Julia Ärzte zum Verlieben Band 160

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IM SCHNEESTURM DER GEFÜHLE von TINA BECKETT
Schnee erinnert Dexter Chamblisse an den Verlust seiner Familie. Nur der Beruf bestimmt das Leben des Arztes. Wie ein Lichtstrahl erscheint ihm da seine Kollegin Maura, mit der er eine Party fürs Frauenhaus vorbereiten soll. Kann sie das Eis um sein Herz zum Schmelzen bringen?

WIEDERSEHEN MIT DR. KENNEDY von SUE MACKAY
Sie kennt nur seinen Vornamen. Deshalb konnte Stacey ihrem One-Night-Stand Noah nie sagen, dass er Vater ist. Jetzt taucht er als Chirurg in dem Krankenhaus auf, in dem sie arbeitet – und die Funken sprühen! Soll sie ihm anvertrauen, dass er eine kleine Tochter hat?

HEILE MEIN HERZ, DAVID! von DEANNE ANDERS
Sarah hat durch einen tragischen Unfall ihren Mann und ihren Sohn verloren. Seitdem sucht sie Trost in ihrer Arbeit als Krankenschwester. Erst bei dem charmanten Herzspezialisten David Wright findet sie wieder Lebensmut. Aber ein Geheimnis steht zwischen ihnen!


  • Erscheinungstag 14.01.2022
  • Bandnummer 160
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511513
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tina Beckett, Sue MacKay, Deanne Anders

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 160

TINA BECKETT

Im Schneesturm der Gefühle

Warum ist ihr Kollege Dexter Chamblisse nur so verbittert, wenn es schneit? Notärztin Maura will ihm helfen, sein Trauma zu überwinden. Denn sie weiß, wie schmerzhaft es ist, geliebte Menschen zu verlieren. Ihre Idee: Wenn er ihr hilft, eine Party für das örtliche Frauenhaus auszurichten, wird die Freude der Frauen auch sein kaltes Herz erwärmen!

SUE MACKAY

Wiedersehen mit Dr. Kennedy

Dieses Gesicht kennt er doch! Vor drei Jahren hatte Dr. Noah Kennedy eine heiße Nacht mit einer wunderbaren Frau. Nun begegnet er ihr überraschend an seinem neuen Arbeitsplatz, dem London General Hospital, wieder. Doch so bezaubernd sie nach wie vor ist: Irgendwie wirkt die schöne Stacey gehemmt. Verbirgt sie etwas vor ihm?

DEANNE ANDERS

Heile mein Herz, David!

Für David Wright steht seine Arbeit im Krankenhaus an erster Stelle – und die Sorge um seinen kranken Sohn Davey, den er allein großzieht. Für eine Beziehung ist kein Platz in seinem Leben – da begegnet er der engagierten Krankenschwester Sarah. David erlaubt sich, von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen – bis Sarah ihm Schockierendes offenbart …

PROLOG

Fünfzehn Jahre früher

Pink Plus. O Gott.

Maura nahm den Schwangerschaftstest in die Hand und hielt ihn höher. Vielleicht hatte sie sich das schwache Plus neben dem pinkfarbenen Streifen ja nur eingebildet. Doch das Zeichen im zweiten Fenster blieb. Sie schloss die Augen, und eine Welle der Hoffnung überflutete sie, während sie gleichzeitig zu begreifen versuchte, was gerade passierte. Sie erschrak vor der Neuigkeit, und gleichzeitig freute sie sich.

Ich bekomme ein Baby!

Vielleicht war das ein Fingerzeig des Schicksals, ihre Beziehung zu Dex zu retten und sie beide wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Den Weg, der in der Highschool begonnen hatte, bis eine Tragödie seine Welt erschütterte – und ihre gleich mit.

Danach war er nicht mehr derselbe gewesen. Maura hatte abgewartet und gehofft, dass er emotional zu ihr zurückkehren würde, sobald er seine Trauer verarbeitet hatte. Doch bis heute war er distanziert. Unerreichbar.

Sogar, wenn sie miteinander schliefen.

Und was die Trauer anging, war er seltsam unberührt geblieben. Selbst bei der Beerdigung war er nicht zusammengebrochen oder hatte geweint, zumindest nicht in ihrer Gegenwart.

Er brauchte diese Tränen. Sie brauchte diese Tränen. Um zu wissen, dass er immer noch fähig war, zu fühlen. Zu lieben.

Und wenn nicht?

Ein Schauder ließ sie frösteln, und sie presste ihre Hände auf den Bauch.

Vielleicht sollte sie zunächst mehr über seine Gefühle herausfinden, bevor sie ihm von dem Baby erzählte. Oder wenigstens tief durchatmen, bevor sie mit der Neuigkeit herausplatzte. Am allerwenigstens wollte sie, dass er aus den falschen Gründen einwilligte, bei ihr zu bleiben.

Ein Leben lang mit dieser Unerreichbarkeit leben?

Unmöglich.

Sie legte den Schwangerschaftstest auf die Ablage und starrte ihn an. Wenn Dex sie nicht mehr so lieben konnte wie früher, wäre er dann in der Lage, ihr Kind zu lieben? War sie bereit zu riskieren, dass dieses Kind mit einem Vater aufwuchs, der keine Zuneigung zeigen konnte?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Sie musste ihn anrufen und sich mit ihm treffen, um darüber zu sprechen. Ihn fragen, wo sie standen, und wie er ihre Beziehung sah.

Und wenn er ihr nicht die Antwort gab, die sie unbedingt hören wollte?

Dann hätte sie keine andere Wahl, als Schluss zu machen und sich ein paar Wochen Zeit geben, um über alles nachzudenken. Erst danach würde sie entscheiden, wie sie ihm sagen wollte, dass er Vater wurde.

Sie berührte die Zahnbürste, die in dem Becher neben ihrem stand. Seit dem Tag, an dem dieses Baby gezeugt worden sein musste, war sie nicht mehr benutzt worden. Maura schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass heute der Tag sein würde. Der Tag, an dem der Dexter, den sie kannte und liebte, zu ihr zurückkehrte.

Oh, sie hoffte es so sehr!

Als sie aus dem Bad kam, nahm sie ihr Handy vom Nachttisch und ließ sich aufs Bett sinken. Sie scrollte durch die Liste der Kontakte, bis sie Dex’ Namen fand, markiert mit einem roten Herz. Ja, ihr Herz gehörte ihm, seitdem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Von ihm allein hing ab, ob dieses Herz heil blieb oder in tausend Stücke zerbrach.

Sie schluckte schwer und fasste genug Mut, um den Kontakt anzutippen. Entweder setzte sie damit alles in Bewegung, damit die Beziehung weiterging, oder sie beendete sie für immer.

Bitte, Dex, gib mir die Antwort, die ich brauche.

Noch einmal strich sie sich über den Bauch.

Gib mir die Antwort, die wir beide brauchen.

1. KAPITEL

Schnee. Na, großartig. Nichts mochte er weniger.

Es schneite in dichten Flocken, als Dexter Chamblisse aus seinem Truck stieg und über den Parkplatz stapfte. Er hörte den Schneepflug, der sich irgendwo auf dem Krankenhausgelände abmühte, die Fläche für Autos und Rettungsfahrzeuge freizuhalten.

Der Eingang war nur fünfzig Meter entfernt, aber als sich eine große Flocke an seine Stirn heftete, wischte er sie gereizt weg. Obwohl der Schnee in diesem Teil von Montana nie lange liegen blieb, richtete er immer Schaden an und verursachte Leid. Jedes Jahr um diese Zeit fragte sich Dexter, warum er in diesem verdammten Staat blieb. Die kurzen Tage und der eiskalte Winter erinnerten ihn immer daran, was passieren konnte. An das, was passiert war.

Aber seine Mutter lebte noch hier. Da er ihr einziges überlebendes Kind war, fühlte er sich für sie verantwortlich. Und sie weigerte sich, wegzuziehen. Er verstand ihre Gründe, aber das bedeutete nicht, dass Dex sie teilte.

Er schlug den Kragen seiner Jacke gegen den heftigen Wind hoch und rutschte mit dem Stiefelabsatz kurz auf einer Eisfläche aus, bevor er sich gerade rechtzeitig wieder fing. „Verdammt!“

Ihm schnürte sich die Kehle zu. Der Bruchteil einer Sekunde reichte aus, um …

Schattenhafte Erinnerungen krochen unter einer verschlossenen Tür in seinem Kopf hervor und drohten sich breitzumachen wie schon Hunderte Male zuvor. Aber nicht heute! Nicht, wenn er einen vollen Dienstplan hatte. Patienten warteten auf seine Hilfe. Er musste sich auf die Lebenden konzentrieren und den Rest für einen anderen Tag aufheben. Vorzugsweise einen Tag weit in der Zukunft.

Als er den Gehweg vor der Notaufnahme betrat, sah er einen Rettungswagen auf der Einfahrt stehen. Sanitäter schlugen gerade die hinteren Fahrzeugtüren zu. Er winkte dem Mann auf dem Fahrersitz zu und erhielt ein Lächeln als Antwort.

Er fragte sich, ob sie heute Dienst hatte, und noch mehr fragte er sich, warum er immer wieder ausgerechnet durch diese Türen ging. Vielleicht, weil er es schon immer getan hatte. Nur weil eine alte Flamme vor ein paar Jahren an diesem Krankenhaus angefangen hatte, musste er nicht seine Gewohnheiten ändern. Außerdem würde es ziemlich merkwürdig aussehen, wenn er plötzlich einen anderen Eingang benutzte.

Und es hatte bislang gut geklappt. Wie durch eine ungeschriebene Vereinbarung liefen Maura und er sich im Krankenhaus selten über den Weg. Selbst hier, in der Abteilung, in der sie arbeitete. Er spürte es, wenn sie in der Nähe war. An dem feinen Kribbeln, wenn sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Wenn das geschah, machte er sich schnell aus dem Staub, meistens, bevor er sie sah. Gelang es ihm nicht, vermieden sie sorgfältig ein Gespräch und begnügten sich mit einem knappen Winken, wenn er durch ihr Territorium lief.

Genau das wollte er auch heute tun.

Doch in der Notaufnahme herrschte Chaos.

„Es ist mir egal, wie viele Anrufe ihr machen müsst, findet einfach einen! Sofort!“

Er blickte zur Seite und sah ein allzu vertrautes Gesicht, als sie im Laufschritt hinter einer Trage herlief. Ein winziger Blutspritzer befleckte eine ihrer Wangen. Somit war seine Frage beantwortet: Maura hatte heute Dienst.

Das Handy in seiner Tasche vibrierte. Ein düsteres Gefühl von Déjà-vu durchfuhr ihn, und er beschleunigte seine Schritte, um sie einzuholen. Maura Findley, seine Ex – nun ja, seine Ex vor langer Zeit – presste eine behandschuhte Hand auf die Brust eines Patienten. Es war ein Junge, genauer gesagt, ein Teenager.

„Was gibt es?“

Sie wandte den Kopf und fixierte ihn mit einem Blick, der Bände sprach. „Wo zum Teufel warst du, Dex? Wir haben die letzten zehn Minuten versucht, dich zu erreichen.“

Der Rettungswagen draußen hatte diesen Patienten gebracht.

Mauras Tonfall hätte ihn verblüffen müssen, aber sie war nie jemand gewesen, der ein Blatt vor den Mund nahm. Deswegen hatte sie, als sie ihn vor all den Jahren fragte, wie es mit ihnen aussah – und er ihr keine klare Antwort geben konnte –, die Beziehung zwischen ihnen abrupt beendet. Ein Jahr später hatte sie einen anderen geheiratet. Verdammt, sie hatte kaum Zeit gebraucht, um darüber hinwegzukommen, etwas, das ihn bis heute beschäftigte. Denn ihm war es verdammt schwergefallen, einfach so weiterzuleben.

„Ich bin gerade erst angekommen. Bei dem starken Schneefall sind alle nur geschlichen. Tut mir leid.“ Er hoffte, dass es nicht so klang, als würde er sich für ihre Vergangenheit entschuldigen.

Was nicht in seiner Absicht lag. Dass sie einen Schlussstrich unter ihre Beziehung gezogen hatte, war das Beste, was ihm passieren konnte. Und ihr auch, wenn er ehrlich war.

Er war damals keine gute Partie gewesen. Und jetzt auch nicht. Allerdings hatte wohl auch ihre nächste Beziehung unter keinem guten Stern gestanden.

Dex hatte gehört, dass sie geschieden war.

Ein Gefühl des Bedauerns durchzuckte ihn. Er vertrieb es sofort.

„Penetrierende Brustverletzung mit Pneumothorax – Objekt steckt noch drin … Verkehrsunfall, verursacht durch die Eisglätte. Weitere Patienten sind auf dem Weg.“

„Verdammt!“ Das Wort war heraus, bevor er es stoppen konnte. Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, der dann weicher wurde. Er wollte ihr Mitleid nicht, hatte es nie gewollt.

Maura und er waren schon auf der Highschool ein Paar gewesen. Alle hatten erwartet, dass sie eines Tages heiraten würden. Damals hätte er ihnen zugestimmt. Er hatte sich sogar Ringe angesehen. Geplant, wie er die Frage stellen würde. Und dann war das Undenkbare geschehen, und seine Welt aus den Angeln geflogen. Ihre Beziehung ging noch eine Weile weiter, aber er war nicht mehr richtig bei der Sache.

Als er sich dem Jungen auf der Trage zuwandte, sah er ein gut 30 cm langes verzinktes Metallrohr aus dem rechten oberen Quadranten des Brustkorbs ragen. Mehrere Optionen schossen ihm durch den Kopf.

Ein Pneumothorax wurde zum lebensbedrohlichen Ereignis, wenn er nicht schnell behandelt wurde, dazu die Brustwunde …

„Gut, dass die Rettungssanitäter nicht versucht haben, es zu entfernen. Bringen wir ihn in ein Zimmer.“ Er musste stabilisiert werden, bevor sie das Rohr operativ entfernen konnten.

Im Untersuchungsraum angekommen, schnappte sich Maura einen Verband und wartete darauf, dass der Patient ausatmete, bevor sie das Rohr mit Klebeband verschloss, um zu verhindern, dass noch mehr Luft in die Brusthöhle des Patienten eindrang.

Sie arbeitete sicher und kontrolliert, ihre Entscheidung, den Fremdkörper abzudichten, stammte direkt aus dem Lehrbuch. Maura hatte sich nicht ein bisschen verändert. Sie war immer noch so forsch und entschlussfreudig wie das Mädchen, das er einst gekannt und geliebt hatte.

Dexter verscheuchte den Gedanken.

„Wo sind hier die Thoraxdrainagen?“

„Dritte Schublade rechts.“ Sie blickte nicht einmal auf, der dunkle Pferdeschwanz fiel ihr über eine Schulter, während sie weiterarbeitete.

Er hatte die natürlich rötlichen Strähnen in ihrem seidigen Haar geliebt, es oft durch seine Finger gleiten lassen und …

Eine Krankenschwester kam herein und begann, die Vitalwerte zu messen. Dexter fand die Drainagen genau dort, wo Maura gesagt hatte. Er schnappte sich ein Paar Handschuhe aus dem Spender an der Wand. „Wie viele andere Opfer?“

„Fünf oder sechs. Ich bin mir nicht sicher.“ Diesmal sah sie tatsächlich auf. „Mindestens eine weitere Brustwunde. Das Wetter wirkt sich auch auf die Fahrzeiten der Rettungsdienste aus.“

Dieses verfluchte Eis, dieser verfluchte Schnee! Ihm fiel nicht eine gute Sache am Winter ein. Um diese Jahreszeit wäre er lieber irgendwo näher am Äquator. Wo man zu Weihnachten in Flipflops und bunten Hemden herumlief. Vielleicht sollte er für nächstes Jahr eine Reise nach Brasilien auf seine Agenda setzen. Er hatte genug Urlaubszeit angespart, um einen vollen Monat dort verbringen zu können. Oder er verpflichtete sich für die Zeit bei Ärzte ohne Grenzen – in Südamerika oder Afrika.

Und dabei Urlaub machen? Nicht sehr wahrscheinlich. Aber er könnte etwas Gutes für jemand anders als sich selbst tun, während er gleichzeitig die eisigen Wintermonate und die damit verbundenen Erinnerungen mied.

„Blutdruck niedrig. Sauerstoffsättigung im Blut knapp über 80.“

Er tupfte den Bereich zwischen der vierten und fünften Rippe ab und betäubte die Stelle mit einem Lokalanästhetikum, obwohl ihr Patient bewusstlos war. Maura half ihm, das Kopfende des Bettes anzuheben, und bereitete eine großlumige Kanüle vor. „Bereit?“

„Nur zu“, sagte er.

Sie führte die Nadel vorsichtig in den Pleuraraum ein und wurde fast sofort mit einem gleichmäßigen Zischen belohnt, als die in der Brusthöhle eingeschlossene Luft entwich.

„Gute Arbeit.“

Sie blickte auf, mit dunklen Augen. Ein Hauch von Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich habe das schon ein, zwei Mal gemacht.“

„Ich weiß. Ich habe dich nur noch nie in Aktion gesehen.“

Jedenfalls nicht in dieser Art von Aktion. Und im Moment sollte er an eine andere nicht denken.

„Nein. Das hast du nicht.“ Ihr Lächeln verblasste. Oder vielleicht war es von Anfang an nicht da gewesen. Er war bekannt dafür, nur das zu sehen, was er sehen wollte. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass sie mehr von ihrer Beziehung gewollt hatte, und das zu einer Zeit, in der er außer dem Schmerz nichts gefühlt hatte.

Und jetzt, da der Schmerz eher chronisch als akut war? Er wollte immer noch nichts. So war es einfacher. Außerdem war sie über ihn längst hinweg. Ihre Ehe hatte das bewiesen, auch wenn diese nicht von Dauer gewesen war. Dex schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab.

„Machen wir mit der Thoraxdrainage weiter.“

Der Schlauch würde dafür sorgen, dass die restliche Luft entweichen und Flüssigkeit und Blut abfließen konnten, damit die Lunge nicht kollabierte. Maura wartete, während er den Schlauch in die richtige Position brachte, und half dann, ihn zu sichern.

„Das sieht gut aus, besser geht’s nicht“, meinte sie. „Und ich muss mich auf die anderen Verletzten vorbereiten, die reinkommen, also gehört er ganz dir.“

„Ich bringe ihn in den OP, um ihn auf innere Verletzungen zu checken und das Rohr zu entfernen.“ Dexter blickte sie an, und fast hätte er die Haarsträhne, die ihr in die Stirn gefallen war, zurückgestrichen. Aber der Moment verflog schnell. „Ruf mich, wenn du mich brauchst.“

Ihr Blick flog zu seinen Augen, dann nickte sie, als hätte sie erst jetzt verstanden, was er meinte.

Was hatte sie gedacht?

Oh, verdammt. Oft hatten sie sich mit diesen Worten verabschiedet, nachdem sie sich geküsst hatten, bis sie keine Luft mehr bekamen – und dann über die doppelte Bedeutung dahinter gelacht.

Ein neues Gefühl des Bedauerns überkam ihn. Damals hatte sie gesagt, sie wolle ihm etwas mitteilen. Kurz danach endete ihre Beziehung mit bösen Worten und ohne wirkliche Aussprache.

Aber es bestand keine Möglichkeit, zurückzugehen und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Oder etwa doch?

Nein. Vor allem nicht jetzt, wenn das Leben eines Patienten auf dem Spiel stand. Er sollte besser akzeptieren, dass mehr nicht möglich war. Ein Versuch würde nur hässliche Wunden aufreißen, was keiner von ihnen wollte.

Also gab er der Pflegerin einige Anweisungen, den Patienten in den OP im dritten Stock zu bringen, und winkte Maura knapp zu. So wie immer, wenn sie sich zufällig sahen. „Wir sehen uns später.“

„Mach’s gut, Dex.“

Mach’s gut.

Ihm wurde kalt ums Herz. Das war’s. Kein Bis später oder Wir sehen uns bald. Vielleicht hatte sie es nicht so gemeint, aber es war klar: Sie hatte kein Verlangen, sich wieder mit ihm zu treffen. Weder jetzt noch in der näheren Zukunft. Und das war für ihn in Ordnung. Also tat er ihre Worte ab und machte sich auf den Weg, um sich um die Operation seines Patienten zu kümmern.

Maura sah zu, wie sich die Tür hinter Dex schloss, und ihr wurde ganz schwummrig. Wäre da nicht noch immer die Krankenschwester im Raum, hätte sie sich auf den nächsten Stuhl sinken lassen, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. Und das lag nicht nur an ihrem Adrenalinpegel durch den Notfall.

Wieso ließ sie es zu, dass dieser Mann eine solche Wirkung auf sie hatte?

Sie hatte sich angewöhnt, immer einen großen Bogen um ihn zu machen, wenn sie seine hochgewachsene Gestalt in Richtung ihrer Abteilung kommen sah. Ihr war nicht klar, warum er jedes Mal durch die Notaufnahme ging, wenn er zum Dienst kam, aber es war bestimmt nicht ihretwegen.

Nicht, dass sie es gewollt hätte. Nicht mehr. Früher wäre ihr bei seinem Anblick aus einem ganz anderen Grund schwindlig geworden. Aber jetzt war es ein mulmiges Gefühl, das sie frösteln ließ.

Klar, Maura, rede dir das nur weiter ein.

Sie war sehr froh, dass ihr Ex-Mann nicht in diesem Krankenhaus arbeitete. Ihre Scheidung hatte zum Teil damit zu tun, dass sie nicht nach Idaho hatte ziehen wollen, wo ihm eine Spitzenposition angeboten worden war. Als sie ihn bat, die Stelle nicht anzunehmen, lehnte er ab und beendete stattdessen ihre Ehe. Rückblickend war es bezeichnend, dass sie nicht gehen und er nicht bleiben wollte. Es schien, als hätte sie ein Händchen dafür, Männer anzuziehen, die keine Lust hatten, schwierige Zeiten gemeinsam durchzustehen.

Obwohl, um fair zu sein, Dex hatte während ihrer gemeinsamen Zeit einen furchtbaren Verlust erlitten. Doch das war nicht das Problem gewesen. Das Problem war, dass er nicht über die Tragödie hinausblicken konnte, um sich eine Zukunft vorzustellen und in seinem Herzen wieder Platz für Glück zu machen. Um ihre eigene kleine Familie zu gründen.

Gut, dass sie ihm nie von dem Baby hatte erzählen müssen.

Hör auf, ermahnte sie sich. Sie hatte noch mehr Patienten, und nun war nicht die Zeit, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sie nicht ändern konnte – oder wollte.

Die Türen der Notaufnahme schwangen auf, als der nächste Rettungswagen ein weiteres Unfallopfer brachte. Ein etwa zehnjähriges Mädchen mit einem eindeutigen Beinbruch, dem seltsamen Winkel im Unterschenkel nach zu urteilen.

„Bringen wir sie in Untersuchungsraum 6.“ Sie warf einen Blick auf Matt Foster, den Rettungssanitäter. „Kommen die anderen Unfallopfer ins New Billings Memorial?“

Er hatte seine Hand auf dem Arm des Mädchens, wie um es zu beruhigen. Matt konnte wunderbar mit Patienten umgehen und wurde oft gefragt, ob er nicht seinen Beruf wechseln und Krankenpfleger oder Arzt werden wolle. Aber er sagte, er liebe seinen Job. Und offensichtlich liebte sein Job ihn.

Dies war die Art von Mann, zu der sie sich hingezogen fühlen sollte. Freundlich, fürsorglich und im Einklang mit seinen Gefühlen. Aber leider war alles, was sie für Matt empfand, Freundschaft, obwohl es Anzeichen dafür gab, dass er sich gerne mit ihr verabreden würde.

„Ich glaube, es ist noch einer auf dem Weg. Einige wurden ins Our Lady of Mercy umgeleitet, da es etwas näher am Unfallort liegt.“

Also war der andere Thoraxtrauma-Fall wahrscheinlich in das andere Krankenhaus unterwegs. Sie verspürte einen Stich. Es war keine Enttäuschung. Das Letzte, was sie wollte, war, Dex heute Nachmittag noch einmal zu sehen.

Oder?

Auf keinen Fall. Sie musste sich diese Tatsache nur immer wieder ins Gedächtnis rufen, bevor ihr Gehirn anfing, eins und eins zusammenzuzählen und zu falschen Ergebnissen kam.

Sie winkte Matt zum Abschied zu, der ihr zuzwinkerte und lächelte. „Wir sehen uns später, Maura.“

Sie wandte sich ihrer Patientin zu: „Und wie heißt du?“

„Marabel Campbell.“

Sie schniefte, und an der Blässe ihrer Gesichtszüge und dem glasigen Blick erkannte Maura, dass sie unter Schock stand. Das musste der Grund sein, warum das Mädchen nicht vor Schmerz schrie. Wenn sie selbst solch eine Verletzung gehabt hätte, wäre Maura wahrscheinlich die Wände hochgegangen.

„Gut, Marabel, wir kümmern uns um dich, damit es dir besser geht. Einverstanden?“

„Ja.“ Sie blinzelte ein paar Mal. „Meine Mom …“

Maura spürte einen Druck im Magen. Sie hatte gar nicht daran gedacht, Matt nach Familienangehörigen zu fragen. „Jetzt versorgen wir dich erst einmal, dann erkundige ich mich.“

Sie blickte eine der Krankenschwestern an. „Können Sie bitte nach ihren Eltern sehen? Es kam niemand mit ihr rein, also weiß ich nicht, ob …“

„Ich war mit meiner Tante zusammen. Mom ist zu Hause.“

„Weißt du die Handynummer deiner Mutter?“

„Mein Handy ist in meiner Tasche.“

Maura wunderte sich, dass Marabel in dem Alter schon ein eigenes Handy besaß. „Tut dein Bein nicht weh, Marabel?“

„Mein Bein …“ Ihr Blick wanderte an ihren Beinen hinunter. „Nein. Warum sieht es so komisch aus?“

Zerrissene Nerven oder ein Schock konnten eine schmerzhafte Verletzung in den Hintergrund treten lassen. Sie hatte jedoch das Gefühl, dass hier mehr dahintersteckte.

Nun sah das Mädchen sie an. „Ich habe eine Krankheit, die mich Dinge nicht fühlen lässt.“

Das erklärte eine Menge.

„Weißt du, wie die Krankheit heißt?“ Angeborene Schmerzunempfindlichkeit war selten, aber Maura hatte in ihrer Zeit als Notärztin mindestens einen weiteren Fall gesehen. Ein Mann hatte über Übelkeit und Schweißausbrüche geklagt. Es hatte sich herausgestellt, dass er einen Herzinfarkt hatte und dabei keinerlei Schmerzen verspürte.

„Es ist ein langer Name. Aber es bedeutet nur, dass ich nicht spüre, wenn mir etwas wehtut. Selbst wenn ich mir die Hand am Herd verbrenne.“

Sie drehte ihre Hand um und zeigte eine wulstige Narbe, die wahrscheinlich von einer Brandwunde stammte. „Kannst du das Bein wieder gerade machen?“

Es klang so, als ob ihr Bein nicht zu ihr gehörte. Abgetrennt.

Genau wie Dex und seine Gefühle.

Maura war noch besorgter als zuvor. Was, wenn die Verletzung schlimmer war, als sie aussah? „Wir werden alles dafür tun, dass es so gut wie neu wird.“

Sie nahm das Handy des Mädchens und drückte auf das Symbol, auf dem Mom stand.

Als eine Frau antwortete, berichtetet sie ihr ruhig, was passiert war und wo ihre Tochter sich befand.

„Was? Oh, mein Gott, ich hatte keine Ahnung. Geht es Marabel gut? Und meiner Schwester?“

Die Krankenschwester hielt einen Zettel mit dem Namen des Krankenhauses hoch. „Ihre Schwester wurde ins Our Lady of Mercy Hospital gebracht. Ich gebe Ihnen die Nummer.“

„Ich bin schon auf dem Weg zu Ihnen. Ach, und … Marabel hat eine angeborene Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Sie merkt nicht, wenn ihr etwas wehtut.“

„Ja, das hat sie uns bereits gesagt. Es sieht so aus, als wäre ihr rechtes Bein gebrochen. Wir wollen sie zum Röntgen schicken, wenn Sie damit einverstanden sind.“

„Natürlich. Tun Sie, was Sie für erforderlich halten. In etwa fünfzehn Minuten werde ich da sein.“

„Wunderbar.“

„Kann ich mit ihr sprechen?“

„Ja, sie liegt direkt neben mir.“ Sie reichte das Handy an Marabel weiter, die sofort in Tränen ausbrach.

„Mein Bein … Was ist, wenn ich nicht mehr laufen kann, Mom? Und auch nicht mehr schwimmen?“

Maura hörte nicht, was Mrs. Campbell antwortete, aber anscheinend gelang es ihr, das Mädchen zu beruhigen. Marabel kicherte zum Schluss sogar. „Ich hab dich auch lieb, Mom. Bis gleich.“

Maura hatte bereits den Orthopäden des Krankenhauses angerufen und die Schwester gebeten, die Radiologie zu verständigen.

Sie brachte ihre junge Patientin in den Untersuchungsraum und notierte ihre Vitalwerte, die alle gut aussahen. Vielleicht auch deshalb, weil sie die Verletzung an ihrem Bein nicht spüren konnte. Normalerweise stieg der Blutdruck als Reaktion auf Stress oder Schmerzen stark an.

Vielleicht sollte ich mir wünschen, dass mein Herz weniger schmerzempfindlich ist. Vielleicht hätte sie dann in ihrem Leben einige Fehler nicht gemacht.

Zum Beispiel, Dex nicht die Wahrheit zu sagen? Und Gabe ein Jahr später zu heiraten?

Wahrscheinlich schon. Aber Schmerz diente einem sehr praktischen Zweck. Er warnte vor Gefahren, und man lernte, wie man sich vor weiteren Verletzungen schützte.

Auch wenn sie sich wünschte, nicht verletzt zu werden, brauchte sie dieses Frühwarnsystem. Oder sie würde die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Und das war das Letzte, was sie wollte.

Maura konzentrierte sich auf Marabels Behandlung. Doch immer wieder musste sie dabei an ihren eigenen Schmerz denken, von dem sie hoffte, dass er sie beschützte.

Vor was – oder wem? Vor Dex?

Ja, vielleicht. Er war der Einzige, der sie dazu bringen konnte, sich wie eine Idiotin zu benehmen. Dumme Risiken einzugehen. Sie musste auf der Hut sein und dafür sorgen, dass ihr Schutz weiterhin bestand.

Egal, wie viele Schichten sie um ihr Herz wickeln musste, um es gegen zukünftige Verletzungen zu polstern. Denn sie wusste nicht, ob sie die Bruchstücke noch einmal würde zusammensetzen können.

2. KAPITEL

Acht Stunden später verließ Dex das Krankenhaus und ging über den geräumten und gestreuten Parkplatz. Er war todmüde, aber wenigstens schneite es nicht mehr.

Ein Fluch ließ ihn aufblicken, und er sah, wie jemand in dickem rotem Wollmantel und mit tief in die Stirn gezogener Strickmütze gegen den Hinterreifen eines Wagens trat.

Der Reifen war platt.

Völlig platt.

Dex lächelte, auch wenn er einen Anflug von Mitleid empfand. „Kann ich helfen?“

„Ich warte auf den Abschleppwagen. Mein Ersatzreifen ist auch kaputt. Wie stehen da die Chancen?“

Die Frau drehte sich um.

Oh, verdammt. Wie standen die Chancen, in der Tat?

Sie zog die Mütze noch tiefer, als könnte sie ihre Identität dadurch verbergen. Zu spät. Er würde die Stupsnase und die Sommersprossen überall erkennen.

„Maura? Ich hatte schon vermutet, dass du das bist.“

„Ja, obwohl ich mir gerade wünsche, ich wäre jemand anders. Irgendjemand anders.“

Die Worte trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube, was ihn überraschte. Er hatte sich beigebracht, die meisten seiner Reaktionen unter Kontrolle zu halten.

Seine Mutter hatte ihn oft getadelt, wie teilnahmslos er mit dem, was geschehen war, umging. Sie hatte recht. Aber es änderte nichts. Wäre Dex an jenem Abend nicht krank genug gewesen, um zu Hause zu bleiben … Sein Dad hatte angeboten, den Kinobesuch auf einen anderen Abend zu verschieben. Aber sie hatten schon Karten, und Dex drängte sie, ohne ihn zu fahren. Seine Mutter beschloss, bei ihm zu bleiben, während der Rest seiner Familie losfuhr. Und dann war es passiert.

Als wäre ihr klar, wie ihre Worte geklungen haben mochten, unterbrach Maura ihn in seinen Gedanken. „Ich spreche von dem platten Reifen.“

Er entspannte sich leicht. „Wie wäre es, wenn ich ihn abnehme und in eine Werkstatt bringe?“

„Das kann ich nicht von dir verlangen …“

„Hast du auch nicht. Ich habe es angeboten.“ Er konnte auf keinen Fall weggehen und sie hier in der Kälte allein warten lassen.

Klar, Dex, rede dir weiter ein, dass das der Grund ist.

Die Realität war, sosehr er es auch hasste, dass sein Herzschlag in der Sekunde in die Höhe geschossen war, als sie sich umdrehte und er sie erkannte. Und obwohl er jedem Menschen in dieser Situation geholfen hätte, war das hier anders. So war es immer gewesen. Nur weil sein Kopf verstand, dass zwischen ihnen nichts mehr war, bedeutete das nicht, dass sein Körper darauf hörte.

Oder sein Herz.

Maura sah süß aus in ihrem Mantel und der roten Mütze, deren großer, flauschiger Bommel bei jedem scharfen Windstoß, der über den Parkplatz fegte, wackelte. Ihr dunkles Haar wehte unter der Mütze im Wind, und darunter lugten ihre Ohrläppchen mit den filigranen goldenen Kreolen hervor.

„Wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Wie geht es eigentlich unserem Patienten?“

„Mit dem Pneumothorax? Wir haben das Rohr ohne Probleme entfernt. Erstaunlicherweise hat es nichts Lebenswichtiges getroffen.“

„Super, das ist großartig.“

„Ja, ist es. Er hatte extremes Glück. Wo ist dein Wagenheber?“

Sie warf einen Blick auf den Kofferraum und verzog das Gesicht. „Na ja, er ist irgendwo … da drin. Moment, ich hole ihn dir.“

Ihre spürbare Anspannung machte ihn nervös. Sie drückte einen Knopf an ihrem Schlüsselanhänger, es klickte, und die Kofferraumklappe sprang auf. Dex ging um den Wagen herum und schaute in den Kofferraum, in dem sich durchsichtige Kunststoffverpackungen stapelten, die mit etwas gefüllt waren, das wie Decken aussah. Gestrickt wie ihre Mütze.

Jetzt verstand er ihr Zögern. „Was ist das?“

Ihr leichtes Achselzucken wirkte verlegen. „Nur ein paar Sachen, die ich zu einem Frauenhaus bringen wollte.“

Er betastete eines der Pakete, das eine rosa-blaue Decke enthielt.

„Hast du die gemacht?“ Soweit er sich erinnerte, hatte sie nie gestrickt, als sie zusammen waren. Aber woher sollte er es auch wissen? Und das löste in ihm ein unangenehmes Ziehen aus. Wie viel von ihrer gemeinsamen Zeit hatte sich um ihn und seine eigenen Bedürfnisse gedreht?

„Ja, in meiner Freizeit.“

Seit ihrer Scheidung? Er wollte sich nicht vorstellen, wie sie nachts allein auf ihrer Couch saß und Decken für Frauen strickte, die noch einsamer waren als sie selbst. Oder vielleicht war sie gar nicht einsam. Vielleicht ging sie jeden Abend mit einem anderen Mann aus. Oder sie war mit einem fest zusammen …

Irgendwie war dieser Gedanke noch schlimmer, deshalb verdrängte er ihn rasch. „Wir könnten die Sachen auf dem Weg zur Werkstatt vorbeibringen, wir müssen sie sowieso aus dem Kofferraum nehmen, um an den Wagenheber zu kommen. Warte, ich hole mein Auto.“

„Das musst du nicht. Wirklich nicht.“

„Ich habe den Rest des Nachmittags frei, also kein Problem. Es dauert nur eine Minute.“

Ohne ihr eine Chance zu geben, zu widersprechen, ging er ein paar Reihen weiter zu seinem Auto. Er startete es und fuhr zu der Stelle, wo sie geparkt hatte. Dex öffnete die Tür zum Rücksitz, ging zu Maura, holte einen Arm voller Decken aus dem Kofferraum und lud sie in sein Auto.

Maura sah ihm eine Minute lang zu, zögerte, als wäre sie unsicher, was sie tun sollte, und half dann schließlich mit. „Ich bin sicher, das ist das Letzte, was du in deiner freien Zeit tun möchtest.“

Damit lag sie falsch, aber das Klügste war es mit Sicherheit nicht.

„Ich habe nichts vor, also alles in Ordnung.“

Allerdings hatte er normalerweise außerhalb der Arbeit nie viel vor.

Bald war alles umgeladen, und er hob die Abdeckung im Kofferraum an, um ans Ersatzrad zu gelangen. Es war nur eine Metallfelge, ohne aufgezogenen Reifen. Damit ließ sich nichts anfangen. Aber wenigstens waren ihr Wagenheber und der Radmutternschlüssel da, wo sie sein sollten.

In kürzester Zeit hatte er die Radmuttern entfernt und das Rad mit einem Ruck abgezogen. Er lud es in seinen Kofferraum und schlug den Deckel zu. „Fertig?“

Sie nickte. „Danke noch mal.“

Dex öffnete ihr die Beifahrertür und wartete, bis Maura einstieg. „Kein Problem.“

Zumindest hoffte er, dass es das nicht sein würde. Das letzte Mal, als er mit ihr in einem Auto gesessen hatte …

Es war an dem Tag gewesen, als sie sich trennten. Er war sich nicht sicher, was den letzten Streit ausgelöst hatte, aber sie hatte ihm überhaupt keinen Spielraum gelassen. Er hatte schon länger gewusst, dass sie es leid war, auf ihn zu warten. Doch alle Gedanken an Ringe und einen Heiratsantrag waren zusammen mit seiner Familie gestorben. Und als er schließlich zugegeben hatte, nicht zu wissen, wie ihre Zukunft aussah, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, und sie hatte gesagt, dass es vorbei wäre.

Soweit er wusste, war sie gegangen, ohne jemals zurückzublicken.

Am besten dachte er nicht mehr an jenen Tag.

Sie verließen das Krankenhausgelände, und Dex bog auf die Central Avenue in Richtung Stadtzentrum ab. Er hatte die Adresse, die sie ihm genannt hatte, ins Navi eingegeben. Es war nicht weit, keine fünf Meilen.

„Wann hast du damit angefangen?“ Er deutete mit dem Kopf zum Rücksitz.

„Vor ungefähr drei Jahren. Eine Freundin hat mir von dem Frauenhaus erzählt, und es schien etwas zu sein, mit dem ich mich nach …“

Sie verstummte und warf ihm einen Blick zu, ohne mehr zu sagen. Geschieden war sie seit einem Jahr, wenn sie also vor drei Jahren mit den Decken angefangen hatte, musste etwas anderes dahinterstecken.

„Ich nehme an, die im Auto stammen aus der letzten Zeit.“

„Aus den letzten vier Monaten. Unter optimalen Bedingungen schaffe ich zwei pro Woche.“

„Das ist eine Menge Strickerei.“

Sie blickte lächelnd zu ihm hinüber. „Eigentlich Häkeln.“

„Gibt es da einen Unterschied?“ Ungewollt lächelte auch er. Es fühlte sich gut an. Es gab nicht mehr viele Dinge, die ihn zum Lächeln brachten.

„Stricknadeln werden paarweise benutzt und sind gerade. Eine Häkelnadel hat einen Haken.“

„Wie ein Knochenhaken?“

Diesmal lachte sie. „Ich schätze, man könnte es damit vergleichen, obwohl ich noch nie versucht habe, mit so einem Ding zu häkeln.“ Sie warf einen Blick aus dem Fenster. „Es ist nur ein paar Blocks weiter auf der rechten Seite. Das Nadia-Ram-Frauenhaus.“

„Ist Nadia Ram die Gründerin?“

Eine Sekunde zögerte sie. „Nein. Ihre Familie hat das Zentrum ihr zu Ehren gegründet.“

Mehr sagte sie nicht, und eine dunkle Vorahnung beschlich ihn. War Nadia ein Opfer häuslicher Gewalt? Oh, verdammt … War etwa auch Maura …?

Bei dem Gedanken, dass jemand ihr wehgetan hatte, körperlich oder seelisch, schoss sein Blutdruck in die Höhe. Sollte das der Fall sein, würde er den Mann aufspüren und ihm eine kleine Kostprobe seiner eigenen Medizin verabreichen!

„Dein Mann hat dich nicht … Er war nicht …“ Er konnte sich nicht dazu zwingen, den Satz zu beenden.

„Mein Ex-Mann. Und nein, war er nicht …“ Sie zögerte. „Ich hatte vor Jahren eine Fehlgeburt. Es war eine schwere Zeit, und ich bin nie richtig darüber hinweggekommen. Meine Freundin schlug vor, dass ich in dem Frauenhaus aushelfe, wo Babys und Kinder Hilfe brauchten.“

Sie hatte eine Fehlgeburt gehabt. Wann? War ihre Ehe deswegen zerbrochen? Aber ihre gepresste Stimme sagte ihm, dass ein Gespräch über dieses Thema nicht erwünscht war.

Glücklicherweise zeigte ihm das Navi an, dass sie gleich am Ziel waren. Und tatsächlich, auf der rechten Seite kam ein schlichtes Backsteingebäude in Sicht. Es gab keine Beschilderung außer einer abstrakten Darstellung einer Mutter, die ein Baby hielt. Er konnte verstehen, warum sie ihre Einrichtung nicht publik machen wollten, obwohl er ziemlich sicher war, dass die meisten Anwohner genau wussten, wozu das Gebäude diente.

„Hinter dem Haus ist ein Parkplatz und ein Eingang. Dort bringe ich normalerweise meine Sachen hin.“

„Okay.“

Als er in eine schmale Einfahrt einbog, die zur Rückseite des Gebäudes führte, war er überrascht, zwei lange Fensterreihen und einen gemauerten Terrassenbereich mit schlichten Stühlen und Tischen zu sehen. Außerdem gab es eine verglaste Veranda. Eine junge Frau in Jeans saß in einem Schaukelstuhl, über ein Baby gebeugt. Als sie den Kopf hob, konnte er selbst aus dieser Entfernung zwei schmale Nahtpflaster auf ihrer linken Wange erkennen. Ihr linker Arm steckte in einer marineblauen Tuchschlinge. Er musste schlucken.

Was hast du erwartet? Fröhliche Gesichter, Damen, die aus zierlichen Tassen Tee tranken?

Maura winkte, und sobald das Auto zum Stehen kam, schnappte sie sich ein Päckchen vom Rücksitz und sprang aus dem Fahrzeug. Sie ließ Dex im Auto zurück und ging auf die Frau zu, die ihr Baby in ein Kinderbettchen legte und Maura dann die Tür öffnete. Die beiden umarmten sich, und Maura öffnete das Paket und nahm die Decke heraus. Die junge Mutter betrachtete sie, dann umarmte sie Maura nochmals. Maura löste sich von ihr und sah die Frau an, die etwas zu ihr sagte. Sie gingen beide zum Kinderbettchen hinüber, und Maura lächelte den Säugling an.

Dex musste an ihre Fehlgeburt denken.

Davon hatte er nichts gewusst, und normalerweise war die Gerüchteküche des Krankenhauses eine Goldgrube für Informationen. Allerdings interessierte ihn der Tratsch nicht.

Es war viel passiert, seit er und Maura Schluss gemacht hatten. Zumindest, was ihr Leben betraf. Sie hatte geheiratet, ein Baby verloren, sich scheiden lassen und wer weiß, was noch alles. Und sie war jetzt Ärztin in der Notaufnahme. Das hatte ihn nicht überrascht. Als sie noch zusammen waren, hatten sie oft darüber gesprochen, Medizin zu studieren. Was allerdings sein Privatleben betraf, herrschte Stillstand.

Das war wahrscheinlich nicht das beste Wort, um zu beschreiben, wie es ihm ging. Aber selbst wenn, war es das, was er gewollt hatte. Was er immer noch wollte.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, drehte sie sich um, sah ihn an und sagte etwas zu der Frau. Dann öffnete sie die Fliegengittertür und kam zum Auto zurück. Er kurbelte das Fenster herunter.

„Tut mir leid. Sie wartet darauf, dass ihre Eltern kommen, um sie und das Baby nach Hause zu holen. Nach Kalispell. Ich hatte schon Sorge, dass ich es wegen des platten Reifens nicht schaffe, mich von ihr zu verabschieden.“

Kalispell lag im Nordwesten Montanas und war gut vierhundert Meilen von Billings entfernt. Eine weite Reise, falls dieser Umzug nicht von Dauer sein sollte.

„Wie schön, dass du es doch noch geschafft hast.“

„Dank dir.“ Sie warf ihm einen Blick zu, den er nicht deuten konnte, und sagte dann: „Ich gehe kurz rein und hole einen Rollwagen, damit ich die Decken abgeben und wir uns dann auf den Weg machen können.“

„Willst du mit deiner Freundin warten, bis ihre Eltern da sind?“

„Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es ihr gut geht, und dass sie wirklich kommen. Die Beziehung ist in den letzten Jahren wegen ihres Mannes angespannt gewesen. Anscheinend waren die Eltern zu Recht skeptisch.“

Das hieß, der Mann hatte sie tatsächlich misshandelt. „Verdammt. Ich hoffe, er hat bekommen, was er verdient hat.“

„Nein. Sie erstattet keine Anzeige. Sie wollte nur raus aus der Beziehung.“

Der Mann könnte also einer anderen Frau das Gleiche antun. Der Gedanke machte ihn wütend. „Unternehmen die Behörden nichts?“

„Nicht, wenn sie behauptet, sie wäre vom Fahrrad gefallen. Man hat mit ihm gesprochen, aber du weißt wahrscheinlich, wie viel das nützt.“

Er hatte schon einige Knochenbrüche durch häusliche Gewalt erlebt und wusste genau, wovon Maura sprach. Es machte ihn wütend. Doch er verstand auch den Wunsch der jungen Frau, einfach nur wegzukommen und diesem Menschen nie wieder begegnen zu müssen, was im Falle einer Anklage mit ziemlicher Sicherheit der Fall sein würde.

„Ich kenne solche Fälle.“ Dex schaute wieder zu der Frau, die ihr Baby nun im Arm hielt. „Musste das Kind leiden?“

„Nein, zum Glück nicht. Dafür ist diese Einrichtung da. Hier finden die Frauen Zuflucht. Das Wichtigste ist, dass sie ihren Peiniger verlassen haben. Deswegen liegt der Schwerpunkt darauf, sie psychisch und physisch wieder aufzubauen. Um sicherzustellen, dass sie stark genug sind, ihr Leben allein zu meistern.“

Er nickte, als er merkte, dass sie immer noch in der Kälte stand, und stieg aus. „Wir könnten doch gemeinsam die Decken hineintragen. Das heißt, wenn es mir erlaubt ist, hineinzugehen.“

Einige Heime achteten sehr genau darauf, wer das Gelände betrat – aus gutem Grund, denn manche Frauen litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

„Danke. Das ist schon okay. Sie versuchen, die Bewohnerinnen vom Eingangsbereich fernzuhalten, wo jeder von der Straße hereinkommen kann. Im Inneren der Einrichtung gibt es separate Gemeinschaftsbereiche.“

Sehr klug.

Sie trugen die restlichen Decken ins Haus. Die Frau hinter dem Tresen begrüßte sie mit einem Lächeln.

„Hi, Maura. Konntest du Celia noch sehen?“

„Ja, gerade eben. Ich bin froh, dass ihre Eltern bald hier sind.“

„Das sind wir auch.“ Die blonde junge Frau hinter dem Schreibtisch ließ ihren Blick zu Dex wandern.

„Oh, Entschuldigung“, sagte Maura. „Das ist Dr. Chamblisse, ein Arzt aus meinem Krankenhaus. Ich hatte eine Reifenpanne, und er hat mir angeboten, die Decken hierherzubringen.“

So hätte sie jeden anderen Kollegen beschreiben können.

Denn das ist es, was du bist, Dex. Nur ein Kollege.

Und es beunruhigte ihn auf eine Art, über die er lieber nicht länger nachdenken wollte.

„Schön, Sie kennenzulernen, Dr. Chamblisse.“ Sie schüttelte ihm die Hand. „Ich bin Corbin.“

„Nennen Sie mich Dex.“ Er lächelte sie an.

„Danke.“ Corbin warf einen Blick auf die Pakete, die er trug. „Legt sie einfach auf den Tisch.“ Beide legten die Decken ab. „Seit du angefangen hast, sie zu spenden, fragen die Frauen nach deinem Namen, Maura. Warum du nicht willst, dass sie dir Dankeskarten schicken, ist mir rätselhaft.“

„Weil es nicht um mich geht. Es geht um sie. Von Anfang an. Aber ich bin froh, dass sie sich darüber freuen.“

„Das tun sie. Besonders über die Babydecken.“

Er erinnerte sich, dass Maura sagte, es sei wegen ihrer Fehlgeburt. Es kamen ihm so viele Fragen in den Sinn. Wie weit war sie gewesen? War es ein Junge oder ein Mädchen? Warum hatte sie sich entschieden, danach kein weiteres Kind mehr zu bekommen? Sie hatte allerdings so gewirkt, als wollte sie nicht darüber reden, und er wollte diese unausgesprochene Bitte respektieren.

Dex erinnerte sich an Zeiten, als er davon geträumt hatte, mit ihr zusammen Kinder zu haben. Aber das war vorbei. Für immer.

Corbin sammelte einige der Decken ein und stapelte sie auf etwas, das wie ein Hotelwäschewagen aussah.

„Gibt es noch andere Freiwillige, die Ähnliches spenden?“, fragte er.

„Einige nähen Quilts oder Stofftiere und auch Kissenbezüge für Kinder. Unsere Zimmer sind notwendigerweise ziemlich spartanisch eingerichtet, also schaffen sie einen Hauch von Zuhause, der den Frauen ihre Lage erleichtert und Hoffnung bietet. Und es ist etwas, das sie mitnehmen können, wenn sie ein neues – und hoffentlich besseres – Leben beginnen.“

„Ich kann mir vorstellen, dass man solche Dinge zu schätzen weiß.“

Das Bild der Frau, die Mauras Decke an ihre Brust gedrückt hatte, als wäre sie ein Rettungsring, hatte sich in Dex’ Kopf eingebrannt. Es würde lange dauern, bis er es vergessen könnte.

Was tat er eigentlich für andere, abgesehen von seinem Job als Chirurg? Nichts. Zumindest nichts in dieser Art. Vielleicht sollte er anfangen, darüber nachzudenken, wie er etwas zurückgeben könnte. Wie zum Beispiel seine Dienste einer medizinischen Hilfsorganisation anzubieten, woran er schon einmal gedacht hatte.

Aber vielleicht war es an der Zeit, mehr zu tun, als nur mit dieser Idee zu spielen. Vielleicht war es an der Zeit, das zu tun, woran er in der Vergangenheit nicht gedacht hatte: denen zu helfen, die sich selbst nicht helfen konnten.

Während der Fahrt zur Werkstatt schwieg Dex. Bereute er es, ihr geholfen zu haben? Vielleicht war ihm der Abstecher zum Frauenhaus unangenehm gewesen? Es war nicht einfach, eine Frau zu sehen, deren Wange jemand aufgeschlitzt hatte, der sie angeblich liebte. Aber Celia Davis’ innere Verletzungen waren vermutlich noch viel schlimmer als die äußerlich sichtbaren Wunden. Wenigstens war es ihrem Baby erspart geblieben, mitzuerleben, wie ihre Mutter verprügelt wurde.

War es all dies, was Dex beunruhigte?

So schrecklich es auch klang, sie hoffte, dass es das war. Denn wenn nicht …

Er konnte die Wahrheit nicht erraten haben. Sie war sich nicht einmal sicher, warum sie über die Gründe für das Häkeln der Decken gesprochen hatte. Es war ihr einfach herausgerutscht, so wie immer, wenn jemand sie fragte, warum sie im Frauenhaus Hilfe leistete.

Sie hatte die eigentlichen Worte zurückgehalten, als er zum ersten Mal fragte, nur um sie wenig später doch herauszulassen. Aber sie hatte nicht alles erklärt, und wenn sie es verhindern konnte, würde sie es auch nicht tun. Niemals.

Als sie ihr Baby verlor, war sie am Boden zerstört gewesen, obwohl sie eigentlich erleichtert hätte sein müssen. Es war, als wäre damit die letzte Verbindung zu Dex gekappt worden – die letzte Erinnerung an das, was sie einmal gehabt hatten. Sie hatte wochenlang geweint und erzählte nur ihrer Familie und ihren engsten Freundinnen, was geschehen war. Keiner am New Billings wusste von ihrem Verlust.

Dex hatte nicht gefragt, wessen Baby es war. Sie hoffte, dass er annahm, von ihrem Ex.

Und wenn nicht?

Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Und Dex hatte ihr kaum eine Wahl gelassen, als sie zusammen waren. Vielleicht hatte er tief im Inneren gewusst, dass etwas nicht stimmte, und wollte sich dem nicht stellen … oder sich damit auseinandersetzen. Vielleicht war er deshalb so unentschlossen gewesen, ihre Beziehung zu vertiefen. Und sie hatte definitiv nicht gewollt, dass er sich aus anderen Gründen als Liebe an sie band.

Sie selbst hatte damals gerade erst von der Schwangerschaft erfahren, er konnte also unmöglich ahnen, was passiert war. Der Tod seines Vaters und seiner Geschwister hatten ihn verändert. Einen Tag nach dem Unfall hatte Dex mit ihr geschlafen, mit einer Intensität, die sie tief berührte. Aber danach war er immer unausgeglichener und distanzierter geworden, und wer konnte es ihm verdenken? Mit der Zeit wurde es jedoch schlimmer. Sein früheres liebevolles Ich verschwand, und sie erkannte ihn nicht wieder. Dex wurde zu einem Fremden.

Selbst nach all dieser Zeit spürte sie die gleiche distanzierte Haltung in ihm. Nachdem sie es einmal durchlitten hatte, wollte sie nichts mehr mit dem Dex von heute zu tun haben.

Sie würde ihr Geheimnis einfach für sich behalten. Es jetzt zu enthüllen, würde nichts Gutes bringen.

Und wenn sie keine Fehlgeburt gehabt hätte?

Sie hätte ihm doch von dem Baby erzählt. Oder?

Ja. Auf jeden Fall. Selbst nach der Trennung hatte sie Pläne geschmiedet und sie wieder verworfen. Dann verlor sie das Baby, und all ihre Pläne wurden hinfällig.

„Alles in Ordnung?“

Seine Stimme riss sie aus ihren Grübeleien, und Maura sah, dass sie bei der Werkstatt angekommen waren.

„Wenn du mich und den Reifen absetzen willst, kann ich jemanden anrufen, der mich später abholt.“

„Warten macht mir nichts aus. Es sei denn, es gibt einen Grund, warum du es nicht willst.“

Es gab einen. Aber wenn sie diese traurigen Erinnerungen nicht verdrängte, würde Dex anfangen, Fragen zu stellen, die sie lieber nicht beantworten wollte. Und Erinnerungen wachrufen, die sie nicht wollte.

„Nein, ich will dich nur nicht von dem abhalten, was auch immer du vorhast.“

„Wie schon gesagt, habe ich keine besonderen Pläne, also ist das kein Problem.“

Wie traurig war es, dass keiner von ihnen mehr ein wirkliches Privatleben zu haben schien?

Nun, ihres hatte sie sich selbst ausgesucht. Zwei ihrer Beziehungen waren gescheitert, und sie hatte keine Lust, eine dritte zu beginnen. Oder eine alte wiederzubeleben. Ihr war klar, dass die Heirat mit Gabe nur ein Versuch gewesen war, das klaffende Loch zu stopfen, das die Fehlgeburt und die Trennung von Dex hinterlassen hatten. Es war falsch gewesen, sich mit ihm einzulassen, während sie noch versuchte, ihren Kummer zu verarbeiten.

Matt Foster, der Rettungssanitäter, hatte ein paar Andeutungen gemacht, auf die sie bewusst nicht eingegangen war. Sie wollte ihre Freundschaft nicht ruinieren, indem sie mit ihm ausging und schon von vornherein wusste, dass ihr Herz nicht dabei war. Und eine Beziehung zu benutzen, um ein weiteres Loch in ihrem Leben zu stopfen, würde bedeuten, die gleichen Fehler zu wiederholen. Sie musste den Kreislauf durchbrechen, bevor er noch zerstörerischer wurde.

Sie lieferten den Reifen ab. In einer Stunde sollte er repariert sein.

Eine Stunde. Sie hatte gehofft, dass es schnell ging und sie in einer Viertelstunde weiterfahren könnte. Anscheinend sollte es nicht sein.

Nun saß sie also mit Dex in einem Restaurant in der Nähe und versuchte, ihn nicht mit den jungen Augen von damals zu sehen, als sie sich in der Highschool zum ersten Mal begegnet waren. Er war im Baseballteam gewesen, und sie hatte auf der Tribüne gesessen und ihn Spiel für Spiel angehimmelt. Und als er sie zum Abschlussball eingeladen hatte, war sie überglücklich gewesen. Er war sich seiner Sache so sicher. So sicher, was er wollte.

Und sie hatte nicht genug von ihm bekommen können. Es war schwer, jenen Mann von dem zu trennen, der jetzt vor ihr saß. Deshalb war die Ausweichstrategie bei der Arbeit so wichtig geworden, um im selben Krankenhaus wie er arbeiten zu können.

Dexter war immer noch ein echter Hingucker. Tatsächlich war er im Laufe der Jahre nur attraktiver geworden, mit seiner Bräune und den markanten Wangenknochen. Dieselben Züge, die sie schon in der Highschool zum Schwärmen gebracht hatten, waren immer noch da. Genau wie diese blassgrünen Augen, in deren Tiefe sie sich hatte fallen lassen wollen.

Damals waren diese Augen wärmer gewesen – keine kühlen Teiche wie heute. Der Dex, der ihr gegenübersaß, hatte in den Augenwinkeln feine Fältchen, obwohl sie ihn selten hatte lächeln sehen. Außerdem war eine Stirnfalte tief zwischen seinen Brauen eingegraben. Das ließ ihn abweisend aussehen. Nahezu grimmig.

Und es erweckte spontan auch den Wunsch, ihn heilen zu können. Ihn von allem zu heilen, was ihn zu quälen schien. Aber das war ihr schon vor fünfzehn Jahren nicht gelungen. Maura hatte genug Lebenserfahrung, um zu erkennen, dass sie ihm auch jetzt nicht helfen konnte. Dex musste sich selbst heilen.

Wenn er Heilung überhaupt brauchte.

Vielleicht war er zufrieden, so, wie er war, und es war ihre Seele, die die Qualen der Vergangenheit hervorholte. Den Schmerz, den sie nach dem Unfall in ihm gesehen hatte, bei dem seine Familie ums Leben gekommen war. Alle, bis auf ihn und seine Mutter.

Wie sehr er den Schnee danach gehasst hatte. Er hatte es vermieden, bei Schneefall zu unterwegs zu sein.

Hasste er ihn immer noch?

Sie wusste, dass er trotzdem Auto fuhr, denn in Montana war es kaum möglich, Fahrten bei Schnee und Eisglätte zu vermeiden.

Maura zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte. Aber er schaute aus dem Fenster und beachtete sie nicht einmal. Wahrscheinlich bereute er inzwischen, dass er ihr seine Hilfe angeboten hatte.

„Es tut mir wirklich leid, dass das alles so lange dauert.“

Er wandte sich ihr zu. „Kein Problem. Ich wollte sowieso etwas essen, und du bestimmt auch, wenn dein Tag so arbeitsreich war wie meiner.“

„Es war ziemlich hektisch. Neben dem schweren Verkehrsunfall hatten wir noch mehr wetterbedingte Unglücksfälle.“

„Keine Todesopfer?“

„Soweit ich weiß, nicht.“

„Gut.“

Dachte er an seine Familie? Sie war sich ziemlich sicher, dass niemand je über so etwas hinwegkam. Hätte sie ihm mehr Zeit geben sollen?

Zwar hatte die Kellnerin ihre Bestellungen bereits aufgenommen, aber Maura sehnte den Moment herbei, wenn das Essen gebracht wurde. Sie fühlte sich von Minute zu Minute unbehaglicher.

„Das mit deiner Fehlgeburt tut mir leid.“

Seine Worte kamen wie aus dem Nichts, und als er ihr in die Augen sah, konnte sie den Ausdruck nicht deuten.

Tränen schnürten ihr plötzlich die Kehle zu. Sie drängte sie zurück, bevor sie zur Flutwelle wurden und Dämme überspülte, die sie vor vielen Jahren errichtet hatte.

Maura atmete langsam durch und versuchte, ihre Miene neutral zu halten. „Ist lange her.“

„Aber es tut immer noch weh.“

„Ja.“ Sie kannte Zeiten, da mochte sie kaum atmen, so weh tat es. Sie hatte sich das Baby sehnlichst gewünscht, trotz der Trennung, trotz der Tatsache, dass sie das Kind allein hätte aufziehen müssen. Und sie hatte ohne ihn mit dem Verlust des Babys fertigwerden müssen. An dem Morgen, als es passierte, lag sie auf dem Boden ihres Badezimmers und schluchzte, bis sie keine Kraft mehr hatte.

Kurz hintereinander hatte sie erst Dex und dann ihr Baby verloren.

Und obwohl es vor langer Zeit passiert war, stiegen die schmerzlichen Gefühle von damals immer wieder an die Oberfläche. Zusammen mit bohrenden Fragen. Was wäre, wenn … Was wäre, wenn alles anders verlaufen wäre? Wenn Dex in der Lage gewesen wäre, sie zu lieben und für sie da zu sein, als sie ihr Baby verlor?

Geschichte ließ sich nicht neu schreiben. Es ist, wie es ist.

Und wenn sie klug war, würde sie immer daran denken.

Sie hatte Dex schon vor dem Tag, an dem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, für immer verloren. Wahrscheinlich, seit sein Vater und seine Geschwister bei dem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren. Der Trennungsprozess war stetig und unaufhaltsam gewesen.

Es gab kein Zurück, um die Vergangenheit ungeschehen zu machen. Für keinen von ihnen. Jeder Versuch riss nur alte Wunden auf und würde nur noch mehr Schmerz und Kummer bringen. Für sie. Und wahrscheinlich auch für Dex.

3. KAPITEL

Zwei Tage nach seinem Ausflug mit Maura wachte Dex auf und fühlte sich immer noch wie verkatert und nicht ganz auf der Höhe.

Nur hatte er nicht getrunken. Er stützte sich auf dem Badezimmertisch ab und versuchte das Bild dieser Frau – wie hieß sie noch gleich … Celia? – aus seinem Kopf zu vertreiben. Wie musste es sein, wenn man merkte, dass die Person, die man liebte, nicht die war, für die man sie hielt? Oder dass sie sich im Laufe von ein, zwei Jahren so sehr verändert hatte? Kaum vorstellbar, welche Angst, welches Entsetzen Celia gepackt haben mussten.

Eine starke Veränderung, das war der Grund gewesen, warum Maura mit ihm Schluss gemacht hatte. Ihr war klargeworden, dass er in absehbarer Zeit nicht heiraten wollte. Vielleicht sogar nie. Sie hatte recht gehabt. Aber das war nicht immer so gewesen. Vor dem Unfall hatte er sich immer mehr in Richtung Ehe bewegt. Tatsächlich hatte er sich ein Leben ohne Maura nicht mehr vorstellen können.

Irgendwie hatte die Erwähnung ihrer Fehlgeburt ihm alles wieder ins Gedächtnis gerufen. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre es vielleicht sein Kind gewesen, das sie ausgetragen … und verloren hatte. Genau darüber hatte er nachgedacht, als sie im Restaurant saßen. Wie ein Stachel saß der Gedanke unter seiner Haut, schmerzte, verschwand nicht.

Er musste es einfach hinnehmen. Dex fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln. Dann griff er zum Rasierer. Sein Dienst begann in gut einer Stunde. Aber zum ersten Mal seit Langem fühlte er sich schlapp und unausgeglichen. Er hatte es geschafft, Maura fast zwei Jahre lang kaum zu Gesicht zu bekommen, außer wenn er sie zufällig im Krankenhaus sah. Und das war ihm auch lieber so.

Gestern hatte sich das geändert, und zwar auf seine Initiative hin. Nicht gerade ein kluger Schachzug. Weil es ihn Dinge sehen ließ, für die er zum Zeitpunkt ihrer Trennung blind gewesen war. Wie die Tatsache, dass er sie wahrscheinlich schrecklich verletzt hatte, als er versuchte, sich selbst zu schützen.

Damals hatte er sich eingeredet, dass er sie davor bewahrte, mit jemandem zusammen zu sein, der nicht mehr wusste, wie man fühlt. Der nicht mehr fühlen wollte. Denn das Schuldgefühl, überlebt zu haben, hatte an ihm gezehrt, bis nicht mehr viel übrig gewesen war.

Wie konnte er essen, trinken, fröhlich sein? Wie konnte er heiraten und Kinder haben wollen, wenn er wusste, dass er verschont worden war? Nur, weil er einen Schnupfen gehabt und gejammert hatte, er hätte keine Lust, ins Kino zu gehen? Stattdessen hatte er mit Maura telefoniert, um mit ihr zu überlegen, was sie in den nächsten Tagen unternehmen wollten.

Währenddessen waren sein Dad und seine Schwestern auf Kollisionskurs mit dem Tod.

Dex war nicht in der Lage gewesen, sich dem zu stellen oder Maura die Wahrheit zu erzählen. Also hatte er es verdrängt und sie gehen lassen. Auch jetzt noch verdrängte er es, wann immer er konnte.

Wenn das Schicksal hoffte, Maura und ihn wieder zusammenzubringen, sollte es sich auf eine Enttäuschung gefasst machen. Keiner von ihnen wollte diesen Weg noch einmal gehen. Er ließ den Rasierer in den Zahnbürstenhalter fallen und spülte den letzten Rest Rasierschaum ab.

Na bitte. Jetzt fühlte er sich ein wenig menschlicher.

Er trocknete sich das Gesicht ab, schlang sich das Handtuch um den Hals und ging zurück ins Schlafzimmer, wo seine Kleidung auf dem Bett lag.

Das Bett, dessen Laken nur auf einer Seite zerknittert war.

Verflucht! Ob er sein Bett für eine Nacht mit jemandem teilte – oder nicht –, spielte keine Rolle. Wichtiger war, dass er entschied, wann und wo es geschah. Und wie lange das Verhältnis dauerte.

Selten länger als ein, zwei Wochen.

Die Frauen wussten das von vornherein, und die meisten schienen mit dem Arrangement zufrieden zu sein. Zumindest hatte sich noch nie eine beschwert. Und nicht eine hatte nach seinen Absichten gefragt.

Maura war die Einzige gewesen, die sich tatsächlich vor ihn hingestellt und von ihm verlangt hatte, ihr zu sagen, wie er sich die Beziehung weiter vorstellte.

Andererseits war sie auch die Einzige, mit der er je eine richtige Beziehung gehabt hatte. Und er hatte sie zerstört.

Nicht absichtlich, aber am Ende war es das Richtige gewesen. Das Einzige, was er tun konnte.

Trotzdem würde er ihr nicht mehr anbieten, sie zu fahren. Nächstes Mal würde er mit ihr zusammen warten, bis der Abschleppwagen eintraf, und sich dann auf den Weg machen. Keine kleinen Streifzüge mehr in die Vergangenheit. Oder in der Gegenwart. Und definitiv nicht in die Zukunft.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf zog er sich an und warf noch einmal einen missmutigen Blick auf sein Bett, bevor er die Decke glättete und damit den Beweis beseitigte, dass er allein geschlafen hatte.

Geschlafen? Nicht viel. Aber das sollte sich ändern. Er hatte sich dem Problem gestellt und sich damit auseinandergesetzt. Sein Gewissen war rein, wenn es um Maura und ihre Trennung ging, und das würde auch so bleiben.

Noch während er das dachte, warnte ihn eine leise Stimme in seinem Kopf, sich nicht zu sicher zu sein, denn er wusste nicht, was der Tag bringen würde.

Der Tag begann im Chaos.

Als Dex am Krankenhaus ankam, sah er vor der Notaufnahme ein Heer von Fernsehkameras, und auf dem Parkplatz dahinter waren überall Nachrichtenwagen geparkt. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Er fuhr auf einen der Ärzteparkplätze und beschloss, heute einen anderen Eingang zu benutzen, um zu umgehen, was auch immer da los war. Dann entdeckte er einen roten, wippenden Pompon. Er bewegte sich zielstrebig auf die Reporterschar zu. Na wunderbar. Dex kannte diese Mütze.

Und den schnellen, selbstbewussten Gang der Frau, die sie trug.

Warum nur steuerte sie direkt auf das Getümmel zu?

Weil Maura in ihrem Leben noch nie vor etwas zurückgewichen war. Außer vor ihm.

Drinnen gab es wahrscheinlich einen Notfall, für den sie gebraucht wurde. Er musste sicherstellen, dass sie es ohne Probleme hineinschaffte.

Bevor er es sich ausreden konnte, sprang er aus dem Auto, schlug die Tür zu – etwas kräftiger als nötig –, eilte mit langen Schritten zu ihr und hatte sie bald eingeholt.

„Was ist hier los?“

Sie blickte ihn überrascht an. „Hast du die Meldungen nicht gehört?“

„Welche Meldungen?“

„Am Frauenhaus gab es eine Schießerei.“

Dort, wohin sie die Decken gebracht hatten?

„Beim Frauenhaus? Oder im Frauenhaus?“

„In der Nähe. Ich war etwa eine Meile entfernt, als es in den Nachrichten kam. Ich konnte nicht schneller hier sein …“ Ihre Schritte gerieten ins Stocken, und sie räusperte sich. „Wie schlimm es ist, weiß ich nicht, aber eine Bewohnerin wurde angeschossen, als sie das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen.“

„Nur sie?“

„Ja. Sie verdächtigen den Ehemann, aber er floh vom Tatort, bevor jemand begriff, was passiert war.“

Sie erreichten die Reporter, Mikrofone wurden ihnen vor die Nase gehalten, Fragen prasselten auf sie nieder.

Als jemand Maura versehentlich anrempelte, legte Dex einen Arm um sie und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sofort kam ein Sicherheitsbeamter heraus und scheuchte die Medienvertreter energisch von der Tür fort. Mit einer entschuldigenden Grimasse kam er wieder herein.

„Tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten, Maura. Die Polizei ist übrigens auf dem Weg vom Tatort hierher.“

„Danke für Ihre Hilfe. Wo ist sie?“ Maura sah den Mann an.

Der Wachmann fragte nicht nach, wen sie meinte. „Zimmer 4. Sie versuchen, sie zu stabilisieren, bevor sie in den OP gebracht wird. Sie ist von zwei Kugeln getroffen worden.“

Dex spürte, wie Maura zusammenzuckte. Raum 4 war einer der Schockräume.

„Wer ist der Chirurg, wissen Sie das?“

„Dr. Hodges, glaube ich.“

Als er merkte, dass er den Arm immer noch um sie gelegt hatte und sie sich an ihn lehnte, gab er sie frei, bevor jemand auf dumme Gedanken kam – vor allem die Reporter draußen, deren neugierige Blicke nicht zu übersehen waren. Als ob sie den gleichen Gedanken gehabt hätte, trat Maura im selben Moment einen Schritt zur Seite.

„Dr. Hodges ist ein sehr fähiger Unfallchirurg.“

Sie warf einen Blick auf ihr Handy. „Ich weiß. Ich sehe jetzt nach, wie es ihr geht.“

Dex nickte dem Mann zu. „Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Kein Problem.“

Dex wandte sich an Maura. „Ich komme mit, falls man ein weiteres Paar Hände braucht.“

„Danke.“

In diesem Moment eilten zwei Krankenschwestern an ihnen vorbei, eine von ihnen schob einen Wagen mit Notfall-Equipment.

Verdammt. Dex ahnte genau, wohin sie wollten. Zimmer 4.

Als sie es betraten, fanden sie den Boden mit blutigem Mull übersät, im Team herrschte hektische Betriebsamkeit. Dr. Hodges war bereits da und erteilte Anweisungen, während er versuchte, die Patientin zu retten. Er entdeckte Dex. „Komm rein, ich brauche dich.“

Als er zu seinem Kollegen hinüberging, sah Dex sofort, was los war. Blut pulsierte in rhythmischem Schüben aus einer Bauchwunde. „Irgendwo ist eine Arterie verletzt. Ich muss sie abklemmen und die Patientin in den OP bringen, sonst verlieren wir sie. Der Blutdruck fällt.“

Während Hodges versuchte, das Arterienleck zu finden, arbeitete Dex daran, den Blutdruck zu erhöhen, damit ihr Kreislauf nicht völlig zusammenbrach. Maura stand an der Wand, aber er nahm sich nicht die Zeit, hinzublicken. Wäre er nicht hier, wäre bestimmt Maura an seiner Stelle gewesen. Aber so zittrig, wie ihre Stimme für ein paar Momente klang, als sie das Krankenhaus betraten, war es wahrscheinlich besser so.

Was für niemanden einfach war, verschlimmerte die Situation, wenn man das Opfer persönlich kannte.

„Ich hab’s. Klemme, bitte.“ Eine Schwester reichte sie ihm, und der Unfallchirurg verschloss das Gefäß. „Bringen wir sie sofort in den OP. Kannst du dich bereit machen?“ Er warf Dex einen Blick zu.

„Ja, sicher.“

Im Eiltempo schoben sie das Bett der Patientin durch die Türen am Ende der Notaufnahme. „Ich sage dir Bescheid, sobald wir mehr wissen!“, rief er Maura dabei zu.

Wie er ihr die Worte zuwarf, war völlig unpersönlich, aber besser konnte er es im Moment nicht. Konnte ihr nichts versprechen. Etwas, das sich bei ihm wiederholte, wenn es um Maura ging. Keine Versprechen. Keine festen Zusagen. Aber dieses Mal war es eher ein Fall von kann nicht als von will nicht. Denn im Moment war er sich nicht sicher, ob die Patientin es überhaupt in den OP schaffen würde.

Maura informierte eine der Krankenschwestern, wo sie zu finden war, und bat sie, anzurufen, falls sie gebraucht würde. Sie war eine halbe Stunde vor Beginn ihrer Schicht im Krankenhaus angekommen, so wie immer. Das verschaffte ihr die Möglichkeit, sich auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen und die Stimmung in der Notaufnahme einzuschätzen. Wenn es dort hektisch zuging, half sie sofort mit. Aber an einem ruhigen Tag nahm sie sich die Zeit, einen Kaffee zu trinken und ihre Gedanken zu sammeln.

Sie erinnerte sich nicht, die Patientin im Frauenhaus gesehen zu haben, aber sie war jung. Sehr jung. Unfassbar, dass jemand ihr so etwas antat!

Maura hoffte, dass sie den Mistkerl erwischten, der sie niedergeschossen hatte. Mehr noch aber, dass die junge Frau den nächsten Tag erlebte. Obwohl das Frauenhaus versuchte, möglichst unauffällig zu bleiben – da die meisten seiner Klientinnen durch Mundpropaganda von der Zuflucht erfuhren –, war es für einen gewalttätigen Partner nicht schwer, herauszufinden, wo sie untergeschlüpft waren.

Und da war noch etwas. Die meisten der Frauen hatten ein Kind bei sich oder waren schwanger. Die Einrichtung bot sogar eine Kinderbetreuung für berufstätige Frauen an.

Wartete dort nun ein Baby oder Kleinkind auf seine Mutter?

Wenn sie nun nicht wiederkam?

Der Druck in Mauras Brust verstärkte sich. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Aber als sie anrief, sprang sofort der Anrufbeantworter an. Wahrscheinlich hatten sie das gleiche Problem mit der Presse wie das Krankenhaus. Sie hinterließ Namen und Telefonnummer und bot ihre Hilfe an. Bestimmt waren inzwischen die nächsten Angehörigen benachrichtigt worden. Seltsam war, dass sich hier bisher niemand hatte blicken lassen. Vielleicht lebte die Familie der jungen Frau außerhalb der Stadt, wie die von Celia Davis.

Kontrollsüchtige Menschen isolierten ihre Partnerinnen bewusst, um sie finanziell und sozial vollkommen von sich abhängig zu machen. Irgendwann kannten sie niemanden mehr, an den sie sich wenden konnten, und hatten kein Geld, nicht einmal für eine Busfahrkarte. Wenn die Umstände unerträglich wurden, war es dann noch schwieriger, ihren Peiniger zu verlassen.

Maura schlang die Arme um sich und ließ den Blick über die Stuhlreihen im Wartezimmer schweifen. Es war früh am Morgen, sodass die chirurgische Station noch nicht in vollem Betrieb war.

Setz dich einfach. Dex hat gesagt, er hält dich auf dem Laufenden.

Sie ging zu einem der Stühle und ließ sich darauf sinken. Es waren höchstens zwanzig Minuten vergangen. Wenn sie die Patientin verloren hätten, wäre er sicher längst herausgekommen, um es Maura zu sagen. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder?

Sie schluckte. Seinen starken Arm an ihrer Taille zu spüren, war tröstlich gewesen. Sie hatte sich geborgen gefühlt, wie in alten Zeiten. Zeiten, in denen sie gelacht hatten, als sie sich zu einem abgelegenen Bach, ihrem Lieblingsplatz für traute Zweisamkeit, davonschlichen.

Dort redeten sie. Liebten sich.

Fühlten, dass sie zusammengehörten.

Das war lange vorbei. Sie war erschrocken, als sie im Krankenhaus gemerkt hatte, dass sie seine Nähe ein wenig zu sehr genoss. Besonders, als er sich dann von ihr gelöst hatte, weil er sich wahrscheinlich fragte, warum sie sich plötzlich an ihn schmiegte.

Das hatte sie nicht getan. Aber sich an ihn gelehnt. Sie brauchte seine Kraft, so wie damals.

Es war der Schock der Situation gewesen.

Ihr Handy summte, und nervös warf sie einen Blick aufs Display. Es war nicht Dex, sondern das Frauenhaus.

„Maura Findley.“

„Dr. Findley, hier ist Colleen Winters“, meldete sich die Leiterin des Frauenhauses. „Sind Sie im Krankenhaus?“

„Ja.“

Es folgte eine Pause. „Gibt es Neuigkeiten von Sylvia? Ich hätte die Zentrale des Krankenhauses angerufen, aber …“

„Ich verstehe.“ Sie musste vorsichtig sein, wie viele Informationen sie preisgab. „Hat Sylvia Ihre Einrichtung als einen ihrer Notfallkontakte genannt?“

„Ja, ich habe die Information heute Morgen ans Krankenhaus gefaxt. Bei so etwas verlieren wir keine Zeit, damit die missbrauchende Partei nicht versucht, medizinische oder finanzielle Entscheidungen für diese Frauen zu treffen. Das nimmt den Männern ein Stück ihrer Macht.“

„Gut, sehr gut.“ Sie hatte sich gefragt, ob der Mann hierherkommen würde, obwohl die Polizei nach ihm suchte. „Haben sie ihn geschnappt?“

„Ja. Etwa eineinhalb Häuserblocks entfernt.“ Es folgte eine lange Pause. „Leider richtete er die Waffe gegen sich selbst, bevor er festgenommen werden konnte.“

„Er ist tot?“

„Ja.“

Maura bedauerte, dass er sich nicht der Justiz stellen musste. „Sylvia ist im OP. Bis jetzt gibt es keine Neuigkeiten, aber ihr Leben hing am seidenen Faden. Hat sie Familie in der Nähe?“

„Nein. Sie wuchs bei Pflegeeltern auf, bis sie die Highschool abschloss.“

„Ich verstehe.“ Irgendwie machte das die Sache noch schlimmer. Sie hatte sich an niemanden wenden können, nur ans Frauenhaus.

„Die Behörden geben ihr Bestes, aber Sie können sich bestimmt vorstellen, wie schwierig es sein kann, einen Teenager in ein dauerhaftes Zuhause zu vermitteln.“

In diesem Moment kam Dex heran. Er wirkte erschöpft und müde. Und sein Tag hatte gerade erst begonnen, genau wie ihrer.

„Können Sie bitte einen Moment warten? Ich sehe gerade einen der Chirurgen.“ Maura drückte die Stummtaste an ihrem Handy, musterte sein Gesicht, konnte aber nichts darin lesen.

Sie wartete, bis er bei ihr war. „Hat sie es geschafft?“

„Es stand auf Messers Schneide, aber im Moment ist sie stabil. Allerdings werden wir erst in ein paar Tagen wissen, ob der starke Blutverlust ihr Gehirn oder andere Organe geschädigt hat.“

„O nein!“ Sie griff wieder zum Handy. „Hat Sylvia ein Kind bei Ihnen?“

„Ja, einen dreijährigen Jungen.“

Der vielleicht im Pflegeheim landete, wie seine Mutter, wenn sie nicht überlebte.

„Sie hat die Operation überstanden, aber es ist noch nicht sicher, ob sie wieder völlig gesund wird. Wer kümmert sich um ihrem Sohn, während sie im Krankenhaus liegt?“

„Zwei unserer Mitarbeiterinnen sind als Pflegemütter zertifiziert. Bis zu einer endgültigen Entscheidung des Jugendamts könnte er eine Weile bei uns bleiben.“

Dex sah sie forschend an. Wahrscheinlich fragte er sich, mit wem sie sprach. Sie deckte den Hörer ab. „Es ist das Frauenhaus.“

Sie beendete ihr Telefonat mit Colleen, nachdem diese versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass jemand aus dem Frauenhaus Sylvia regelmäßig besuchte.

Bis dahin war Sylvia allein. In mehr als einer Hinsicht.

Ihr tat das Herz weh für die junge Frau, die einen so schweren Start ins Leben gehabt hatte und für die es nicht besser wurde, als sie auf sich allein gestellt war.

Aber wenn sie überlebte, würde dies hoffentlich eine Wende für sie sein.

„Ist sie auf der Intensivstation?“

„Ja. Wir haben sie ins künstliche Koma versetzt, damit ihr Körper in Ruhe heilen kann. Wir mussten ihr während der Operation sechs Blutkonserven geben, bis die Arterie geflickt war.“

„Sie hat einen dreijährigen Sohn.“

Dex runzelte die Stirn. „Verdammt. Hoffentlich ist er nicht in der Obhut desjenigen, der ihr das angetan hat.“

Autor

Sue Mac Kay
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Tina Beckett
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Deanne Anders
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