Julia Ärzte zum Verlieben Band 164

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MIT DEM TRAUMDOC IM INSELPARADIES von BECKY WICKS
Mila ist so gespannt auf ihre Zusammenarbeit mit dem Chirurgen Sebastian Becker! Dass es in seiner Privatklinik auf der Trauminsel Bali zwischen ihnen sofort knistert, ist eine Überraschung. Doch Mila weiß, dass Sebastian etwas ersehnt, das sie ihm niemals geben kann …

AUCH KINDERÄRZTE WERDEN PAPAS von AMY RUTTAN
Dr. Elias Garcia ist ein brillanter Kinderarzt, sieht umwerfend aus und ist Adelines Rivale um einen prestigeträchtigen Job im Krankenhaus. Bis sie sich in der Hitze eines Wortgefechts küssen und lieben – mit Folgen, die bedrohen, wofür Adeline so lange gekämpft hat!

STÜRMISCHES WIEDERSEHEN IN WEISS von MEREDITH WEBBER
Sam ist fassungslos: Dr. Andy Wilkie, der Freund ihres verstorbenen Mannes, ist ihr neuer Boss. Nach einem Streit verbannte Sam ihn aus ihrem Leben. Doch jetzt muss sie mit Andy zusammenarbeiten. Seine Nähe erinnert sie daran, dass jeder Mensch ein zweites Glück verdient hat …


  • Erscheinungstag 06.05.2022
  • Bandnummer 164
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511551
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Becky Wicks, Amy Ruttan, Meredith Webber

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 164

BECKY WICKS

Mit dem Traumdoc im Inselparadies

Sebastian ist nicht nur ein bekannter Chirurg – er hat auch eine revolutionäre Methode für Wundheilung entwickelt. Doch gegen die Narbe, die eine unglückliche Liebe im Herzen hinterlässt, ist selbst er machtlos. Und alles scheint sich verhängnisvoll zu wiederholen, als er sich in die schöne Mila verliebt: die Hoffnung – und der Schmerz des Verlassenwerdens …

AMY RUTTAN

Auch Kinderärzte werden Papas

Sie ist ein Hitzkopf! Dr. Elias Garcia findet, dass seine Kollegin Adeline oft zu heftig reagiert. Unglücklicherweise wollen beide dieselbe Stelle ergattern, was sie im Krankenhaus zu erbitterten Rivalen macht. Privat sieht es allerdings ganz anders aus. Wie gut, dass sie Job und Liebe konsequent trennen – bis das Schicksal es unmöglich macht …

MEREDITH WEBBER

Stürmisches Wiedersehen in Weiß

Nach einer anstrengenden Nachtschicht in der Kinderintensiv-station steht Dr. Andy Wilkie unvermittelt einer schönen Rothaarigen gegenüber: Sam Reilly, der Witwe seines besten Freundes! Wie damals, als er ihr vorwarf, am Tod ihres Mannes schuld zu sein, blitzt sie ihn wütend an. Aber warum hat sie sich auf die Stelle beworben – mit ihm als ihrem neuen Boss?

1. KAPITEL

Mila Ricci hielt sich das heftig flatternde Haar aus dem Gesicht, während die Wellen um das dahinschießende Boot emporschnellten und schäumten. Der exklusive Transfer mit Dr. Beckers Privatjacht von Bali zur Insel Gili Indah wäre sicherlich nicht ganz so ruckelig gewesen, dachte sie, als eine Touristin hinter ihr aufkreischte. Doch Mila hatte die Jacht verpasst. Eine ältere Frau hatte ihr mit einem fröhlichen Zwinkern in den Augen dazu geraten, sich stattdessen auf das Dach des Touristenbootes zu setzen.

Die Hügel in der Ferne, auf denen einige Bäume verstreut waren, wirkten wie Bänder in verschiedenen Grüntönen, im Morgenlicht leicht verhüllt von einem dünnen Nebelschleier. Die Insel sah aus wie ein Gemälde, genau wie Annabel sie damals beschrieben hatte.

Mila raffte ihr rotes Kleid hoch und folgte dem Beispiel der Rucksacktouristen neben sich, ließ die Beine über die Dachkante baumeln und stützte die Arme auf die Reling. Nach britischem Standard entsprach dies wohl nicht den Sicherheitsvorschriften, aber darüber machte sie sich keine Sorgen.

Bei möglicher Gefahr unterwegs zu sein war während ihrer Zeit bei der Army durchaus üblich gewesen, vor allem in Afghanistan. Ein paar ruckelige Wellen waren nichts im Vergleich zu der Zeit, in der sie mitten in der Nacht mit einem Konvoi an einem Ort vorbeifahren musste, wo Aufständische die Leichen von Soldaten verbrannten, die sie an einer Brücke erschossen hatten.

Der direkte Weg zu ihrem Luftwaffenstützpunkt wäre gerade mal dreizehn Kilometer lang gewesen, aber um zu entkommen, hatten sie einen mehr als hundertsechzig Kilometer weiten Umweg fahren müssen. In der ersten Stunde waren zwei der Lastwagen stecken geblieben. Mila konnte auf einem anderen Truck mitfahren, und sie versteckten sich in den Sanddünen. Von dort aus hörten sie die Granatwerfer, mit denen das Fahrzeug, aus dem sie kurz zuvor geflüchtet waren, unter Beschuss genommen wurde.

Mila rieb sich übers Gesicht. Sie war müde und dachte zu viel an die Vergangenheit. Hier war sie weit weg von jedem Kriegsgebiet. Dies sollte ein Neuanfang werden. Auf einer paradiesischen Insel gab es nichts zu befürchten … außer vielleicht einen Tsunami. Bei dem Gedanken verdrehte sie die Augen. Wieso musste sie immer das Schlimmste befürchten?

Das weißt du genau, sagte sie sich. Weil man sich eben nicht immer auf das Schlimmste vorbereiten konnte.

Auf dem Deck spielte ein Indonesier mit einem geretteten Babyaffen. Das hätte Mark gefallen, dachte Mila. Prompt überkamen sie wieder Schuldgefühle, weil sie die Beziehung mit ihm auf eine nicht allzu gute Weise beendet hatte.

Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, vor ihrer Kündigung in dem Londoner Krankenhaus, wo sie nach der Army gearbeitet hatte, alles Nötige zu organisieren. Nachdem sie Schluss gemacht hatte, war ihr kaum Zeit geblieben, an Mark zu denken. Er war ein guter Mann, aber vielleicht ein etwas zu sanfter Typ. Er konnte nicht mit ihr umgehen.

Was hatte er zu ihr gesagt, bevor er ihre Wohnung verließ? „Du brauchst jetzt sowieso keinen Mann, Mila. Du musst erst mal rausfinden, wer du überhaupt bist.“

Wahrscheinlich stimmte das. Nach ihrem Afghanistan-Einsatz war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Dort draußen hatte sie schnell gelernt, wer sie wirklich war. Sie gehörte zu einem Team und durfte nicht versagen. Sie bestand vor allem aus Augen, Ohren und ihrem Instinkt. Jederzeit auf das Schlimmste gefasst.

Noch immer konnte sie in ihrem Kopf das Dröhnen der Hubschrauberrotoren in der klebrig-heißen Nachtluft hören. Und oft dann, wenn es ihr am wenigsten passte, schien ihr der Geruch nach Staub und der scharfe Gestank von dem feuchten Blut entsetzlicher Wunden in die Nase zu steigen. In manchen Nächten hörte sie im Traum auch jetzt noch das qualvolle Stöhnen gebrochener Soldaten.

Es war mehr gewesen, als Mila mit ihren vierundzwanzig Jahren bei ihrem Einsatz damals verkraften konnte, obwohl sie dies niemals vor irgendjemandem zugegeben hätte. Erst nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Annabel acht Jahre später war sie tatsächlich zusammengebrochen.

Sie beobachtete zwei australische Jugendliche, die für das Äffchen Grimassen schnitten, achtete aber nicht weiter darauf. Sie fürchtete sich vor dem Todestag ihrer Schwester. Der Unfall war fast drei Jahre her.

Mila war gerade für ein paar Wochen im Heimaturlaub gewesen, als es passierte. Annabel hatte versucht, sie wegen ihrer Versetzung nach Afghanistan aufzuheitern. Doch trotz all ihrer militärischen Ausbildung und all dem, was sie im Kampfeinsatz erlebt hatte, war Mila wie gelähmt gewesen bei dem Anblick des bis zur Unkenntlichkeit verformten Autos ihrer Mutter. Genauso zerstört wie das Motorrad, mit dem Annabel zusammengestoßen war, ehe sie gegen den Baum prallte.

Diese nutzlos verschwendeten Sekunden hätten für ihre Schwester vielleicht den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Das Schlimmste war eingetreten, und Mila war nicht vorbereitet gewesen. Sie hatte es nicht geschafft, Annabel lebend aus dem Auto zu bergen.

„Das sind sie!“, rief da jemand aufgeregt hinter ihr. Ein Rucksacktourist in einem roten Fußball-Shirt zeigte auf die Inseln, die immer näher kamen. Ihr Ziel war der größte dieser kleinen Buckel im Ozean, die wie Kamelhöcker vor ihnen aufragten.

Mila spürte einen Adrenalinstoß in ihren Adern. Sie zwang sich dazu, weder an Afghanistan noch an den Unfall zu denken. Doch sie wusste, dass Annabel auch dort sein würde. Sie war überall.

Vor ein paar Jahren war ihre Schwester ohne sie hierhergekommen. Sie hatten die Reise zwar zusammen geplant, aber kurz vor dem Abflug hatte Mila sich unglücklicherweise eine Kehlkopfentzündung zugezogen. Sie konnte sich noch gut an den von knisterndem Rauschen unterbrochenen Anruf ihrer Zwillingsschwester erinnern.

„Irgendwann musst du mal herkommen, Mila! Wunderschöne Berge … Das blaue Wasser … Echt krass! Und es gibt jede Menge scharfer Typen hier. Du verpasst was, das sage ich dir!“

War es ein Zufall, dass die Gelegenheit, für die nächsten zwei Monate an dem renommierten Medical Arts Centre – oder MAC – zu arbeiten, gerade erst im letzten Monat in Milas Online-Recherche aufgetaucht war?

Bei Annabels Aufenthalt hier vor sechseinhalb Jahren hatte das MAC noch nicht existiert. Es war bei seinem Gründer, dem Milliardär Dr. Sebastian Becker, höchstens in der Planung gewesen. Dieser hatte seinen Lebensstil als prominenter plastischer Chirurg in Chicago erst vor drei Jahren hinter sich gelassen, um diese exklusive Klinik aufzubauen.

Mila schaute zu, wie das Äffchen eine Banane schälte, den dünnen Schwanz um den Unterarm eines der Australier geringelt.

Wie mochte dieser Dr. Becker wohl sein? Milas Freundin Anna in dem Krankenhaus in London hatte ihr ein bisschen von ihm erzählt. Aber nur das, was sie aus dem Fernsehen über ihn wusste.

Das Becker Institute, Dr. Beckers angesehene Praxis für plastische Chirurgie in Chicago, war der Ausgangspunkt für eine weltweit beliebte Fernsehsendung, die sich um das Leben seiner Patienten und deren verschiedene kosmetische Eingriffe drehte. Dr. Becker war nur eine Staffel lang dabei gewesen, gemeinsam mit seinem Bruder Jared, bevor er die Sendung verließ, um sich auf den Aufbau des MAC zu konzentrieren. Anna hatte gesagt, dass er vor allem deshalb gegangen war, weil der Medienzirkus ihm zu viel geworden war. Irgendwas wegen einer Ex-Freundin, Drohungen, Skandale …

An dem Punkt hatte Mila sie unterbrochen. Sie hasste es, sich Klatsch anzuhören.

Dr. Becker war der Begründer der heute maßgeblichen Methode zur Narbenkorrektur. Dabei wurde die neueste innovative Laserbehandlung mit einem vereinfachten, aber höchst effektiven chirurgischen Eingriff verbunden. Dies war das erste Mal, dass er einem anderen erfahrenen Chirurgen bzw. einer Chirurgin, nämlich Mila, die Gelegenheit gab, für einen kurzen Gastaufenthalt in seine Klinik zu kommen, um seine Techniken zu beobachten.

Für Mila hatte es sich faszinierend angehört – die Chance, in seiner exklusiven Inselklinik etwas Neues zu erlernen. Deshalb hatte sie ohne zu zögern in ihrem Londoner Krankenhaus gekündigt.

Indonesien war mit Sicherheit ein schönerer Ort als ein überlastetes Stadtkrankenhaus oder ein Militärkrankenhaus im Mittleren Osten. All das wollte sie hinter sich lassen. Sie war gekommen, um etwas völlig anderes kennenzulernen. Eine neue Richtung, ein Tempowechsel, auch wenn es nur befristet war.

Mila wusste nicht einmal, wie Dr. Sebastian Becker aussah. Sie hatte noch nie viel fürs Fernsehen übriggehabt, und mit den sozialen Medien gab sie sich gar nicht erst ab. Hoffentlich war er einigermaßen sympathisch, denn schließlich würden sie ziemlich eng zusammenarbeiten.

Sie strich ihr rotes Sonnenkleid glatt und hielt ihr Haar zurück, an dem weiterhin der Wind zerrte. Sie wünschte, sie hätte Annabel fragen können, was sie auf der Insel erwartete. Abgesehen von dem tollen Typen, den ihre Schwester bei ihrem Aufenthalt hier kennengelernt hatte. Bas Soundso?

Sebastian Becker zog die letzte Tauchflasche aus dem Wasser und warf einen Blick auf das Schnellboot, das auf ihn zuhielt. Dann beugte er sich hinunter, um der ersten Teilnehmerin seiner Tauchergruppe wieder aufs Boot zu helfen. Sie alle an Bord zu haben, ehe die nächste Touristengruppe das Wasser aufwühlte, war unerlässlich. Sonst würden seine Tauchschüler innerhalb von Sekunden in alle Richtungen auseinanderdriften.

„Geben Sie mir Ihre Hand.“

Gabby, eine Engländerin Anfang zwanzig, schob ihre Maske vom Gesicht und lächelte vom Wasser aus zu ihm hoch. „Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen.“

Er half ihr die Leiter hinauf, und sie fiel an seine Brust, nass und schwer mit ihrer Tauchflasche und ihrer Taucherweste.

„Tut mir leid“, murmelte sie so nahe an seinem Gesicht, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte.

Doch es tat ihr ganz und gar nicht leid. Diese junge Frau flirtete schon den ganzen Morgen mit ihm.

Unbeeindruckt half Sebastian auch den anderen ins Boot. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass seine Schüler alle saßen und ihre Taucherflossen abgestreift hatten, rief er: „Ketut, wirf den Motor an!“ Dann stieg er über die drei Metallstufen zum Dach hinauf.

Hier öffnete er den Reißverschluss seines Taucheranzugs und ließ das dicke, nasse Neopren bis zur Taille herunterrutschen. Die Sonne brannte auf seiner Haut.

Zufrieden dachte Sebastian an die vergangene Woche. Laser waren eine tolle Sache. Trevor Nolan, ein zweiundvierzigjähriger Hochzeitssänger aus Dakota, hatte zu verhindern versucht, dass ein Feuerwerkskörper im Gesicht seines kleinen Sohnes losging. Stattdessen hatte der arme Mann die Explosion selbst abgekriegt. Nach sechs Monaten mit mehreren Operationen und einem Monat der Spendensammlung durch seine Freunde war er ins MAC gekommen, um hier das zu erhalten, was in medizinischen Fachzeitschriften als revolutionäre Behandlung bezeichnet wurde.

Als Trevor das MAC verlassen hatte, war sein Kinn fast von derselben Farbe gewesen wie der Rest seines Gesichts anstatt tiefrot und von Narben übersät. Und das Beste war, dass er wieder ohne Schmerzen für andere Menschen singen konnte.

„Sebastian, kommen Sie runter zu uns!“, rief Gabby von unten.

Doch er blieb, wo er war. Zu dieser Tageszeit fand er die Sonne perfekt. Nicht zu heiß. Und er liebte es, so viel Sonne wie möglich zu tanken, bevor er wieder seinen OP-Kittel anzog. Die meisten Leute, die die Clubs, Bars und Tauchbasen hier besuchten, wussten vermutlich nicht einmal, dass sich das MAC auf der anderen Seite der Insel befand oder was dort geschah.

Die Patienten fanden immer durch Mundpropaganda zu ihm. Auf Gili Indah war Sebastian nicht berühmt. Er wurde nicht verfolgt und kaum erkannt. Wahrscheinlich war die Insel zu klein und er selbst zu weit weg von allem – von dem Institut in Chicago und all den Kameras.

Aber auf dem Festland von Bali musste er immer noch vorsichtig sein. Er hatte die erfolgreiche Sendung Faces of Chicago hinter sich gelassen. Genau wie Klara, dachte er mit einem düsteren Stirnrunzeln. Jetzt zählte für ihn nur noch sein Team und dass seine Patienten besser aussahen und sich besser fühlten als bei ihrer Ankunft.

Das Schnellboot war mittlerweile nahe herangekommen. Einige Gesichter erkannte Sebastian. Einheimische, Freunde. Außerdem viele Neuankömmlinge, wenn auch nicht für das MAC. Seine Angestellten wurden in seinem eigenen Boot herübergebracht.

Er kämmte sich mit der Hand durchs Haar. Abgesehen von Dr. Ricci. Sie hatte ihren Transfer verpasst, was häufiger geschah. Der Verkehr auf dem Festland war ein Albtraum.

Suchend ließ Sebastian seine Blicke über die anderen Boote in der Bucht schweifen. Er war zu beschäftigt gewesen, um online nach einem Bild seiner neuesten Mitarbeiterin zu suchen und sie dadurch zu erkennen. Doch er wusste, dass sie als Unfallchirurgin im Militäreinsatz in Afghanistan gewesen war. Also hatte sie offenbar die Absicht, sich hier in der neuen Narbenkorrekturtechnik fortzubilden.

Er dachte darüber nach, wie es wohl sein musste, sich monatelang in einem Kriegsgebiet aufzuhalten und Soldaten zu sehen, deren Gliedmaßen in Stücke gerissen wurden. All die Schusswunden, durchtrennten Knochen und explodierenden Bomben …

Einige der Verletzungen, die Sebastian bereits operiert hatte, waren wesentlich schlimmer gewesen als das Kinn von Trevor Nolan. Aber ein Kriegsgebiet, das war eine völlig andere Sache.

Das Boot wurde von einer höheren Welle getroffen, und unten fiel krachend eine Tauchflasche um. Sofort schoss Sebastian die Leiter hinunter. Diese Dr. Ricci musste aus einem besonderen Holz geschnitzt sein. Was suchte sie hier auf einer so abgelegenen Insel?

Rasch richtete er die Flasche wieder auf und bemerkte, wie Gabby eine Show daraus machte, ihre nackten Füße darauf zu legen und dadurch festzuhalten. Ketut warf ihm vom Steuer aus einen vielsagenden Blick zu, woraufhin Sebastian sich so weit von ihr wegsetzte, wie es ging.

Finster schaute er zum Horizont und dachte wieder an Klara. Er hatte nicht gewusst, was geschehen würde, nachdem die Dreharbeiten begonnen hatten. Niemand hätte etwas von den vielen Fotos ahnen können. So viele Kameras, die ständig auf ihn gerichtet waren, in und außerhalb der Praxis. All die Schlagzeilen und Überschriften. Die abstrusen Geschichten, die manche Leute verkauft oder sich einfach über sie ausgedacht hatten, um mehr Klicks zu erzielen.

Kameras in seine chirurgische Praxis hineinzulassen hatte bedeutet, sich dem gesamten verdammten Medienzirkus auszusetzen. Was wiederum jegliche noch verbliebene Freude aus seiner Beziehung mit Klara vertrieben hatte.

Sie hatte immer nur eins gewollt, nämlich mit den Kindern in ihrem Kindergarten zu arbeiten und ein einfaches, glückliches Leben zu führen. Die Verletzung ihrer Privatsphäre und all die Dinge, die über sie beide als Paar verbreitet wurden, hatten sie so tief getroffen, dass sie schließlich ohne ein einziges Wort des Abschieds gegangen war.

Sebastian ließ seine Hand in die Gischt hängen und versuchte, seine Gedanken an Klara loszulassen. Wie jedes Mal, wenn er zum Tauchen ging. Das Tauchen half ihm, alle anderen Gedanken abzuschalten. Nur wenn er wieder an die Oberfläche kam, kehrten die Erinnerungen zurück.

Inzwischen war Klara nicht mehr in Chicago. Sie hatte einen Mann geheiratet, den sie in Nepal getroffen hatte. Sebastian wusste nicht, wo sie lebte, aber er freute sich für sie. Manchmal zumindest.

Jedenfalls gefiel es ihm, hier an diesem schönen Ort zu leben und Menschen wie Trevor Nolan oder Kinder mit großflächigen Verbrennungen zu behandeln. Viel besser, als nach Chicago zurückzugehen, wo er auf Schritt und Tritt von Blitzlichtgewitter und den quietschenden Bremsen der Paparazzi-Autos im Schlepptau verfolgt wurde und eine Brust-OP nach der anderen machen sollte. Auch wenn er wünschte, er könnte seine Familie öfter sehen. Vor allem Jared und Charlie. Bei dem Gedanken an seinen kleinen Neffen lächelte er.

Das Touristenboot verlangsamte seine Fahrt, und die Leute betrachteten begeistert das türkisfarbene Flachwasser. Jeder war von der Farbe des Wassers hier hingerissen. Eine schlanke Frau in einem leuchtend roten Sonnenkleid bemühte sich, ihr braunes Haar mit der Hand zu bändigen, und eine Erinnerung blitzte bei Sebastian auf.

Er schob die Sonnenbrille hoch und kniff die Augen zusammen, um genauer hinzusehen.

Die Ellbogen aufgestützt, lehnte sie auf der Reling. Das Sonnenkleid wehte im Wind um ihre Knöchel. Während Gabby seine Wade mit ihren Zehen kitzelte, packte Sebastian die Kante des Bootes. Diese Frau sah genauso aus wie sie. Es musste etwa sechs oder sieben Jahre her sein. Eine Engländerin, die betrunken auf dem Sand ihre Pirouetten drehte. Damals, als er zum ersten Mal hier gewesen war. Lange bevor er die Idee gehabt hatte, das MAC zu gründen.

Was wollte sie denn wieder hier?

Mila folgte dem Taucher mit ihren Blicken, bis sein Boot außer Sichtweite war. Seine Bauchmuskeln sahen aus wie eine digital retuschierte Anzeige für eine Tauchschule. Solche Männer hatte sie schon in Militärkrankenhäusern gesehen, zum Kampf ausgebildet, aber verletzt und zerschlagen. Nie mit einer solchen Hautfarbe. Der Teint des Tauchers besaß einen warmen Karamellton, als hätte er sich diese Sonnenbräune über einen langen Zeitraum durch ein Leben an der frischen Luft erworben.

Das Boot schaukelte im Uferwasser, als die Passagiere auf den Sand sprangen. Mila hingegen nahm die Leiter. Sie zog ihr Kleid hoch, und ein eifriger indonesischer Junge von acht oder neun Jahren half ihr hinunter in das zwei Zentimeter hohe kristallklare Wasser.

„Terima kasih!“, sagte sie zu ihm. Denn ein paar Grundkenntnisse hatte sie sich bereits angeeignet.

Der warme Sand quoll zwischen ihren Zehen in den Flipflops hervor, und sie atmete tief die aromatische Luft ein. Blüten, vielleicht Jasmin. Oder ein Räucherstäbchen? Der einheimische Markt weiter oben den staubigen Pfad entlang zeigte, dass sie hier nicht gerade auf einer einsamen Insel gelandet war.

Mila blieb stehen. Wann hatte sie zuletzt im Meer gestanden? Wahrscheinlich vor zwanzig Jahren in Cornwall. Damals war sie mit ihrer Mutter und Annabel dort gewesen. Sie hatten Cornish Pasties gegessen und am Strand Quallen angestupst. Ein schöner Tag.

„Kann ich helfen, Miss? Sie brauchen Zimmer?“

Ein etwa Siebzehnjähriger wollte ihr anscheinend das herrliche Gefühl nicht gönnen, nach zwanzig Jahren mal wieder ihre Füße im Ozean zu spüren. Entschlossen watete er herbei und zog ihren Koffer vom Wasser fort.

Als er ein Ringbuch mit Farbfotos von Unterkünften aufschlug, bemerkte sie seine tätowierten Handgelenke. „Oh, nein danke. Ich habe schon ein Hotel.“

„Ich habe besser!“ Er deutete auf das Foto einer sehr einfachen Hütte.

„Morgen ziehe ich ins MAC“, erklärte Mila. Sie watete zum Strand, wo winzige Korallenstückchen in ihre Fersen und Zehen stachen.

Schnell nahm sie ihren Koffer wieder an sich. Wahrscheinlich hatte sie ohnehin schon zu viele Informationen preisgegeben. Es war nie ratsam, Fremden bei der ersten Begegnung Vertrauen zu schenken. Abgesehen von medizinischen Situationen. Außerdem wusste sie, dass Dr. Sebastian Becker sich möglichst im Hintergrund hielt und auch seine Mitarbeiter dazu aufforderte.

Als Schutz der Anonymität unserer Patienten, hatte er in seiner E-Mail geschrieben.

„Taxi?“, fragte Mila vergeblich, als ein Pferd mit einem Karren auf der staubigen Straße an ihr vorbeitrottete.

„Vorsicht!“ Der Teenager ergriff ihren Ellbogen und zerrte sie daran zur Seite, da ein weiterer Pferdekarren in voller Geschwindigkeit vorbeirumpelte und sie fast erwischt hätte.

„Danke, alles in Ordnung.“ Sie hob ihre Sonnenbrille von der Erde auf. Am liebsten hätte sie dem Jungen gesagt, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte, hielt sich jedoch zurück. Er wollte nur freundlich sein, und sie war tatsächlich unvorsichtig gewesen. Immerhin hatte sie seit fast zwei Tagen nicht geschlafen.

Erschöpft und schwitzend zog sie ihre Habseligkeiten über den dicken, staubbedeckten Betonweg voller Schlaglöcher, der als Straße diente.

Straßenhändler vermengten Nudeln und stießen Strohhalme in Kokosnüsse. Mädchen in Bikinis fuhren Fahrrad, während sie Bier tranken. Die salzige Luft klebte Mila bereits an der Stirn. Niemand anders bot ihr seine Hilfe an, aber das war okay. Sie war schon an schlimmeren Orten zurechtgekommen. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass die Insel so voll sein würde.

Weil sie ein Touristenboot genommen hatte, war sie auf der touristischen Seite von Gili Indah angekommen. Das MAC befand sich auf der Westseite. Dieser Teil der Insel war ein exklusives Gelände, nur für Patienten und Mitarbeiter. Sie konnte es gar nicht erwarten, dort in einen Swimmingpool zu springen. Aber dafür musste sie bis morgen warten.

Sie wollte gerade per Handzeichen den nächsten Pferdekarren anhalten, da hörte sie etwas vom Meer her und blieb wie angewurzelt stehen. Ein gellender Schrei. Jemand, der in den Wellen um sich schlug.

Als sie durch die Menschenmenge spähte, erblickte sie hinter dem Schnellboot eine junge Frau. Außerdem war da auch das gelbe Tauchboot, das sie vorhin auf dem Wasser gesehen hatte. Dort musste irgendetwas passiert sein.

„Eine Schlange!“, schrie Gabby außer sich. „Sie hat mich gebissen! Aua, das tut weh! Sebastian, Hilfe!“

„Okay, schon gut. Ich bringe Sie an den Strand.“ Er legte ihr den Arm um die Taille, wobei er sich nach allen Seiten im Flachwasser umschaute. Wo war die Schlange?

Eben war Gabby noch direkt neben ihm vom Boot auf den Strand zugegangen, und im nächsten Moment war sie in ihrem halb offenen Taucheranzug gestürzt.

Hastig griff Sebastian nach ihrer Maske und den Schwimmflossen, bevor sie außer Reichweite getrieben wurden, und warf sie einem Mann aus ihrer Gruppe zu.

„Da ist sie!“, rief Gabby erschrocken.

Sie zeigte auf eine dünne, schwarzgelb gestreifte Seeschlange, die sich an Sebastian vorbeischlängelte, auf dem Weg ins tiefe Meer hinter dem Riff. Er versuchte, schneller zu waten, denn Gabbys Gesicht wurde blass. Sie hatte sich das nicht ausgedacht.

„Wo hat sie Sie gebissen?“, fragte er in möglichst neutralem Ton. Er wollte keine Panik bei ihr auslösen. Ihr Kopf an seiner Schulter wurde immer schwerer.

„An meinem Fuß!“ Sie fing an zu weinen und konnte kaum noch atmen.

„Ketut!“, brüllte Sebastian.

Am Strand schienen Gabbys Beine unter ihr nachzugeben. Er fing sie gerade noch auf, bevor sie fiel, und legte sie behutsam auf den Rücken in den Sand. Leise stöhnend versuchte sie, sich an seinen Arm zu klammern. Ihr Gesicht war kalkweiß.

Eine aufgeregte Menge versammelte sich ringsum. Manche machten sogar Fotos.

„Zurück!“, befahl Sebastian schroff. Wieder stieg die wohlvertraute Verachtung einer derartigen Verletzung der Privatsphäre in ihm auf. „Ketut!“, rief er erneut.

Doch jemand anders kam herbeigelaufen. „Ich bin Ärztin, wie kann ich helfen?“

Die Frau in Rot auf dem Boot. Die englische Touristin. Das war sie, ganz eindeutig. Die Frau von vor ein paar Jahren. Verblüfft sah er zu, wie sie sich hinkniete.

„Schlangenbiss“, stellte sie fest, ehe er etwas erklären konnte. Sie berührte Gabbys Knöchel.

„Aua!“ Gabby umklammerte sein Handgelenk mit eisernem Griff.

Sanft löste er ihre Finger, um seiner neuen Partnerin dabei zu helfen, das Bein mit dem Biss auf einem Stein hochzulagern.

„Wir brauchen einen Druckverband zur Ruhigstellung“, sagte sie.

Als ob er das nicht wüsste.

Dann holte sie verschiedene Dinge aus ihrer Tasche. Die Sonnenbrille hatte sie auf den Kopf geschoben, um das dichte, honigbraune Haar zurückzuhalten. Bestimmt roch es gut, wenn es nass war, direkt nach dem Duschen …

Sebastian zermarterte sich das Hirn, weil ihm ihr Name nicht einfiel. Damals hatten sie nur ein wenig miteinander geflirtet. Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschte, hatte es zwischen ihnen kein bisschen geknistert. Sie hatte gerne getrunken, er nicht. Und sie hatte jeden Abend gefeiert bis zum Umfallen.

Aber ein Gesicht vergaß er nie. Hatte sie ihn etwa vergessen?

„Wissen Sie, was zu tun ist?“, erkundigte sie sich.

„In der Klinik gibt es das Antiserum“, antwortete er.

„Im Medical Arts Centre?“

So aus der Nähe nahm er den Kokosduft ihrer Sonnencreme wahr. „Nein, die andere. Die Blue Ray Medical Clinic in der Hauptstraße.“

Erkannte sie ihn denn gar nicht wieder? Sie musste es sein. Ihre Augen, das Gesicht, das kam ihm alles so bekannt vor. Sebastian konnte sich nur nicht mehr an ihren Namen erinnern.

„Was wollt ihr mit mir machen?“, jammerte Gabby.

„Sie müssen so still bleiben, wie Sie können, damit sich das Gift nicht ausbreitet“, erwiderte er.

Die Britin hob die Augenbrauen und musterte ihn mit ihren blauen Augen in seinem Taucheranzug. „Sie sind Arzt?“

„Das könnte man so sagen.“ Er sah, wie sie eine elastische Binde aus ihrer Tasche nahm. „Die Klinik ist gleich neben dem Villa Sunset Hotel. Damals war sie noch nicht da.“

„Damals?“ Rasch und geschickt umwickelte sie Gabbys Bein von den Zehen an aufwärts bis zum Oberschenkel.

Sebastian sprintete zu dem Restaurant am Hafen. Der Zaun dort bestand aus Treibholz. Genau die richtige Größe für eine Schiene.

Kurz darauf kniete er sich wieder neben die britische Ärztin. „Nehmen Sie das hier.“

„Super, danke.“

Sie arbeitete bemerkenswert schnell. Zwar sah sie genauso aus wie die junge Frau, die er damals kennengelernt hatte, verhielt sich aber völlig anders. In ihrem roten Kleid sammelte sich der Schmutz, doch sie achtete nicht darauf, als sie die weinende Gabby auf einen Pferdekarren luden. Sebastians Augen blieben an der Schulter der Engländerin hängen, da ihr ein Träger herunterrutschte. Sobald sie seinen Blick auffing, zog sie den Träger wieder hoch.

„Bitte kommen Sie mit!“, flehte Gabby.

Stattdessen antwortete die Britin: „Ich begleite Sie. Allerdings müssen wir auf dem Karren so viel Druck wie möglich von Ihrem Bein nehmen. Können Sie mich dabei unterstützen?“

„Ich versuch es“, erwiderte Gabby mit zitternde Stimme.

Sie konnte gut mit der Patientin umgehen. Sebastian half ihr, das Bein richtig zu lagern, während er auf irgendeinen Hinweis wartete, dass sie sich an ihn erinnerte.

„Der Fahrer weiß, wo die Klinik ist“, erklärte er. „Ich komme auf meinem Motorrad nach. Sagen Sie den Leuten, dass ich Sie geschickt habe.“

„Und Ihr Name ist …?“

„Sebastian Becker.“ Er schob den Riegel an dem Karren zu.

Die blauen Augen der Engländerin weiteten sich erstaunt. „Dr. Becker?“

Na endlich. Er wollte ihr sagen, was es doch für ein Zufall war, dass sie sich nach so vielen Jahren erneut begegneten. Doch leider hatte er ja ihren Namen vergessen.

Erst als sie in einer Staubwolke verschwunden war, fiel es ihm schließlich wieder ein.

Annabel.

2. KAPITEL

„Sie braucht ein Gegengift!“, rief Mila, als sie durch den Eingang der Blue Ray Clinic eilte.

In dem kleinen, belebten Empfangsbereich zeigte sie einem Mann ihren Arztausweis. Der bärtige Indonesier, etwa Mitte fünfzig, reagierte sofort. Auf dem Namensschild an seinem weißen Kittel stand „Agung“.

In einem hellen Raum, der vom Flur abging, quietschten Milas Flipflops auf dem gefliesten Fußboden. „Eine Seeschlange“, berichtete sie Agung, der bereits die Bandage begutachtete. „Sie braucht das Antiserum. Dr. Becker wird auch gleich hier sein. Ich bin Dr. Mila Ricci. Ich bin neu am MAC und habe ihn gerade am Hafen getroffen.“

Das Tauchposter-Model im Neoprenanzug war der Chirurg, mit dem sie demnächst zusammenarbeiten würde. Sie war noch immer schockiert.

Sie schloss die Tür hinter sich, wobei ihr die frische Farbe an den cremefarbenen Wänden und die indonesische Schnitzerei auffielen. Draußen vor dem Fenster stand eine Palme.

Gemeinsam halfen sie der noch immer tropfnassen Gabby auf eine Liege. Ihre Atmung wirkte angestrengt. Aber vermutlich eher deshalb, weil sie sich hin und her wand, und nicht, weil sich das Gift zu sehr ausbreitete. Allerdings war sie trotz Milas Hilfe in dem rumpeligen Karren auch nicht besonders still liegen geblieben.

Da ging die Tür auf, und Dr. Becker kam herein. „Agung, wie geht es ihr?“ Rasch zog er sich ebenfalls einen weißen Kittel über und kam mit seinen schwarzen Sportsandalen herüber. In dem Kittel sah er genauso umwerfend aus wie in seinem Taucheranzug.

Als er an Mila vorbeiging, legte er ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Danke für das, was Sie eben getan haben.“

„Nichts zu danken.“ Ihre Worte klangen ruhig, obwohl ihr keineswegs ruhig und gelassen zumute war.

„Ziehen Sie das hier an.“ Von einem Haken an der Wand warf er auch ihr einen weißen Kittel zu. „Schwester Viv ist noch bei einem anderen Patienten. Ich hoffe also, dass Sie noch ein bisschen Zeit haben. Ich brauche Sie, damit Sie den Neoprenanzug aufschneiden.“ Er deutete auf die Schere in der Ablage.

Vorsichtig schnitt Mila den Anzug der Patientin auf und warf die Stoffstücke beiseite. Sie befolgte die Anordnung, obwohl normalerweise sie diejenige war, die Anordnungen gab. Aber das war okay. Sie befand sich hier nicht hundertsechzig Kilometer von der Basis in Ghazni entfernt. Niemand war von Granatsplittern einer Panzerabwehrrakete getroffen worden. Es gab keine verwundeten Soldaten, die um Hilfe schrien, sondern nur diese eine junge Frau … Genau hier, genau jetzt.

Behutsam legte sie die Hand auf Gabbys Bein und besänftigte sie, während Dr. Becker das Gegengift verabreichte und die Medikamente zu wirken begannen.

Da ertönte Agungs Pager. „Entschuldigen Sie mich, Dr. Becker, Dr. Mila.“

Sobald er den Raum verließ, wurde die Atmosphäre wieder angespannter. Erneut musterte Sebastian sie.

„Mila?“, meinte er überrascht und kam zu ihr.

„Sie sieht schon viel besser aus.“ Mila schaute auf. „Ich denke, wir haben den Biss gerade noch rechtzeitig behandelt. Jetzt muss sie sich ausruhen.“

Mit verschränkten Armen blickte er auf sie herunter. Er war mindestens eins neunzig groß, sie dagegen nur eins sechzig. „Wieso Mila? Ich dachte, Sie heißen Annabel?“

Schlagartig hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

„Vorhin am Strand konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Es ist mindestens sechs oder sieben Jahre her, stimmt’s? Noch bevor diese Klinik und das MAC existierten“, sagte Sebastian. „Sie kamen zu spät zu unserer Schnorchel-Party. Sie hatten zu viel getrunken, wissen Sie noch?“

Er lachte über eine Erinnerung, die nicht die ihre war.

Tränen traten Mila in die Augen. Als er ihre Handgelenke umfasste, hätte sie ihn zu Boden ringen können. Aber mit seinen langen, gebräunten Fingern strich er sanft über ihre Narben, und sie blieb reglos stehen.

In dem grellen Lampenlicht drehte er ihre Arme hin und her, um die feinen silbrigen Linien genau zu betrachten. „Diese hatten Sie damals nicht“, meinte er stirnrunzelnd. „Was ist passiert?“

Sie biss sich von innen in die Wangen, da ihr die Tränen übers Gesicht zu laufen drohten. Er kannte Annabel. Dann musste er der Typ sein, von dem ihre Schwester damals erzählt hatte. Bas … Sebastian. Natürlich. Und mit ihm sollte sie jetzt zusammenarbeiten?

„Ich bin … nicht die, für die Sie mich halten“, brachte sie mühsam hervor. Auf einmal schien der Raum viel zu klein zu sein. Sie trat einen Schritt zurück und entzog ihm ihre Arme. „Dr. Becker, ich bin Dr. Mila Ricci. Ich bin hergekommen, um eine Zeit lang im MAC mitzuarbeiten und Ihre Techniken zu erlernen. Wir hätten uns schon früher getroffen, aber ich habe leider meinen Transfer verpasst. Verzeihen Sie das Durcheinander.“

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und lief in dem Raum hin und her, ehe er abrupt innehielt. „Werde ich etwa verrückt? Ich bin Ihnen doch schon einmal begegnet, oder? Haben Sie Ihren Namen geändert?“

„Ich bin nicht Annabel.“ Ihre Kehle war eng. „Sie war meine Zwillingsschwester. Sie ist tot, Dr. Becker. Sie starb vor drei Jahren. Sie haben sie kennengelernt, nicht mich.“

Über die Bar lief eine Katze zu ihnen, deren schwarz glänzendes Fell unter den LED-Lichtern rosa schimmerte. Sebastian streichelte ihr den weichen Rücken. „Die Verwechslung heute Morgen tut mir sehr leid“, sagte er zu seiner neuesten Mitarbeiterin.

Den ganzen Tag war sie ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Er hatte Mila ins Hotel geschickt, damit sie sich ein bisschen ausruhen konnte, und war dann zur Arbeit ins MAC gefahren. Zwischendurch hatte er sogar noch in der Blue Ray Clinic nach Gabby geschaut. Ihr ging es wieder gut, und sie hatte ihn nach seiner Telefonnummer gefragt. Aber Sebastian war nicht interessiert. Er wollte nur die Sache mit Mila wieder ins Reine bringen.

„Sie können nichts dafür. Es ist ein überraschender Zufall, mehr nicht. Annabel hat erzählt, dass sie einen Mann namens Bas kennengelernt hätte. Ich bin nur nicht drauf gekommen, dass Bas eine Abkürzung für Sebastian war.“ Mila saß neben ihm an der Bar und sah zu, wie Sebastian die Katze streichelte.

„Das ist Kucing. Ich habe sie als kleines Kätzchen gefunden. Jemand hatte sie beim Flaschenladen in die Mülltonne geworfen. Nett, oder? Sie war in einem schlimmen Zustand, stimmt’s, meine Kleine?“

Kucing rieb ihre Nase an seinen Fingern, ehe sie sich hinsetzte, um ihren Schwanz zu putzen.

„Es gefällt ihr hier. Mittwochs kriegt sie von den Leuten immer Thunfisch aus der Dose.“

Mila streckte die Hand aus, um die Katze zwischen den Ohren zu kraulen. Die Narben an ihren Handgelenken glänzten im Schein der Kerze in einer Kokosnuss-Schale. „Was bedeutet Kucing?“

„Das heißt Katze auf Indonesisch.“ Sebastian zuckte die Achseln. „Wir mögen es hier einfach.“

Von den Lautsprechern draußen an den Palmen wehte Reggae-Musik herein. Ketuts Frau Wayan schob ihm zwei Gläser und einen Krug mit Eiswasser über den Tresen. Es war keine schicke Bar, eher eine rustikale Hütte, und normalerweise ruhig. Das gefiel Sebastian. Hoffentlich ging es Mila gut. Es war schwer einzuschätzen, wie seiner neuen Mitarbeiterin wegen der Verwechslung tatsächlich zumute war.

„Ich habe Ihre Schwester nur flüchtig kennengelernt“, meinte er.

Sie nickte, den Blick noch immer auf die Katze gerichtet. Es war irgendwie unwirklich. Sie sah genauso aus wie Annabel. Er konnte es noch immer kaum glauben. Und er erinnerte sich nicht daran, dass Annabel jemals ihre Zwillingsschwester erwähnt hätte. Andererseits hatten sie auch nur wenig Zeit miteinander verbracht.

„Wie ist sie gestorben, wenn ich das fragen darf?“

„Sie ist eines Abends zu einer Party gefahren“, sagte Mila langsam, ohne ihn anzusehen. „Mit dem Auto unserer Mutter.“

„Sie ist also bei einem Autounfall ums Leben gekommen? Das tut mir so leid. War sie alleine im Wagen?“

Mila versteifte sich und griff nach ihrem Getränk. „Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich lieber nicht darüber sprechen. Ich bin hier, um zu arbeiten, Dr. Becker. Um mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Wie läuft das übrigens mit der Blue Ray Clinic? Arbeiten Sie dort auch?“

„Ich komme vorbei, wenn ich gebraucht werde. Und ich habe die Klinik zum Teil renoviert. Als ich herkam, war es eher eine Baracke“, erwiderte er. „Und selbstverständlich müssen wir nicht über den Unfall sprechen, wenn Sie nicht wollen.“

„Danke.“

Mila hatte ihr rotes Kleid gegen einen langen, hellblauen Faltenrock und ein weißes Top mit einem weiten Ausschnitt getauscht. Wahrscheinlich sieht sie mit ihrer schlanken Figur in allem gut aus, dachte Sebastian, auch in Uniform. Sie hatte etwas Kultiviertes an sich, konnte aber offenbar auch direkt sein. Sehr britisch, genau wie ihr Akzent.

Er hatte ihre Zwillingsschwester nur ein paarmal getroffen, aber Annabel war ganz anders gewesen. Sie hatte in einem hautengen Kleid getanzt, einen Tequila nach dem anderen gekippt und am Karaoke-Abend das Mikrofon mit Beschlag belegt. Bei dieser Frau konnte er sich so etwas jedoch nicht vorstellen.

Mila streichelte Kucing.

„Sie müssen mich übrigens nicht Dr. Becker nennen“, meinte er nach einem etwas verlegenen Schweigen. „Sebastian reicht völlig.“

„Gut … Sebastian.“ Mit einem kleinen Lächeln steckte sie sich das Haar hinters Ohr. „Sie sind also auch Tauchlehrer? Sie scheinen ziemlich viel zu tun zu haben.“

„Ich schätze, das passiert auf einer Insel einfach so. Irgendwann macht man von allem ein bisschen.“ Er bestellte Smoothies für sie beide, eine Spezialität des Hauses. Für ihn gab es mittlerweile keinen Unterschied mehr zwischen seiner Arbeit in der Blue Ray Clinic und dem MAC. Er lebte einfach sein Leben und tat das, was jeweils nötig war.

Er hatte noch immer die leise Hoffnung, dass Jared eines Tages aus Chicago hierherkommen würde. Allerdings würde das bedeuten, dass der Rest seiner Familie die Fernsehsendung und auch all die damit verbundene Berühmtheit aufgeben müsste.

Sein Bruder war in dieser Hinsicht anders als Sebastian. Jared und seine Frau Laura waren von den Medien längst nicht so sehr belagert worden wie er und Klara. Vermutlich hatte sich die Öffentlichkeit deshalb nicht besonders für sie interessiert, weil sie schon länger verheiratet waren. Sie erschienen nie auf der Titelseite von Zeitschriften oder wurden für irgendwelche Trickfotos vor einem Juwelierladen aufgehalten.

Es war der Tag, als ihn jemand, der sich für einen Obdachlosen ausgab, angesprochen hatte, damit ein anderer Typ ein Foto von ihm schießen konnte, wie Sebastian angeblich im Begriff gewesen sei, einen Verlobungsring zu kaufen. Bis dahin hatte er nicht mal daran gedacht, Klara einen Heiratsantrag zu machen. Entschlossen verdrängte er diese Gedanken und sagte: „Nach allem, was ich über Ihren Werdegang erfahren habe, könnte ich wahrscheinlich sogar einiges von Ihnen lernen, Dr. Ricci.“

„Bitte nennen Sie mich Mila.“ Fragend sah sie ihn mit ihren klaren blauen Augen an. „Was wissen Sie denn über mich?“

„Aus Ihrem Lebenslauf weiß ich, dass Sie Ihr Leben in Afghanistan aufs Spiel gesetzt haben“, antwortete er.

Sie wirkte leicht amüsiert. „Die meiste Zeit war ich in Sicherheit.“

„Und ich weiß, wie gut Sie sich aus einer peinlichen Situation befreien können.“

Noch immer umspielte ein kleines Lächeln ihren Mund. „Dann will ich Sie mal in diesem Glauben lassen, damit die Dinge nicht noch peinlicher werden.“

Eine Sekunde lang hatte Sebastian das Gefühl, als würde sie mit ihm flirten. Tatsächlich?

„Also, warum sind Sie zur Army gegangen?“ Er schenkte ihr ein Glas Eiswasser ein und beobachtete, wie Kucing an Milas Kinn schnupperte, ehe sie auf leisen Pfoten um die Kerze in der Kokosnuss-Schale herumging. „Wollten Sie schon immer in einem Kriegsgebiet arbeiten?“

„Ich bin aus finanziellen Gründen als Reservistin in die Army eingetreten, ganz einfach.“ Sie schwenkte die Eiswürfel in ihrem Glas hin und her.

Sebastian fielen ihre Fingernägel auf – schlicht, gepflegt und unlackiert. Als Ohrringe trug sie kleine Silberstecker.

„Ich dachte, es würde mir helfen, mein Medizinstudium zu bezahlen“, setzte sie hinzu. „Ich war vierundzwanzig, und meine Pläne standen felsenfest. Wie das nun mal so ist, wenn man jung ist.“

„Hätten Sie eine andere Wahl gehabt, als Sie von Ihrem Einsatzort erfuhren?“, fragte er interessiert. Er kannte kaum Frauen, die so lange im Militär gedient hatten.

„Ich habe es nicht infrage gestellt. Ich wusste ja, worauf ich mich eingelassen hatte. Wir wurden vier Monate lang ausgebildet, bevor wir nach Afghanistan gingen. Ich wurde als Teil eines mobilen chirurgischen Teams zu zwei Außenposten geschickt, gleich mitten rein.“

„Nur vier Monate Ausbildung?“

Sie nickte. „Vier lange Monate, um sich zu verabschieden und Handgranaten zu werfen.“

Erstaunt sah er sie an.

„Denken Sie etwa, ich könnte keine Handgranate mehr werfen, falls es wirklich nötig wäre?“, meinte sie in scherzhaftem Ton.

Sebastian trank einen Schluck von Wayans Smoothie.

„Annabel war außer sich, als sie hörte, dass ich so nahe an der Front eingesetzt werden sollte“, fuhr Mila fort. „Wir dachten alle, ich würde in der Basis in Bagram arbeiten und nicht auf irgendeinem kleinen Außenposten. Im Flugzeug traf es mich dann plötzlich wie ein Blitz. Das war das einzige Mal, dass ich dachte, ich könnte da draußen vielleicht sterben.“

„Wie kann man sich überhaupt auf so was vorbereiten?“

Mit dem Bambusstrohhalm nahm sie einen Schluck von ihrem Smoothie und schaute ihn über den Glasrand an. „Wir mussten Türen eintreten, Flucht- und Ausweichtechniken lernen, Häuserkampf-Manöver … Vieles, was wahrscheinlich unnötig war, wenn ich jetzt darüber nachdenke.“

„So wie die Handgranaten-Übungen?“

Mila zuckte die Achseln. „Die waren tatsächlich ganz nützlich. Ich wollte einfach die härteste Soldatin und die beste Unfallchirurgin sein, die es gab. Und ich hatte nie das Gefühl, dass ich nicht beides schaffen könnte. Mir hat die Ausbildung Spaß gemacht. Ich wollte der Inbegriff an Widerstandskraft und Stärke sein, verstehen Sie? Ich wollte diejenige sein, die immer die Ruhe bewahrte, mitten in all dem …“ Sie hielt kurz inne. „All dem Schrecken, den Soldaten mit ihren furchtbaren Verletzungen. So verheerend, Sebastian. So sinnlos.“

„Ich kann mir das gar nicht vorstellen“, sagte er.

Sie hatte die Lippen zusammengepresst, als wollte sie verhindern, dass mehr Emotion in ihren Worten lag als nötig. „Jeder Patient, der zu uns kam, war in einem kritischen Zustand. Manchmal fehlt mir diese Art von Patienten. So etwas wie die Teamarbeit da draußen habe ich an keinem anderen Ort erlebt. Das, was man dort miteinander durchsteht, wird man nirgendwo anders durchstehen.“

Sebastian hörte gespannt zu. Es war, als würde sie ihn auf eine Reise mitnehmen, sodass er beinahe vergaß, wo er war.

„Es ist ein Adrenalinrausch. Aber am Ende des Tages ist man doch nur ein Mensch. Ich habe mich mit Sport abreagiert. All dieses Übermaß an Trauma, bei dem ich das Gefühl hatte, als würde es von den Patienten direkt in mich hineinfließen. Um das alles loszuwerden, bin ich jeden Tag stundenlang auf dem Laufband gerannt und habe trotzdem jeden Abend unter der Dusche geweint.“

Er schwieg. Was konnte er dazu sagen?

„Man hört nie auf, es vor sich zu sehen“, fuhr Mila fort. „Ich will nicht lügen, es war schwer, diese Dinge zu verarbeiten. Aber nicht so schwer, wie über den Tod meiner Schwester hinwegzukommen. Ich hatte gerade Heimaturlaub, als der Unfall geschah. Und danach bin ich so schnell wie möglich aus der Army ausgetreten.“

Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, wodurch ihre Narben wieder sichtbar wurden. Er wagte nicht zu fragen, woher diese stammten. Als er sie vorhin betrachtet hatte, war sie erschrocken vor ihm zurückgewichen.

„Wie gesagt, ich bin hergekommen, um hier zu sein. In der Gegenwart. Ich wüsste nicht, weshalb die Vergangenheit beeinflussen sollte, was ich tue.“ Sie setzte sich gerade auf.

Sebastian fragte sich, ob sie das wirklich glaubte.

„Also, jetzt erzählen Sie mir doch mal etwas von Ihrem Leben, Dr. Becker. Warum sind Sie mit Ihrem Können so weit von Chicago weggegangen?“

Er lehnte sich zurück. Eine so direkte Frage hatte er nicht erwartet. „Sie lesen keine Nachrichten?“

„Was wichtig ist, kriege ich immer irgendwie mit.“

„Interessante Sichtweise“, gab er trocken zurück. Mila war faszinierend. „Aber im Ernst, Sie haben nicht mal dann im Internet über mich recherchiert, nachdem ich Sie eingestellt hatte? Sie wissen nichts über die berüchtigte, rekordverdächtige, hochgeschätzte ... oder sollte ich lieber sagen, überschätzte Fernsehsendung Faces of Chicago? Oder wie der ‚verschmähte Becker-Bruder‘ die Stadt nach nur einer Staffel verlassen hat, ganz allein …?“

Langsam drehte sie das Glas auf der Theke hin und her. „Promi-Klatsch oder soziale Medien interessieren mich nicht.“

„Ich habe keine Social-Media-Accounts mehr“, erklärte Sebastian. Wieso hatte er das Bedürfnis, ihre Achtung zu erringen, bevor er diesen Barhocker verließ?

Mila blickte zu ihm auf. „Ich kenne Ihre Arbeit. Ich weiß, dass Sie hier drei Jahre lang daran gearbeitet haben, Ihr Verfahren zur kosmetischen Narbenkorrektur zu revolutionieren. Zumeist allein. Ich weiß, dass Ihre Fähigkeiten dem Becker Institute in Chicago ein riesiges Vermögen eingebracht haben, und zwar schon, bevor Sie durch die Sendung berühmt wurden. Ist es die Praxis Ihres Vaters?“

„Mein Vater ist gestorben“, erwiderte er.

„Mein Beileid.“

„Danke.“

Nach einer kurzen Pause sagte sie seufzend: „Ehrlich gesagt, eine Freundin hat mir ein paar Dinge über Ihr Privatleben erzählt, die vielleicht wahr sind oder auch nicht. Mir ist es immer lieber, die Leute direkt nach solchen Dingen zu fragen, wenn nötig. Als Ihre Sendung lief, war ich nicht mal in der Nähe eines Fernsehers.“

„Sie hatten bestimmt Besseres zu tun, als meinem Bruder und mir beim Durchführen von Bauchdeckenstraffungen bei irgendwelchen verzogenen Popstars zuzuschauen.“

„Ich weiß nicht“, meinte sie nachdenklich.

Kucing sprang wieder auf die Theke und lief schnurstracks auf Mila zu, wobei sie beinahe deren Smoothie-Glas umstieß. Geschickt fing Mila es auf, ohne etwas zu verschütten. „Es wäre nett gewesen, mal abzuschalten und zu sehen, was in der Welt sonst so los war. In manchen Nächten erschien einem die Stille schlimmer als das Geräusch der Feuergeschütze.“

Wieder wusste Sebastian nicht, was er sagen sollte.

„Sorry“, sagte sie kopfschüttelnd. „Über diese Dinge zu sprechen ist ein bisschen wie die Büchse der Pandora. Denken Sie nicht, dass ich immer so bin. Ich bin bloß müde. Zurück zu Ihnen.“

„Ich freue mich sehr darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Mila. Hoffentlich werden die Insel und das MAC Ihre Erwartungen erfüllen.“

„Ich versuche, keine besonderen Erwartungen zu haben“, antwortete sie. „Also, ich vermute, Sie konnten diese Fernsehsendung wirklich nicht ausstehen?“

Sebastian kippte die Eiswürfel in seinem Glas hin und her. „Es war weniger die Sendung, sondern die Art, wie die Medien sich auf uns gestürzt haben. Die Leute sind übel, verstecken sich im Gebüsch, bereit zuzuschlagen.“ Mit den Händen imitierte er Katzenkrallen.

Sie lächelte. „Solche Leute kenne ich auch.“ Dann fragte sie: „Nehmen Sie denn immer noch die reichen Patienten an, wenn Sie zu Ihnen kommen? Die Prominenten?“

„Ja. Sie mögen den Luxus der Insel. Aber ich habe auch Pläne für eine Anlage drüben auf Bali. Ein Wellness-Zentrum für genesende Traumapatienten, das nicht so teuer ist. Wir müssen anfangen, mehr Menschen zu erreichen.“

„Sie scheinen die Dinge im Griff zu haben“, erwiderte Mila. „Ist Ihr Bruder Jared hier auch beteiligt?“

„Er ist immer noch damit beschäftigt, ein Fernsehstar zu sein“, meinte Sebastian. „Aber jetzt sollten wir mal was essen. Ich habe Hunger.“

Er bestellte Pommes frites, ehe er das Gespräch auf medizinische Themen lenkte und Mila nach ihrer Meinung fragte. Alles war besser, als seine familiären Themen anzusprechen. Im Vergleich zu dem, was diese Frau erlebt hatte, waren das nur Belanglosigkeiten.

Daher erzählte sie weiter, und er hörte zu. Eine Frau wie Mila war ihm noch nie begegnet. Sie würde ihn sicher auf Trab halten.

3. KAPITEL

„Ich bin offen für Vorschläge, Dr. Becker. Was glauben Sie, was könnte das hier … verbessern?“ Die Frau in dem üppigen Ledersessel ihnen gegenüber dehnte mit den Fingern die Haut ihrer Wangen.

Sebastian schob seine Brille weiter hoch. „Bitte drehen Sie sich nach links. Und jetzt nach rechts.“

Von einem Räucherstäbchen auf dem glatt polierten Fensterbrett des gemütlichen, mit Bambus verkleideten Sprechzimmers stieg spiralförmiger Rauch auf. Er schwebte über dem dichten dunklen Haar von Sebastian, der das Gesicht der Patientin studierte. Mila musste sich zusammenreißen, um sein markantes Profil im Sonnenlicht nicht allzu lange anzustarren.

Vor einer Woche hatte sie zum ersten Mal das Medical Arts Centre durch die hohe, bogenförmige und kunstfertig handgeschnitzte Eingangstür betreten und war seitdem von allem hier völlig begeistert.

Diese Einrichtung war eine ganz andere Welt als die Blue Ray Clinic. Die glänzenden Marmorböden, die Topfpalmen und goldfarbenen Vasen vermittelten eine friedliche Ruhe. Einen so erholsamen Ort für Unfallopfer hatte sie noch nie gesehen.

Rachel, die temperamentvolle Radiologie-Assistentin, die gerne rosafarbene Sandalen trug, hatte erzählt, dass noch nicht die gesamte Blue Ray Clinic renoviert worden war, weil Sebastian für alle Kosten selbst aufkam.

„Gerüchten zufolge gibt es wohl Probleme in der Becker-Familie, und es hat alles mit der Fernsehsendung angefangen. Wussten Sie, dass sein Bruder Jared noch nie hier auf der Insel war?“

Mila hatte nichts dazu gesagt, da sie sich an dem Klatsch nicht beteiligen wollte. Aber eine andere Bemerkung von Rachel hatte ihr Interesse geweckt.

„Ich habe gehört, dass Dr. Becker so am Boden zerstört war, nachdem seine Ex-Freundin ihn verlassen hatte, dass er jedes Wochenende irgendwohin geflogen ist, um sie zu suchen.“

Hier auf der Insel wurde offenbar viel geredet, wie Mila feststellte. Sie fragte sich, was davon stimmte und was nicht. Bisher hatten ihr die Gespräche mit ihm gut gefallen. Er war interessant und interessiert – gar nicht der glamouröse Ex-TV-Star, den sie erwartet hatte.

Nachdenklich tippte Sebastian sich mit dem Stift an die schwarzgeränderte Brille. „Haben Sie schon mal an ein Lifting gedacht, bei dem Sie sich nicht wieder unters Messer legen müssen?“

Die Patientin war eine siebenundfünfzigjährige Rechtsanwältin aus Kalifornien namens Tilda Holt. Sie hatte mehr als fünfzig Kilo abgenommen und brauchte Hilfe, um ihre überschüssige Haut zu straffen. Sie mochte ihre „Winkearme“ nicht, und obwohl sie bereits für eine Oberarmstraffung angemeldet war, war sie entzückt von den Korrekturen, die andere Leute in der Klinik machen ließen, und wollte sich darüber informieren.

„Was glauben Sie, Dr. Ricci, kann er mir ein Gesicht geben, das meine junge Seele widerspiegelt? Oder wäre das zu aufwendig?“ Tilda sah Mila an.

„Dr. Beckers Arbeit ist mit das Beste, was ich je kennengelernt habe“, antwortete sie vorsichtig. „Ich denke, Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie den Weg hierhergefunden haben. Wie haben Sie denn von Dr. Becker gehört, wenn ich fragen darf?“

Tildas bewundernder Blick ging zurück zu Sebastian. „Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Da sagte ich zu meinem Mann: Das ist der Richtige für mich. Er kann mir helfen.“ Über den Tisch hinweg ergriff sie seine Hand. „Sie hatten immer eine Art, die Menschen wirklich zu sehen, deshalb haben die Leute Sie geliebt.“

Ein wenig verlegen blickte er zu Mila hinüber. Doch sie lächelte ihn an.

Sebastian führte jedes Beratungsgespräch selbst, entweder persönlich oder per Videoanruf. Außerdem fuhr er auch oft aufs Festland, zu denjenigen, die nicht so weit reisen konnten. Er wollte jeden kennenlernen, der in seine Klinik kam. Ihm war bewusst, dass seine Berühmtheit noch immer viel Geltung besaß. Und er ließ diese Patienten mit ihrem Geld kommen, weil er damit der Insel helfen konnte.

Zusammen mit Tilda blätterte er eine Broschüre durch. „Nach diesem speziellen Eingriff brauchen Sie Ihre Fotos vermutlich nicht mehr zu retuschieren. Wir schießen dabei Ultraschallwellen in die Muskeln, die bei einem Lifting normalerweise gestrafft werden. Da, da und da. Also weder Skalpell noch Nadeln.“

„Kein Skalpell?“

„Nein. Wir bewirken damit, dass sich unter einer glatteren, strahlenderen Haut neues Kollagen bildet. Manchmal sehen die Wangenknochen danach auch etwas betonter aus. Im letzten Monat hat mir eine Patientin gemailt, dass sie seit zwanzig Jahren keine Freude mehr daran hatte, Make-up zu benutzen – bis zu diesem Eingriff.“

Tilda seufzte. „Früher habe ich gerne Make-up benutzt.“

Es amüsierte Mila, wie es Sebastian schaffte, die Eingriffe in etwas zu verwandeln, das beinahe aufregend klang. Er wusste einfach, wie er die Aufmerksamkeit seiner Patienten wecken konnte. Vielleicht hatte er sich diese Fähigkeit in der Fernsehsendung angeeignet.

Sie fragte sich, ob Annabel sich bei ihrer kurzen Begegnung ebenso zu ihm hingezogen gefühlt hatte. In der Bar hatte Mila ihn nicht gefragt, was zwischen ihm und ihrer Schwester passiert war. In dem Moment war es ihr einfach zu viel gewesen, weil es sie zu sehr an den Unfall erinnerte.

Seitdem war keine mehr Zeit für private Gespräche geblieben. Zu viele Besprechungen, Vorgespräche und die Einarbeitung in chirurgische Verfahren. Und dazwischen ruhige Pausen, in denen sie draußen in der Sonne mit den Kollegen grünen Tee trank.

Es war eine wunderschöne Umgebung, die von den Patienten nach deren Behandlungen sehr geschätzt wurde. Alle Hoffnungen, mit denen Mila das Flugzeug am stürmischen Gatwick Airport bestiegen hatte, waren erfüllt worden. Aber dass sie so oft an Dr. Becker dachte, machte sie etwas nervös. Vor allem, da er ihr sich gegenüber rein professionell verhielt.

„Die gesamte Gesichts- und Halsbehandlung dauert etwa eine halbe Stunde, und es kostet Sie deutlich weniger als ein operativer Eingriff.“ Sebastian saß wieder auf seinem Drehstuhl. Heute trug er Jeans und blaue Sneakers unter dem weißen Kittel.

Tilda Holt wandte sich an Mila. „Würden Sie es tun?“

„Nur Sie selbst können das entscheiden, Mrs. Holt“, erwiderte Mila. „Aber ich versichere Ihnen, dass Sie in guten Händen sein werden.“

„Was ist mit Ihren Armen passiert, Dr. Ricci?“ Über die Frangipaniblüten und Kerzen hinweg musterte Tilda ihre Narben.

„Es war ein Unfall“, antwortete Mila. „Jetzt fallen sie mir gar nicht mehr auf.“ Nun ja, das entsprach nicht ganz der Wahrheit.

Mitfühlend meinte Tilda: „Können Sie die nicht in Ordnung bringen? Oder Sie, Dr. Becker?“

Er räusperte sich und schaltete sich rasch ein, bevor Mila etwas sagen konnte. „Ich fürchte, unsere Besprechung ist fast vorbei, Mrs. Holt. Ich möchte bloß noch ergänzen, dass bei der Ultraschall-Behandlung überhaupt keine Erholungspause anfällt, im Gegensatz zu einem chirurgischen Eingriff. Sie werden etwa eine Stunde lang etwas sonnengebräunt aussehen. Aber das fällt hier gar nicht weiter auf. Denken Sie einfach darüber nach.“

Sebastian stand auf und begleitete sie höflich zur Tür. Dabei erwähnte er, dass sie sich ja in ein paar Tagen bei der Spendenaktion für das Meeresschildkröten-Schutzgebiet am Privatstrand des MAC sehen würden.

Doch Mila ärgerte sich, weil er eingegriffen hatte. Sie brauchte keinen Beschützer. Bisher war sie bei allem, was sie tat, immer ausgezeichnet alleine klargekommen.

„Also.“ Nachdem Tilda Holt gegangen war, drehte Sebastian sich zu ihr um. Mit seiner Brille sah er wirklich umwerfend gut aus.

Einen Moment lang glaubte Mila, er würde sie auch nach ihren Narben fragen. Die meisten Leute nahmen an, dass sie sich diese während ihrer Stationierung zugezogen hatte. Stattdessen stammten sie von ihrem Versuch, Annabel durch die zerschmetterte Windschutzscheibe herauszuziehen. Allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. Aber auf keinen Fall wollte sie Sebastians Bild von ihrer schönen Schwester zerstören.

„Sehen wir Sie auch bei der Spendenaktion am Freitag, Mila? Es gibt tolle Live-Musik. Und die Schildkröten könnten Ihre Hilfe sicher gut gebrauchen.“

„Am Freitag?“

„Ja, das haben Sie doch nicht vergessen, oder?“

Doch, sie hatte es komplett vergessen, was sie ihm gegenüber jedoch auf keinen Fall zugeben wollte.

Da summte sein Handy auf dem Schreibtisch. Der Name seines Bruders erschien auf dem Display, und er wischte nach oben. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen?“

„Jared, Ihr Bruder?“, fragte Mila.

„Vermutlich eher mein Neffe Charlie an Jareds Telefon.“ Er berührte sie flüchtig an der Schulter. „Den Anruf muss ich wirklich annehmen. Heute ist sein Geburtstag, und er will mir bestimmt alles über seine Geschenke erzählen.“

Er ging hinaus, während er in einem liebevollen Ton mit seinem Neffen sprach, den er wahrscheinlich nur für ihn reserviert hatte. Und Mila merkte, wie ihre Schwäche für ihren derzeitigen Chef noch ein bisschen größer wurde.

„Wenn er einem diesen Blick zuwirft, in dem Moment merkt man genau, was Millionen von Zuschauern im Fernsehen bei Dr. Becker gespürt haben.“ Rachel seufzte. „Wissen Sie, welchen Blick ich meine? Sie haben ihn auch schon gesehen, oder?“

Als er seinen Namen hörte, blieb Sebastian im Schatten stehen. Er konnte ihre Gesichter erkennen, aber sie ihn nicht. Rachel hatte einen schwärmerischen Ausdruck, doch Mila schwieg.

„Passen Sie auf, Dr. Ricci! Die Becker-Boys können Ihr Gesicht verändern und Ihnen das Herz stehlen.“ Mit ihrem Weinglas deutete sie auf Milas Herz.

Heute war die Spendenaktion, und sie standen am Strand des MAC, im Licht einer Fackel, die im Sand steckte.

„Was habe ich gestohlen?“, fragte Sebastian.

Die beiden Frauen wandten sich um.

„Oje.“ Rachel schlug sich die Hände vors Gesicht und murmelte: „Tut mir leid.“

Mila musste sich ein Lächeln verkneifen.

„Schon gut, ich verspreche, Ihnen nicht Ihr Herz zu stehlen, Rachel“, meinte er scherzhaft. Doch sein Blick ruhte auf Mila und ihren sinnlichen Rundungen in einem blauen Kleid, das am Rücken einen tiefen V-Ausschnitt besaß.

„Ich gehe mal und schaue nach dem Schildkrötenkuchen.“ Rachel, die ihren langen Rock zusammenraffte, eilte schnell davon.

„Sie informieren sich also über den Inseltratsch?“, fragte Sebastian leicht ironisch. „Ich dachte, davon halten Sie nichts.“

„Ich glaube, Rachel redet gerne“, gab sie zurück. „Ich musste wohl oder übel zuhören.“

Er hob eine Muschel auf und ging mit Mila den Strand hinunter. Als er über die Schulter schaute, sah er, wie Rachel sie vom Buffet aus beobachtete.

„Sie hat mir erzählt, dass sie sich vor ihrer Bewerbung beim MAC jede Folge von Faces of Chicago angesehen hat, alles im Namen der Recherche natürlich“, erklärte er.

„Nur wegen der Recherche“, erwiderte Mila belustigt.

Sie lief in die seichten Uferwellen hinein, wobei sie ihr Kleid hochnahm. Die Meeresbrise spielte in ihrem Haar und mit dem seidigen blauen Stoff, während sie mit zum Himmel erhobenem Gesicht lang und tief durchatmete. Als würde sie vom Wasser her Leben einatmen.

Dann sagte sie: „Ich habe vorhin Ihren Vortrag gehört. Sie haben kleine Schildkröten aufgezogen, bis sie groß genug waren, um sie an den Korallen freizulassen, die Sie mittels elektromagnetischer Technologie wieder regenerieren? Ist das richtig?“

Sebastian mochte ihren britischen Akzent. Er klang genau wie Annabels, und dennoch erstaunte es ihn wieder, wie vollkommen anders sie gewesen war als Mila.

„Ja. In den Gebieten, wo wir investiert haben, erhoffen wir uns eine siebzigprozentige Regeneration. Wir stehen noch am Anfang, aber wir werden das Projekt weiter überwachen.“

„Gibt es irgendwas auf der Insel, woran Sie nicht beteiligt sind?“, fragte Mila in scherzhaftem Ton, wobei sie neben ihm durchs Wasser auf eine Holzschaukel zuging.

„Vielleicht ein paar“, gab er zu. „Es gibt immer was zu tun.“

Er hielt die Schaukel so, dass sie sich auf den Sitz aus poliertem Treibholz setzen konnte. Dadurch konnte er wiederum die anmutige Form ihrer Schultern und den rückenfreien Schnitt ihres Kleides bewundern, als er sie von hinten anschob. Er hatte die Schaukel selbst hier aufgestellt, mit ein bisschen Hilfe von Ketut. Bevor das MAC aufgebaut war, hatte er fast jeden Abend von Sonnenuntergang bis zur Dämmerung hier gesessen und sich all die Gründe aufgezählt, weshalb er nicht das nächste Flugzeug nehmen und nach Klara suchen sollte.

„An einem solchen Ort ist fast alles Teamarbeit.“ Sebastian stieß die Schaukel an und beobachtete, wie Milas Zehen dabei die leichten Wellen berührten. „Das fängt mit dem Meeresschutz an, weil es die Wirtschaft auf dieser Insel in Gang hält.“

Die Uferwellen umspielten seine Waden. Der Wind wehte ihm ein paar Strähnen von Milas Haar ins Gesicht, während er die Schaukelseile festhielt.

„Waren Sie schon jemals tauchen, Dr. Ricci?“, fragte er über ihre Schulter. Ihr Haar roch gut.

„Nein, nicht im Meer“, sagte sie ein wenig atemlos. „Beschreiben Sie es mir. Das Gefühl, nicht die Technik.“

Er überlegte. „Es ist wie eine Reinigung des Gehirns. Wenn man da unten ist, kann man den Verstand völlig abschalten. Man hat kein inneres Geratter mehr, jedenfalls nichts Dringendes. Es gibt nur dich und das Geräusch deines eigenen Atems.“

„Klingt traumhaft. Wie die beste Art von Meditation.“

„Das ist es auch. Machen Sie die Augen zu.“

Ein Träger ihres Kleides glitt über die Schulter hinunter, doch sie ließ es so und befolgte Sebastians Anweisung.

„Sie treiben mit der Strömung“, fuhr er fort. „Als würden Sie mit der Erde selbst atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie brauchen Ihre Hände kaum, bloß die Augen. Und es geht vor allem darum, die Atmung zu kontrollieren.“

„Sie machen mir das wirklich schmackhaft“, meinte Mila nach einer Pause. Mit geschlossenen Augen hatte sie den Kopf leicht nach hinten gelegt, fast bis zu Sebastian, ohne ihn jedoch zu berühren. „Vielleicht probiere ich es mal aus.“

„Ich nehme Sie mit.“ Er war überrascht, wie gerne er Mila Ricci all die Dinge zeigen wollte, die er im und am Ozean am meisten liebte. „Ich kann gar nicht glauben, dass Sie bei all Ihrem militärischen Training nie beim Tauchen waren.“

„Ich habe einige Tauchgänge in einem See gemacht, aber ich war immer zu sehr damit beschäftigt, oben an Land Handgranaten zu werfen, um auch im Meer tauchen zu gehen.“

Mit einem Lächeln drehte sie die Schaukel zu ihm herum, wodurch sich die Seile über ihr verdrehten. Einen Augenblick lang waren ihre bloßen Beine zwischen seinen. Vielleicht hatte er sie dort hingezogen … Vielleicht …

„Hallo? Dr. Becker! Hallo!“

Ein Mann mit blauem Haar winkte ihnen von der Uferlinie mit einer Kokosnuss zu.

Sebastian ließ die Schaukelseile los, und Mila war beinahe froh über die Störung. Denn er hatte sie vollkommen in seinen Bann geschlagen. Eigentlich sollte sie die Anziehung, die sie ihm gegenüber empfand, verdrängen. Schließlich mussten sie miteinander arbeiten. Ganz zu schweigen von seiner früheren … was immer es gewesen sein mochte … mit Annabel. Aber es war wirklich schwer, sich von ihm fernzuhalten, da er diese unwiderstehliche Magie besaß, von der Rachel so geschwärmt hatte.

Der Mann mit dem blauen Haar, der Sebastian geradezu ehrfürchtig begrüßte, schien sie nicht einmal zu bemerken. Mila erkannte ihn von der Patientenkartei: Hugo O’Shea. Offenbar war er gerade zu seiner Behandlung eingetroffen. Eine routinemäßige Penisvergrößerung.

Laut Rachel war der Mann ein bekannter Internet-Klatschblogger. Seine Boardshorts zeigten ein Patchworkmuster aus bunten Bananen. „Ein herrlicher Abend! Ich bin sicher, die Schildkröten sind für Ihre Arbeit genauso dankbar wie ich, Dr. Becker.“ Fragend schaute er zu Mila.

„Verzeihen Sie, Hugo. Dies ist Dr. Mila Ricci“, stellte Sebastian sie vor. „Sie wird bei Ihrem Eingriff dabei sein.“

Hugo wandte sich ihr zu und streckte ihr schwungvoll die Hand entgegen. „Gegen die Berührung einer Frau habe ich nichts einzuwenden“, meinte er, als sie ihn begrüßte. „Aber ich denke, wir beide ziehen die von Dr. Becker vor, habe ich recht?“ Mit einem vielsagenden Zwinkern lehnte er sich zu ihr herüber.

Mila lächelte nur höflich.

„Darf ich ein Foto von Ihnen beiden machen? Nur eins? Der Mond hinter Ihnen ist einfach perfekt.“

„Nein, nicht heute Abend“, erwiderte Sebastian kurz angebunden und wandte sich ab. „Viel Spaß noch, Hugo.“

Mila überlegte, ob sie Sebastian alleine gehen lassen sollte, aber etwas beschäftigte sie noch. Daher folgte sie ihm, fort von der Menschenmenge bis hinauf zu den Felsen am Aussichtspunkt.

Diese Seite der Insel war ruhiger. Die Wellen schlugen mit geräuschvollem Rauschen an die Felsen, und vor ihnen lag das nachtdunkle Meer, ausgebreitet wie eine Decke vor den Bergen in der Ferne.

„Sie lassen sich wirklich nicht gerne fotografieren, oder?“ Mila setzte sich neben Sebastian auf die sandigen Steine. Hier oben waren sie sicher vor den neugierigen Blicken am Strand.

„O’Shea hat eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben“, erklärte er. „Er weiß, dass im MAC keine Kameras zugelassen sind.“

Sie schlang die Arme um ihre Knie. „Hat es etwas damit zu tun, was in Chicago passiert ist?“, fragte sie behutsam. „Sie sagten ja, dass Sie von Paparazzi verfolgt wurden, aber ich weiß nicht, in welchem Ausmaß.“

„Sie sind Klara und mir überallhin gefolgt, gnadenlos.“ Sebastians Kiefer war angespannt, seine Schultern steif, so als wäre selbst die Erinnerung schwer zu ertragen. „Einmal haben sie sie erwischt, als sie vor einer Valentinstags-Gala am Lakeshore Drive aus dem Auto ausstieg. Es war windig, und Klaras Kleid wurde leider auf höchst verfängliche Weise hochgeweht. Die Fotografen hielten alle darauf, zoomten ihre Kameras heran, um all die Dinge zu enthüllen, die man lieber nicht preisgeben möchte. Sie haben das alles noch nie gehört?“

Mila schüttelte den Kopf. Wie beschämend. Die arme Frau.

„Es war das Schlimmste für eine Erzieherin“, fuhr er fort. „Wir waren sehr unterschiedlich. Es gefiel mir, dass sie nicht Teil meiner Welt war. Wir sind uns durch meinen Neffen Charlie begegnet. Als ich ihn eines Tages vom Kindergarten abholte, stapelte Klara gerade all diese kleinen Plastikstühlchen aufeinander.“

Sebastian machte eine Pause. „Einige der Eltern taten sich zusammen und machten ein Riesendrama aus dem Foto. Sie behaupteten, sie sei für den Umgang mit ihren Kindern ungeeignet. Aber sie hat diese Kinder geliebt. Sie waren ihr Ein und Alles. Klara war am Boden zerstört. Und dann ‚berichtete‘ eine Zeitung, dass sie mit einem anderen Mann zusammen wäre. Es handelte sich nur um einen Kollegen, den Leiter des Kindergartens, aber es wurden Fotos davon veröffentlicht, wie sie sich außerhalb des Kindergartens unterhielten. Seine Frau wurde misstrauisch, und Klara wurde in die Sache reingezogen.“

„Wie schrecklich!“, meinte Mila.

Er nickte, den Blick auf ein Nachttauchboot gerichtet, das in die Dunkelheit hineintuckerte. „Der Leiter bot ihr an, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen, um von all dem Abstand zu gewinnen. Und ich bin aus der Sendung ausgestiegen. Ich dachte, ich könnte vielleicht mit ihr zusammen fortgehen. Aber sie wollte alleine weg. Sie hat eine Freiwilligenstelle in einer Schule in Thailand angenommen, alle Social-Media-Accounts gelöscht und ihre Telefonnummer geändert. Sie wollte mich vor ihrer Abreise nicht mal sehen.“

Als er sich auf die Ellbogen gestützt zurücklehnte und in den Himmel hinaufsah, musste Mila ihren Blick von seinem muskulösen Bizeps abwenden.

„Überhaupt nicht?“

„Nein, nicht mal, um sich zu verabschieden. Ich schätze, sie fürchtete, ich würde mit einem Haufen Fotografen auf den Fersen aufkreuzen. Und ich kann’s ihr nicht mal verübeln.“

„Aber es gab keinen richtigen Abschluss?“, fragte sie. Der Ausdruck in Sebastians Gesicht zeigte ihr, dass er diese Frau wirklich geliebt hatte. Plötzlich spürte sie einen Anflug von Neid. Sie hatte noch nie jemanden so sehr geliebt, und vielleicht würde sie es auch niemals tun.

„Ich denke, ich habe hier meinen Abschluss gefunden“, antwortete Sebastian. „Ich bin mit einem Stammteam hergekommen, und während das MAC gebaut wurde, haben wir nach und nach die Blue Ray Clinic renoviert. Ich habe mich als Tauchlehrer angemeldet und mit Neesha und ihrem Mann die Schildkröten-Stiftung ins Leben gerufen. Sie werden sie nachher treffen. Ich habe einfach viel Zeit damit verbracht, die Einheimischen kennenzulernen. Das ist an einem solchen Ort wichtig. Wir mussten uns hier langsam einbringen, Vertrauen aufbauen. Dann haben wir das MAC eröffnet, und seitdem herrscht hier mehr oder weniger Dauerbetrieb.“

„Und was ist mit der Sendung? Was geschah, nachdem Sie ausgestiegen sind?“

Sebastian beobachtete die weit entfernten Fischerboote. „Ich rechnete halb damit, dass Jared auch aussteigen und mir hierherfolgen würde. Er hat mitgekriegt, was ich mit Klara erlebt habe, und er wusste, dass so etwas auch ihm und seiner Frau Laura passieren könnte.“

„Warum haben sie es nicht getan?“

Achselzuckend meinte er: „Sie waren glücklich verheiratet und Influencer für das perfekte Familienleben. Laura hat einen Koch-Blog und macht einen Podcast für Mütter. Wahrscheinlich ist das für die Klatschpresse nicht besonders aufregend. Man weiß nie, wer ihr nächstes Zielobjekt ist oder welche Lügen sie verbreiten werden. Ich glaube, sie haben mich und Klara ausgesucht, weil wir jünger waren, häufiger ausgegangen sind und ihnen damit mehr Chancen boten, ihre schlagzeilenträchtigen Geschichten mit Fotos zu untermauern. Sie haben unfassbar viele Fotos gemacht!“

Ungläubig schüttelte Mila den Kopf. Das war alles neu für sie.

„Der Sender wollte eine weitere Staffel produzieren“, erzählte Sebastian weiter. „Sie haben einen Ersatz für mich gefunden und Jared noch mehr Geld geboten. Im Grunde haben sie es ihm unmöglich gemacht, ebenfalls zu gehen. Die Sendung hatte auch ohne mich großen Erfolg, und die Medien in Chicago fanden etwas anderes, womit sie sich beschäftigen konnten, anstatt ihre Kameraobjektive in meine Angelegenheiten zu stecken. Das Leben geht weiter.“

Er schleuderte einen Kieselstein über die Felsen, kämmte sich mit den Fingern durchs Haar und lächelte etwas verlegen. „Ich weiß gar nicht, wieso ich Sie mit all diesem Zeug langweile. Es ist ja nicht gerade ein lebensgefährliches Problem.“

„Sie langweilen mich nicht. Es ist schön, Sie ein bisschen näher kennenzulernen“, erwiderte Mila. „Den Mann hinter der OP-Maske.“

Sie sah, wie seine Schultern sich unvermittelt entspannten, so, als wäre er erleichtert.

„Was sind denn Ihre Zukunftspläne?“, erkundigte sie sich. „Wollen Sie für immer hierbleiben? Möchten Sie keine eigene Familie?“

„Warum sollte ich das nicht hier tun können?“, entgegnete Sebastian.

Sie schwieg einen Moment. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Ich kann mir vorstellen, dass es vieles gibt, was Kindern Spaß macht, die hier aufwachsen.“ Unwillkürlich tauchten entsprechende Bilder vor ihr auf.

Eine Zukunft hier, wo man den Kindern beibrachte, das Meer zu lieben. Zu sehen, wie sie barfuß auf der Insel herumtobten, am Strand lesen lernten … All das erschien ihr sehr schön, obwohl sie schon vor langer Zeit beschlossen hatte, niemals Kinder zu haben.

„Es gäbe schlechtere Orte, eine Familie zu gründen, finden Sie nicht?“, fragte er.

„Ich weiß nicht. Ich denke eigentlich nicht darüber nach, irgendwo eine Familie zu gründen.“

Interessiert sah Sebastian sie an. Mila gab es nicht gerne zu, aber sie hatte Angst davor, selbst ein Kind zu bekommen. Was wäre, wenn sie es verlor oder ihm irgendetwas zustieß? Oder wenn dem Vater etwas passierte? Den Gedanken, einen so tiefen emotionalen Verlust ein zweites Mal zu erleiden, konnte sie nicht ertragen.

„Ich würde es jedenfalls lieber hier tun als in Chicago“, sagte er. „Das heißt nicht, dass ich nie wieder zu Besuch dorthin fahren würde. Tatsächlich fliege ich bald wieder hin, zum Geburtstag meiner Mutter. Aber ganz unter uns, eigentlich wollte ich diese Fernsehsendung von Anfang an nicht machen. Je weiter ich davon weg bin, desto besser.“

Sein Hemd stand offen – vier oder fünf Knöpfe. So viel hatte sie von ihm ohne Klinik-Anzug seit ihrem letzten richtigen Gespräch nicht mehr gesehen. Die leichte Brise zerzauste sein dichtes braunes Haar ein wenig, und für einen flüchtigen Moment fragte Mila sich, wie es wohl wäre, es zu berühren.

„Warum haben Sie dann doch mitgemacht?“

„Mum wollte es so. Sie dachte, unser Vater hätte es getan, wenn er noch gelebt hätte. Jared hatte zwar seine Zweifel, erkannte aber das Potenzial, dadurch neue Patienten zu gewinnen. Und es war näher an zu Hause als meine Idee, die Klinik hier aufzubauen.“

Mit einer weiten Handbewegung wies Sebastian auf das gesamte Gelände. „Dies war immer mein großes Ziel, nicht seines. Ich musste es lange aufschieben, weil die Sendung meine ganze Zeit in Anspruch nahm. Ich wollte aussteigen, sobald sie anfingen, die ganze Sache medial auszuschlachten. Wir wussten alle, dass Dad eine solche Art der Aufmerksamkeit für das Institut sicher nicht gewollt hätte. All die Kameras, die nie abgeschaltet wurden und Klara und mich bis nach Hause verfolgten. Aber erst dieses eine Foto hat mich dazu veranlasst, endgültig auszusteigen. Vielleicht dachte Klara, das wäre zu spät gewesen.“

Er hob einen Stein auf und ließ ihn durch seine Finger gleiten. „Sie hätte ohnehin nicht hier leben wollen. Sie war eigentlich immer ein Stadtmensch. Und ich schätze, die Insel hätte mich früher oder später sowieso weggelockt. Ich meine, schauen Sie sich um.“ Sebastian deutete auf den weiten Ozean vor ihnen, ehe er sich Mila zuwandte. „Also, wann soll ich Sie zu Ihrem ersten Meerestauchgang mitnehmen?“

Sie nahm die Gelegenheit wahr, das Thema zu wechseln, und bald waren sie in ein Gespräch über Mantarochen, Schiffswracks, Charlies Schulprojekte und ihre eigenen, sehr unterschiedlichen Schulerfahrungen vertieft. Über ihren unterschiedlichen Modegeschmack in den Neunzigern, als sie jeweils ihre Facharztprüfung in der Unfallchirurgie gemacht hatten. Und dass sie beide nie Star Wars gesehen hatten.

Manchmal dachte Mila dabei an Annabel, und sie fragte sich, weshalb sie Sebastian nicht einfach danach fragen konnte, was damals zwischen den beiden gelaufen war.

Im Grunde wusste sie es jedoch. Sie fing an, diesen Mann wirklich zu mögen, und das machte ihr Angst.

4. KAPITEL

„Ein Mädchen, acht Jahre alt.“ Dr. Fatema Halabi wirkte gestresst. „Wir haben sie gegen Tollwut geimpft, aber sie braucht mehr als nur eine kleine Naht. Sie wurde von der Blue Ray Clinic direkt hierhergebracht.“

Dr. Halabi war eine neue Kollegin im Ausbildungsprogramm des MAC für Assistenzärzte. Sie hatte drei Jahre in einer Praxis für Allgemeinchirurgie in Charlotte, North Carolina, gearbeitet. Und nun übernahm sie neben ihrer Ausbildung in plastischer Chirurgie unter der Anleitung von Dr. Becker hier auch allgemeine ärztliche Pflichten.

Sie rollte die Patientin in den hellen, nach Jasmin duftenden Behandlungsraum, noch bevor Mila sich Handschuhe übergestreift hatte. Bei dem Hundebiss-Opfer handelte es sich um Françoise Marchand, eine kleine französische Touristin, deren Mutter ihr ins Zimmer folgte.

Behutsam hob Mila die große, blutgetränkte Bandage ab, um die Verletzung einzuschätzen. Sie erkannte sofort die Bisswunden an Nase und Lippen des Kindes. Es sah schlimm aus, aber zum Glück nicht ganz so schlimm, wie sie erwartet hatte, im Vergleich zu dem letzten Hundebiss, den sie hatte behandeln müssen.

„Wie groß war der Hund, der dich gebissen hat?“, fragte sie das Mädchen.

Autor

Becky Wicks
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Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
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