich bin ein schlechter König.“

„Du kannst doch machen, was du willst, Alex. Wenn du dir von dem Geld und dem Titel etwas vorschreiben lässt, lebst du genau das Leben, das dein Vater sich für dich gewünscht hat. Aber wenn du es gut einsetzt, dann kannst du viel erreichen. Sehr vieles, von dem andere Menschen nur träumen.“

Natürlich hatte sie wieder einmal recht. Er fühlte sich von all dem Geld erdrückt, aber mit einem Mal schien alles viel leichter zu sein.

Im Moment träumte er jedenfalls von einem Garten.

Marie hatte die Schalen gefüllt und sie neben sich aufgestellt. Er selbst hatte seine eigene Schale noch nicht einmal angefangen.

„Kannst du mich wohl heute und morgen im Büro vertreten?“, fragte er und füllte die Schale mit Erde.

„Sicher. Musst du weg?“

„Nein, aber ich habe mit Jim gesprochen, der meinte, ich soll die Steine selbst verlegen. Das habe ich zwar noch nie gemacht, aber …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Ist bestimmt auch nicht allzu schwierig.“ Ihr Lächeln zeigte, dass ihr sein Vorhaben gefiel.

„Das geht also klar?“ Es war schließlich Maries Idee gewesen, dass er sich um den Garten kümmerte, also würde sie wohl zustimmen.

„Klar?“ Marie ließ ein so lautes, helles Lachen erklingen, dass es von den Mauern zurückgeworfen wurde. „Ich wünsche dir viel Spaß zwischen all dem Dreck und Sand, während ich mich in meinem gemütlichen Schreibtischstuhl zurücklehne. Nur zu!“

Marie hatte den Großteil des Vormittags im Büro verbracht und nach Sachen gesucht, die sie erledigen konnte. Am Nachmittag blickte sie auf die Uhr. Halb vier. Sie schnappte sich die gedruckten Flyer, in denen sie aufgeführt hatten, welche Services die Klinik anbot. Dann holte sie sich noch einen der Stühle aus der Cafeteria und setzte sich neben dem Haupttor in die Sonne.

Immer wieder kamen Mütter mit ihren Kindern vorbei, die sie aus der Schule abgeholt hatten. Sie reichte ihnen einen Prospekt und plauderte mit ihnen. Aber zwischendrin kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Alex zurück.

Er hatte sein ganzes Leben lang eine ziemliche Last getragen, die ihm jetzt, da sein Vater gestorben war, endgültig zu schwer zu werden schien. Und sie hatte nie etwas davon mitbekommen. Früher hatte sie sich gewünscht, so wie Alex zu sein – immer fröhlich und entspannt, aber gleichzeitig ehrgeizig und kompetent. Jetzt stellte sich heraus, dass er ganz anders war. Und nur noch liebenswerter.

Langsam kamen immer weniger Leute vorbei. Nur noch zwei junge Mütter schoben ihre Kinderwägen den Bürgersteig entlang und plauderten miteinander. An den Griffen hingen Plastiktüten vom Einkauf.

„Hallo, darf ich Ihnen einen Flyer geben? Über unsere Klinik?“

Eine von ihnen nickte, nahm das Prospekt und steckte es in die Tasche. Die andere sah es sich neugierig an. „Ich habe mich schon gefragt, was mit dem Gebäude passiert. Ich bin hier zur Schule gegangen.“

„Ich auch.“ Marie lächelte. „Sieht jetzt deutlich besser aus, oder?“

„Allerdings. Es war eine richtige Müllkippe. Zum Glück war ich nur ein Jahr hier, dann sind wir alle auf die neue Schule gegangen.“

„Wir eröffnen nächste Woche. Sie können gern vorbeikommen und sehen, was wir alles verändert haben.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Danke, aber …“

„Man muss sich auch nicht anmelden oder so. Wir haben eine Cafeteria.“ Marie suchte in ihrer Tasche nach den Gutscheinen. „Hier, für einen kostenlosen Kaffee.“

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
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