Julia Ärzte zum Verlieben Band 147

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LASS MICH DEINE ZUKUNFT SEIN! von ANNIE O’NEIL
Kaum ist Jayne zurück in ihrem Heimatort, fliegen die Funken zwischen ihr und Sam erneut. Der beliebte Arzt ist immer noch der Mann ihrer Träume. Jayne erkennt, dass sie keine Wahl hat: Wenn sie eine Zukunft mit Sam haben will, muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen.

DIAGNOSE: IMMER NOCH VERLIEBT von TRACI DOUGLASS
Nur für eine Testamentsverlesung kehrt die ehrgeizige Chirurgin Belle nach Bayside zurück. Doch dann der Schock: Um den Letzten Willen ihrer Tante zu erfüllen, muss Belle wieder mit dem unwiderstehlichen Nick zusammenarbeiten. Dem Mann, der ihr einst das Herz gebrochen hat.

GERETTET VON DEINEN KÜSSEN von SUE MACKAY
Nathan glaubt nicht, dass er für eine neue Frau bereit ist. Bis Molly in sein Leben tritt. Der blonde Wirbelwind berührt etwas in ihm, das lang verborgen war. Doch hinter Mollys fröhlicher Fassade spürt der Arzt einen Schmerz, den er ihr nur zu gern nehmen würde!


  • Erscheinungstag 08.01.2021
  • Bandnummer 147
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501545
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie O’Neil, Traci Douglas, Sue MacKay

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 147

ANNIE O’NEIL

Lass mich deine Zukunft sein!

Ich liebe sie noch immer! Das ist Sams erster Gedanke, als er nach vielen Jahren seine Jugendliebe wiedersieht. Die Anziehung zwischen ihnen ist noch genauso stark wie damals – doch Jayne ist davon überzeugt, dass Glück für sie nicht in den Sternen steht. Findet der charmante Arzt einen Weg, Jaynes Wunden aus der Vergangenheit zu heilen?

TRACI DOUGLAS

Diagnose: immer noch verliebt

Nie hat Nick aufgehört, die schöne Belle zu lieben. Er bedauert zutiefst, dass er die Chirurgin damals hat gehen lassen. Doch der Letzte Wille ihrer Tante gibt dem erfahrenen Arzt eine unverhoffte Chance: Die enge Zusammenarbeit in der Klinik bringt sie einander wieder näher. Und Nick ist entschlossen, jede Sekunde bis zu Belles unvermeidlicher Abreise mit allen Sinnen zu genießen.

SUE MACKAY

Gerettet von deinen Küssen

Es war zu schön, um wahr zu sein: An der Seite des sensiblen Nathan hat Molly die ersten Schritte zur Überwindung ihres Traumas gewagt. Zum Greifen nah ist nun ein Leben, in dem sie dank Nathan wieder aus ganzem Herzen lieben kann. Doch dann erfährt sie etwas über den hart arbeitenden Notarzt, das alle alten Wunden wieder aufbrechen lässt …

1. KAPITEL

Jayne hätte Faustgrüße erwartet, High Fives oder eine Gruppenumarmung. Jedoch nicht, dass alle ihren OP-Saal verließen, als hätte sie die Pest.

Was war hier los?

Sie entledigte sich ihres Kittels und warf ihn in den Wäschebehälter.

„Alles in Ordnung, Dr. Sinclair?“ Sana, die beliebteste OP-Schwester des Krankenhauses, verstellte ihr nicht direkt den Weg, aber …

Warum konnten die anderen nicht schnell genug wegkommen?

Seltsam.

Vielleicht hatten sie heiße Dates. Oder konnten es nicht erwarten, sich in einem stillen Dienstzimmer aufs Ohr zu legen.

Eine zehnstündige Herztransplantation war anstrengend. Für die meisten jedenfalls. Sana wirkte allerdings energiegeladen wie immer. Vielleicht lag es an den tanzenden Einhörnern auf ihrer OP-Kleidung.

Sana schenkte Jayne ein strahlendes Lächeln. „Da runzelt jemand die Stirn. Und das geht gar nicht bei uns im London Merryweather Children’s Hospital. Nicht nach einer erfolgreichen Operation.“

„Ich runzele nicht die Stirn.“ Jayne bemühte sich um eine entspannte Miene.

Okay, die OP hat mich aufgewühlt, aber muss ich jetzt darüber reden?

„Die Jayne Sinclair, die ich kenne, zieht die Stirn nicht in Sorgenfalten.“ Sana stemmte die Hände in die Seiten. „Erklären Sie mir, wo Ihr Lächeln geblieben ist, oder muss ich Sie ins Kreuzverhör nehmen?“

Jayne versuchte, dem eindringlichen Blick auszuweichen, schaffte es aber nicht.

Oh, Mist. Da war er, der berüchtigte Sana-Blick.

Fünf Jahre arbeitete sie nun schon am Merryweather und hatte ihn nicht ein einziges Mal erlebt. Falls man der Gerüchteküche glauben konnte, war es zwecklos, diesem Blick etwas entgegensetzen zu wollen.

Den Sana-Blick galt es zu vermeiden, sonst passierten verrückte Sachen. Der Chefarzt der Pädiatrischen Chirurgie war unter ihm eingeknickt und erfüllte sich endlich seinen lebenslangen Traum, den Kilimandscharo zu besteigen. Oberärzte flüchteten vor ihm in gemütliche Cottages in Devon, um lange vernachlässigte Bücherstapel zu lesen. Krankenschwestern vergnügten sich in Freizeitparks in Florida. Selbst Dr. Stayer, von dem gemunkelt wurde, dass er sich in dreißig Jahren nicht einen einzigen Tag freigenommen hätte, hatte Urlaub eingereicht und lernte gerade auf Bali surfen.

Niemand war dagegen gefeit.

Wenn Sana Den Blick anwandte, wurde die Personalabteilung aufmerksam. Und die Krankenhausleitung. So viel Macht besaß dieser Blick. Und er bedeutete in erster Linie eins: Jemand brauchte dringend eine Auszeit.

Jayne fröstelte. Ihre sechs Wochen ungenutzter Urlaub streckten die Arme aus, drohten sie zu umschlingen.

Neiiin!

Die Arbeit unterbrechen, das Pensum reduzieren? Auf keinen Fall! Vor allem reichte sie keinen Urlaub ein. Jayne operierte. Übernahm Extradienste. Bot im Krankenhaus ihre Hilfe an, wann und wo immer sie konnte, um die beste pädiatrische Kardiologin überhaupt zu werden! Hier war sie glücklich. Hier konnte sie helfen, heilen, die Dinge in Ordnung bringen. Da draußen … Nun ja, London und sie waren nie echte Freundinnen geworden.

Jayne wischte sich mit der Hand über Wangen und Stirn und lächelte. „Kein Grund zur Sorge, Sana. Sehen Sie? Ein glückliches Gesicht!“

Sana musterte sie auf ihre unnachahmliche Art von Kopf bis Fuß, als wollte sie sagen: Erzähl das dem Richter, Mädchen!

Wieder rieselte es Jayne unangenehm über den Rücken.

„Sie haben großartige Arbeit geleistet“, begann Sana in einem Tonfall, der ein schweres ABER mit sich schleppte.

„Es ist immer ein guter Tag, wenn ich ein Herz reparieren kann.“ Könnte ich nur mein eigenes heilen …

Sana zog die Brauen hoch, als hätte sie die stumme Bitte gehört.

Diese ganze unangenehme Situation wegen einer Träne. Wegen einer einzelnen Träne! Dabei hatte Jayne sie weit nach der kritischen Phase der OP vergossen. Ihre Hände berührten die Patientin nicht mehr. Jayne überwachte nur, wie die anderen Chirurgen die Wunde schlossen. Kein Grund für Sana, bedeutungsvolle Blicke zu verteilen!

Die OP-Schwester verschränkte die Arme vor der Brust und summte leise vor sich hin. Geduld war eine ihrer Stärken. Mehr noch, sie hatte ihre Erfahrungen mit jungen Chirurgen, die besonders nach einem herausfordernden Eingriff ihre Gefühle leugneten.

Wenn sie gewusst hätte, wie herausfordernd gerade der letzte für Jayne gewesen war …

Ihre Patientin Stella, eine fröhliche, schlagfertige Vierzehnjährige, lebte seit fünf Monaten mit einem künstlichen Herzen. Eine lange Zeit für jeden, der an Herzversagen litt, besonders für ein Kind. Und die ständige Angst, dass das Mädchen eines Tages für eine Organtransplantation zu schwach sein könnte, zermürbte die Angehörigen.

Als heute am frühen Morgen ein Spenderherz zur Verfügung stand, setzten Jayne und ihr Team Himmel und Hölle in Bewegung, um es nach London zu holen und ihrer Patientin in die Brust zu verpflanzen. Jetzt schlug es dort selbstständig weiter.

Die OP war ein Meilenstein. Für Stella, aber auch für Jayne.

Zehn Jahre ihres Lebens hatte sie mit dem Studium und intensivem Training verbracht, um Kinderkardiologin zu werden – für ihre Zwillingsschwester Jules.

Jaynes Herz zog sich so stark zusammen, dass sie kaum Luft bekam. Sie musste hier weg! Ihr Blick zuckte zu den Türen des OP-Saals, doch Sanas Miene nach zu urteilen, würde die Krankenschwester sie nicht so schnell gehen lassen.

So hatte Jayne sich diesen Moment nicht vorgestellt. Eine Herztransplantation durchzuführen sollte ein glücklicher Tag ihres Lebens werden. Der Tag, an dem sie den Traum ihrer Schwester erfüllte.

Während ihr Unbehagen unter Sanas Blick wuchs, wehte ein eisiger Hauch durch ihren Körper. Vielleicht funktionierte es nicht, die Träume eines anderen zu leben.

Jules hätte das Team in den nächsten Pub geschleppt und die erste Runde auf ihre Rechnung bestellt. Mit ihren Chirurgenkollegen, den Schwestern und Pflegern, Nephrologen, Immunologen und allen anderen, die diese kritische Operation zum Erfolg geführt hatten, angestoßen. Und versucht, sie für einen wohltätigen Zweck zu einem kollektiven Fallschirmsprung zu überreden.

Jules hätte nicht den Sana-Blick aushalten müssen.

Okay, die Krankenschwester hatte recht. Die leitende Chirurgin fing während einer Herztransplantation nicht an zu heulen!

Allerdings gab es Regeln, und eine war gebrochen worden. Sie lautete: keine unnötigen Details.

Ein gesundes Herz war ein gesundes Herz. Die Geschichte dahinter spielte keine Rolle. Weil sie Emotionen weckte. Niemand wollte einen Chirurgen, der seine Gefühle nicht im Griff hatte, während er mit dem Skalpell hantierte.

Engagiert, mit vollem Ernst und leidenschaftlich bei der Sache?

Jayne war stolz darauf, dass das auf sie zutraf.

Natürlich musste sie ein paar Einzelheiten über das Spenderorgan wissen. Eignung, Lebensfähigkeit, Erreichbarkeit. Jayne überprüfte grundsätzlich alle Fakten, ordnete im Vorfeld eine Reihe von Maßnahmen an: Bluttests, Röntgenaufnahmen, CTs, MRTs, Ultraschall. Außerdem Herzkatheter mit Koronarangiografie. All das hatte sie mit der erforderlichen wissenschaftlichen Präzision abgefragt, mehr wollte sie nicht wissen.

Einer der Chirurgen in ihrem Team hielt sich jedoch nicht an die ungeschriebene Regel. In dem Moment, in dem Jayne das Spenderherz in die Hände nahm, platzte er mit der Geschichte der Spenderin heraus.

Sofort prickelten Tränen hinter ihren Lidern.

Natürlich hatte sie nicht zugelassen, dass die Dämme brachen, aber es hatte sie viel Kraft gekostet. Ohne es zu ahnen, erinnerte der Kollege sie an den schrecklichsten Tag ihres Lebens. Das Herz, das sie in Stellas Körper verpflanzte, hatte einer jungen Frau gehört, die mit dem Fahrrad auf einer Landstraße unterwegs gewesen war.

Genau wie Jaynes Zwillingsschwester Jules.

Keine der beiden jungen Frauen war nach Hause zurückgekehrt. Keine hatte lange genug gelebt, um sich ihre Träume zu erfüllen. Beide waren noch am Unfallort für hirntot erklärt worden. Wenn Jaynes Lächeln also nicht ihre Augen erreichte, so hatte sie einen verdammt guten Grund dafür.

Aus der Sprechanlage ertönte ein Pagersignal, und Jayne stürzte zur Tür. „Das kommt bestimmt aus Stellas Zimmer.“

Sana fing an zu lachen und trat ihr in den Weg. „Ruhig, Tiger. Das war für Dr. Lewis. Seine Frau.“

„Woher wissen Sie das?“

Die Krankenschwester blickte sie freundlich an und lächelte wissend. „Sie ruft immer um diese Zeit an, um nachzufragen, ob sie sein Abendessen aufsetzen soll oder nicht.“

„Aha.“

Ein Anflug von Neid erfasste sie, und sie konnte gerade noch einen wehmütigen Seufzer unterdrücken. All das hätte sie auch haben können. Jemanden, der sie genug liebte, um ihr ein Abendessen zu kochen … Der darauf achtete, dass es frisch zubereitet auf dem Tisch stand … Der darauf wartete, dass sie nach Hause kam …

Sams Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und sie verscheuchte es schnell. Es hatte keinen Zweck, alte Geschichten aufzuwärmen. Trotzdem blitzte noch ein Gedanke an ihn auf. Sam hätte sich von Sanas Blick nicht irritieren lassen. Er hätte ihr sein unwiderstehliches schiefes Lächeln geschenkt, ihr zugezwinkert, sie vielleicht kurz gedrückt und ihr versprochen, bei einer Tasse Tee und einem Scone in Ruhe über alles zu reden.

Er gehörte zu den Männern, die sich für andere Menschen Zeit nahmen. Und sein Gesichtsausdruck, als Jayne ihm seinen Ring zurückgab …

Sana berührte sie sanft am Arm. „Gehen Sie nach Hause. Nehmen Sie ein Bad, tun Sie, was immer Sie entspannt. Und dann machen Sie richtig frei. Seit Monaten sind Sie für Stella da, aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie es Ihrem Team überlassen können, für die Patientin zu sorgen.“

Jayne straffte die Schultern. „Kommt nicht infrage. Bis ihr Körper das Herz annimmt, bleibe ich.“

Der Blick kehrte zurück, stark und mächtig. „Wann hatten Sie das letzte Mal Urlaub? Und ich meine nicht die zwei Tage im Jahr, an denen Sie sich loseisen, um Ihren Eltern die Weihnachtsgeschenke entgegenzuwerfen.“

Autsch.

„Sie haben geweint. Während einer Operation.“ Sana hob die Brauen. „Und aus welchem Grund …?“

Jayne versuchte, sich abzuwenden, aber, so absurd es auch klang, aus Sanas Augen schien unsichtbarer Zement in ihre Sneakers zu fließen. Und Zitronensaft in eine sieben Jahre alte Wunde.

War das das Geheimnis des Sana-Blicks? Dass er Dinge an die Oberfläche holte, die jemand seit Jahren tief in sich verbarg?

Sana hob die Brauen.

Feine Schweißperlen bildeten sich auf Jaynes Stirn.

Plötzlich erkannte Jayne die Vorteile einer Pause von ihrem vollgepackten Berufsalltag. Sie könnte sich besinnen, sich erholen, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht sollte sie sich für ein Fitness-Bootcamp anmelden. Oder eine „Meistere deinen inneren Ninja“-Woche.

Eine dritte Möglichkeit fiel ihr ein, machte sie ein wenig atemlos und erfüllte sie gleichzeitig mit einem erwartungsvollen Kribbeln. Und wenn ich einfach … nach Hause fahre?

Sana hatte nicht ganz unrecht. Jeder Mensch brauchte ein Leben im Gleichgewicht. Jaynes Leben konzentrierte sich zu hundert Prozent auf ihren Job. Außerhalb des Krankenhauses existierte es praktisch nicht. Sie hatte alles versucht: sich ins Nachtleben gestürzt, Felsklettern ausprobiert, Städtetouren zu Europas angesagtesten Partymeilen unternommen. Jahre später musste sie feststellen, dass Party machen bis zum Umfallen, Adrenalinkicks im Extremsport und eine Herztransplantation ihr die Schwester nicht zurückbringen würden.

Was bedeutete …, dass es sicher keine schlechte Idee wäre, nach Hause zu fahren, um Wunden zu heilen.

Oje, was passierte mit ihr?

Der Blick war schuld. Ohne Zweifel.

Sana legte ihr die Hände auf die Schultern, brachte sie dazu, ihr in die Augen zu sehen.

„Jayne …“ Sana klang vertraulich, fast liebevoll. „Sie brauchen Zeit für sich. Was ist mit Ihren Eltern? Sie leben in der Nähe von Oxford, oder? Bestimmt freuen sie sich über einen Besuch ihrer Tochter, der vielbeschäftigten Chirurgin.“

Jayne entzog sich ihren Händen. Die Beziehung zu ihren Eltern hatte sich unwiderruflich verändert an dem Tag, als Jules starb. Sie wusste, dass sie sie liebten, aber Jules hatte zu den seltenen Menschen gehört, die andere vom ersten Moment an bezaubern konnten. Ihre geliebte Zwillingsschwester war schön gewesen, lebhaft, sympathisch verrückt in ihrem Hunger nach Leben, klug …

Risikofreudig. Frei wie ein Vogel. Adrenalinjunkie.

All das war Jayne nicht.

„Meine Eltern fahren im Sommer meistens weg.“

In diesem Jahr nach Schottland, auf die Äußeren Hebriden. Je abgeschiedener der Ort, desto besser.

„Was ist mit Freunden?“ Sana ließ nicht locker. „Sicherlich gibt es in Whitticombe jemanden, der es kaum erwarten kann, Sie zu sehen.“

„Nicht wirklich“, log sie. Ihre beste Freundin Maggie würde sie mit Freuden bei sich aufnehmen!

Als könnte Sanas Drängen die Wahrheit aus ihr herauspressen, gestand Jayne sich stumm ein, dass es zwei Gründe gab, warum sie nicht gern nach Hause fuhr. Erstens: In Whitticombe dachte sie ständig an den Tod ihrer Schwester. Ein tragischer Unfall, der nicht passiert wäre, hätte sie Jules nicht gebeten, nach Hause zu kommen, um ihre Verlobung zu feiern. Der zweite Grund hing eng damit zusammen. Noch furchtbarer, als mit ansehen zu müssen, wie das Leben aus ihrer Schwester wich, war der Moment, als sie Sam seinen Ring zurückgab.

Jayne stöhnte stumm auf.

Sanas Rat zu befolgen, war unmöglich. Sechs volle Wochen lang tagtäglich ein innerer Kampf? Nicht daran zu denken, was hätte sein können? Die romantische Liebesgeschichte, die Ehe, die sie immer gewollt hatte, das Leben, das sie hätte haben können?

Ausgeschlossen!

Der Zug war schon lange abgefahren … Nein, sie hatte ihn praktisch zum Entgleisen gebracht. Außerdem war Sam – Maggies Mails nach zu urteilen – in den letzten Jahren nicht stehen geblieben. Er hatte geheiratet, sich wieder scheiden lassen. Und vor Kurzem war seine Mutter gestorben.

Sie selbst dagegen schien immer noch festzustecken, an jenem Tag …

Wenn sie die Augen schloss, sah sie alles bis in jede Einzelheit vor sich. Die Sonne schien. Touristen fluteten die Stadt, um sich die berühmten Cottages aus verwittertem Sandstein und natürlich den Fluss anzusehen, der sich malerisch durch den Ort schlängelte. Es war Anfang Juni, wie jetzt auch. Eine Blütenpracht zog sich durch Gärten und öffentliche Parks.

Jayne trug einen schimmernden Brillantring am Finger.

Sie war von der Uni nach Hause gekommen, und Sam hatte ihr einen Antrag gemacht. Natürlich sagte sie Ja. Er war die Liebe ihres Lebens. Seit jenem ersten wundervollen Kuss an ihrem sechzehnten Geburtstag, aber gefühlt schon immer.

Jules ließ alles stehen und liegen und raste von London nach Hause. Der Goldschatz, Liebling der Familie. Alle vergötterten sie. Und sie wollte zünftig auf das Glück ihrer Schwester anstoßen. Jayne schlug vor, dass sie auf ihren alten Fahrrädern wie früher zum Pub flitzten. Nur würden sie diesmal statt Orangenlimonade Sekt bestellen.

Jules überlegte nicht lange und holte die Fahrräder aus dem Schuppen.

Ihr Vater blickte flüchtig von seiner Staffelei auf, wo ein neues Landschaftsbild entstand, und winkte ihnen geistesabwesend zu. Ihre Mutter lachte ihnen von ihrem Bildhauertisch her zu und tat, was sie immer tat, wenn ihre Mädchen aufbrachen: Sie küsste jede auf die Wange und sagte, sie sollten gut auf sich aufpassen.

Und sie gab Jayne die übliche Mahnung mit auf den Weg, so als wären sie keine erwachsenen Frauen, sondern noch Kinder: „Achte auf deine Schwester, du weißt ja, wie sie ist.“

Am Ende der Straße stehen bleiben. Erst nach links, dann nach rechts schauen, und wenn kein Auto kommt, rüber zum Pub. So musste es ablaufen.

Diesmal jedoch hatte sich Jules nicht daran gehalten. Sie war losgesaust, hatte die kurze Fahrt zu einem Wettrennen gemacht.

Drei Stunden später, nachdem der Krankenwagen weg war und die Nachbarn das Haus füllten, um ihre Eltern mit süßem, milchigem Tee zu stärken, hatte Jayne den glitzernden Ring abgenommen.

Ein paar Monate später gab sie ihn Sam zurück.

Sie hatte sich verändert in diesen Monaten. Sie war nicht mehr die unbeschwerte, optimistische junge Frau, wie Sam sie kannte, als er sie bat, ihn zu heiraten. An ihre Stelle war eine getriebene Jayne mit stahlharten Augen getreten, die entschlossen war, die Träume ihrer Schwester zu erfüllen.

Jules war schon immer ein bisschen wild und verrückt gewesen. Sie begeisterte sich schnell und oft für Neues. Ihr größter Wunsch bestand jedoch darin, kranke Kinder durch eine Herztransplantation zu retten.

Auch nach Monaten niederdrückender Trauer fühlte sich Jayne immer noch genauso hilflos wie in den Momenten, als sie auf Hilfe wartete und versuchte, Jules wiederzubeleben. Aus dem Gefühl, versagt zu haben, wuchs das drängende Bedürfnis, wiedergutzumachen, dass sie den Tod ihrer Schwester verursacht hatte. In Jayne reifte der Entschluss, ihr Leben zu ändern, das Leben zu leben, dass Jules versagt war. Die Operationen durchzuführen, die ihre Schwester nicht mehr übernehmen, die Leben zu retten, die Jules nicht mehr retten konnte.

Heute war es ihr gelungen. Sie hatte den Traum ihrer Zwillingsschwester wahr gemacht. Eigentlich hätte sie sich jetzt zurücklehnen können. Stattdessen trat ein, was sie insgeheim längst befürchtet hatte: Sie hatte sich kein Stück weiterbewegt.

„Dr. Sinclair?“ Sanas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Wenn Sie sich darum …“ Die Krankenschwester zeigte auf Jaynes Brust, dort, wo das Herz saß. „… nicht kümmern, werden Sie es nicht schaffen, Ihren Patienten damit …“ Sie deutete auf Jaynes Kopf. „… zu helfen.“

Jayne wand sich innerlich und tat so, als hätte ihr Telefon vibriert.

„Dr. Sinclair zu Diensten!“ Sie zwinkerte Sana zu, wies auf ihr Handy und formte mit den Lippen ein stummes Entschuldigen Sie mich. „Ja! Absolut. Nein. Nein … Ich habe nichts vor und alle Zeit der Welt.“

Sana verdrehte die Augen.

Über die Lautsprecher wurde Alarmstufe Rot ausgegeben. Sana und Jayne sahen sich an. Beide wussten, um welches Zimmer es ging, und sie wussten auch genau, was passiert war.

Drei Tage später, nachdem Jayne an Stellas Bett mit hohler Stimme den Todeszeitpunkt verkündet hatte, blickte sie auf und direkt in Sanas Augen. In denen sie eine klare Botschaft las.

Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Sana hatte recht. Jayne musste ihr Herz heilen, um uneingeschränkt für ihre Patienten da sein zu können. Sie verdienten absolute Aufmerksamkeit, und Stellas Tod hatte Jayne in die Startlöcher eines Rennens zurückkatapultiert, das sie längst für gelaufen gehalten hatte.

Wie hatte sie nur glauben können, dass sie vor ihrer Vergangenheit davonrennen konnte? Fast hätte sie aufgelacht, als ihr einfiel, welchen Rat sie ihren Patienten regelmäßig gab.

Wenn du das Problem ignorierst, wird es nur schlimmer. Wenn du ihm ins Auge siehst, sicherst du dir eine Chance auf ein neues Leben. Zwar mit Narben, doch diese Narben werden dich stärker machen.

Sam las die letzte Seite des Berichts, ließ ihn auf seinen Schreibtisch sinken und sah seine Patientin an. „Wenn ich dies richtig verstehe, brauchst du die nächsten zwei Monate strikte Bettruhe …“

„Das geht nicht!“, unterbrach Maggie ihn temperamentvoll. „Erstens brauchen mich die Kinder. Connor hat alles Mögliche um die Ohren, und Cailey nimmt an ihrem ersten Sportfest teil. Und dann der Teeladen … Dolly ist zwar da, aber ich muss die Kuchen backen. Als Nächstes das Dorffest. Ich sitze im Organisations-Komitee.“

Sam lächelte. Es gab kaum ein Komitee, in dem Maggie nicht saß.

„Und die Spendensammlung für den öffentlichen Defibrillator, den der Ort so dringend braucht! Den Kunsthandwerkermarkt, für den ich noch nicht einmal angefangen habe …“

„Hey, immer langsam. Was ist wichtiger als alles andere, Mags? Du und die Babys. Die Babys da drin.“ Er zeigte auf ihren beachtlichen Bauch. „Alles andere ist zweitrangig und lässt sich organisieren.“

Tränen schossen ihr in die Augen, Maggie presste zwei Finger auf die Lippen und nickte.

In Situationen wie diesen konnte Sam Crenshaw die Kollegen verstehen, die ihre Praxis lieber nicht in dem Ort betrieben, wo sie ihre Patienten noch aus der Kindheit kannten. Jemandem, mit dem man in der Sandkiste gespielt hatte, schlechte Neuigkeiten mitzuteilen, erwies sich nicht gerade als einfach.

Maggie war heute Vormittag in der Entbindungsklinik bei Oxford gewesen und in Tränen aufgelöst, einen Stapel Unterlagen in der Hand, zu ihm gekommen. Ihre Schwangerschaft entwickelte sich in eine bedrohliche Richtung. Sie hätte auch schon eine Lösung für ihr Problem, hatte Maggie angekündigt, doch so weit waren sie noch nicht gekommen. Manchmal musste ein Patient erst alles loswerden, bevor er vernünftigen Ratschlägen zugänglich war. Deshalb hörte Sam zu. Und reichte Taschentücher über seinen Schreibtisch.

Einer weinenden Freundin die Tränen zu trocknen, war hart … und dennoch exakt der Grund, warum er hier in Whitticombe als Allgemeinmediziner arbeiten wollte. Genau wie sein Großvater.

Ihre Liebe zur Medizin war nicht genetisch bedingt. Sam war adoptiert worden. Als Baby, sodass er sich nicht daran erinnerte, aber die Großzügigkeit der Crenshaws, die in ihr bereits volles Haus das Kind eines Fremden aufgenommen hatten, erfüllte ihn mit Wärme und Dankbarkeit. Und der Leitspruch seiner Adoptivfamilie war, dass man andere Menschen so behandelte, wie man selbst behandelt werden wollte. Zuwendend und ehrlich. Niemand brauchte etwas zu verbergen. Das gefiel ihm.

Die Aufrichtigkeit seiner Familie, ihre Offenheit und Liebe bildeten sein Fundament. Deshalb hatte er sich entschlossen, Medizin zu studieren und die Arbeit seines Großvaters fortzusetzen, der in diesem Haus seit über vierzig Jahren als Arzt tätig war. Und der alte Gauner, quietschfidel und voller Elan, dachte nicht daran, sich endgültig zur Ruhe zu setzen!

Sam wäre der Letzte, ihm das auszureden. Sein Großvater war in der Gemeinde nach wie vor hoch angesehen, und obwohl Sam die Praxis seit drei Jahren leitete, sahen manche in ihm noch den kleinen Jungen in kurzen Hosen, der die Kästen mit Wattetupfern und Zungenspateln auffüllte.

All das war in Momenten wie diesen von unschätzbarem Wert. Wenn eine Patientin oder ein Patient verletzlich und unsicher war, sollte er zu jemandem kommen können, dem er vertraute. Wenn sie Ängste und Sorgen hatten … das Gleiche. Und wenn eine Diagnose schlechte Nachrichten bedeutete, brauchten sie jemanden, der sie kannte.

Also rollte er mit seinem Stuhl zu Maggie hinüber, nahm ihre Hände in seine und sah ihr in die Augen. „Maggie, ich weiß, du bist Superwoman, aber allein schaffst du das nicht. Mit Präeklampsie ist nicht zu spaßen. Du brauchst Unterstützung von Leuten, die dich kennen. Und da deine Eltern in Australien sind, werde ich tun, was ich kann. Wir machen einen Plan, wer sich abwechselnd um die Kinder kümmert. Was deine Komitees angeht, kann ich ein paar Anrufe tätigen …“

„Glaubst du, an all das habe ich nicht auch schon gedacht?“, unterbrach ihn seine hochschwangere Patientin ungeduldig. „Heute kommt eine Freundin. Sie ist nur …“ Maggie griff zu ihrem Smartphone und wischte durch ihre Nachrichten. „Sie müsste jeden Augenblick hier sein. Ich hatte gehofft, dass du alles mit ihr besprechen kannst. Nate ist ja nicht da, und …“ Ihre Stimme kippte, und nur mit Mühe unterdrückte Maggie ein Schluchzen.

Sam fühlte mit ihr. Ihr Tag hatte nicht gut begonnen. Präeklampsie bedeutete, dass ihren Zwillingen eine Frühgeburt drohte. Maggie musste das Bett hüten. Und zu allem Überfluss steckte ihr Mann Nate, ein Luftwaffenpilot, bei einem Einsatz im Nahen Osten fest und würde bis zur Geburt der Babys nicht zurück sein. Außerdem hatte sie bereits zwei kleine Kinder zu versorgen.

Hoffentlich hält diese Freundin von ihr auch lange genug durch, dachte er. Wie er Maggie kannte, würde sie die Ärmste ordentlich herumscheuchen!

Sam ging ans Regal, um eine neue Schachtel Taschentücher zu holen, und warf sich am Spiegel im Vorbeigehen einen entschlossenen Blick zu. Ich werde auch einspringen, um Maggie unter die Arme zu greifen! Heute Abend wollte er eigentlich mit der Nichte seiner Praxissekretärin etwas trinken gehen, eine lockere Verabredung. Seine Scheidung war über ein Jahr her, also wurde es Zeit, nach vorn zu schauen. Schnee von gestern, wie Grandad zu sagen pflegte.

Was nicht für den Tod seiner Mutter Anfang des Jahres galt. Für Sam war es ein schwerer Schlag gewesen, und er konnte sich nur damit trösten, dass sie von ihrem Krebsleiden erlöst war.

„Wer ist diese Freundin? Erzähl mir von ihr.“

„Nun ja …“ Maggie konnte ihm auf einmal nicht in die Augen sehen. „Also, sie …“

Ein leises Klopfen ertönte, und Maggie saß plötzlich so kerzengerade da, wie es einer Schwangeren mit Zwillingen möglich war. „Das ist sie bestimmt.“

Sam ging zur Tür, öffnete – und vor ihm stand, immer noch so schön wie an jenem Tag, als sie ihm seinen Verlobungsring zurückgab, Jayne Sinclair.

Sie hob die Hand taillenhoch, winkte schüchtern, und dann sagten Maggie und sie im Chor, als hätten sie vorher geübt: „Überraschung!“

2. KAPITEL

Hätte einer von Sams Patienten mit den gleichen körperlichen Symptomen auf eine Überraschung reagiert, Sam wäre zum Telefon gestürzt, um einen Krankenwagen zu rufen.

Herzjagen, Pulsfrequenz im roten Bereich, Adrenalin-Überdosis, Schockgefahr.

Na, großartig. Sam hatte sich immer vorgestellt, wie er Jayne irgendwann wiedersehen und sein Herz nicht einen einzigen Extraschlag machen würde. Jetzt brach diese Theorie zusammen wie ein Kartenhaus.

Er zog mental die Notbremse, sagte sich, dass Jayne ihn unvorbereitet erwischt hatte. Das war alles. Schließlich war das Ende ihrer Beziehung nicht die einzige Hürde, die er überwunden hatte. Er hatte geheiratet, sich scheiden lassen und sich für immer von seiner Mutter verabschieden müssen. Mit einem Riesenberg emotionaler Lasten seinen Frieden zu machen, war schwer gewesen, doch er hatte es geschafft. Vielleicht besaß er mit seinen einunddreißig Jahren ein paar graue Haare mehr als andere Männer in dem Alter, aber hey, was einen nicht umbringt …

Jayne hatte selbst einiges durchgemacht, aber die Zeit hatte ihrer Schneewittchen-Schönheit nichts anhaben können. Glänzendes schwarzes Haar, leuchtend blaue Augen, makellose helle Haut, die ihm nur etwas blasser vorkam als früher zu Beginn des Sommers. Die Jayne, an die er sich erinnerte, war im Juni längst von der Sonne geküsst und hatte Sommersprossen auf der Nase. Dreiundzwanzig, als er sie das letzte Mal gezählt hatte.

Sam zwang sich, die verklärenden Erinnerungen mit der Wirklichkeit abzugleichen.

Jayne war nicht mehr die Frau, die er gekannt hatte. Jene Frau war am Tag, als ihre Schwester starb, unauffindbar verschwunden.

Die „neue“ Jayne ließ sich nur zu Weihnachten in Whitticombe blicken, verbrachte eine Stunde im Pub. Nicht mehr, nicht weniger. Vor Jahren hatten sie kurz geredet, aber mit schleichendem Unbehagen. Wie sonst sollte einem Mann zumute sein, wenn er Weihnachtsgrüße mit der Frau austauschte, die er hatte heiraten wollen? Er hatte ja nicht darum gebeten, dass sie ihm seinen Ring zurückgab.

Damals, vor sieben Jahren, bat er sie tatsächlich, ihn noch zu behalten. Sich Zeit zu lassen, darüber nachzudenken, welche Folgen es hätte, alles aufzugeben, wovon sie beide immer geträumt hatten. Natürlich hatte er Rücksicht darauf genommen, dass sie trauerte, dass sie versuchte, mit dem sinnlosen Tod ihrer Schwester klarzukommen. Irgendwann gingen ihm die Worte aus, und er begriff, dass Jayne einen neuen Weg eingeschlagen hatte. Einen, den er nicht mitgehen durfte.

Die Jahre vergingen, und mit der Zeit wurde bei ihren seltenen Begegnungen aus dem angespannten Small Talk ein flüchtiges Winken, dann nur noch ein Nicken. Als er vor drei Jahren Marie kennengelernt und geheiratet hatte, nickten sie sich nicht einmal mehr zu. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte er Jayne gar nicht gesehen, weil seine Mutter so krank gewesen war, dass er nicht in den Pub gehen mochte.

Jaynes Lächeln wirkte so gezwungen, wie seins sich anfühlte. „Hey, Sam. Ich hoffe, es ist okay, dass Maggie mich gebeten hat herzukommen?“

Als die beiden Frauen sich einen Blick zuwarfen, spreizte Sam die Hände, um sie nicht zu Fäusten zu ballen. So kannte er sich gar nicht, so verspannt, so empfindlich. Bereit, seinen Entschluss zu verteidigen, dass er sein Leben so leben wollte, wie er – sie beide damals – es sich immer erträumt hatten.

Das Leben, das seine Frau hinter sich gelassen hatte.

Die letzten drei Jahre liefen wie ein Zeitrafferfilm vor seinem inneren Auge ab. Er hatte geglaubt, dass sie glücklich waren, Marie und er. Sam war mit der Uni fertig, als er sie kennenlernte. Ein Jahr später heirateten sie. Eine klassische Landhochzeit. Das erste Ehejahr ein gutes, das zweite schon nicht mehr ganz so rosig. Aber hatte er Marie nicht von Anfang an gesagt, dass es für ihn viel anzupacken gab? Extrem viel. Das Haus bauen … die Arztpraxis auf den Stand des 21. Jahrhunderts bringen … sich um seine todkranke Mutter kümmern.

Sicher, es waren feine Risse in ihrer Beziehung spürbar gewesen, aber als Marie die Scheidung verlangte, fiel er aus allen Wolken. Sie meinte, es wäre ein Fehler gewesen, so schnell zu heiraten, und erklärte ihm haarklein, woran es ihrer Meinung nach an ihrer Ehe krankte. Für Sam seien drei Dinge wichtig: seine Praxis, der Ausbau der alten Scheune und seine Familie. Nirgends fühlte sie sich richtig zugehörig, und deshalb wollte sie lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende. Das sagte sie ihm, als sie ihm die Scheidungspapiere präsentierte.

Nachdem seine Mutter gestorben war, schrieb Marie ihm eine Karte, und so, wie es aussah, hatte sie eine neue Liebe gefunden.

Dass er sich aufrichtig für sie freute, sprach Bände. Der Kreis schloss sich hier und jetzt, während er feststellte, dass Jayne Sinclair auf seiner persönlichen Richterskala immer noch stärkere Erschütterungen hervorrief, als gut für ihn war.

Sam rieb sich den Nacken und klebte sich ein hoffentlich ganz passables Lächeln ins Gesicht. Er sollte sich auf Maggie konzentrieren, nicht auf sein katastrophales Liebesleben.

„Komm herein.“

Er begleitete sie zu einem Stuhl und atmete versehentlich ihren vertrauten Duft nach Wicke und Muskat ein. Wie früher stieg er ihm zu Kopf, und sein Herz erhöhte einen Moment lang die Schlagzahl.

„Ta-da!“, rief Maggie. „Da ist sie endlich!“

Jayne streckte die Hände aus und zog ihre Freundin in eine herzliche Umarmung. Maggies Kopf reichte ihr gerade bis zum Kinn, Jaynes Blick traf auf Sams, und plötzlich stand die Zeit still. Eine vertraute Energie, die er seit Jahren nicht empfunden hatte, erfüllte ihn. Ein belebendes Gefühl, weil er mit dem Menschen zusammen war, bei dem er sich ganz fühlte.

„Du siehst gut aus“, murmelte sie über Maggies kastanienroten Lockenschopf hinweg.

Du auch, dachte er. Anders zwar, aber gut. Das Mädchenhafte war verschwunden, sie wirkte fraulicher. Schlank war sie immer noch, auch ihr Kleidungsstil hatte sich nicht verändert. Sie arbeitete mit Kindern, und das spiegelte sich in ihrem Pünktchenrock, zu dem sie ein T-Shirt mit einem Einhorn darauf trug. Dazu mit roten Satinröschen bestickte Flipflops.

Ihr langes schwarzes Haar war vorn zu einem fransigen Pony geschnitten, hinten trug sie es akkurat zusammengefasst in typischer Ärztinnenfrisur. Etwas Mascara betonte die blauen Augen, die sich wie ein Kaleidoskop von Meerblau zu Mitternachtsblau verändern konnten. Auf ihren Lippen nur ein Hauch Lipgloss. Mehr hatten sie nicht nötig.

Flüchtig fragte sich Sam, ob sie immer noch nach Vanille und Pfefferminz schmeckten.

Er verdrängte den Gedanken sofort.

Solche Impulse dürften ihn gar nicht mehr heimsuchen. Nicht mehr seit dem Tag, an dem sie ihm seinen Ring zurückgegeben hatte.

An jenem Tag war Leben in ihre Augen zurückgekehrt, zwar von Tränen verschleiert, doch Sam hatte es ihr angemerkt. Nicht, dass es etwas mit ihm zu tun hatte, im Gegenteil. Jayne hielt ihm den Ring hin und erklärte, dass sie die Fachrichtung wechseln und pädiatrische Kardiologin werden wollte. Nach Whitticombe würde sie nicht wieder zurückkommen, sondern Jules’ Wohnung in London übernehmen. Deshalb müsste er jemand anders finden, der mit ihm die Praxis führte.

Das war zusätzlich ein schwerer Schlag gewesen. Mehr als alle anderen hatte sie gewusst, wie viel ihm seine Familie bedeutete. Wie wichtig es ihm war, seinem Großvater in der Praxis nachzufolgen. Seine Familie war seine Adoptivfamilie – sie hatten nie ein Geheimnis daraus gemacht –, aber wie jede gute Familie hatte sie ihm ein liebevolles Zuhause, Halt und eine Zukunft gegeben.

Als er alt genug war, um zu verstehen, dass er ohne sie Kindheit und Jugend in einem Waisenhaus verbracht hätte, schwor er sich, zu ihnen zu stehen und ihnen an Liebe zurückzugeben, was sie ihm immer gegeben hatten.

Nachdem Jayne ihm ihren Entschluss mitteilte, wurde ihm klar, dass sich ihre Wege trennen mussten. Es brach ihm das Herz, aber mit ihr nach London zu gehen und seine Familie im Stich zu lassen, hätte bedeutet, die Menschen zu verraten, denen er alles verdankte.

Der intensive Blickkontakt brach, als Maggie sich aus Jaynes Umarmung löste und ihr den Arm um die Taille legte, sodass beide nun Sam zugewandt waren.

„Stell dir vor, Jayne hat mich vor ein paar Tagen angerufen und erzählt, sie hätte eine Zeit lang frei. Natürlich war ich begeistert, habe ihr gesagt, dass sie unbedingt herkommen muss. Dass Nate unterwegs ist. Dass das Kricket-Turnier vor der Tür steht. Und das Dorffest. Und der Kunsthandwerksbasar. Eigentlich wollte Jayne erst morgen kommen, aber als ich sie vom Krankenhaus aus anrief wegen der Präeklampsie, hat sie alles stehen und liegen lassen und sich sofort auf den Weg gemacht.“

Wow. Sam traute seinen Ohren nicht. So etwas passte überhaupt nicht zu Jayne. Er sah ihr in die Augen. War ihm etwas entgangen?

Als ihre Blicke sich trafen, wich sie seinem aus und sagte: „Ich hatte ziemlich viel Urlaub angesammelt, und die Personalabteilung hat signalisiert, dass er verfallen könnte …“ Lächelnd zuckte sie mit den Schultern, aber es war ein bemühtes Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. War im Krankenhaus etwas schiefgegangen? Oder in ihrem Privatleben? Sein Bauchgefühl verriet ihm, dass sie nicht hier war, um sich ein bisschen Erholung und Entspannung zu gönnen. Nein, es steckte mehr hinter ihrem überraschenden Besuch in Whitticombe.

Natürlich war sie gelegentlich hier aufgetaucht. Regelmäßig zu Weihnachten und dann bei der Beerdigung seiner Mutter im Januar. Zusammen mit ihren Eltern saß sie auf einer der hinteren Kirchenbänke. Es überraschte ihn nicht, dass sie gleich nach der Zeremonie verschwand. Dabei wusste er genauso gut wie sie, dass Jayne für seine Eltern zur Familie gehörte. Mehr noch – wie er rückblickend feststellte –, als Marie in der Zeit ihrer Ehe und danach.

Sam zwang seine Gedanken in eine tiefe Kiste und schlug den Deckel zu. Seine komplizierte Vergangenheit mit Jayne sollte jetzt keine Rolle spielen. Im Moment ging es um Maggie.

Maggie, die redete und lachte, als sorgte diese Vergangenheit nicht für spürbare Spannung zwischen ihren Freunden aus Kindertagen.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du ausgerechnet dann Urlaub hast, wenn ich dich brauche. Das ist wie Kismet!“

Sam spürte Jaynes Blick, sah sie an. Kismet. Unser Wort, dachte er.

Zwar kannten sie sich seit ihrer Schulzeit, hatten aber kaum miteinander zu tun, zumal Jayne und ihre Zwillingsschwester unzertrennlich waren. Der magische Funke sprang erst über, als eine Gymnasiallehrerin beschloss, die alphabetische Sitzordnung zu kippen und für Veränderung zu sorgen. Von jenem Tag an teilten sie sich einen Tisch … und so manches mehr.

Während er erneut in Erinnerungen versank, nahm er am Rand wahr, dass Maggie auf das Kricket-Turnier zu sprechen kam. Und er war vollends wieder aufmerksam, als Jayne ihrer Freundin die Leviten las.

„Du wirst nichts dergleichen tun, meine Liebe! Du ruhst dich aus!“

„Worum geht es?“, fragte er.

Beide sahen ihn an, als wäre ein Gorilla im Ballettröckchen durchs Zimmer gelaufen und Sam hätte es nicht bemerkt.

„Dieser unverbesserliche Wirbelwind hat vorgeschlagen, dass wir nachher mit den Kindern zum Kricket-Turnier gehen, damit sie dort ihr Abendessen bekommen“, sagte Jayne missbilligend. „Verrückt, oder?“

„Nicht wenn wir etwas Anständiges essen wollen“, konterte Maggie.

Sie hatte recht. Jayne konnte vieles, aber Kochen war nicht ihre Stärke.

Sam und Maggie blickten Jayne an.

Ihre Wangen färbten sich rosa. „Was ist?“

„Nun ja … Wie sage ich es am besten?“, neckte Maggie. „Ich soll nicht in der Küche stehen, sondern im Bett liegen.“ Sie fächelte sich Luft zu, als wäre sie eine französische Gräfin. „Und wenn ich mich recht erinnere, sind deine Kochkünste in ungefähr so gut wie deine Fähigkeit, in Whitticombe zu bleiben.“

„Herzlichen Dank! Tritt ruhig noch nach, wenn eine Frau am Boden liegt!“ Jayne knuffte sie in den Arm, warf dann schnell Sam einen Blick zu.

Beschützerinstinkt, so heftig, wie er es nicht für möglich gehalten hätte, flammte in ihm auf. Was bedeutete das?… wenn eine Frau am Boden liegt!

Maggie hatte gemerkt, dass sie zu weit gegangen war. Wortreich entschuldigte sie sich, dass ihre Hormone schuld seien, dass Nate ihr fehlte, dass sie es unfair fände, ausgerechnet jetzt, wo sie so viel zu tun hatte, praktisch an Stuhl oder Bett gefesselt zu sein!

Jayne versuchte ihrerseits, die Freundin zu beschwichtigen. Dass sie überempfindlich sei. Dass sie wusste, dass Maggie nur Spaß gemacht hatte. Dass Maggie sich auf sie verlassen könnte. Dass sie sich bitte, bitte keine Sorgen machen sollte.

„Maggie hat recht, Jayne … was das Abendessen angeht“, mischte sich Sam ein, bevor bei den Frauen der Blutdruck ins Ungesunde stieg. „Im Kricket Club wird heute Abend ein zünftiges Barbecue angeboten, und es wäre ein Jammer, das zu verpassen. Für die Kinder wird es ein Highlight sein. Es gibt Würstchen, Burger, ja, ich glaube, sogar Marshmallows. Und bevor die Großen starten, eröffnet der Kricket-Nachwuchs den Wettkampf mit einem Spiel.“

Er widerstand dem Impuls, Jayne wie früher in solchen Momenten die Hand auf die Schulter zu legen.

„Du hast eine lange Fahrt hinter dir“, fuhr er fort. „Und Maggie darf sich nicht überanstrengen. Übrigens kochen meine Schwestern für das Grillbüfett. Heute Morgen im Coffeeshop habe ich eine von ihnen sagen hören, dass sie ihren Kartoffelsalat beisteuert.“

Früher hatte Jayne den Kartoffelsalat seiner Schwester geliebt. Aber auch das konnte sich geändert haben.

„Hört sich gut an“, antwortete sie mit einem dankbaren Lächeln. Doch es spiegelte sich nicht in ihren Augen wider.

Sam beobachtete sie, während sie Maggies Tasche nahm und den Arztbericht, der noch auf seinem Schreibtisch lag. Jayne wirkte ein bisschen müde, aber das war es nicht allein.

Schon einmal hatte er erlebt, wie das Leuchten in ihren ausdrucksvollen Augen erlosch. Es war die dunkelste Zeit ihres Lebens gewesen.

Ihm kam ein Gedanke, hakte sich in seinem Kopf fest. Hinter diesem spontanen Trip aufs Land steckte mit Sicherheit mehr als die Aufforderung ihres Arbeitsgebers, doch endlich ihren Urlaub aufzubrauchen. Sieben Jahre lang hatte sie sich in Whitticombe nicht blicken lassen. Warum ausgerechnet jetzt?

Jayne schwenkte die Unterlagen. „Ist es okay, wenn ich demnächst vorbeischaue, damit wir das hier durchsprechen?“

„Klar, natürlich.“

Unwillkürlich musste er lächeln. Das hatten sie schon immer gern getan. Zusammen Patientenakten besprechen, war einer der unzähligen Gründe gewesen, warum sie irgendwann geplant hatten, zusammen zu arbeiten. Zusammenzuleben. Einander zu lieben.

Das war endgültig vorbei. Jayne Sinclair hatte unmissverständlich deutlich gemacht, dass ihre Zukunft nicht in Whitticombe lag. Und nicht bei ihm.

Jayne machte sich mit Maggie auf den Weg zum Flur, und Sam streckte die Hand aus, wollte sie ihr auf den Rücken legen, in Höhe ihrer Taille, eine immer noch viel zu vertraute Geste. Er sah, wie sie die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, und zog die Hand sofort zurück. Warum? Weil er sich die Finger verbrennen würde, sobald er Jayne berührte?

Sam nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um sich zu sammeln, bevor er im Wartezimmer den nächsten Patienten aufrief.

Tommy Stark, ein Zehnjähriger, der sichtliche Spuren einer Prügelei im Gesicht trug.

„Na, das hat wehgetan, oder?“

„Jipp.“ Tommy grinste, während er, mit seiner Mutter im Schlepptau, Sam ins Sprechzimmer folgte.

Seine Mutter erklärte, wie sich ihr Sohn schützend vor die beste Schachspielerin der Schule, ein schüchternes Mädchen namens Molly, gestellt hatte, als diese von einem größeren Jungen gehänselt wurde.

„Das war sehr mutig von dir“, sagte Sam.

„Ach was“, wehrte der kleine Junge ab. „Ich habe es aus Liebe getan, deshalb tut es nicht weh.“

Als ob das so einfach wäre. Sam unterdrückte ein mattes Lächeln und begann, Tommy gründlich durchzuchecken.

„Bist du verrückt geworden?“

Sofort bekam Jayne ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre Freundin angefahren hatte. Aber was dachte Maggie sich? Bettruhe bedeutete Bettruhe. Nicht sich mit Anlauf ins Dorfleben zu stürzen!

Maggie blieb ruhig. Vielleicht wegen der Fußmassage, die Jayne ihr gerade gab. Die einzig erfolgreiche Methode, um ihre aktive Freundin dazu zu bewegen, sich hinzusetzen.

„Au, nicht so fest! Das Kricketspiel können wir uns doch nicht entgehen lassen!“ Maggie deutete auf ihren Fuß. „Du hast eine Stelle ausgelassen.“

Jayne zog die Brauen hoch. „Es ist nicht nur ein Spiel, Mags. Ganz Whitticombe ist auf den Beinen!“

„Ja und?“

„Ich meine nur …“ Sie wollte nicht, dass alle Welt erfuhr, dass sie wieder da war. Jedenfalls nicht auf einen Schlag. Es war schon schwer genug, um diese Zeit des Jahres hier zu sein. In zwei kurzen Wochen war der Todestag ihrer Schwester. Wenn sie wüssten, dass es meine Schuld war, würden sie … Jayne dachte den Gedanken nicht zu Ende. Sie ertrug es nicht. „Es ist nur ein bisschen komisch.“

„Warum? Du bist in Whitticombe geboren und aufgewachsen. Sieh es doch so, dass du deine Eltern vertrittst. Für sie mit jubelst.“ Ihre Stimme wurde weicher. „Wie geht es ihnen überhaupt?“

Wieder durchzuckten sie Schuldgefühle. „Gut …“

Sie hatte ihnen eine SMS geschrieben, dass sie Maggie besuchen würde, und eine kurze Antwort erhalten. Es ging ihnen gut. Alles war ruhig. Sie arbeiteten viel.

Zeilen, die kaum persönlicher klangen als Patientennotizen.

Seit Jules gestorben war, tauschten sie kaum mehr als knappe informative Nachrichten aus. So, als hätte ihre Zwillingsschwester alles mitgenommen, was die Familie zusammenhielt. Nach Jules’ Tod war Jayne zwei Monate zu Hause geblieben, aber wann immer sie ihren Eltern in die Augen blickte, begegnete ihr eine bedrückende Leere. Sie wussten genau Bescheid, sprachen die Wahrheit jedoch nie aus.

Wenn Jayne ihre Schwester nicht angerufen hätte … wenn Jayne nicht vorgeschlagen hätte, zum Pub zu radeln … Ihre Schwester würde heute noch leben.

Oder wenn Jayne lauter geschrien, die Warnung einen Moment früher herausgebrüllt hätte …

Der Sportwagen fuhr schnell, zu schnell, als Jules auf ihrem Rad um die Ecke flitzte. Sekundenbruchteile lang war Jayne der Schrei im Hals stecken geblieben. Als ihre Schwester für hirntot erklärt wurde, war es Jayne, als würden die Schreie für immer in ihrem Kopf widerhallen.

Jetzt bemühte sie sich, ein Lächeln aufzusetzen, drehte die Tube zu und verrieb den Rest des Massagegels an ihren Händen. Der leichte Hauch von Minze erinnerte sie, ganz flüchtig nur, an den Augenblick, als Sam die Hand ausstreckte, um ihre Taille zu berühren – bis er sah, dass sie es bemerkte, und die Hand wieder wegzog.

„Was das Wetter angeht, haben sie dort oben anscheinend keinen Sommer. Sie sind auf den Äußeren Hebriden.“

Maggie verzog das Gesicht. „Da könnte ich niemals leben. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass die Menschen in den Gemeinden dort dicht zusammenrücken. Ich habe mit den McTavishs gesprochen …“

Fragend sah Jayne sie an.

„Das ist das Ehepaar, mit dem sie das Haus getauscht haben. Wirklich nette Leute. Und sie lieben Kinder! Weil sie keine Enkelkinder haben, nutzen sie jede Chance, mit unseren zu spielen. Mrs. McTavish hat Connor Zeichnen beigebracht. Richtig toll!“

So hörte es sich an. Genau das hätte ihr Vater auch getan, wenn sie Kinder hätte und mit Sam, wie geplant, nur die Straße runter in The Old Barn, der umgebauten alten Scheune, wohnte. Dad würde sich ein Kind auf den Schoß setzen, einen großen Skizzenblock nehmen und zeichnen, wie er es mit seinen Töchtern gemacht hatte. Jules war begabt und eignete sich rasch die Fertigkeiten an, während Jaynes künstlerische Fähigkeiten sich erst später auf anderem Gebiet entfalteten. In der Chirurgie. Beim Heilen.

Deshalb hatte sie jede freie Minute in anderen Krankenhausabteilungen verbracht. Um so viel wie möglich zu lernen. Um nie wieder nicht weiter zu wissen wie an jenem schrecklichen Tag.

Als sie neben ihrer reglosen Schwester auf dem Asphalt kniete, fühlte sie sich unendlich hilflos. Natürlich hatte sie sofort mit der Reanimation begonnen, aber gegen Jules’ schwere Verletzungen konnte sie nichts ausrichten. Trotzdem setzte sie die Herzdruckmassage fort, bis jemand sie behutsam wegzog.

Damals hatte sie nicht einmal daran gedacht, Chirurgin zu werden. Allgemeinmedizinerin mit einer Zusatzqualifikation in Pädiatrie, so stellte sie sich ihre Zukunft als Ärztin vor. Sam würde sich in der Praxis um die Erwachsenen, sie sich um die Kleinen kümmern. Es war ein perfekter Plan für ein perfektes Leben gewesen.

„Huhu! Erde an Jayne!“ Maggie lehnte sich zurück und riss plötzlich die Augen auf, als wäre ihr ein Licht aufgegangen. „Ist es wegen Sam? Willst du deshalb nicht zum Kricket?“

Jayne schnaubte abfällig. „Wie kommst du denn darauf?“

„Du lieber Himmel, doch! Das ist der Grund!“

Nein. Okay, doch. Ein bisschen. Aber ihre Gefühle wegen Sam waren nur ein Teil des Puzzles. In ihr war eine Wunde aufgerissen, als sie Stella für tot erklären musste. Eine Wunde, die nicht so gut verheilt war, wie Jayne geglaubt hatte.

Maggie rieb sich mit beiden Händen ihren runden Bauch. „Du liebst ihn doch nicht immer noch, oder?“

Jayne sparte sich die Antwort. Sicher ließ er sie nicht kalt. Das würde ihr Leben lang so bleiben. Eine tief empfundene Liebe wie die zwischen ihr und Sam konnte man nicht restlos ausradieren. Selbst, wenn Jayne es ihm so gesagt hatte.

„Jayne …“, warnte Maggie. „Falls du hergekommen bist, um Sams Herz zurückzugewinnen, solltest du sehr, sehr vorsichtig sein. Der Mann hat einiges durchgemacht. Seine Scheidung ist erst ein Jahr her, und der Tod seiner Mum war auch ein herber Schlag für ihn. Natürlich ist er stark. Sam eben. Aber …“

„Das ist nicht der Grund!“, unterbrach Jayne sie heftiger als gewollt.

Sie blickte Maggie in die Augen und las darin die Liebe einer zwanzig Jahre dauernden Freundschaft. Warum verschwieg sie die Wahrheit? Jayne wusste genau, warum sie hier war. Als sie offiziell Stellas Tod feststellte, hatte sie sich gefühlt, als ob sie ihre Schwester ein zweites Mal umgebracht hätte.

Schmerz, Angst und Schuld drückten sie zu Boden wie eine tonnenschwere Last.

Gefühle, die sie nicht haben sollte. Nicht als die Top-Chirurgin, die sie war. Sie hatte gedacht, dass die Qual, die sie seit Jahren litt, ein Ende hätte, wenn sie Stella ein neues Herz, ein neues Leben, einpflanzte. Nachdem Stellas Körper das fremde Organ abgestoßen hatte, fühlte auch Jayne sich zurückgestoßen. All das mündete in einer schlichten Wahrheit: Wenn sie nicht endlich einen Weg fand, den Tod ihrer Schwester wiedergutzumachen und ihre eigene emotionale Krise zu überwinden, konnte sie nicht weiter als Chirurgin arbeiten. Eine Vorstellung, die sie bis in die letzte Konsequenz nicht zu denken wagte.

Maggie betrachtete sie nachdenklich. „Was auch immer dich hierher zurückgetrieben hat … Ich bin froh, dass du da bist. Und falls du reden willst, ich kann gut zuhören. Jederzeit.“

Unzählige Male hatte sie ihr das schon angeboten. Doch wenn es jemanden gab, dem sie ihr Herz ausschütten könnte, dann war es Sam. Ganz gleich, wie nahe sie Maggie stand, bei Sam fand sie genau das, was sie brauchte. Er half ihr, einen anderen Blick auf die Dinge zu lenken, ohne dass sie sich dabei dumm vorkam.

Als sie ihm seinen Ring zurückgab, blitzten Gefühle in seinen Augen auf, die sie frösteln ließen. Schmerz. Zorn. Verletztheit. Frustration. Unglauben. Anstatt jedoch wütend oder verletzend zu reagieren, beugte er sich vor und küsste sie sanft auf die Wange.

„Was du auch durchmachst“, sagte er dann, „denk daran, dass am Ende des Tunnels Licht wartet. Du magst es jetzt noch nicht sehen, aber du wirst den Weg finden. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du viel stärker bist, als du denkst.“

Wenn sie ihm geglaubt hätte, wären sie heute zusammen?

Damals war es ihr unmöglich erschienen. Der einzige Weg, für den sie Energie aufbringen konnte, waren die Träume ihrer Schwester. Die wollte sie verwirklichen. Für Jules. Nur war dieser Weg so schmal, dass darauf für niemand sonst Platz war.

Erst durch Stellas Tod hatte sie ihren Irrtum begriffen. Wie viele Leben sie auch an Jules’ Stelle rettete, es brachte ihr die geliebte Schwester nicht zurück.

Jayne zwang sich zu einem Lächeln und klatschte in die Hände. „Mir geht’s gut! Es ist nur … Du weißt schon … Immer komisch, den Ex wiederzusehen.“

Entschuldigend zuckte Maggie mit den Schultern und berührte kurz den Ehering, den sie an einer feinen Goldkette um den Hals trug. Natürlich konnte sie das nicht nachvollziehen. Sie hatte ihren Nate praktisch gleich nach der Schule geheiratet, bevor er zum Militär und ins Trainingslager ging. Die Liebesgeschichte der beiden war ähnlich wie bei Jayne und Sam verlaufen. Schon als Kinder ineinander verliebt, hatten sie ihre Teenagerträume wahrgemacht. Für Jayne und Sam war der Traum allerdings geplatzt. Aber sie freute sich für Maggie und Nate.

Jayne hörte die Kinder lachen. „Was hältst du davon, wenn ich deine kleinen Räuber anziehe, und dann fahren wir zum Sportplatz?“

Maggie betrachtete sie gedankenverloren, sagte dann aber nur: „Okay, machen wir uns auf den Weg. Der Arzt hat gesagt, dass ich meinen Kalorienverbrauch beibehalten soll – also, ran an die Burger!“

3. KAPITEL

Eine halbe Stunde später wappnete sich Jayne noch immer für die Begegnung mit den Whitticombern.

Scharenweise bevölkerten sie den Sportplatz. Sam war nirgends zu sehen, was ihr immerhin etwas mehr Atemluft verschaffte, und die McTavishs waren wirklich so sympathisch, wie Maggie sie beschrieben hatte. Sie nahmen Connor und Cailey mit zum Spiel der jüngsten Kricketsportler, das vor dem Turnier zwischen Whitticombe und dem Nachbarort stattfand.

Die Dorfbewohner begrüßten Jayne nicht anders als bei ihren weihnachtlichen Kurzbesuchen: mit freundlichem Hallo und leicht überraschtem Lächeln. Für viel mehr hatte sie ihnen in den letzten Jahren auch kaum Zeit gelassen, aber die Menschen in ihrem Heimatdorf waren loyal.

Sams Familie war für ihre Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft bekannt, die sich am besten darin zeigte, dass sie Sam adoptiert hatte. Seine Eltern hatten schon drei Mädchen, als seine Mutter, eine Sozialarbeiterin, bei einem Rettungseinsatz der Feuerwehr mithalf und den kleinen Sam in einem Abfallcontainer fand. Sie hatten nie viel Aufhebens um diese Adoption gemacht, und Jayne wusste, dass Sam seine Familie über alles liebte und immer zu ihnen stehen würde … von seinem Großvater bis hin zu den Kindern seiner Schwestern.

Er vergaß nie, wie viel Glück er gehabt hatte, dass die Crenshaws ihn wie den Sohn aufnahmen, den sie sich immer gewünscht hatten. Und als sie und Sam ein Paar wurden, brachten sie ihr die gleiche Liebe und Zuwendung wie ihren Kindern entgegen.

Unwillkürlich fragte sie sich, wie sich die Familie jetzt ihr gegenüber verhalten würde.

Jayne schüttelte den Gedanken ab. Die Crenshaws hatten ihr nach Jules’ Tod Unterstützung und Trost angeboten. Sie war diejenige, die sich von ihnen abwandte.

Und nun war sie wieder hier, das Leben war weitergegangen. Es wurde Zeit, dass sie das Dorf und seine Bewohner mit frischem Blick betrachtete.

Das Klubhaus war über und über mit Girlanden geschmückt. Natürlich, dieses Dorf liebte bunte Wimpel! Ein paar Väter stellten große Grills auf und häuften Kohlen in die Glutwannen. Kinder rannten ausgelassen umher, spielten Fangen wie früher ihre Mütter und Väter.

Jayne entspannte sich ein wenig, während sie dem Treiben zuschaute.

„Jayne Sinclair – bist du’s wirklich?“

Sams Schwester Kate tauchte vor ihr auf, in den Händen eine riesige Schüssel mit Kartoffelsalat. Hinter ihr stand der versammelte Crenshaw-Clan. Jess und Ali mit ihren Männern, ihren Kindern. Mr. Crenshaw und sein Vater Ernest – Sams Großvater. Die Familie, die ihre zweite hatte werden sollen. Die Familie, deren geheimes Rezept für Kartoffelsalat sie inzwischen auswendig kennen würde, hätte sie Sam damals geheiratet.

Die kostbaren Momente innerer Ruhe waren schlagartig vorbei.

Vor allem, als ihr Blick auf Sam fiel. Sein Irischer Wolfshund Elf beäugte ihn wachsam, während Sam sich einen seiner Neffen auf die Schultern setzte, damit dieser einen Wimpel lösen konnte, der sich an der Dachtraufe verfangen hatte. Eine schlichte Geste, aber sie beschrieb, was für ein Mann er war.

Sam Crenshaw kümmerte sich. Um die großen Dinge, die kleinen und alles dazwischen. Ihr Herz drohte zu zerreißen, als Jayne daran dachte, dass er, nur er, all das war, was sie sich von einem Mann wünschte. Und er war der Einzige, den sie nicht haben konnte.

Nichts konnte den Albtraum ungeschehen machen, den sie ihm bereitet hatte. Wenn eine Frau ihren Verlobungsring vom Finger zieht und zurückgibt, muss sie es ernst meinen. Dann gibt es kein Zurück. Damals war es ihr ernst gewesen. Damals hatte sie den Wald vor Bäumen nicht gesehen. Aber heute, nach sieben Jahren …

Doch für Reue war es längst zu spät.

„Jayne?“ Sams Schwester blickte sie besorgt an. „Ist alles okay? Es ist wirklich schön, dich mal außerhalb deiner üblichen Besuche zu sehen.“

„Ja, ich …“ Zerstreut schüttelte sie den Kopf, deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Ich bin wegen Maggie hier. Die nächsten Wochen, um genau zu sein.“

Gleichzeitig blickten sie zu Maggie hinüber, die gerade einen improvisierten Dreibeinlauf organisierte. Paarweise, an zwei Beinen aneinandergefesselt, hatten Kinder und Erwachsene hörbar großen Spaß an dem Wettlauf.

Jayne verdrehte die Augen und seufzte. „Sie soll sich ausruhen. Ich setze sie besser auf eine Picknickdecke oder einen Stuhl.“

Und verabschiede mich von dieser ungemütlichen Unterhaltung!

„Klar, mach das.“ Kate umarmte sie rasch. „Und Jayne, nur, damit du es weißt … Sam denkt darüber nach, wieder jemanden kennenzulernen, also …“ Sie lächelte schief. „Sei einfach vorsichtig, wie du dich verhältst, wenn du länger hier bist. Er hat schon genug durchgemacht.“

Eine Warnung. Nett verpackt, aber trotzdem eine Warnung.

„Sicher. Habe ich verstanden.“ Sie unterdrückte den albernen Impuls, einen Knicks zu machen, und tat stattdessen etwas, was sie sehr gut konnte.

Sie wandte sich ab und ging.

„Hey!“ Sam lief hinter Jayne her, als sie den kleinen Hügel hinaufstieg, von dem aus man einen guten Blick auf die Kricket-Pitch hatte. „Alles in Ordnung?“

Sie fuhr herum, ihre Blicke trafen sich, verfingen sich. Funken sprühten zwischen ihnen wie Blitze eines Sommergewitters.

„Meine Schwestern meinten, du hättest beunruhigt gewirkt.“

„Wieso? Mir geht es gut.“ Sie knuffte ihn in den Arm, eine klassische Flirtgeste früher auf dem Schulhof. Das drängende Bedürfnis, den anderen zu berühren … Wenn sie noch einen Beweis brauchte, dass ihre Gefühle für Sam alles andere als verblasst waren, da hatte sie ihn. „Alles super!“, schob sie schnell hinterher.

Sam runzelte die Stirn. Jayne konnte nichts dagegen tun, dass ihr heiß wurde, tief im Bauch, und ein sinnliches Prickeln über ihre Arme strich.

Sams Stirnrunzeln war irgendwie sexy. Wie hatte sie nur vergessen können, was für wundervolle grüne Augen er hatte? Dann sein dichtes strohblondes Haar, der leichte Bartschatten auf seinen Wangen und das markante Kinn, das sie am liebsten mit den Fingerspitzen berührt hätte, genau wie seine verlockend männlichen Lippen …

Jayne presste die Hände hinter dem Rücken gegen die raue Baumrinde, um die Arme nicht sehnsüchtig um Sam zu schlingen.

Unerwartet verwandelte sich das Stirnrunzeln in ein Lächeln. Ein wachsames Lächeln zwar, aber auf unnachahmliche Art träge und so sexy, dass Jayne innerlich in Flammen stand.

Sam hakte die Daumen hinter den Bund seiner Chinohose, lenkte damit Jaynes Blick auf seine schmalen Hüften, das weiße Hemd, das die sehnigen sonnengebräunten Arme betonte.

Der erwachsene Sam war … mmm … besonders … nett. Die feinen Fältchen an seinen Augen, die ersten weißen Haare an den Schläfen sorgten in ihrem Bauch für mehr Feuerwerk und Schmetterlingstaumel.

Ihr Verstand machte dem ein Ende.

Fältchen und weiße Haare hatte er damals bei ihrer Trennung nicht gehabt. Die Zeit war auch an Sam nicht spurlos vorübergegangen. Oder vielmehr das Leben. Mit der Scheidung und dem Verlust der Mutter hatte es ihm Schläge versetzt, für die es keinen echten Trost gab. Erst recht, wenn die Scheidung nur wenige Monate vor dem Tod seiner Mutter gewesen war.

Jayne wollte ihn umarmen, sollte es tun. Aber ihre gemeinsame Vergangenheit hielt sie davon ab. „Es tut mir leid, du weißt schon … was … alles passiert ist.“

Sam sah sie an, so intensiv, dass sie das Gefühl hatte, er würde ihr mitten ins Herz blicken. Ihren unbeholfenen Versuch, ihm ihr Beileid auszusprechen, würdigte er keiner Antwort.

Zusammen mit ihren Eltern war sie auf der Beerdigung gewesen, jedoch nicht bis zur Trauerbekundung geblieben. Heute bedauerte sie es.

„Hast du vor, dich für den Rest des Spiels hier oben zu verstecken, oder wirst du Maggie wirklich helfen?“

Das herausfordernde Blitzen in Sams Augen nahm ihr für einen Moment den Atem. Ja, er hatte etwas Kantiges, eine Härte an sich, die sie nicht erwartet hätte.

Sein Blick veränderte sich, zeigte so etwas wie Anerkennung. „Ich bin beeindruckt, dass du hergekommen bist. Es muss für dich nicht leicht sein. Vor allem um diese Zeit des Jahres.“

Diese Zeit des Jahres. Fünfzehn Tage und ungefähr acht Stunden von dem Moment entfernt, als vor sieben Jahren die Katastrophe über sie hereinbrach.

Jayne warf ihm ein Lächeln zu, auf das Jules stolz gewesen wäre. Die Art Lächeln, die ausdrückte, dass das Schicksal ihr zwar ein, zwei Fußtritte versetzt hatte, sie aber längst wieder aufgestanden und weitergegangen war. „Ha! Für mich und für dich, Kumpel.“

Beide zuckten bei dem letzten Wort zusammen. Sam war ihre große Liebe gewesen. Der Erste, der sie geküsst, der Erste, mit dem sie getanzt, der Erste, mit dem sie geschlafen hatte. Sie hatte Ja gesagt, als er vor ihr auf die Knie ging und ihr mit einem funkelnden Diamanten die gemeinsame Zukunft anbot. Sie hatte geweint, als sie ihm den Ring zurückgab. Sam Crenshaw war für sie so vieles, aber bestimmt kein Kumpel.

Egal, wie oft sie sich sagte, dass es richtig gewesen war, ihn zu verlassen, ihr Herz bettelte jedes Mal, wenn sie ihn sah, dass es ihn wiederhaben wollte.

Jayne deutete mit dem Kopf zu dem Tisch, wo Maggie saß, umringt von Dorfleuten. Inzwischen hatten die Neuigkeiten die Runde gemacht, und von allen Seiten wurde ihr bewundernde Aufmerksamkeit entgegengebracht. „Ich habe mir den Bericht angesehen. Er liest sich schlimmer, als man ihr ansieht. Wie geht es ihr wirklich?“

Sam zählte an den Fingern ab: „Präeklampsie. Typ-4-Diabetes. Mehrlingsschwangerschaft. Alles Risikofaktoren. Zurzeit geht es ihr gut, aber …“ Ein warnender Unterton begleitete seine nächsten Worte. „Aber damit wird es bald vorbei sein, wenn sie nicht endlich die Beine hochlegt. Du weißt so gut wie ich, dass solche Symptome von null auf jetzt eine Krise auslösen können.“

Und ob sie das wusste. In ihrem Krankenhaus gab es eine Spezialstation für werdende Mütter, deren Schwangerschaft ein schwieriger Verlauf drohte. Die Sterberate in solchen Fällen war viel zu hoch. Jayne wünschte, sie hätte mehr Dienste in dieser Abteilung übernommen. Vielleicht sollte sie einen Kollegen anrufen, ihn fragen, worauf sie besonders achten musste. Wenn sie auf Maggie aufpasste, dann richtig!

Jayne salutierte übertrieben, um zu verbergen, wie schwach seine Nähe sie machte. „Höchste Alarmbereitschaft aktiviert! Ich werde dafür sorgen, dass die Babys bleiben, wo sie sind, und ihrer Mum nichts passiert. Ach, und natürlich dafür, dass ihre Kinder sich nicht nur von Toast ernähren.“

Sie plapperte. Konnte nicht anders, weil Sams Miene deutlich verriet, dass er genauso gut an die Zahnfee glauben könnte.

Er beugte sich vor, und sie versuchte, nicht einzuatmen, den männlichen Duft seiner warmen Haut zu ignorieren.

„Sie braucht Hilfe, Jayne. Sie braucht dich! Wenn du sie im Stich lässt, werde ich …“

„Was wirst du?“, unterbrach sie ihn scharf.

Seine Stimme klang härter. „Ich werde die Scherben aufsammeln. Aber ich werde dir keine Rückendeckung geben. Damit musst du allein klarkommen.“

Sie wollte protestieren. Schließlich war es nicht einfach für sie, hier zu sein. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie schwer es für sie war …

Warum redest du nicht mit ihm darüber? Geteiltes Leid …

Nein! Sie konnte nicht einmal andeuten, dass ihre Verlobung damals den Tod ihrer Schwester verursacht hatte. Sam hatte nichts damit zu tun. Jules’ Tod war allein ihre Schuld. Sie hatte sich darauf eingelassen, um die Wette zu fahren. Sie hatte nicht darauf bestanden, dass Jules einen Helm aufsetzte. Sie hatte nicht laut genug geschrien, als der Sportwagen um die Ecke schoss.

Jayne blickte ihm in die Augen. „Ich habe versprochen, ihr zu helfen. Und das werde ich auch.“

Sam musterte sie prüfend, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

„Traust du mir nicht?“, fragte sie leise.

Sam sagte nichts. Das brauchte er auch nicht. Sie las es in seinen Augen.

Schließlich brach er das peinliche Schweigen. „Du kennst die Neuigkeiten vermutlich schon, oder?“

Jayne hatte keine Ahnung, was er meinte, bis ihr plötzlich einfiel, was sie über Sam gehört hatte. „Ja, klar! Deine Schwester hat es mir erzählt. Also, dann … Viel Glück beim Dating.“

Verblüfft starrte er sie an, lachte rau auf. „Das meinte ich nicht. Kate ist wieder schwanger. Ich habe euch miteinander reden sehen und dachte, sie hätte es dir erzählt.“

Oh. Nein, Kate hatte nur gesagt, dass sie um Sam einen Bogen machen sollte. Da kam ihr ein Gedanke. Vielleicht war es ihm nicht recht, dass sie Bescheid wusste. Vielleicht sollte sie nicht wissen, dass er sich nach einer neuen Liebe umsah. In ihrem Bauch tummelten sich auf einmal Schmetterlinge.

Jayne suchte in seinen Augen, ob ihr irgendetwas verriet, dass die Anziehung noch da war. Doch plötzlich tauchte eine ihr unbekannte Frau, zart und hübsch wie eine Elfe, neben ihnen auf. In den Händen hielt sie zwei Gläser Wein.

„Da bist du ja, Sam! Hatte mich schon gefragt, wo du steckst. Ich dachte, wir setzen uns unten an die Pitch. Du nimmst es mir hoffentlich nicht krumm, dass ich dir von der Bar ein Glas Pinot mitgebracht habe. Der ist köstlich. Also, was meinst du …?“ Die zierliche Blondine mit den großen rehbraunen Augen blickte Jayne und dann wieder Sam an. „Eine Freundin von dir?“

„So ungefähr.“ Sam hielt noch immer Jaynes Blick fest. „Wir kennen uns von früher.“

Das Prickeln in ihrem Bauch wurde stärker. So kann man es auch ausdrücken.

„Jayne Sinclair, darf ich dir Nell Pace vorstellen?“, sagte er und berührte dabei die Frau am Arm.

Ihr sank das Herz in die Zehenspitzen. Sam war nicht auf der Suche, er hatte schon jemanden gefunden!

Das Prickeln erstarrte zu Eis, zu schmerzhaft spitzen Kristallen.

„Hi!“ Jayne merkte, wie schrill ihre Stimme klang. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Sam warf ihr einen verwunderten Blick zu, während Nell erzählte, wie sie ihn kennengelernt hatte.

„Meine Tante arbeitet bei Sam. Ich bin neu im Dorf, und sie meinte, wir würden uns gut verstehen. Als ich dann von dem Kricket-Turnier hörte, dachte ich, ich sage eben Hallo.“

Sam blickte so unbehaglich drein, wie Jayne sich fühlte. Ihr fiel nur eine Lösung des Problems ein.

Abhauen.

Sie riss den Arm hoch und winkte Maggie wild zu. „Ich muss los. Maggie wartet auf mich.“

Das Gefühl, im Boden versinken zu müssen, war kaum noch zu ertragen.

Nell winkte flüchtig, bewegte nur leicht die Fingerspitzen, und Sam, der nun hinter ihr stand, nickte Jayne kurz zu.

Pass gut auf Maggie auf, schien er damit zu sagen. Ich behalte dich im Auge.

Jayne schlug die Tür zur Damentoilette zu und marschierte zum Waschbecken. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um ihre glühenden Wangen zu kühlen.

Natürlich hatte sie gewusst, dass es nicht leicht sein würde, länger in Whitticombe zu bleiben. Aber sie schien vom Regen in die Traufe gekommen zu sein!

Ein Blick in den Spiegel, und sie las in ihren Augen, was sie sonst hinter einer harten Rüstung verbarg: Einsamkeit. Trauer.

Vielleicht willst du gar nicht allein sein, wie du immer behauptest. Vielleicht bist du deshalb hier.

Sie unterdrückte einen frustrierten Laut. Was willst du eigentlich? Du lebst das Leben, das du dir vorgenommen hast. Das Leben, das Jules versagt geblieben war. Und wenn es bedeutete, Großstadtluft zu atmen und all das zu tun, wozu Jules, der Adrenalinjunkie, sie normalerweise mit viel Überzeugungskraft hätte überreden müssen, okay, sei’s drum!

Bungeespringen mochte sie nicht? Das konnte sie überwinden. Hektik und Lärm einer Großstadt, die nie zu schlafen schien, ertragen? Auch. Party machen bis spät in die Nacht? Schaffte sie. Und so weiter, und so weiter …

Eins allerdings liebte sie, und das war ihr Beruf. Nicht, dass Jules’ Tod damit auch etwas Gutes hatte. Das zu denken, so weit würde sie nie gehen. Dennoch hatte sie durch den Verlust ihrer Schwester erst herausgefunden, wie wichtig ihr die pädiatrische Chirurgie war.

Was die Frage aufwarf, warum sie nach Whitticombe gefahren war, statt im Krankenhaus ihre OP-Techniken zu perfektionieren.

Kindern zu helfen, deren letzte Hoffnung sie gewesen war, tat unendlich gut.

Umso schlimmer fühlte sie sich, wenn sie es nicht geschafft hatte.

Den Kampf um Stella hatte sie verloren, und die Trauer um ihre Patientin beschwor Erinnerungen an einen anderen Tag der Trauer herauf. Hier in Whitticombe spürte sie den Schmerz und den Verlust besonders stark.

Und nun versteckte sie sich auf der Toilette, um ihrem Ex aus dem Weg zu gehen.

Was nun? Hierbleiben, bis alle nach Hause gegangen waren?

Bestimmt nicht!

Sie blinzelte die Tränen weg und schenkte sich ein albernes Grinsen. Du bist wegen Maggie hier, sagte sie sich. Ich kann beweisen, dass ich in der Lage bin, etwas Gutes zu tun.

Sams zweifelnde Miene tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und sie schob das Bild rasch beiseite.

Sechs Wochen. Für sechs Wochen nahm sie es mit allem auf!

Entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen, öffnete Jayne schwungvoll die Tür nach draußen und landete an einer breiten Brust. Eine, die nach Gras und Holz roch, mit einem Hauch Grapefruit … ein Duft, der ihr sofort zu Kopf stieg.

Mit anderen Worten, die starke warme Brust von Sam Crenshaw.

Sie bemühte sich um einen lockeren Tonfall, als sie ihm in die grünen Augen blickte. „Also, Sam, ich weiß ja, dass ich nicht dafür bekannt bin, in der Gegend zu bleiben, aber du kannst dich ganz bestimmt darauf verlassen, dass ich nicht aus dem Fenster der Damentoilette klettere, um das Weite zu suchen!“

Er musterte sie verwundert. „Ich wollte nur nachsehen, ob es dir gut geht. Du hast ein bisschen durcheinander gewirkt.“

Ein Punkt für Sam, der immer noch mühelos ihre Gefühle lesen konnte.

Aber sie wollte sein Mitgefühl nicht. „Ach, du wolltest dich vergewissern, dass es mir nicht das Herz bricht, wenn du ein Date hast? Keine Sorge, ich bin nicht eifersüchtig.“

Sam zog die Brauen hoch, sagte nichts.

Brauchte er auch nicht. Hilfe, ich bin total eifersüchtig! Jayne wünschte sich die größte Treibsandfläche der Welt herbei. Sie hätte sich hineingeworfen. Auf der Stelle.

Unsicher wich sie seinem Blick aus. „Entschuldige, entschuldige … Ich freue mich für dich. Du verdienst es, glücklich zu sein.“

„Und du nicht?“

Jayne erstarrte. Seine Frage lastete wie ein Gewicht auf ihr.

Da lächelte Sam, hob die Hand und strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wange.

Ihr Verstand brüllte Stopp, aber sie konnte nicht anders, sie schmiegte sich an seine Finger. Hitze flutete ihren Körper, und ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Jayne war sicher, dass das Einhorn auf ihrem T-Shirt aussah, als würde es losgaloppieren. Nicht, dass sie hingeschaut hätte. Wie gebannt blickte sie Sam in die Augen. Es hätte Diamanten regnen können, sie hätte es nicht bemerkt.

„Vermisst du mich?“, fragte er sanft.

„Klar“, rettete sie sich in einen ironischen Tonfall. „Schrecklich.“

Aber es stimmte. Er hatte ihr immer gefehlt. Mehr, als er ahnte. Jedes Jahr zu Weihnachten hatte sie es Elf ins Ohr geflüstert. Und der zottelige Hund hatte ihr das Gesicht geleckt, als hätte er genau verstanden.

Sam kam näher. „Wie sehr?“

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. So nahe war sie Sam seit Jahren nicht gekommen. Sie wollte von ihm berührt werden, ihr Körper sehnte sich nach ihm … Und das waren nur zwei von unzähligen Gründen, warum sie es bisher nie für eine gute Idee gehalten hatte, nach Whitticombe zu fahren.

Der Abstand zwischen ihnen wurde geringer.

Vielleicht lag es an der misslungenen Transplantation. Vielleicht daran, ihn mit einer anderen Frau zu sehen. Oder schlicht und einfach daran, dass sie Sam Crenshaw fast ihr Leben lang geliebt hatte. Unmöglich, nicht bei ihm zu sein, ihn nicht zu berühren.

Sie würden sich küssen. Jayne las es in seiner Haltung. Spürte es in seinen Fingern. Ohne nachzudenken, erhob sie sich auf die Zehenspitzen, um seinem Mund näher zu kommen.

Gerade, als es sich anfühlte, als würde sie gleich schweben, wich Sam zurück. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und sah so verwirrt aus, wie sie sich fühlte.

Was war das gewesen? Ein Test? Ein Experiment, ob es zwischen ihnen noch funkte?

Die Antwort war eindeutig.

„Es sollte wohl nicht sein“, bemerkte sie nonchalant, auch wenn es ihr schwerfiel.

Sam räusperte sich und rieb sich den Nacken. „Okay, also …“ Er vermied es, sie anzusehen. „Ich wollte gerade an der Bar ein paar Drinks bestellen. Möchtest du auch etwas?“

„Danke, lieber nicht. Ich fahre Maggie und die Kinder nach Hause.“

Als er sich abwandte, strich sie mit dem Zeigefinger über die Lippen, so, als hätte sie Sams Mund wirklich dort gespürt. Jayne blickte ihm nach, während er mit langen Schritten zur Bar marschierte, beobachtete, wie ihm die Leute zuwinkten, ein Hallo zuriefen oder ihm auf den Rücken klopften. Wie sein Vater und sein Großvater war er hoch geschätztes Mitglied der Dorfgemeinschaft. Jemand, den die Menschen respektierten. Den sie liebten. Jemand, den sie beschützen würden …

Plötzlich ertönte ein Schrei, gefolgt von lauten Rufen nach Sam.

Sam rannte los, lief noch schneller, als er seinen Großvater weit hinter der Kricket-Pitch am Boden liegen sah.

Man machte ihm Platz, und er kniete sich neben Ernest, der versuchte, sich aufzusetzen.

Autor

Traci Douglass
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Sue Mac Kay
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Annie Oneil
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